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Berliner Fahrradkulturen im Wandel: Alltag und Subkultur auf zwei Rädern

Der herbstliche Morgenwind schneidet durch die Straßen Berlins, während sich zahlreiche Radfahrende ihren Weg durch den Verkehr bahnen – darunter Hipster auf minimalistischen Rädern, Pendelnde auf E-Bikes und Eltern auf Lastenrädern, in denen warm eingepackt die Kinder sitzen. Das Fahrrad hat als umweltfreundliches und flexibles Verkehrsmittel in Städten wie Berlin zunehmend an Bedeutung gewonnen und wird auch in der Stadtplanung immer relevanter. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Die Radverkehrsförderung hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem differenzierten Planungsansatz entwickelt, der unterschiedliche Zielgruppen anspricht. In Berlin, einer Stadt mit besonders diversen Fahrradkulturen, ist diese zielgruppenspezifische Planung besonders gefragt, um den Anforderungen der verschiedenen Radfahrenden gerecht zu werden.
Lange galt die Ansicht, dass sich Radfahrende einfach wie Autos verhalten sollten, um im autodominierten Straßenraum bestehen zu können. Doch gerade wer neu aufs Rad steigt, fühlt sich dabei oft verloren und unsicher. Heute denkt man um: Radwege sollen nicht nur mutigen Radler*innen zur Verfügung stehen, sondern allen Menschen ein sicheres Gefühl geben. Ziel der Radverkehrsförderung ist es, die Radverkehrspolitik und -kultur so zu transformieren, dass der Radverkehrsanteil signifikant steigt und Radfahren in seiner gesellschaftlichen Bedeutung stetig normalisiert wird. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Radverkehrsförderung grundlegend gewandelt, weg von einem Planungsparadigma, das auf das sogenannte Vehicular Cycling setzt, hin zu einer zielgruppenspezifischen Förderung, die breite Bevölkerungsschichten und insbesondere potenzielle Radfahrende anspricht.
Das Vehicular Cycling, ursprünglich von John Forester in den 1970er-Jahren in den USA propagiert, fordert, dass Radfahrende sich wie Autofahrende im Straßenverkehr verhalten, um sich ihren Raum anzueignen. Radfahrende sollen demnach mitten auf der Straße fahren, Handsignale bei Spurwechsel oder Abbiegevorgängen geben, den Schulterblick verwenden, mit den Autos im Verkehr mitfließen und sogar mit den Autos im Stau stehen. Diese Sichtweise hat jedoch lange Jahre den Ausbau sicherer Infrastruktur behindert und wird heute als exklusiv kritisiert, da sie unerfahrene und unsichere Radfahrende ausschließt. Viele der in den 1980er- und 1990er-Jahren angelegten Fahrradschutzstreifen auf der Straße sind Relikte dieses aus heutiger Sicht antiquierten Planungsverständnisses.
Heute liegt der Fokus auf einer inklusiven Planung, die ein breiteres Publikum ansprechen soll. Roger Gellers Konzept „Four Types of Cyclists“ verdeutlicht, dass nicht alle Radfahrenden dieselben Bedürfnisse haben: Von „Strong and Fearless“ bis „Interested but Concerned“ unterscheidet Geller vier Typen, die unterschiedliche Anforderungen an die Infrastruktur stellen. Gellers Typologie hat wesentlich beeinflusst, wie geplant und potenzielle Radfahrende angesprochen werden und steht als konzeptuelles Modell weitestgehend im Einklang mit empirischen Ergebnissen zur hiesigen Radnutzung. Die zen-trale Frage ist, wie diese unterschiedlichen Ansprüche in der Radverkehrsplanung berücksichtigt werden können: Sind die Wünsche und Vorstellungen von geübten und ungeübten Radfahrenden tatsächlich so unterschiedlich? Können wir von selbstbewussten Radfahrenden lernen, um potenzielle Radfahrende abzuholen? Um dies zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die Fahrradkultur Berlins als lebendiges Beispiel einer multikulturellen Radszene zu werfen.

Das Konzept „Four Types of Cyclists“ von Roger Geller visualisiert unterschiedliche Typen von Radfahrenden.

Vielfalt der Fahrradkulturen im Schmelztiegel Berlin

Großstädte wie Berlin vereinen vielfältige Fahrradkulturen. Diese Vielfalt belebt die Stadt, stellt die Radverkehrsplanung jedoch vor Herausforderungen, da die Bedürfnisse und Erwartungen der einzelnen Gruppen teils stark auseinandergehen. In Berlin fahren Hipster auf Fixies, Familien mit Kindern kämpfen sich auf Lastenrädern durch den Verkehr und Akti-vistinnen engagieren sich für den Ausbau der Radinfrastruktur, während die sportliche Szene Geschwindigkeit und Stil schätzt. Diese unterschiedlichen Interessen verdeutlichen, dass die Berliner Fahrradkultur kein einheitliches Bild abgibt – sie reflektiert die individuellen Ansprüche und sozialen Hintergründe der Stadtbewohnerinnen.
In vielerlei Hinsicht weicht Berlin damit von den stereotypen Vorstellungen der deutschen Fahrradkultur ab, die oft durch schwere Fahrräder und Sicherheitsausrüstung geprägt ist. Einige Radfahrer*innen beschreiben die Ausstattung des typischen (in der Vorstellung tatsächlich fast ausschließlich männlichen) Radlers als „20-Kilo-Trekking-Panzer“ oder „Vollschutzblech-Fahrrad mit fünf Lampen“ – ein Bild, das der Vielfalt an unterschiedlichen Radfahrenden und ihren spezifischen sozialen und kulturellen Hintergründen nicht gerecht wird. Und auch das wissenschaftliche und planerische Verständnis des Radfahrens ist häufig stark vereinfacht und unsensibel gegenüber kulturellen Differenzen.
Radfahrende werden oft als „bewegliche Objekte“ wahrgenommen, die von A nach B wollen, während individuelle Motivationen und Nutzungsformen sowie subjektive Wahrnehmungen, Stile und Praktiken oft unterrepräsentiert bleiben. Obwohl sich die einzelnen Gruppen stark unterscheiden, eint sie die gemeinsame Suche nach Sicherheit und Akzeptanz im Straßenverkehr.

„Wir können uns aufs Fahrrad einigen, aber wir können uns nicht mal darauf einigen, wie das Fahrrad aussieht, wo wir mit dem Fahrrad fahren: Fahren wir im Gelände, fahren wir auf der Straße, fahren wir auf einem separierten Radweg, fahren wir bei den Autos mit? Also auf alles andere kann man sich nicht einigen, außer auf das Fahrrad. Und ist das ein Sport-Vehikel? Ist das ein Alltags-Vehikel? All diese Fragen beantwortet jede Szene unterschiedlich.“

Auszug aus einem vom Autor geführten Interview aus dem Dezember 2021

Aktivist*innen des Volksentscheids Fahrrad besetzten 2016 die Berliner Oranienstraße und forderten bessere Infrastruktur für Radfahrende.

Das Fahrrad als kleinster gemeinsame Nenner

Obwohl sie Radfahren unterschiedlich erleben, eint die Rad fahrenden Menschen der Wunsch nach einer Stadt, in der Radfahren sicher und selbstverständlich ist. Das Fahrrad ist der kleinste gemeinsame Nenner in der städtischen Fahrradkultur, doch die Auffassungen von Art, Nutzung und benötigter Infrastruktur variieren stark. Während einige eine Trennung des Radverkehrs vom motorisierten Verkehr befürworten, sehen andere die Integration als besseren Weg. Es gilt, Gemeinsamkeiten zu identifizieren und Kompromisse zu finden. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Akteurinnen und Szenen sind oft feiner Natur, was es Außenstehenden schwer macht, diese zu erkennen. Daher wird häufig nicht weiter differenziert: Ein Fahrrad ist ein Fahrrad, eine Radfahrerin ist eine Radfahrerin. Dennoch sind Unterschiede in sozialen Praktiken und Bedeutungen entscheidend, um die Fahrradkultur angemessen zu verstehen. Ein überkomplexes Bild der Szene braucht es trotz der großen Vielfalt nicht. Zwar zeigt sich eine zunehmende Differenzierung innerhalb der Fahrradszenen, gleichzeitig nähren sie sich an und durchmischen sich. Historisch wurde zwischen Radsport und Alltagsradfahren unterschieden, was in der Radverkehrsförderung zu einer Spaltung führte. Dies war zeitweise so wichtig, dass sich Anfang des 20. Jahrhunderts die gesamte Radverkehrsförderung in Nationen aufteilte, die das Radfahren eher als Sport verstanden, wie Frankreich oder Italien, und jenen, die das Radfahren als Alltags- und Freizeitmittel betrachteten, wie die Niederlande oder Dänemark (Carstensen & Ebert 2012). Diese Trennung ist heutzutage jedoch weitgehend aufgelöst, wie beispielsweise der aktuelle Gravel-Trend zeigt, der viel stilvoller, aber ähnlich wie das klassische Tourenfahren verschiedene Elemente aus Sport, Reisen und Freizeit kombiniert. In Städten wie Kopenhagen oder Amsterdam ist das Fahrrad ein alltägliches Verkehrsmittel. In vielen anderen europäischen Städten hat es hingegen einen stärkeren subkulturellen Charakter. Denn in Städten, in denen das Radfahren weniger normalisiert ist, muss man sich stärker als Rad-fahrerin identifizieren und gegenüber den automobilen Strukturen behaupten – man muss es „wirklich wollen“. Dies führt zu subkulturellen Szenen mit spezifischer Ausrüstung: Kleidung, Helmen, Reflektorstreifen, Messenger Bags oder Lycra. Diese subkulturellen Ausprägungen des Radfahrens können neue Nutzer*innen abschrecken, da Radfahren oft als anspruchsvoll, schweißtreibend und unsicher wahrgenommen wird. Etablierte Radfahrende werden in diesem Sinne als Hindernis für die Normalisierung des Radfahrens gesehen, da sie den Sport- und Lifestyle-Aspekt betonen, der Radfahren eher als voraussetzungsvoll und nicht als für alle zugängliche Alltagspraktik darstellt. Die Radverkehrsförderung versucht daher, das Radfahren von sportlichen Aspekten zu entkoppeln und das Fahrrad als normales Verkehrsmittel zu etablieren.

Ein modernes Gravelbike samt Bikepacking-Ausrüstung, schon kann das nächste Abenteuer losgehen.

Begeistern oder ausgrenzen?

Es ist jedoch problematisch, Radfahrende und Nicht-Radfahrende gegeneinander auszuspielen. Denn die Normalisierung des Radfahrens hängt stark von der allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz ab. Der sportliche Aspekt kann dabei auch Begeisterung für das Radfahren erzeugen, indem er Geschichten erzählt, Bilder und Moden schafft und Menschen inspiriert. Es sollte also eher darum gehen, beides miteinander in Einklang zu bringen und die Potenziale und Synergien zu betonen. Mögliche Botschaften: „Zum Radfahren ist kein spezielles Fahrrad und keine spezielle Kleidung notwendig, aber wenn du Spaß daran hast, kannst du dich bis ins kleinste Detail individuell ausstatten“, oder: „Um Rad zu fahren musst du kein Mitglied einer bestimmten Szene sein, aber du hast die Möglichkeit dich mit anderen in Gemeinschaft zu begeben“.
Um dieser Heterogenität gerecht zu werden, ist eine kultursensible Planung erforderlich. Die sollte nicht nur Unterschiede respektieren, sondern auch die gemeinsamen Bedürfnisse aller Radfahrenden in den Vordergrund stellen und die Synergien betonen. Dabei ist es wichtig, klarzustellen, dass zum Radfahren keine spezielle Ausrüstung oder ein szenespezifischer Lifestyle erforderlich ist. Dann können erfahrene Radfahrende ihr wertvolles Wissen zur Planung von Radverkehrsinfrastruktur beisteuern. Ein Kurier sagte mir gegenüber: „Wenn du hundert Kuriere in Berlin zusammennimmst, fahren die im Jahr mehr als eine Million Kilometer mit dem Rad. Das ist eine Menge Erfahrung, die für bessere Infrastruktur genutzt werden könnte.“

„Wenn du hundert Kuriere in Berlin zusammennimmst, fahren die im Jahr mehr als eine Million Kilometer mit dem Rad. Das ist eine Menge Erfahrung, die für bessere Infrastruktur genutzt werden könnte.“

Radfahrende nutzen die geschützte Radspur am Kottbusser Damm – ein Fortschritt für den Berliner Radverkehr.

Radverkehr kultursensibel planen

Obwohl verschiedene Gruppen das Radfahren unterschiedlich wahrnehmen und einsetzen, ähneln sich ihre Anforderungen an eine gute Radin-frastruktur. Deshalb sollten sowohl erfahrene als auch neue Radfahrende in den Dialog eingebunden werden, um eine inklusive Radverkehrsförderung zu schaffen. Praktische Maßnahmen wie baulich getrennte Radwege, verbesserte Sichtbarkeit und zugängliche Angebote für neue Radfahrende schaffen nicht nur Sicherheit, sondern wirken integrativ. Erfahrene Radfahrende, die häufig besonders hohe Anforderungen an Geschwindigkeit und Dynamik haben, bringen wertvolle Perspektiven in die Planung ein und helfen, infrastrukturelle Schwachstellen zu identifizieren.
Indem wir den Dialog zwischen den Radkulturen fördern und sichere, leicht zugängliche Wege für alle Radfahrenden schaffen, unterstützen wir eine Stadt, in der Radfahren kein exklusives Hobby, sondern eine integrative Praktik ist. Letztlich geht es darum, Radfahren als etwas zu sehen, das verbindet – nicht als etwas, das voneinander trennt. Unabhängig davon, ob jemand Kurierin, Pendlerin, Sportlerin oder Alltagsradlerin ist, bleibt der Wunsch derselbe: sicher, komfortabel und schnell ans Ziel zu kommen.


Bilder/Grafik: Joshua Meissner, Geller 2006, Norbert Michalke, Changing Cities e.V., Stefan Hähnel, Matthias Heskamp