Berlins Graefekiez ist ein beliebter, politisch eher linker Teil der Hauptstadt. Die Politik will weniger Autos und einen grüneren Straßenraum. Kann man daraus lernen? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)
Es geht im engeren Sinne nur um paar Hundert Meter, die sich auf zwei Straßen in einem Kiez des Berliner Stadtbezirks Friedrichshain-Kreuzberg verteilen. Im weiteren Sinne geht es jedoch um große Themen: das Mikroklima in einem dicht besiedelten, innerstädtischen Ballungsraum, die deutlich höhere Versiegelung der Flächen mitten in der Millionenstadt und vor allem auch die Zukunft des Verkehrs. Wüsste man von alldem nichts und würde einfach so einen Spaziergang durch die Berliner Graefestraße machen, vielleicht würde man nicht einmal mitbekommen, dass hier ein besonderes städtebauliches Experiment abläuft. Doch seit Frühsommer 2023 wandelt sich das Bild dieser und der kreuzenden Böckhstraße. Am Straßenrand stehen Sitzlandschaften aus Holz, es grünt, wo früher Autos standen. Offenbar hat das nicht allen gefallen. „Fuck You“, steht zwischendrin mit Graffiti auf die neue Einrichtung am Straßenrand gesprüht, „Grüne HUSO“ und „Stop Projekt Graefekiez“.
„Der Aufwand, der getrieben wurde, ist zu hoch“
Prof. Andreas Knie, Wissenschaftszentrum Berlin
Schon seit vier Jahrzehnten ist der Graefekiez verkehrsberuhigt, der Schutz vor Durchgangsverkehr ist den Anwohnern wichtig.
Knapper Raum, parkende Autos
Im Kern geht es im Graefekiez darum, innerstädtische Straßenzüge mit einfachen Mitteln umzugestalten: „Ziel ist es, die Verkehrsberuhigung im Kiez zu stärken, Gefahrenquellen insbesondere mit Blick auf die Schulen und anderen sozialen Einrichtungen zu beseitigen, den Wirtschaftsverkehr zu verbessern und die Stadt gegenüber den Folgen des Klimawandels widerstandsfähiger zu machen“, erklärte das zuständige Bezirksamt in einer Pressemitteilung vom März 2023. Damals setzte die Verwaltung um, was im Juni 2022 – von Linken und Grünen vorangetrieben – in der Bezirksvertreterversammlung politisch beschlossen worden war: ein „Testfeld zur Umnutzung von Kfz-Stellplätzen“. In dem Stadtteil, in dem etwa 22.000 Menschen leben, sollten gemäß Plan etwa 400 Parkplätze entfallen. „Öffentlicher Raum ist knapp – und sehr viel davon ist mit parkenden Autos belegt. Mit dem Projekt Graefekiez erproben wir gemeinsam mit der Nachbarschaft, wie Straßen der Zukunft aussehen können“, sagte die zuständige Bezirksstadträtin für Verkehr, Annika Gerold, von den Grünen. Etwa 450 Quadratmeter Fläche, so berichtet es der Klimabeauftragte des Bezirks, würden durch diese Maßnahme entsiegelt.
Die Ausgangslage für ein solches Verkehrsprojekt gilt an dieser Stelle Berlins als durchaus günstig. Schon seit vier Jahrzehnten handelt es sich nämlich um einen verkehrsberuhigten Bereich. Auch die politische Lage ist vergleichsweise eindeutig. Die Grünen sind hier mit Abstand die erfolgreichste Partei der vergangenen Wahlen, gefolgt von den Linken. Das Bezirksamt argumentiert, dass im Kiez pro 1000 Bewohnerinnen nur 182 einen Pkw besitzen. Der bekannte Verkehrsforscher Prof. Andreas Knie wohnt hier, er kennt den Stadtteil gut und begleitet das Projekt mit seinem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Der Widerstand gegen die Maßnahmen, sagt Knie, sei im Laufe der vergangenen zwei Jahre nicht gewachsen. Es gebe „alte Linke“, die sich keine Vorschriften machen lassen wollten – und es habe Widerstand auch durch die CDU gegeben, etwa im Zusammenhang mit den Besucherinnen einer Kirchengemeinde, zu der viele mit Autos anreisen. „Man muss sagen, seit es dieses Thema im Graefekiez gibt, hatten wir zwei Wahlen und eine Wiederholungswahl und es wurde jeweils auch im Kiez die Mehrheit im Großen und Ganzen bestätigt.“ Das gelte nicht für den Widerstand. „Man kann sagen, es ist im Moment erstaunlich ruhig“, beobachtet Knie.
Protest und Gegenbotschaft: Es gab Widerstand gegen das Verkehrsprojekt, doch die Befürworter setzen sich vorerst durch.
Bürger pflegen Sitz statt Stellplätze
Das Projekt lebt stark vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger im Bezirk. Denn die einzelnen Flächen werden jeweils Engagierten übergeben, die sich um den jeweiligen Standort kümmern. So sind im Graefekiez die Pflastersteine entfernt worden und an der Stelle der Parkplätze etwa Gärten und Beete entstanden, die von Anwohnerinnen und Anwohnern gepflegt werden. Auch finden sich auf der ehemaligen Parkfläche aus Holz gebaute Sitzlandschaften, die beispielsweise in der Patenschaft von Kindertagesstätten geführt werden. Umgewidmet wurden Parkplätze auch zu Ladestationen und Stellplätzen für den Lieferverkehr. Insgesamt 13 neue Jelbi-Punkte und fünf neue Jelbi-Stationen sind zudem entstanden. Jelbi ist das Berliner Modell zur Bündelung von Sharing-Angeboten, die von der Stadtverwaltung offiziell zugelassen sind. Die Berliner Verkehrsgesellschaft BVG managt dieses Angebot.
Beim Ortsbesuch für VELOPLAN geht es in den Straßen entspannt zu. Der Verkehr ist ruhig, Fahrradfahrer*innen dominieren das Straßenbild deutlich mehr als Autos. Dennoch hat man nicht gerade den Eindruck, durch eine autofreie Zone zu laufen – im Gegenteil, überall stehen Pkw, teils auch klar gegen die ausgeschilderten Verbote. Im Vorfeld hatte man auch von Widerstand gelesen, das Meinungsbild ist so, wie man es erwarten würde. In einem traditionsreichen Uhrengeschäft schimpft die betagte Frau hinterm Tresen, denn viele ihrer Stammkunden kämen per Auto aus dem Umland, die fänden hier keine Stellflächen mehr. Ein Fahrschullehrer wirkt emotional angefasst, ob in diesem Stadtteil eine Zukunft für sein Geschäft sei, zieht er in Zweifel. Ganz anders sieht es im Naturwein-Laden um die Ecke aus, da findet der Betreiber die beruhigte Straße mit mehr Aufenthaltsqualität überzeugend.
Sitzlandschaften sollen auf der Straße den Aufenthaltscharakter verbessern. Aus versiegelten Boden wird Lebensraum. Anwohner*innen gestalten entlang der Straße Gartenflächen.
WZB hat laufend evaluiert
Das Projekt ist aufwendig aufgezogen. Die Aufgeschlossenheit des Kiezes ist eine gute Basis für solch ein Projekt. Das Ausmaß der Partizipation ist dazu erheblich. Paper Planes e.V. begleitet das Projekt, sammelt im Auftrag des Bezirks den Input der Bewohnerinnen und Bewohner. Man hat Sprechstunden angeboten und „einen Prozess der zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation“ initiiert, wie es im Duktus der Denkfabrik heißt. Parallel hat das Wissenschaftszen-trum Berlin für Sozialforschung evaluiert, wie es mit dem Projekt läuft und was die Bevölkerung sagt. Diese Auswertung soll (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) der Bezirksvertreterversammlung präsentiert werden. Andreas Knie gibt jedoch für dieses Magazin schon einen Überblick über die hauptsächlichen Erkenntnisse. Insgesamt fällt demnach das Feedback sehr positiv aus. Es gehe jetzt darum, noch Aspekte anzupassen.Ein Aspekt, der zu kurz gekommen sei, sagt Knie: Von Gewerbetreibenden im Kiez gebe es Feedback, das im Zusammenhang mit Stadtgestaltung sehr wichtig sei. „Wir müssen die Verödung der Innenstädte ernst nehmen, die durch die Corona-Pandemie noch beschleunigt worden ist“, sagt Knie. Gewerbe in einem Viertel sei wichtig, auch der Erhalt des öffentlichen Lebens. „Man hat im Projekt auch schnell gemerkt und erlebt, dass der Wirtschaftsverkehr bisher eher stiefmütterlich behandelt worden ist.“ Darauf, so lautet eine wichtige Schlussfolgerung, müsse man reagieren. „Da muss man die Straßenverkehrsordnung noch mal richtig gegen den Strich bürsten“, sagt Knie. Eine Idee: Durch Marktplätze, die Flächen für Gewerbetreibende ebenso zur Verfügung stellen wie es die Jelbi-Angebote für die Sharing-Anbieter tun. Mit digitalen Buchungen können die Gewerbe dann auf diese Flächen zurückgreifen. Ein anderer Aspekt ist jedoch, dass sich durch die Maßnahmen nichts am vorherrschenden Eindruck verändert hat. „Es stehen noch jede Menge Autos rum, die kaum bewegt werden – und deshalb haben die Anwohner vorgeschlagen, noch mehr Flächen umzubauen“, sagt Knie. Ein wichtiges Mittel, um die Sache in den Griff zu bekommen, sei auch eine Parkraumbewirtschaftung. Aber die Preise für die Anwohner-Parkausweise seien viel zu günstig und hülfen nicht beim Flächenumbau. Eine simple, aber zum Projekt passende Maßnahme wäre eine deutliche Verteuerung. „Ob das kommt und wie das umgesetzt wird, muss aber die Politik entscheiden“, sagt Andreas Knie.
182
Pro 1000 Bewohner
des Stadtviertels
haben nur 182 ein Auto,
was die Akzeptanz
für den größeren Eingriff im
Vorfeld erhöht haben dürfte.
Zur Umgestaltung der Straßenräume gehören auch ein verstärktes Angebot und mehr Platz für die Anbieter von Sharing-Mobilität.
Lässt sich das Projekt skalieren?
Die große Frage ist, ob sich aus einem Projekt wie im Graefekiez Schlussfolgerungen für andernorts oder gar für die Allgemeinheit ziehen lassen. Forscher Knie ist angetan von den Ergebnissen im Kiez. „Allerdings ist der Aufwand, der getrieben worden ist, zu hoch. Das ist schon sehr kleinteilig. Dieses bürgerschaftliche Engagement etwa für die Gartenbewirtschaftung kann man nicht überall voraussetzen“, sagt Knie, „da muss man etwas Einfaches finden, von städtischer Seite pflanzen und Flächen umnutzen.“ Der Graefekiez habe „wirklich etwas von Bullerbü, das lässt sich nicht skalieren.“ Bei vergleichbaren Maßnahmen müsste also die Verwaltung dort die Pflege übernehmen, wo sich keine Bürger*innen melden. Dafür brauche es standardisierte Prozesse. Allein in Berlin gebe es viele geeignete Flächen, etwa in Charlottenburg, Mitte und Lichtenberg. „Aber die Bezirke sind zu klein, ihnen fehlt es an einer gemeinsamen Koordination etwa für eine digitale Bewirtschaftungsausschreibung“, sagt Knie. Gemeinsame, abgestimmte Arbeit der Bezirke sei der Hebel. Hier wäre der Ansatzpunkt, um die positiven Effekte aus Berlins Graefekiez in der ganzen Metropole wirken zu lassen. Um das Wissen über das Projekt in der wissenschaftlichen Community zu verbreiten, organisiert das WZB Mitte Juni einen Kongress unter dem Titel „Städte ohne Parkplätze“.
Bilder: Tim Farin