Die Velo-City-Konferenz steht für internationalen Austausch, prominent besetzte Vorträge und Diskussions-Panels sowie ein gut organisiertes Rahmenprogramm inklusive Ausstellung. Für viele Besucher*innen ist der Informationsgewinn aber nur ein positiver Aspekt, den das Event mit dem globalen Anspruch mit sich bringt.
(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)
Auf der Velo-City kommen Menschen zusammen, die einander inspirieren und die aus dem Beisammensein der hoch motivierten Akteure aus vielen Ländern der Welt Kraft für ihre tägliche Arbeit schöpfen. Auch wenn die lokalen Gegebenheiten zum Teil kaum unterschiedlicher sein könnten, lassen sich Lehren ziehen aus Problemen und gelungene Best-Practice-Beispiele bewundern. So dürfte sich erklären lassen, warum die diesjährige Konferenz im belgischen Gent eine Rekordbeteiligung von 1600 Besucher*innen aus mehr als 60 Ländern zählen konnte. Die Motivation, die sich auf der Velo-City auftanken lässt, ist gerade deshalb wichtig, weil Radverkehrsprojekte nicht selten auf Widerstand und Protest stoßen. Auch das Motto „Connecting through cycling“ der Velo-City Gent fand Belgiens stellvertretender Premierminister und Mobilitätsminister Georges Kilkinet in diesem Kontext sehr passend: „Das Motto der diesjährigen Konferenz spricht für sich selbst. Durch Radfahren verbinden, genau das macht der Radverkehr.“
1600
Die diesjährige Konferenz im belgischen Gent hatte eine Rekordbeteiligung von 1600 Besucher*innen aus mehr als 60 Ländern.
Stilecht wurde das Programm auf der Hauptbühne im Velodrome „’t Kuipke“ mit einem Bahnrennen eröffnet.
Radverkehr überwindet Barrieren
Im belgischen Gent fand die Konferenz im Pavillon Floraliënhal im Citadelpark statt, einem zur Expo 1913 errichteten Gebäude voller industriellem Charme. Direkt angrenzend lag die Hauptbühne in Fahrradform im Velodrome „’t Kuipke“, wo die 1600 Besucher*innen mitunter auf den Fan-Rängen Platz fanden. Die Konferenz wurde stilecht mit einem Bahnradrennen eröffnet. Die Erfolgsstory von der Gastgeberstadt Gent war das erste Thema auf der Bühne, vorgetragen vom Bürgermeister der Stadt, Matthias de Clerq, gefolgt von inspirierenden Worten von Henk Swarttouw, Präsident der European Cyclists‘ Federation und Gents stellvertretendem Bürgermeister Filip Watteeuw. Radverkehr vermag es, Barrieren zu überwinden und Gemeinschaften zu verbinden, wenn er inklusiv organisiert ist, so das Resümee des anschließenden Podiums, auf dem auch Janette Sadik-Khan nach einer Keynote zu Wort kam. Die ehemalige Transport Commissioner von New York hat es geschafft, 400 Meilen Fahrradwege in der Stadt anzulegen. „Radfahren in New York hat sich von einer alternativen Art der Fortbewegung zu einer essenziellen gewandelt“, so Sadik-Khan. Viel Aufmerksamkeit erhielt die European Declaration on Cycling, die die Europäische Kommission im April verabschieden konnte. Das Dokument nimmt in einem von acht Punkten auch Bezug auf rund zwei Millionen Jobs, die durch einen starken Support im Fahrradsektor entstehen könnten. Für Kevin Mayne, CEO von Cycling Industries Europe, ist es wichtig, dass im Grunde die gesamte Erklärung der Fahrradwirtschaft zugutekommen könnte. Die potenziellen neuen Jobs werden ihm zufolge zudem zu 85 Prozent lokal sein.
„Macht den öffentlichen Raum wirklich öffentlich!“
Simona Larghetti, Stadt Bologna
Kommunikation als Schlüssel
Viel Veränderungspotenzial, das bewiesen einige Veranstaltungen auf der Konferenz, liegt in der Art, wie über den Mobilitätswandel und die dadurch veränderten Städte gesprochen wird. Ein Beispiel einer vierspurigen Straße in Memphis, bei der die Hälfte für Rad- und Fußverkehr umgewidmet wurde, zeigt: Sogar, wenn die richtigen Daten vorliegen, die die Wirksamkeit einer Maßnahme beweisen, kann diese durch mangelnde Kommunikation noch immer scheitern. Der französische Autor Grant Ennis erklärte auf der Konferenz, dass die Tatsache, wie oft Menschen etwas zu hören bekommen, den Ausschlag dafür gibt, wie sie zu einer Überzeugung gelangen. In diese Kerbe schlagen Berichterstattungen zu Unfällen, in denen den Tätern in den Autos keine aktive Rolle zugeschrieben wird. Auch die Frage, wie sich Sicherheit im Radverkehr adressieren lässt, ohne Radfahren als inhärent gefährliche Aktivität darzustellen, ist eine kommunikative Herausforderung im gesellschaftlichen Diskurs um die Verkehrswende. Zum umgestalteten Oeder Weg in Frankfurt am Main ergab die Begleitforschung, dass von 117 Artikeln lediglich 13 positiv zu wertende Beiträge, aber 38 negative Beiträge waren. Das zieht die Bewertung der Öffentlichkeit für das städtebauliche Projekt deutlich ins Negative. Verstetigt wurde der Oeder Weg dennoch. Medien kommt eine wichtige Rolle zu, die Projektverantwortliche aktiver nutzen müssen, so das Resümee. Hilfreich kann es auch sein, Nicht-Regierungs-Organisationen oder lokale Unternehmen in die Kommunikation einzubinden. Auch in Afrika beginnt der Wandel in den Köpfen, sagt Emmanuel John, Präsident der Africa Urban Cycling Organisation. Dort herrsche noch viel zu oft das Klischee vor, dass Fahrräder ein Mobilitätsmittel für arme Menschen sind. Um am Ende ein positives Ergebnis zu erhalten, bedarf es einer Planung, die die Bedürfnisse der Menschen und keine rein technische Betrachtung in den Vordergrund stellt. „Macht den öffentlichen Raum wirklich öffentlich!“, fordert in diesem Zug Simona Larghetti von der italienischen Stadt Bologna. In italienischen Städten seien 80 Prozent der Fläche Autos gewidmet. Bei der Mobilität dürfe mangelndes Geld nicht der entscheidende Faktor sein, weshalb es günstige Angebote brauche. Neben dem Zuckerbrot braucht es manchmal aber auch eine Peitsche. In Utrecht benötigte die Verwaltung eine Parkverbotszone für Fahrräder, um die massenhafte Nutzung eines zentralen Fahrradparkhauses zu beschleunigen. In Singapur hingegen ist Autofahren sehr teuer, was sich als Push-Maßnahme für nachhaltige Mobilität auswirkt. Auch die Stadt Gent hat von der harten Push-Maßnahme, Parkraum für Autos zu reduzieren, profitiert.
Über 100 Aussteller, mehr als 80 inhaltliche Sessions und über 400 Vortragende erwarteten die Velo-Citizens in Gent. Vielleicht noch wichtiger: die Möglichkeiten, sich auszutauschen und zu vernetzen.
Öffentlichkeitswirksame Aktionen dürfen bei der Velo-City-Konferenz nicht fehlen. Zur Fahrradparade mit anschließender Party kamen 2600 Menschen.
Beteiligung aus Deutschland
Auch in Deutschland schlummert in dieser Hinsicht noch viel Potenzial, wie etwa ein Vortrag von Alexander Czeh vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt zeigt. Die von Autos genutzte Fläche geht mit privaten Garagen, Reparaturwerkstätten und Autohändlern weit über die reine Verkehrsfläche hinaus. Durch einen Wandel zu nachhaltigeren Verkehrsmitteln könne in Berlin Wohnraum für 143.000 Menschen entstehen, resümiert Czeh. Ein Beispiel: Der umgewidmete Raum eines ehemaligen Autohändlers in Berlin bietet heute Wohnraum für 400 Menschen sowie Flächen für einen Kindergarten und Einzelhandel. Als weiteren Programmpunkt aus Deutschland stellte Anke Schäffner vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) die German Cycling Embassy (Deutsche Radverkehrsbotschaft) vor. Ehemals vom ADFC gestartet, um vor allem Wissen im Bereich Radtourismus zu vermitteln, stellt sich das Bündnis jetzt neu auf, um als Expertiseplattform zu fungieren. In der Ausstellungsfläche der Velo-City zeigten sich die Projektpartner ADFC, Zukunft Fahrrad, ZIV, das Umweltbundesamt und das Bundesministerium für Digitales und Verkehr mit einem gemeinsamen Stand, an dem sich auch die Radverkehrsprofessoren Deutschlands und das Bike Nature Movement mit kleinen Empfängen präsentierten.
ECF-Awards verliehen
Das Rahmenprogramm ließ mit Austauschmöglichkeiten bei Kaffee und Buffet, einer abendlichen Party, einer Filmvorführung und der Fahrradparade quer durch Gent mit 2600 Menschen viel Raum für die Teilneh-mer*innen, um sich zu vernetzen. Zum dritten Mal wurden im Rahmen der Konferenz außerdem die ECF Awards von Henk Swarttouw und ECF-CEO Jill Warren verliehen. Unter den Gewinnern sind die Städte Gent, Bologna, Lyon und Qualimane sowie das Europäische Parlament. Am dritten Konferenztag wurde dann zudem mit dem Startup Locky der Gewinner des Smart Pedal Pitch gekürt. Am vierten Tag hieß es dann für die Velo-Citizens bis zur nächsten Ausgabe der Konferenz im polnischen Danzig „Auf Wiedersehen!“.
Bilder: Velo-City Conference, Sebastian Gengenbach
Die Renaissance der Straßenbahn ist gut für Klima und Umwelt, eine sozial gerechte Mobilität sowie Radfahrende. Teilweise gibt es aber heftigen Gegenwind, wenn sie neu gebaut werden soll. Mit einer guten Kommunikationsstrategie können Städte viel richtig machen bei der Planung.
(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)
Von den einen geschätzt, da bewährt, komfortabel und Hoffnungsträger für die Verkehrswende. Von den anderen ängstlich beäugt oder gar verhasst, da sie Städte verändert, Baustellen erfordert und dem Auto den Platz streitig macht: die Straßenbahn. Während in Tübingen 2021 und Regensburg 2024 ihr Bau in Referenden scheiterte, votierten die Erlan-ger*innen 2024 für sie, in Lüneburg fordern manche sie, in Kiel wird sie geplant und in Lübeck oder Osnabrück eine Wiedereinführung diskutiert; in Karlsruhe oder Erfurt fährt sie längst. Ende des 19. Jahrhunderts gab es weltweit einen Straßenbahnboom. Allein in Deutschland entstanden um die 100 Systeme. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde sie allerdings zunehmend vom Auto verdrängt und viele stillgelegt. Im Zuge des sich zuspitzenden menschengemachten Klimawandels ist die Straßenbahn ein wichtiger Baustein für die immer drängender werdende Verkehrswende – in Deutschland ist der Verkehr für etwa 20 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Es braucht Mobilität, die menschliche Bedürfnisse erfüllt, soziale Gerechtigkeit schafft und ökologische Grenzen wahrt. Dafür müssen wir uns effizienter, anders und weniger fortbewegen. Zentral ist, den motorisierten Individualverkehr zu reduzieren und gleichzeitig den ÖPNV zu stärken. Wie Städte ihre Infrastruktur planen und umsetzen, ist dabei zentral.
In Leipzig wurden gute Kompromisse gefunden: Eine klassische Straßenbahnstadt und neuerdings auch Fahrradstadt. Während in der BRD viele Strecken stillgelegt wurden, wurden sie in der DDR gepflegt.
Straßenbahn vs. Stadtbahn: Straßenbahnen integrieren sich gut in die Stadt, sind kostengünstiger, da sie keine Tunnel, Schotterbetten, Zäune oder Leitplanken brauchen und haben mehr Haltestellen.
Ein bisschen Nostalgie: Im Vintage Style kann man in Lissabon durch die Altstadt fahren.
Vorbild Frankreich: Hier entstanden in den letzten 30 Jahren viele neue moderne Straßenbahnsysteme, die gut in die Stadt integriert wurden und den Straßenraum aufwerteten, wie hier in Toulouse.
Straßenbahn for Future
„In Deutschland sitzen im Auto durchschnittlich 1,4 Menschen. Für je 100 Menschen sind also 71 Autos unterwegs oder eine einzige Straßenbahn“, rechnet Anika Meenken vom ökologischen Verkehrsclub VCD vor. „Straßenbahnen sind also eine effiziente sowie umwelt- und klimafreundliche Alternative zum Auto.“ Auch Verkehrswissenschaftler Heiner Monheim schreibt der Straßenbahn eine „riesengroße“ Relevanz mit Blick auf die Klimakrise zu: „Wir müssen eine ganze Menge Autoverkehr einsparen durch attraktive Angebote im öffentlichen Verkehr. Da ist die Straßenbahn eine ganz wichtige Möglichkeit“. Punkten kann die Straßenbahn auch beim Sozialen: „Als Teil des ÖPNV steht sie allen Menschen zur Verfügung“ und fördere die Intermodalität. Zudem kann sie barrierearm gebaut werden und ist für Fußgänger*innen und Radfahrende sicherer, da „Hauptunfallgegner“ das Auto sei, erklärt Meenken. Straßenbahnen lassen sich gut ins Stadtbild integrieren und können den Straßenraum sogar aufwerten. Rasengleise oder Tramalleen sehen nicht nur schön aus und steigern die Aufenthaltsqualität, sondern dämmen auch Fahrgeräusche und entsiegeln die Innenstadt. Das hilft bei Hitze und Starkregen, die durch die Klimakrise wahrscheinlicher werden. Auch kann eine Straßenbahn dazu beitragen, Staus zu verringern sowie Wohnqualität und Einzelhandel zu fördern, so Monheim. Gegenüber Bussen hat sie den Vorteil, mehr Menschen transportieren zu können und komfortabler zu sein, da sie weniger ruckelt. Außerdem wird sie laut Studien besser von Fahrgästen angenommen und übertrifft oft die prognostizierten Fahrgastzahlen. Das habe psychologische Gründe, erklärt Monheim. Durch die Sichtbarkeit und Nachvollziehbarkeit des Netzes entwickle man eine „Mental Map“, eine Karte im Kopf, was die Nutzung erleichtere.
Schienen mit Konfliktpotenzial
Den guten Argumenten zum Trotz stoßen Planungen von Straßenbahnen immer wieder auf Protest. Wie jüngst in Regensburg und Erlangen, wo zeitgleich zur EU-Wahl ein Referendum über eine Straßenbahn anstand. Während die Erlangerinnen für sie stimmten, votierten die Regensburgerinnen mit Nein. 2021 stimmten auch die Tübingerinnen gegen eine Straßenbahn. Bemerkenswert dabei: Parteiübergreifend war der Tübinger Gemeinderat sowie die Stadtverwaltung dafür, ebenso Umwelt- und Klimagruppen sowie die Verkehrsclubs VCD und ADFC. Außerdem gilt Tübingen als grüne Vorzeigestadt mit vielen Studierenden, grünem Bürgermeister, Lastenrädern, die neben Bussen durch die Stadt cruisen. Warum wurde die Straßenbahn dort trotzdem abgelehnt? Gegen den Bau waren wenige, aber gut organisierte Akteure. Schaut man sich ihre Argumente an, wird deutlich, dass sie einen klugen Mix aus NIMBY-Argumenten (Not In My BackYard) und Argumenten aus der anschlussfähigen E-Mobilitätserzählung (s. Kasten) verwendeten. Sie argumentierten etwa, die Bahn sei zu teuer, verschandle die Stadt, verdränge Autos, fuße auf veralteter Technik, sei eine Gefahr fürs Rad, der Bau verursache viele Emissionen oder das Busnetz auszubauen, würde es auch tun. Die Befürworterinnen versäumten einerseits, diese Gegenargumente zu entkräften: Straßenbahnen sind zwar teurer als Busse, aber ein Großteil der Kosten hätte der Bund gezahlt, sie wäre ins Stadtbild integriert worden und hätte für mehr Mobilität gesorgt, es handelt sich um eine bewährte und moderne E-Technik, die Gefahr fürs Rad ist vergleichsweise gering, die Emissionen hätten sich amortisiert und bestehende Busse hätten das Netz sowieso ergänzt. Andererseits entwickelten die Befürworterinnen keine positive Erzählung über ein Tübingen mit Straßenbahn: Eine Stadt mit moderner Mobilität und mehr Lebensqualität für ihre Bewohnerinnen. Zwar waren die guten Argumente da, aber kaum im öffentlichen Diskurs. Stattdessen wurden die Vorteile für das Umland und Einpendelnde fokussiert. Ein Blick nach Erlangen und Regensburg zeigt, dass dort die Gegenargumente ganz ähnlich wie in Tübingen waren. Es braucht also eine Kommunikationsstrategie, um solchen Konflikten zu begegnen. Wird eine neue Straßenbahn gebaut, wird um knappe Flächen gekämpft: Wie viel Platz bekommen die Straßenbahn, Busse, Räder, Fußgänger*innen, Autos? Es braucht Kompromisse: „Da gibt es innovative Ansätze. Die Fahrspuren für Autos verschmälern oder im Abbiegebereich Kombispuren“, so Monheim. Sprich, den Platz fürs Auto reduzieren und so der „klassischen Überdimensionierung“ für das Auto entgegenwirken. „Die Standardspur ist 3,5 Meter, 2,2 würden auf mehrstreifigen Fahrbahnen und Kreuzungen oft ausreichen“.
Verkehrswende erzählen
Es lassen sich laut dem Wissenschaftler Erling Holden drei Verkehrswendeerzählungen unterscheiden, die davon handeln, dass wir uns effizienter, anders und weniger fortbewegen: Die E-Mobilitätserzählung handelt von der Umstellung von Verbrennungs- auf E-Motoren, um CO2-armen Verkehr zu erzielen. Die Kollektivverkehrserzählung erzählt vom Ausbau des ÖPNV sowie Mobilitätsformen, die Teilen und Nutzen statt Besitzen propagieren. Neben ökologischen Aspekten werden hier auch soziale Zugangsfragen gestellt. Die Mobilitätsreduktionserzählung schlägt weniger bis keine Nutzung von Fahrzeugen vor. Das beinhaltet einen effizienten ÖPNV und Eliminierung des Individualverkehrs. So können autofreie Innenstädte mit höherer Lebensqualität entstehen. Während die erste Erzählung den Status quo am wenigsten angreift, sind die beiden anderen am wirkungsvollsten für eine Transformation, aber müssen Akzeptanz erlangen. Etwa zunächst eine Autokultur aufbrechen. Die Verkehrswende kann nur gelingen, wenn die drei Erzählungen hierarchisiert – Mobilität 1. reduzieren, 2. verändern, 3. effektiver machen – und gemeinsam erzählt werden.
Die Verkehrswende erzählen
Die hitzigen Debatten um neue Straßenbahnen zeigen: Städte sind im Spannungsfeld von verkehrs- und klimapolitischen Zielen sowie gesellschaftlicher Akzeptanz gefordert. Der Bau einer Straßenbahn ist nicht nur eine technische Herausforderung, sondern auch eine kommunikative. Dabei gilt es, das transformative Potenzial von Mobilitätserzählungen gezielt einzusetzen. Da eine ernsthafte Verkehrswende den Status quo infrage stellt, muss sensibel vorgegangen werden. Noch unbekanntere beziehungsweise wenig akzeptierte Erzählungen – Reduktion des motorisierten Individualverkehrs – sollten nicht verkürzt werden, sondern deutlich machen, dass eine lebenswertere Stadt hinzugewonnen werden kann. Die Verkehrswende ist nicht nur gut für Klimaschutz, sondern kann auch positiv für Klimaanpassung sein, für die Gesundheit durch sauberere Luft, das soziale Miteinander, Inklusion durch Barrierearmut, den Wohnungsmarkt und die lokale Wirtschaft. In dieser Erzählung können Straßenbahnen eine wichtige Rolle spielen. Sie können dazu beitragen, Städte zu transformieren, die Stadt zu verknüpfen – auch mit dem Umland, hohe Aufenthaltsqualität zu schaffen durch ansprechendere Straßenraumgestaltung mit weniger Autos. Wichtig ist dabei, lokale Vorteile zu fokussieren und greifbar zu machen. Sprich, eine konkrete Utopie einer grünen, sichereren, gesünderen und sozialeren Stadt zu entwerfen. Gutes Illustrationsmaterial unterstützt dies. Ebenso eine Exkursion in eine Straßenbahnstadt. Um Ängste früh zu erkennen und Lösungen zu finden, sollte auch die jeweilige Mobilitätskultur einer Stadt beachtet werden. Etwa die Angst von Radfahrenden, zu stürzen. Hilfreich ist, neben Ingenieurinnen auch Sozialwissenschaftlerinnen an Bord zu holen, um zu erfahren, wie die Menschen in der Stadt ticken.
Beim Kreuzen der Schienen ist Vorsicht angesagt, aber Fahrrad und Straßenbahn gehen auch zusammen.
In Amsterdam/Helsinki sind Fahrrad und Straßenbahn gut verzahnt.
Die Weichen drastisch umstellen
Dass die Verkehrswende in Deutschland verschleppt wird, liegt auch an jahrzehntelangen politischen „Fehlsteuerungen“ wie der Fokussierung aufs Auto. Zudem wurden beim Ausbau kommunaler Schienennetze oft teure Tunnelprojekte bevorzugt, so Monheim. Straßenbahnen wurden politisch lange ausgeblendet, obwohl sie eigentlich ein Klassiker der E-Mobilität und damit prädestiniert für die Verkehrswende sind. Es ärgert ihn, dass die deutsche Verkehrspolitik seit 30 Jahren auf E-Mobilität fixiert ist, „damit aber immer nur E-Autos meint“. Dabei gibt es schon lange eine ÖPNV-Förderung, nach der ein Großteil der Kosten für den Straßenbahnbau übernommen werden kann, aber „um tatsächlich sehr schnell aus der fossilen Mobilität aussteigen zu können“, brauche es „einen von Grund auf neuen politischen Ansatz“ und spezielle Straßenbahnförderprogramme. Momentan sei die Verkehrspolitik „innovationsresistent“ und renne ein paar teuren Großprojekten hinterher. Stattdessen müsse der Fokus auf ehrgeizigen Netzen mit vielen Haltestellen und hoher Gestaltungsqualität der Trassen liegen, mit Rasengleis und Tram-allee. Tunnelprojekte seien viel zu teuer und dauerten zu lange. Dass sie trotzdem oft bevorzugt werden, liege an der Lobbyarbeit der Betonindustrie. Ganz anders in Frankreich. Hier erlebt die Straßenbahn in den letzten Jahren einen Boom – neue Schienen statt neuer Autospuren. Die „französische Rezeptur“: Die Straßenbahn werde sehr gut und individuell in die jeweilige Stadt integriert und werte die Straßen durch Tramalleen und Rasengleise auf, erklärt Monheim. Es gehe um die gesamte Straßenraumgestaltung mit neuen Radwegen, breiten Gehwegen und einer gut integrierten Tramtrasse. Das sei der entscheidende Unterschied zu Deutschland, wo das Thema noch „sehr ideologisch“ sei und von Ingenieur*innen dominiert werde. Für eine gelingende Verkehrswende brauchen deutsche Städte also Mut, Schienen zu legen. Benötigt werden mehr Straßenbahnnetze als die, die es noch gibt. Es braucht auch mehr als die 100, die es in Deutschland einst gab. Monheim schätzt, dass etwa 200 Städte Straßenbahnpotenzial haben. Um die Verkehrswende zu meistern, braucht es Mut zu Debatten über Straßenbahnen, darüber, wie wir Innenstädte gestalten wollen, wie wir in Städten zusammenleben und uns fortbewegen wollen. Um sich mögliche Veränderungen plastisch vorstellen zu können, braucht es gemeinsame Erzählungen, die Utopien erzeugen, die wahr werden können. Vielleicht gleiten in Zukunft in Tübingen oder Regensburg ja doch noch Straßenbahnen auf von Bäumen gesäumten Rasengleisen neben Cafés und Radwegen. So wie es in Bordeaux und vielen anderen Städten längst der Fall ist.
Wie aus Straßenbahn und Rad ein starkes Duo für die Verkehrswende wird
Interview mit Straßenbahnexperte Heiner Monheim, er ist Geograph, Stadtplaner, Verkehrsexperte und war Professor an der Universität Trier, sowie Rechtsexperte Roland Huhn vom ADFC, der schriftlich antwortete.
Die Verkehrswende braucht mehr ÖPNV, aber auch mehr Rad- und Fußverkehr. Wie sicher sind Straßenbahnen für Radfahrerende? Huhn: Gefährlich sind vor allem Straßenbahnschienen im Fahrbahnbereich. Das gilt besonders dann, wenn in einer schmalen Straße zwischen Schienen und Bordstein nur wenig Platz ist. Manche Verkehrs-planer*innen stellen sich vor, dass Radfahrende zwischen den Straßenbahnschienen fahren sollen. Das ist aber ausgesprochen unangenehm und gefährlich und sollte deshalb unbedingt vermieden werden. Aber Fahrrad und Straßenbahn sind nicht grundsätzlich unvereinbar. Leipzig und Amsterdam sind Straßenbahnstädte mit hohem Radverkehrsanteil. Monheim: Fährt man im falschen Winkel über eine die Schiene, kann man mit den Reifen hineingeraten und stürzt. In Relation zur Netzlänge und Fahrleistung gibt es aber sehr viel mehr Unfälle zwischen Fahrrädern und Autos oder Fahrrädern und Bussen als mit der Straßenbahn und ihren Schienen. Straßenbahnen sind ein sehr sicheres Verkehrsmittel für andere Verkehrsteilnehmer. Objektiv ist nur die Seilbahn sicherer, da sie sich den Raum nicht mit anderen teilt. Und auch bei der subjektiven Sicherheit schneidet die Straßenbahn besser ab: Sowohl Fußgänger als auch Radfahrer fühlen sich subjektiv einfach stärker bedrängt von einem Bus, der hinter einem fährt als von einer Straßenbahn. Denn Straßenbahnen sind besser kalkulierbar.
Wie können Städte Straßenbahnen sicherer für Radfahrerende machen? Monheim: Erstens kann man im Zuge der Verkehrserziehung lernen, wie ich über eine Schiene fahre, damit ich auf keinen Fall mit dem Reifen in der Schiene hängen bleibe. Zweitens gibt es Gummielemente, mit denen man Schienen ausstatten kann, sodass man, wenn man in Längsrichtung über die Schiene fährt, nicht zu Fall kommt. Das ist vom Betrieb her teurer, da das Gummi nicht ewig hält. Aber das wäre etwas für Städte, wo lange keine Straßenbahn fuhr und neu eingeführt wird. In klassischen Straßenbahnstädten wie Leipzig oder Erfurt, wo viele Schienen liegen, und es viel Radverkehr gibt, ist das kein großes Problem, weil alle wissen, wie man mit Schienen umgeht. Huhn: Beide Verkehrsarten sollten möglichst getrennte Wege haben. Eine eigene Trasse z.B. in der Mitte der Straße ist nicht nur sicherer, weil Radfahrende sie leichter im rechten Winkel überqueren können. Sie dient außerdem der Beschleunigung der Bahn, weil sie nicht im Stau des Kfz-Verkehrs warten muss. Die Vorrangregelung an Kreuzungen muss zudem klar kommuniziert sein. Außerdem gibt es aktuell einen Lösungsvorschlag mit Rillen geringerer Tiefe, die zumindest für breite Fahrradreifen eine geringere Sturzgefahr bergen.
Wie können Städte Straßenbahn und Radverkehr verzahnt denken und planen? Monheim: Straßenbahn und Fahrrad lassen sich gut kombinieren. In guten Straßenbahnsystemen gibt es an den Haltestellen Fahrradabstellplätze oder auch Leihräder. Oder ich kann mein Fahrrad problemlos in die Straßenbahn mitnehmen, wie etwa in Berlin.
Heiner Monheim
Roland Huhn
Bilder: Illustration: Mailänder Consult, stock.adobe.com – Egon Boemsch, scharfsinn86, Beste stock, Markus Mainka, stock.adobe.com – blende11.photo, Roman Sigaev, chrisdorney, Heiner Monheim, ADFC – Deckbar
Zum Thema „Verkehrsunfälle mit Pedelecs“ lohnt sich ein genauer Blick in die Statistik. Wie sich zeigt, stimmt die öffentliche Wahrnehmung zu den Gefahren des elektrifizierten Fahrrads nicht mit der tatsächlichen Gefahrenlage überein. Das E-Radfahren ist sicherer, als vielerorts geglaubt wird.
(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)
Seltsamerweise scheint es in der öffentlichen Wahrnehmung eine Tendenz zu geben, die Gefahren von E-Bikes hervorzuheben, ohne eine korrekte statistische Einordnung mitzuliefern. Selbst die jüngste Auswertung zu den Pedelec-Unfallzahlen des Statistischen Bundesamtes (Destatis), von Amts wegen eigentlich ein Ort der neutralen, sachlich fundierten und daher in der Regel nüchternen Darstellung, kommt nicht umhin, auf Formulierungen wie »Zahl der Pedelec-Unfälle mit Personenschaden gegenüber 2014 mehr als verzehnfacht« oder „Insgesamt ist die Zahl der Pedelec-Unfälle in Deutschland in den vergangenen Jahren stark gestiegen“ zurückzugreifen. Es mutet seltsam an, dass praktisch nie oder nur unzureichend die absoluten Verunglücktenzahlen mit der zunehmenden Nutzung ins Verhältnis gesetzt werden. Wäre es wirklich so schwer, auch die geschätzten Fahrleistungen mit anzugeben? Zumindest der ZIV hat sich diese Mühe in der Vergangenheit gemacht. Der Verband hat wenigstens bis 2020 die zurückgelegten Fahrleistungen in Bezug zu den Unfalltoten gesetzt. Wurden 2007 im Schnitt etwa 290 Kilometer pro Bürger und Jahr auf einem Fahrrad zurückgelegt, hat sich dieser Wert bis 2020, einem Zwischenhoch der Fahrradnutzung fast verdoppelt. Das Ergebnis lautete, dass 2007 alle 46,4 Millionen gefahrene Kilometer ein Radfahrer oder eine Radfahrerin tödlich verunglückte. Im Jahr 2020 war diese Zahl bereits auf fast 98 Millionen Kilometer gestiegen. Das wäre eine bemerkenswerte Verbesserung der Situation.
Die älteren Pedelec-Fahrenden haben seit jeher das größte Risiko, mit ihrem Fahrzeug zu verunglücken. Relativ neu ist die zunehmende Zahl an Unfällen mit E-Bikes für Kinder.
E-Bikes gefährlicher als Fahrräder?
Völlig eindeutig ist die Formulierung, die Destatis beim Vergleich zwischen tödlichen E-Bike- und tödlichen Fahrradunfällen wählt: „Pedelec-Unfälle mit Personenschaden enden häufiger tödlich als Unfälle mit Fahrrädern ohne Hilfsmotor.“ 256 Menschen kamen im Jahr 2023 bei Verkehrsunfällen auf nicht motorisierten Fahrrädern ums Leben. Weitere 188 Menschen starben im Verkehr auf einem Pedelec. Die Summe ergibt eine Zahl, die erstens viel zu hoch ist und zweitens leider im langjährigen Durchschnitt liegt. In den Jahren seit 2007 bis 2020 starben zwischen 354 Radfahrende (im Jahr 2013) und 462 Menschen (im Jahr 2009) auf deutschen Straßen. Ein naheliegender Schluss wäre also, dass sich die Infrastruktur nicht maßgeblich verbessert hat. Doch auch hier wäre es angemessen, angesichts der mehr genutzten Pedelecs die Kilometerleistungen zu berücksichtigen. Zumindest Destatis scheint etwas in Relation gesetzt zu haben, denn wenn man sagt, dass „Pedelec-Unfälle mit Personenschaden häufiger tödlich enden“, obwohl die absoluten Zahlen geringer sind als bei unmotorisierten Fahrrädern, dann wurde die Zahl der tödlich verunglückten Radfahrenden offenkundig mit irgendetwas in Bezug gesetzt. Tatsächlich wurde die Zahl der Toten in Relation gesetzt zu je 1000 registrierten Pedelec-Unfällen. Gleiches geschah mit normalen Fahrrädern. Im Ergebnis starben 2023 damit 7,9 Fahrerinnen pro 1000 Pedelec-Unfällen, während 3,6 Menschen pro 1000 Fahrradunfällen tödlich verunglückten. Das ist aber etwas anderes, als die tödlich endenden Unfälle mit Fahrleistungen in Relation zu setzen oder mit den Fahrrad- und E-Bike-Beständen. Bereits vor zwei Jahren hat eine Untersuchung der Unfallforscher der Versicherer (UDV) die Zahlen auf Kilometerleistungen bezogen. Das (in vielen Medien als überraschend bezeichnete) Ergebnis damals: E-Bikes sind nicht gefährlicher als unmotorisierte Fahrräder. Angenommen wurde, dass E-Bikes im Durchschnitt 1,8 Mal längere Strecken zurücklegen als klassische Fahrräder. Ob diese Zahl aktuell noch stimmt, sei dahingestellt (die Zahlen stammten aus der Studie „Mobilität in Deutschland“, 2017). Schon der Faktor 1,8 verändert alles. „Im Ergebnis zeigte sich, dass erwachsene Pedelec-Fahrer:innen zwischen 35 und 74 Jahren kein erhöhtes fahrleistungsbezogenes Unfallrisiko aufweisen“, heißt es in der Studie. „Hingegen zeigte sich für jüngere (18- bis 34-jährige) und ältere (über 75-jährige) Pedelec-Fahrer:in-nen ein erhöhtes fahrleistungsbezogenes Risiko, an einem Unfall beteiligt zu sein beziehungsweise diesen zu verursachen“, berichten die UDV-Expertinnen.
Risikofaktor Alter
Das Alter der Rad- und Pedelec-Fahrenden ist also tatsächlich ein größerer Einflussfaktor als ihr Fahrzeug. Insbesondere gilt beim Pedelec darauf hinzuweisen, dass die Nutzerinnen durchschnittlich älter sind als die unmotorisierten Radfahrenden: »Menschen, die auf einem Pedelec verletzt oder getötet wurden, waren im Durchschnitt 53 Jahre alt und damit trotz des sinkenden Durchschnittsalters älter als auf einem nichtmotorisierten Fahrrad Verunglückte mit durchschnittlich 42 Jahren. Bei älteren Menschen ist die Wahrscheinlichkeit höher, sich bei einem Sturz schwer oder tödlich zu verletzen als bei jüngeren«, heißt es dazu von Destatis. Das sinkende Durchschnittsalter von Pedelec-Nutzerinnen ist nicht bloß ein Markterfolg für die Branche, sondern schlägt sich auch in den Unfallzahlen nieder, wie auch Destatis bemerkt: „Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die Zahl der Menschen, die mit einem Pedelec tödlich verunglückten, je 1000 Pedelec-Unfälle mit Personenschaden in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist: 2014 waren es noch 17,4 Getötete je 1000 Pedelec-Unfälle (gegenüber 7,9 Getöteten im Jahr 2023). Auch dies ist unter anderem auf das sinkende Alter der Verunglückten zurückzuführen.“ Für die Fahrradwelt muss wohl in Zukunft die Aufgabe lauten, viel deutlicher auf die Relation zur Fahrleistung hinzuweisen, diese zu kommunizieren und diese Zahlen dann auch griffbereit parat zu haben. Die Darstellung des Fahrrads als eine gefährliche Art der Fortbewegung ist mindestens irreführend. Gleichzeitig kann sich niemand mit jährlich über 400 tödlich verunglückten Fahrradfahrenden abfinden. Dazu kommt das Leid derjenigen, die überleben, aber bei ihren Unfällen mehr oder weniger stark verletzt werden. Über diese 70.900 Unfälle auf Fahrrädern und weitere 23.658 auf Pedelecs wurde hier gar nicht eingegangen. Ebensowenig wie auf das Auto als Hauptverursacher dieser Unfälle. Die Infrastruktur bleibt der Schlüssel für den langfristigen Erfolg des Fahrrads. Den Ausbau der Fahrrad-Infrastruktur empfahl auch der UDV als Ergebnis seiner Untersuchung.
https://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2024/11/AdobeStock_133398912-scaled-e1730905210790.jpg14162560Daniel Hrkachttps://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2019/08/veloplan-340x156-300x138.pngDaniel Hrkac2024-09-12 16:00:222025-01-15 11:28:54Wie gefährlich ist das E-Bike-Fahren?
Das aktuelle Jahr schlägt mit den höchsten bislang gemessenen Durchschnittstemperaturen und anhaltenden Hitzewellen alle Rekorde. Messbar, spürbar und sichtbar schreitet der Klimawandel voran und stellt uns vor ebenso dringende wie vielfältige Herausforderungen – auch mit Blick auf die Mobilität.
(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)
Schon vor Jahren haben Expertinnen darauf hingewiesen, dass nicht nur die durchschnittlichen Temperaturen steigen, sondern auch sommerliche Hitzeperioden deutlich öfter eintreten, länger dauern und extremer werden – mit hohen Temperaturen, Dürren und Waldbränden sowie lokalen Unwettern mit Starkregen. Tatsächlich erreichte die gemittelte globale Temperatur ab Juni 2023 jeweils monatliche Höchstwerte: Sie lag mehr als 1,6 Grad Celsius über der vorindustriellen Referenzperiode im Zeitraum zwischen 1850 und 1900 und bis zu 1,4 Grad Celsius über dem globalen Durchschnitt zwischen den Jahren 1901 und 2000. Große Sorgen bereitet Klimaforscherinnen zudem aktuell der weltweit sprunghafte dramatische Anstieg der Meerestemperaturen. Seit März 2023 sind die Weltmeere so warm wie nie, und das mit großem Abstand. „Die Erwärmung der Weltmeere hat direkte Folgen für das Leben an Land“, erläutert der deutsche Meteorologe, Ozeanograf, Klimaforscher und Hochschullehrer Mojib Latif. Denn wärmere Ozeane bedeuten mehr Verdunstung, wodurch mehr Energie ins System kommt. Die Folgen sind häufige Wetterextreme wie Stürme, die Infrastruktur zerstören und Waldbrände anfachen können. Gewitter und Starkregen mit enormen Wassermengen können lokal schnell zu Überschwemmungen und reißenden Flüssen und Bächen mit hoher Zerstörungskraft führen.
Klimaschutzmaßnahmen allein reichen nicht
Vielfach wird in öffentlichen und politischen Diskussionen nicht nur die Dramatik der Veränderungen unterschätzt, sondern auch vergessen, dass der menschengemachte Klimawandel weitergeht, selbst wenn es gelingen sollte, den CO₂-Ausstoß drastisch zu reduzieren. „Die Politik muss den Menschen ehrlich sagen, dass wir den Klimawandel in einem gewissen Grad nicht mehr aufhalten können“, sagte der Mobilitäts- und Zukunftsforscher Prof. Dr. Stephan Rammler bereits 2020 im VELOPLAN-Interview. Selbstverständlich bleibt die Reduzierung trotzdem enorm wichtig, um die Folgen einzuhegen und bislang kaum kalkulierbare Kipppunkte im System zu vermeiden. Dringend notwendig ist es zudem, Städte und Landwirtschaftssysteme widerstandsfähig und resilient umzubauen, damit sie mit Hitzestress und Wasserknappheit ebenso umgehen können wie mit Starkwetterereignissen. Der Pfad zur notwendigen Transformation ist dabei grundsätzlich erkannt. Viele deutsche Städte und Kommunen haben in den vergangenen Jahren beispielsweise intensiv an Maßnahmen zum Hochwasserschutz gearbeitet und Pläne zum Umgang mit Hitzeperioden erstellt. Selbst einfache Maßnahmen, wie die Entsiegelung von Flächen und das Pflanzen von Bäumen stoßen im politischen Alltag allerdings oft auf Widerstände. Denn gleichzeitig geht damit meist die Einschränkung von Bauflächen, Parkplätzen oder neu geplanten Straßen einher.
Die Kerngebiete der Städte entwickeln sich schnell zu Hitzeinseln. Hier liegen die Temperaturen tagsüber und nachts deutlich höher als in der Umgebung.
Anteil versiegelter Flächen weiter gestiegen
„Zu viel Grau, zu wenig Grün“ und einen „dramatischen Zuwachs versiegelter Flächen in deutschen Städten“ konstatierte die Deutschen Umwelthilfe (DUH) Ende Juli dieses Jahres. Der Großteil der Städte in Deutschland schütze die Menschen nicht ausreichend vor den extrem hohen Temperaturen infolge der Klimakrise, so das Ergebnis des ersten „Hitze-Checks“ der Deutschen Umwelthilfe unter den 190 deutschen Städten mit mehr als 50.000 Einwohner*innen, basierend auf neuen Daten der Potsdamer Luftbild Umwelt Planung GmbH im Auftrag der DUH. Aktuell würden in Deutschland täglich über 50 Hektar Fläche für Siedlungen und Verkehr verbraucht, was pro Jahr einer Fläche der Stadt Hannover entspräche. Dazu Barbara Metz, Bundesgeschäftsführerin der DUH: „Wir fordern von der Bundesregierung ein rechtlich verbindliches Ziel, die Flächenversiegelung in Deutschland bis spätestens 2035 zu stoppen. In Zeiten der Klimakrise brauchen unsere Städte unversiegelte Böden zur Versickerung von Wasser und Grünflächen zur Kühlung.“ Der anhaltende Trend zu mehr Beton und weniger Grün sei alarmierend. „Statt zu lebenswerten Orten der Erholung entwickeln sich unsere Städte zu Hitze-Höllen.“ Die Bundesregierung müsse jetzt wirksame Maßnahmen ergreifen und bundesweite Standards vorschreiben.
Stark von Hitze betroffen: Anwohnerinnen, Zufußgehende und Radfahrende Städte entwickeln sich im Sommer schnell zu sogenannten Hitzeinseln. Kritisch sind die hohen Tagestemperaturen, vor allem aber die fehlende Abkühlung in der Nacht mit tropischen Temperaturen von über 24 Grad Celsius. Denn Asphaltflächen, parkende Autos, aber auch Beton-, Glas- und Metalloberflächen heizen sich stark auf und speichern die Wärme. Von Hitzewellen besonders betroffen sind damit vor allem weniger wohlhabende Stadtteilbewohnerinnen überall dort, wo es an Grün- und Wasserflächen mangelt, also zum Beispiel in den Stadtzentren und entlang der Einfallstraßen sowie die dort liegenden Einrichtungen, wie Schulen, Krankenhäuser oder Seniorenheime. Große Probleme gibt es auch bei der Mobilität, vor allem mit Blick auf Zufußgehende, ÖPNV-Nutzer*innen und Radfahrende. Hier hilft auch kein individueller Schutz, denn allein der Asphalt heizt sich durch Sonnenstrahlung zum Beispiel auf über 60 Grad Celsius auf. „Liegen Gehsteige in der prallen Sonne, schränkt das die Mobilität insbesondere von älteren und chronisch kranken Menschen ein“, sagt der österreichische VCÖ – Mobilität mit Zukunft. Kritisch sind hier neben den Bürgersteigen vor allem Kreuzungen oder Haltestellen, die keinen Sonnenschutz bieten, sowie fehlende schattige Sitzgelegenheiten, um eine kurze Pause einzulegen. Auch lange Ampelwartezeiten mit Priorität für den Autoverkehr werden in der prallen Sonne schnell zur Tortur. In Gesprächen mit Betroffenen, die bei Hitze zum Selbstschutz tagsüber kaum das Haus verlassen und nachts keinen Schlaf finden, wird die Dramatik schnell sichtbar.
Zweiräder mit Motor eine echte Alternative bei Hitze
Radfahrende sind bei Hitze in ihrer Mobilität gegenüber Zufußgehenden im Vorteil, weil sie für die gleiche Strecke weniger Zeit benötigen und durch den Fahrtwind gekühlt werden. Gleichzeitig steigt die körperliche Anstrengung bei Hitze jedoch stark an, ebenso wie der Flüssigkeitsbedarf. Ärzte warnen beim Radfahren je nach Streckenprofil und Wind bereits ab 25 Grad Celsius vor einer Überlastung des Organismus. Bei hohen Temperaturen hilft dementsprechend hauptsächlich der Fahrtwind in Kombination mit einer Motorunterstützung. Genau das bieten E-Bikes (Pedelecs und S-Pedelecs), E-Scooter oder die in den südeuropäischen oder asiatischen Staaten seit jeher beliebten Motorroller. Eigentlich ist es zudem eine Binsenweisheit, dass Radfahrende, egal ob mit oder ohne Motor, wesentlich dazu beitragen, die CO₂-Bilanz sowie das Klima in den Städten positiv zu beeinflussen. Wichtig sind dabei neben der Energiebilanz, Wärme- und Schadstoffemissionen auch die benötigten Stellflächen.
Große Bäume sorgen in der Stadt für einen hohen Kühleffekt. Weniger nützlich sind dagegen baumlose Grünflächen, die einen etwa zwei- bis viermal geringeren Kühleffekt als baumbestandene Flächen bieten.
Erhebliche Verbesserungen der Infrastruktur möglich
Mit Blick auf die Infrastruktur lassen sich sowohl für Zufußgehende als auch für Radfahrende oft mit einfachen Mitteln erhebliche Verbesserungen erreichen. Dazu zählen schattige öffentliche Sitzgelegenheiten und Trinkbrunnen ebenso wie die Entwicklung von Alternativrouten durch Grünanlagen und Wälder, beschattete Straßen, Kreuzungen und Haltestellen, kühlere Busse und Bahnen oder optimierte Ampelschaltungen und kürze Wartezeiten für den Fußverkehr. Messungen zeigen dabei beispielsweise, dass die Temperaturen einer baumbestandenen Allee sowohl direkt auf der Straße als auch in den angrenzenden Räumen und an den Fassaden jeweils nur rund halb so hoch sind wie auf einer Straße ohne Baumbestand. Technisch einfach umzusetzen ist auch die Umwidmung von Pkw-Parkflächen, beispielsweise mit mobilen Bäumen und Sitzgelegenheiten, Gastronomieflächen sowie die Entsiegelung. Stadtplanerinnen empfehlen zudem große Alleen, um für eine gute Durchlüftung zu sorgen. All das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein essenzieller Faktor auf dem Weg hin zu hitzeresilienteren Städten wohl unabdingbar die Verringerung der Pkw-Dichte und die Umnutzung von Pkw-Parkflächen und -Verkehrswegen ist. Beispiel Berlin: In der Hauptstadt waren zum Stichtag am 1. Januar 2024 laut Statista insgesamt rund 1,24 Millionen Pkw zugelassen – ein Rekordwert. Die Anzahl der regis-trierten Pkw ist dabei im Verlauf der vergangenen zehn Jahre kontinuierlich angestiegen. Gemäß einer Mitteilung der Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt gibt es innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings 229.680 öffentliche Straßenparkplätze, was einer Gesamtfläche von 2.644.608 Quadratmetern entspricht. Gänzlich anders sieht beispielsweise die Entwicklung in Paris aus: Seit rund zehn Jahren werden hier unter dem zentralen Konzept der „15-Minuten-Stadt“ zahlreiche Projekte umgesetzt, um den Autoverkehr zu reduzieren, Radverkehr und ÖPNV zu steigern, den öffentlichen Raum zu begrünen und die Stadt so lebenswerter, gesünder und klimafreundlicher zu machen. Einer kürzlich veröffentlichten Studie des Stadtplanungsinstituts zufolge legten die Bewohnerinnen der Metropole von Oktober 2022 bis April 2023 die meisten Wege zu Fuß zurück (53,5 Prozent). An zweiter Stelle standen öffentliche Verkehrsmittel (30 Prozent), gefolgt von Radfahrer*innen mit 11,2 Prozent. Lediglich 4,3 Prozent der Wege wurden mit dem Auto zurückgelegt (Berlin ca. 26 Prozent).
Einige Städte haben inzwischen Hitzemodelle entwickelt, um gefährdete Gebiete und Handlungsfelder zu identifizieren.
Unterschätzte Hitzefolgen
Die WHO und Gesundheitsexpert*innen betonen immer wieder den zunehmenden und inzwischen extremen Bewegungsmangel in Deutschland und die Entwicklung hin zu immer mehr übergewichtigen Menschen. Die Lebenserwartung werde dadurch abgesenkt, es gebe eine ständig steigende Krankheitslast und wir müssten für die Zukunft wohl auch mit der finanziellen Überforderung der Sozialversicherungssysteme rechnen, erläutert Prof. Dr. med. Swen Malte John von der Universität Osnabrück. Mit der Zunahme an heißen Tagen wird Bewegung im Sommer nicht nur schwieriger, sondern im Hinblick auf vulnerable Gruppen auch immer gefährlicher. Mehr als 47.000 Menschen starben einer aktuellen Studie zufolge in Europa im Jahr 2023 an Hitzefolgen. Vielfach unterschätzt werden zudem auch die sozialen Folgen. Gerade Älteren fehlen während Hitzeperioden wichtige Kontaktmöglichkeiten. Auch wirtschaftlich macht sich die Hitze in den Städten deutlich bemerkbar – und das nicht nur bei den Energiekosten für Kühl- und Klimaanlagen. An Hitzetagen zum Einkaufen in die Stadt oder ins Restaurant? Viele winken ab. Die Menschen konsumierten in Restaurants tagsüber zurückhaltend oder blieben gleich zu Hause, erklärte kürzlich Mario Pulker, Obmann des österreichischen Gastronomie-Fachverbands. Die Umsätze könnten nicht durch die Abendstunden ausgeglichen werden.
„Mehr als 47.000 Menschen starben einer aktuellen Studie zufolge in Europa im Jahr 2023 an Hitzefolgen.“
Alarmstufe rot – auch für Europa
Weltweit sehen sich Kontinente und Länder einer teils dramatischen Hitzekrise gegenüber. Und sie kommt auch zu uns. Diesen Sommer gilt bereits seit einiger Zeit für Italien und andere südeuropäische Länder und Regionen offiziell Alarmstufe Rot. Temperaturen von bis zu 45 Grad Celsius tagsüber, Nächte mit 30 Grad Celsius und eine Wassertemperatur des Mittelmeeres von ebenfalls bis zu 30 Grad Celsius stellen die hitzegewöhnten Regionen vor enorme Herausforderungen. Klimaexpert*innen zufolge könnten ähnliche Verhältnisse bald auch in deutschen Regionen und Städten herrschen. Man kann sich fragen, ob und wie wir darauf vorbereitet sind, mit Blick auf die Gesundheit, die Alterspyramide, Biodiversität, Dürren und ihre Auswirkungen auf die Landwirtschaft und die Wälder oder auch die Energieversorger, die essenziell auf Kühlwasser für Kraftwerke angewiesen sind. Generell lassen die Aussichten wenig Positives erwarten. „Am stärksten werden durch den Klimawandel die Iberische Halbinsel, Mitteleuropa einschließlich des Alpenraumes, die Ostküste der Adria und Südgriechenland durch extreme Temperaturen beeinflusst“, so das Umweltbundesamt. Bis 2100 könne die Temperaturzunahme in Teilen Frankreichs und der Iberischen Halbinsel sechs Grad Celsius übersteigen. Rückblickend könnte die heißeste Zeit heute also die kühlste der kommenden Jahrzehnte sein. Sich darauf einzurichten, kostet Willen, Überzeugungskraft, Geld und Zeit. Was aller Voraussicht nach nicht hilft, ist Fatalismus.
Bilder: stock.adobe.com – Olga Demina, Saltwire, Greenpeace, Stadt Köln, stock.adobe.com – decorator
Bei Kiel denkt man an Küste, Fischbrötchen, Wind und Regen. Ans Fahrradfahren? Wahrscheinlich nicht sofort. Dabei tut die Stadt einiges, um die Fahrradinfrastruktur zu verbessern. Ein Blick auf den aktuellen Stand.
(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)
Gibt man bei Google „Fahrradstadt Kiel“ ein, scheint in Deutschlands nördlichster Hauptstadt einiges gut zu laufen. Es finden sich einige lobende Beiträge, dazu Statistiken vom steigenden Anteil des Fahrrads am Mobilitätsmix und Infos zur wachsenden Fahrradinfrastruktur. „Radverkehrsförderung ist politisch gewollt, einerseits aus Klimaschutzgründen und andererseits aus Gründen der Aufenthaltsqualität. Durch mehr Radverkehr wird die Stadt attraktiver, lebenswerter, ruhiger und gesünder“, begründet Marla Wolframm von der Abteilung Mobilität und Strategie im Kieler Tiefbauamt das Engagement der Stadt für das Zweirad. Oberbürgermeister Ulf Kämpfer kündigte in einem Magazininterview 2023 sogar an, zu Radverkehrs-Leuchtturm-Städten wie Kopenhagen oder Utrecht aufschließen zu wollen. Ein Blick auf den Status quo erscheint vielversprechend: Bereits 2018 war der Anteil des Radverkehrs auf 22 Prozent gestiegen, im Vergleich zu 17 Prozent in 2002. Derzeit werden neue Daten erhoben, doch Marla Wolframm geht davon aus, dass „die Corona-Pandemie mehr Menschen aufs Rad gebracht hat“, die Zahlen werden also wohl nochmals gestiegen sein. Eine Einschätzung, die Alexander Sonders teilt. Der Volkswirt und Gründer hat Firmen, Institutionen und Kunden zu Personen- und Cargo-Transportmöglichkeiten beraten und gleichzeitig mit seinem Kollegen Klaus-Dieter Nebendahl den Radladen Velostyle eröffnet. Direkt an der Veloroute 10.
Die Kieler Velorouten sollen die Menschen schnell ans Ziel bringen. Mit dem Fahrrad –und manchmal auch mithilfe anderer Fortbewegungsmittel wie einer Fähre.
Verbreitern und verbinden
Das ist eine von sechs Radrouten, die sich durch Kiel ziehen, und die, so beobachtet Alexander Sonders, „unglaublich stark genutzt wird. Vor allem zu Stoßzeiten morgens, abends oder wenn Fußballspiele von Holstein Kiel stattfinden“. Die Stadt hat die Velorouten zu einem Kernprojekt in Sachen Fahrradinfrastruktur gemacht. Es gibt sie in Kiel zwar schon seit 1988, damals war das Fahrradaufkommen aber noch wesentlich geringer, die Anforderungen waren andere. In Kiel arbeitet man deshalb gerade daran, die Velorouten auszubauen und bestenfalls in sogenannte Premiumrouten zu verwandeln, die autofrei oder zumindest autoarm und mit wenigen Kreuzungen und Ampeln gestaltet sein sollen. Denn wenn das Fahrrad schneller ist als das Auto, das derzeit für Strecken länger als fünf Kilometer noch das meistgenutzte Fortbewegungsmittel ist, wird der Anreiz höher, umzusteigen. „Vor einigen Jahren haben wir die ersten fünf Kilometer der Veloroute 10 auf eigenständiger ehemaliger Gleis-trasse fertiggestellt“, berichtet Marla Wolframm. Die Velorouten 1, 2 und 4 werden derzeit erweitert. Erstere wird auf 1,9 Kilometern zu einer vier Meter breiten Zweirichtungsanlage ausgebaut, die Route 2 wurde kürzlich fertiggestellt und mit der Veloroute 4 verbunden. Für die wiederum wurden Kfz-Spuren in Radfahrstreifen umgewandelt.
„Durch mehr Radverkehr wird die Stadt attraktiver, lebenswerter, ruhiger und gesünder.“
Marla Wolframm, Kieler Tiefbauamt
Erneuern und aufstocken
Seit den ersten Versuchen mit längeren Rad- und Schutzstreifen vor zehn bis fünfzehn Jahren hat sich einiges getan. Mittlerweile, so heißt es aus dem Tiefbauamt, werde nicht mehr versucht, den Radverkehr ohne große Veränderungen ins bestehende Verkehrssystem zu integrieren. Vielmehr werde er nun bei der Neu- und Umplanung von vornherein mitgedacht. Und auch bereits existierende Strukturen bekommen ein den aktuellen Anforderungen entsprechendes Update. So werden bestehende Radwege im Zuge der alljährlichen „Fertigerwochen“ saniert – 22 Kilometer waren es 2022 – oder auch der „Umsteiger“, das Fahrradparkhaus am Hauptbahnhof, wird aufgestockt, sodass dort künftig rund 200 Pendlerfahrräder mehr Platz haben.
Eine Mobilitätsstation am Bahnhof bietet Abstellflächen, Informationsangebote und die Möglichkeit, auf Zug, Taxi, Car- oder Bike-Sharing zu wechseln.
An der Mobilitätsstation gibt es auch eine Luftpumpe – damit die Radnutzung nicht an platten Reifen scheitert.
Leihen und pendeln
Nicht alle nehmen jedoch das eigene Rad als Transferfahrzeug zwischen zuhause und Zug: „Wir sehen, dass mit großem Abstand die meisten Verbindungen mit unseren Rädern an Bahnhöfe gehen“, schildert Benno Hilwerling. Er ist für die Projektkoordination der SprottenFlotte zuständig. Dieses Bikesharing-System ergänzt seit 2019 als Teil des „Masterplan Mobilität“, der insgesamt 72 Maßnahmen enthält, den Mobilitätsmix in Kiel und der KielRegion. Gerade wurde es auf ländliche Bereiche in der Region erweitert. Eine Besonderheit, und zunächst als Pilotprojekt auf drei Jahre Laufzeit begrenzt, wie Hilwerling erklärt. Im urbanen Kiel ist die SprottenFlotte schon gut etabliert. Rund 42.500 Menschen nutzen das Angebot, im Sommer kommen pro Monat auch mal 50.000 Ausleihen zusammen. Die SprottenFlotte umfasst inzwischen etwa 1200 Räder, darunter 100 E-Bikes, zwölf Lastenräder und fünf E-Lastenräder, die die Menschen in Kiel innerhalb der Stadtgrenzen hauptsächlich für Wege von bis zu drei Kilometern nutzen.
Das Bikesharing-System SprottenFlotte gibt es seit 2019 in Kiel. Inzwischen gehören zur Flotte auch Lastenräder.
Unterstützen und fördern
Auch immer mehr ortsansässige Unternehmen engagieren sich in verschiedener Form fürs Rad. So finanzierte beispielsweise Rewe Digital eine SprottenFlotte-Station vor dem Wissenschaftszentrum. My Boo baut in Kiel nachhaltige Bambusbikes und unterstützt damit soziale Projekte in Ghana. Und bei Velostyle geht es um weit mehr als den Verkauf von Fahrrädern und Accessoires. Übergeordnetes Ziel ist es, dass „die Leute das Fahrrad mit einem guten Gefühl verbinden“, erklärt Alexander Sonders. Damit das passiert, veranstaltet Velostyle einmal im Jahr das Kieler Fahrradfest mit Craftbeer, Foodtrucks, Musik und der Möglichkeit zum Probefahren. Um die hochwertigen Räder bei Großveranstaltungen sicher abstellen zu können, kümmert sich Velostyle bei der Kieler Woche zum sechsten Mal um bewachte Fahrradparkplätze. Dass grundsätzlich auch ein Werkstatt-Service angeboten wird, den vor allem Mitarbeiter*innen der Firmen entlang der Veloroute 10 in Anspruch nehmen, ist selbstverständlich – und wird rege nachgefragt. „Bei uns hat sich der Reparaturbedarf in den vergangenen paar Jahren grob verdoppelt“, stellt der Ladengründer fest. Das Quartier um den Grasweg, wo Velostyle seinen Sitz hat, hat sich ebenfalls radverkehrstechnisch stark weiterentwickelt. Sogar eine Pizzeria mit Drive-Thru-Schalter für Radfahrer gibt es dort. In einem nur knapp eineinhalb Kilometer entfernten Bereich des Französischen Viertels, das zwischen drei Velorouten liegt, soll per Beschluss des Bauausschusses nun ebenfalls unter anderem der Komfort für Radfahrende verbessert werden. Neben Fahrradachsen oder Parkplätzen für Lastenräder sind auch Fahrradbügel geplant.
Gas geben und gebremst werden
Letztere, ebenso wie Poller oder Rotmarkierungen von Fahrradflächen auf Autostraßen, zählt Thorben Prenzel zu „den kleinen Maßnahmen, die schnell etwas bringen und deshalb zuerst umgesetzt werden sollten“. Er ist Geschäftsführer von Rad.SH, der kommunalen Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des Fuß- und Radverkehrs in Schleswig-Holstein, die in beratender Funktion mit Kiel zusammenarbeitet und unter anderem den Flyer „Kiel fährt sicher – Regeln und Tipps für Auto- und Radfahrende“ für die Stadt erstellt hat. Er glaubt, Kiel sei in Sachen Radverkehr auf einem sehr guten Weg. Er weiß aber auch, dass viele Maßnahmen langsamer umgesetzt werden (müssen), als es wünschenswert wäre – und dass es ohne gute Kommunikation im Vorfeld nicht immer gelingt, Anwohnerinnen sowie Laden- und Restaurantbetreiberinnen mitzunehmen. Während alle Maßnahmen, die mit Sicherheitsaspekten begründet werden können, seiner Beobachtung nach meist eine höhere Aussicht auf Akzeptanz und damit auf Erfolg haben, gebe es generell beispielsweise immer dann Diskussionen, wenn es um Parkplätze geht. Oder um andere Einschränkungen des Autoverkehrs.
Der Fahrradstadtplan Kiel zeigt Radfahrer*innen schnelle und attraktive Fahrradrouten.
Befürworten und blockieren
Auch wenn die Stadt vor Beginn von Baumaßnahmen Schreiben samt Kontaktmöglichkeit an die direkten Anliegerinnen herausgibt, Projekte in verschiedenen Stadien in den Ortsbeiräten sowie über die lokalen Medien kommuniziert, „können wir nicht alle erreichen“, räumt Marla Wolframm ein. In Kiel sind längst nicht alle Befürworterinnen der Radverkehrsförderung, die sich 2023 auf 30 Euro pro Einwohner belief. Fast so viel wie in Kopenhagen (ca. 35 Euro). In einem Online-Beitrag des NDR aus 2023 schimpft zum Beispiel CDU-Fraktionsvorsitzender Rainer Kreutz, der Oberbürgermeister versuche, Kiel auch gegen Widerstände als Fahrradstadt zu etablieren. Christina Musculus-Stahnke von der FDP kritisiert, dass die Verbesserungen für den Radverkehr auf dem Rücken der Autofahrerinnen ausgetragen würden, und die AfD moniert in ihrem Programm ein „zunehmendes Ärgernis im Lebens- und Berufsalltag der Bürger“. Dabei sei es der Anspruch der Stadt, bei der Planung alle Verkehrsteilnehmerinnen „mitzudenken und zu vermitteln, warum unsere Radverkehrsmaßnahmen im Einzelnen so wichtig sind“, argumentiert Stadträtin Alke Voß, räumt aber ein, es sei „eine ständige Herausforderung, der Politik und den Kieler*innen die Dauer der Prozesse verständlich zu machen“.
„Kiel ist eine großartige Fahrradstadt – and a bike city is a happy city.“
Alexander Sonders, Velostyle Kiel
Wertschätzen und weitermachen
Denjenigen, die für eine Verbesserung der Radinfrastruktur sind, geht es nämlich nicht immer schnell genug. Auch Fahrradladenbesitzer Alexander Sonders würde sich noch einige Verbesserungen im Detail wünschen, zum Beispiel, dass die Radwege noch besser vernetzt, breiter und besser separiert werden. Er fände außerdem eine höhere Kompromissbereitschaft der verschiedenen Verkehrsteilnehmer*innen wichtig, damit auf der begrenzten Stadtfläche Platz für alle ist. Insgesamt findet er aber, dass Kiel den Radverkehr auf vielen Ebenen fördert und zu Recht regelmäßig in Umfragen und Vergleichsstudien unter den fahrradfreundlichsten Städten Deutschlands landet, denn: „Kiel ist eine großartige Fahrradstadt – and a bike city is a happy city.“
Bilder: Landeshauptstadt Kiel – Christoph Edelhoff, Grafik: Landeshauptstadt Kiel, Landeshauptstadt Kiel – Annika Pleil, SprottenFlotte
Der Versicherer Wertgarantie hat auf der Eurobike seine neue Marke Linexo sowie sein innovatives Bikeleasing-Konzept vorgestellt. Unter dem neuen Slogan „Bewusst anders unterwegs“ setzt Linexo auf nachhaltige Mobilität und bietet umfassende Lösungen für Fahrrad- und E-Bike-Versicherungen sowie ein stressfreies und faires Leasing-Angebot. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)
Viele Menschen leisten bereits heute ihren Beitrag zur nachhaltigen Mobilität, oft ohne sich dessen bewusst zu sein. Linexo by Wertgarantie will die positiven Effekte der aktiven Mobilität per Rad und E-Bike noch sichtbarer machen.
Starker Versicherungsschutz für Fahrrad und E-Bike
Mit dem Komplettschutz sichert Linexo wie bisher Verschleiß, Sturz, Diebstahl und weitere gängige Schäden am Bike umfassend ab. Mit einem großen Netzwerk von über 2000 Partnern im lokalen Bike-Fachhandel, darunter auch Filialisten, sowie einer einfachen, digitalen Schadensabwicklung per App und Kundenportal sorgt Linexo dafür, dass alle Bikefans sicher unterwegs bleiben. Die Linexo-App ist ein digitales Multi-Tool für alle Bikefans und hilft unterwegs mit Abhol-Service, Fahrradpass sowie Werkstatt- und Ladestationen-Suche.
Jetzt registrieren für stressfreies und faires Bikeleasing
Neu unter den Mobilitätslösungen von Wertgarantie ist Linexo Leasing: Mit Bikeleasing und Versicherung aus einer Hand bringt Linexo Arbeitnehmende zu ihrem Traumbike und sorgt dafür, dass es auch im Schadensfall schnell wieder rund läuft. Es bietet ein stressfreies Handling für Arbeitgebende, Arbeitnehmende sowie Händler durch ein umfassendes Produkt: Komplettschutz, Inspektionsleistungen und Ausfallschutz sind inklusive und werden – einmalig auf dem Leasing-Markt – nicht durch Drittanbieter gestellt. Kein Tarifdschungel, sondern faire Konditionen und transparente Prozesse heben Linexo Leasing von anderen Anbietern ab. Interessierte, insbesondere aus dem Fachhandel, können sich schnell und unkompliziert über den QR-Code oben im Leasing-Portal registrieren oder das Linexo-Portal besuchen: https://leasingportal.linexo.com/
Kaum jemand bestreitet, dass Radfahren die umweltverträglichste Mobilitätsform neben Gehen ist. Aber wie sieht es mit Rad und E-Bike selbst aus? CO2-Fußabdruck, Recycling-Praxis seiner Teile, Probleme, die ein Akku für die Umwelt mit sich bringt? Wir haben einen breiten Blick darauf geworfen, wie die Schadstoff- und Umweltbilanz des Verkehrsmittels aussieht – und wie die Industrie sie verbessern will.
(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)
Gleich vorweg: Der CO2-„Reifen-abdruck“ des Fahrradfahrens ist so gut wie bei keinem anderen Verkehrsmittel – je nach Berechnung arbeitet man mit etwa 30 Gramm CO2 je Fahrradkilometer. Beim Auto sind es etwa um 100 Gramm pro Kilometer mehr. Vielleicht die wichtigste Umwelt-Bilanz der Verkehrsmittel, aber bei Weitem nicht die einzige. Denn je nach Rahmenmaterial, Qualität und auch infolge der Lebensdauer kommen Energieaufwand bei der Produktion, Montage und Wartung sowie dieselbe Berechnung für die Ersatzteile hinzu. Und im Betrieb stoßen wir nicht nur beim E-Bike mit seinem (wenn auch geringen) Stromverbrauch auf weitere Stolpersteine: Da wäre zum Beispiel der Reifen- und Bremsenabrieb im Verkehr. Reifen – sowohl die am Auto als auch am Fahrrad – sind laut Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) die größte Einzelquelle für Kunststoffabrieb. Feinstaub. Über 100.000 Tonnen im Jahr sollen es laut BUND vom Auto sein. Einen kleinen, aber durchaus relevanten Teil steuern die Fahrradreifen bei – ein Problem, das auch dem Fahrrad wohl in Zukunft kaum zu nehmen ist.
Mit dem Metabolon-Institut entwickelte Reifenhersteller Bohle (Schwalbe Reifen) den Recycling-Reifen. Er spart 80 Prozent CO2.
Vom Löwenzahn zum Reifen
Schauen wir da lieber auf die Möglichkeiten, das Fahrrad umweltfreundlicher zu gestalten. Nachwachsende Rohstoffe – hier kann man beim Reifen bleiben: Continental baut seit einigen Jahren den Taraxagum-Reifen, einen Reifen aus Löwenzahn-Kautschuk. Sein Basismaterial wird nicht aus den Tropenwäldern importiert, was lange Lieferwege impliziert. Der spezielle Löwenzahn wächst zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern. Leider ist die Auswahl an Reifen dieser Produktion heute noch äußerst begrenzt. Reifen sind die Problemkinder der Fahrradindustrie, was den Umweltschutz angeht. Auch der deutsche Marktführer Schwalbe hat das erkannt. Er baut seit Kurzem seinen Topseller in der „Green“-Version. Der Green Marathon ist laut Hersteller der erste Reifen mit geschlossenem Produktkreislauf: Er wird aus fair angebautem Kautschuk gewonnen (zertifiziertes Anbau- und Erntemanagement) und besteht zu 80 Prozent aus recycelten und erneuerbaren Rohstoffen. So erhält man laut Hersteller Bohle einen um 41 Prozent verringerten CO2-Fußabdruck. 70 Prozent der Pneus des Unternehmens werden heute aus recyceltem Ruß hergestellt. Er kann fossil hergestellten Industrieruß vollwertig ersetzen. Der Ruß kommt dabei von einem Recycling-Unternehmen im Saarland. Im August 2024 konnte Schwalbe bereits den einmillionsten recycelten Reifen feiern. Der Leiter des CSR von Schwalbe, Felix Jahn, erklärt, dass es „keine Kompromisse in Sachen Qualität und Performance der Reifen“ gebe. „Das ist oberste Prämisse beim Einsatz von recycelten Materialien.“ Schläuche werden übrigens bei Schwalbe schon lange recycelt, zu einem sehr hohen Prozentsatz fließen alte, defekte Schläuche wieder in die Produktion ein. Auch andere Hersteller nehmen Kurs auf Recycling-Reifen – oder zumindest Nachhaltigkeit in den Fokus. Beim Autoreifen ist Recycling übrigens lange schon selbstverständlich, wird aber unterschiedlich praktiziert. Sie werden zur Energiegewinnung verbrannt, eine Reifenbasis, von der die Lauffläche genommen wird, wird runderneuert, oder die einzelnen Inhaltsstoffe werden getrennt und zu anderen Produkten verarbeitet.
In der Modellpalette bisher begrenzt, aber vorhanden: Continental-Reifen aus „Löwenzahn-Kautschuk“.
Ich war keine Dose
Aber denken wir weiter, der Reifen ist nur eine Komponente unter vielen am Fahrrad. Wie sieht es mit dem Fahrradrahmen selbst aus? Seit dem Ende des letzten Jahrhunderts hat sich die Fahrradproduktion auf Aluminium-Rahmen konzentriert. Dieses Material braucht viel Energie zur Herstellung, lässt sich aber relativ leicht recyceln. Es kann gut und, im Gegensatz zu Stahl, auf einem hohen Qualitätsniveau wiederverwendet werden. Entsprechend gibt es immer wieder Projekte – das „Ich war eine Dose!“ ist vielen sicher noch im Gedächtnis –, in denen tatsächlich mit Alu-Schrott hochwertige Aluminium-Produkte wie Fahrradrahmen hergestellt werden. Und natürlich umgekehrt. Zu einem flächenübergreifenden Phänomen ist das bislang nicht geworden. Das liegt weniger an den technischen Möglichkeiten als an dem Fehlen von Unternehmen, die solche Ansätze aufgreifen und eine entsprechende Infrastruktur aufbauen würden. Die gibt es auch nicht beim Stahlrahmen, aber aus anderen Gründen: Hier wird fast ausschließlich mit Legierungen gearbeitet. Effekt: Das Recycling-Ergebnis ist von deutlich minderer Qualität als der Ausgangsstahl, da diese Legierungen kaum aufzutrennen sind. Der entstehende Stahl ist als einfacher Baustahl verwertbar, Fahrräder oder Fahrzeuge kann man damit nicht produzieren. Stahl ist allerdings nicht besonders recycling-relevant, da heute nur noch einige wenige Liebhaber auf diesen Stoff, meist aus Handarbeit, schwören. Entsprechend hochpreisig sind diese Räder, und werden auch entsprechend gepflegt und lange gefahren. Also: Nachhaltigkeit ist inte-griert, was letztendlich dem Klima nützt.
Von Sportlerinnen geliebt – von der Umwelt nicht Im Trend für den Fahrradrahmen des Sportrads lag die letzten Jahre aber der Verbundstoff Kohlefaser – Carbon. Mit ihm ist es möglich, sehr verwindungssteife und dabei leichte Rahmen herzustellen. Das Wort Verbundstoff sagt es schon: Hier gehen Fasern und der verbindende Stoff, meist Epoxidharz, eine Synthese ein. Die lässt sich zwar durch ein aufwendiges Verfahren auch wieder lösen, allerdings sind die resultierenden Fasern dann nur wenige Millimeter lang. Bedeutet: Der eigentliche Vorteil von Faserverbundstoffen, die hohe Stabilität und Flexibilität bei geringem Gewicht, geht dabei weitgehend verloren. Es wird also downgegradet: Es können relativ stabile, Kunststoffteile aus dem gewonnenen Material hergestellt werden, die – analog zu Baumaterial bei Stahl – deutlich weniger Elastizität bieten können. Ein Cradle to Cradle-Verfahren – also mit Recycling-Materialien auf demselben Niveau wie das Ursprungsmaterial – kann ein solches Produkt also nicht bieten, außerdem wird das abgespaltene Epoxidharz zur Energiegewinnung für den Prozess verwendet, was nicht ganz schadstofffrei ablaufen kann. Allerdings haben sich in den letzten Jahren Unternehmen der Reparatur von Carbon-Rahmen verschrieben. Meist untersuchen sie die Rahmen per Ul-traschall nach Beschädigungen und laminieren gebrochene Stellen neu, schaffen also eine zusätzliche gewickelte Materialhülle an der jeweiligen Schadensstelle. Diese Unternehmen geben meist eine Garantie auf ihre Reparatur. Die Sportlerinnen kaufen also keinen neuen Rahmen beziehungsweise kein neues Fahrrad und belasten die Umwelt dadurch nicht zusätzlich.
„Das Thema zirkuläres Fahrrad gehört in den Fachhandel – und jemand muss das bewerkstelligen.“
Nikolai Mosch, Moschbikes
Eigenes Schaltwerk-Label: Der Recycler Mosch recycelt auch Komponenten am Fahrrad, vom Bremshebel bis zum Schaltwerk.
Auch Plastik kann nachhaltig sein
Umweltfreundlich heißt also nicht allein recyclebar. Zunächst geht es um die Herstellung und den CO2-Äquivalenzwert in der Lebensdauer. Unter anderem die TU Berlin hat errechnet, dass ein Alu-E-Bike um die 200 Kilogramm CO2 verschlingt – in puncto Herstellung und Betriebsleben. Andere Forschungsorganisationen kamen zum in etwa gleichen Wert. Nur am Rande: Das Auto verschlingt rund 10 Tonnen CO2 alleine in der Herstellung. Aber es gibt viele Möglichkeiten, mehr Nachhaltigkeit aus Produkten zu holen. Eine davon ist, sie gleich aus bereits recycelten Materialien herzustellen. Seit Jahren beharrlich arbeitet der Kunststoffhersteller Igus an einem Fahrrad, das fast ausschließlich aus recycelten Fischernetzen hergestellt wird. Mittlerweile gibt es die erste Serie. Vor allem Werksflotten hat Igus zunächst damit im Blick, erklärt Sven Ternhardt, Head of Sales and Marketing. „2025 wollen wir bereits 5000 Stück des Rcyl verkaufen“, sagt er. Und es geht sukzessive weiter: „Erfahrungen, die wir mit den ersten Serien gemacht haben, fließen in die weiteren Entwicklungen.“ Für den E-Bike-Hersteller Advanced entwickelt und produziert man außerdem den ersten recycelbaren Kunststoff-Rahmen mit Carbonfasern im Spritzgussverfahren.
Die Bio-Abteilung der Fahrradbranche
Der kleine Trend hin zum Recycling-Produkt Fahrrad ist unübersehbar. Im Kleinen machte das bereits Nikolai Mosch mit dem Unternehmen Moschbikes vor: Er baut Fahrräder aus alten Fahrradrahmen und Komponenten. 2017 fing er an, Fahrräder zu zerlegen und auf vielen Ebenen nachzuforschen: „Wie technisch perfekt kann ein Recycling-Fahrrad werden, wie spielt der Lack mit, was gibt der Markt her, welche Rolle spielt heute schon die Circular Economy?“ Seine Umtriebigkeit und erste Erfolge brachten ihm mehrere Preise ein. Das zirkuläre Fahrrad ist nicht nur der Bauchladen von Herrn Mosch. Er sagt: „Das Thema zirkuläres Fahrrad gehört in den Fachhandel – und jemand muss das bewerkstelligen!“ So will er den Fahrradhändler*innen einen „Bio-Fahrradladen“ im Franchise-System anbieten. Die Partnerschaft kann auf vielen Ebenen erfolgen. Ein möglicher kleiner Einstieg: Die Händler liefern nur defekte Fahrradschläuche, die von Moschbikes repariert und dann im ursprünglichen Laden wieder verkauft werden. Der Bio-Fahrradladen soll sich dann mit Moschbikes und anderen Eigenmarken vom normalen Handel abheben. So hat Mosch zum Beispiel auch ein eigenes Lenkerband entwickelt, das ohne schädlichen Klebstoff auskommt. Er baut auch Komponenten um. So erhalten beispielsweise Naben Schmiernippel, um sie wartungsfreundlicher und damit langlebiger zu machen.
Schrottfahrräder sind eine Herausforderung im Stadtbild und für die Umwelt. Doch immer mehr private und karitative Institutionen arbeiten am Abbau und Recycling der Räder.
Schrott, der kostet und Platz verbraucht
Damit gehen Mosch und andere auch ein weiteres wachsendes Problem in unseren Städten an: Schrottfahrräder. In deutschen Städten türmen sich Fahrräder, die nicht mehr genutzt und stehen gelassen werden. Laut aktuellen Darstellungen sind das laut Süddeutscher Zeitung beispielsweise in Hamburg pro Jahr 5000 bis 6000 Stück neu hinzugekommene, in Köln (Angaben der Stadt) und München ebenso, und selbst die deutlich kleinere „Fahrradstadt Münster“ kommt auf diese Zahl. Auch wenn sich die Beträge bei den kleineren Städten vermindern, ein Platz-, Umwelt und nicht zuletzt ein städtebauliches Problem sind die Schrotträder auch dort. Mosch und andere Unternehmen, aber auch gemeinnützige Organisationen setzen hier an und sich mit den Städten zusammen, um aus Schrottfahrrädern nutzbare Räder aufzubereiten. Der Verein Goldnetz in Berlin etwa sammelt vom dortigen Ordnungsamt gekennzeichnete Räder ein und baut – im Projekt Good Bikes – mit verwertbaren Komponenten wieder Bikes daraus. Diese werden dann an gemeinnützige Initiativen und Vereine abgegeben. An der Aufbereitung arbeiten vor allem Langzeitarbeitslose, sodass das Projekt in vielerlei Hinsicht hilft, Probleme zu beseitigen. Immerhin kosten Schrottfahrräder laut einer Berechnung der Verbraucherseite Chip.de den Verbraucher um die 20 Millionen Euro im Jahr. Glücklicherweise gibt es dieses Problem bislang nicht mit E-Bikes: Sie sind wohl für die meisten Nutzer*innen zu wertvoll, um aufgegeben zu werden.
Auch E-Bikes werden mittlerweile refurbished, also von Grund auf überarbeitet. Hier beim Unternehmen Rebike.
Auch bei E-Bikes: nachhaltiger als neu
Seit etwa fünf Jahren steigt die Zahl der Onlineshops für gebrauchte Räder. Buycycle und Rebike sind zwei der größten Player auf dem Markt, der sich nach dem Motto erweitert: Nachhaltigkeit fängt bei der Lebensdauer eines Produkts an. Rebike war einer der ersten Marktteilnehmer, die sich an E-Bikes wagten. Sogenannte Refurbished E-Bikes, die von Grund auf überholt wurden, werden mittlerweile gut angenommen, auch wenn die Verkaufszahlen derzeit noch verschwindend gering sind, verglichen mit den Zahlen von neuen Rädern. Beide Unternehmen sind professionell arbeitende Onlineshops mit Strukturen für den Kauf, wie man sie von klassischen Stores kennt.
E-Bike-Special: Akkurecycling
Auch der Lebenszeitraum von Refurbished E-Bikes geht irgendwann jedoch zu Ende. Wenn dieser Zeitpunkt kommt, ist der Umgang mit den ausgedienten Batterien noch ausbaufähig. Grundsätzlich müssen E-Bike-Battieren seit 2009 nach Ende der Nutzungszeit dem Recycling zugeführt werden. Die Kosten dafür trägt der Hersteller oder Importeur, das ist im Batteriegesetz geregelt. Gesammelt werden die alten Stromspeicher meist von den Händlern. Die Stiftung Gemeinsames Rücknahmesystem Batterien (GRS) und der Zweirad-Industrieverband haben damals eine Branchenlösung ausgearbeitet. Der Handel ist verpflichtet, die Akkus kostenfrei zurückzunehmen. Die GRS kümmert sich darum, die Akkus abzuholen und sie zur Verwertung weiterzutransportieren. Bislang steht die Zahl der zurückgegebenen Akkus allerdings in keinem erhellenden Verhältnis zu den verkauften E-Bikes, was unter anderem daran liegt, dass die GSR eine Batterie-Lebenszeit von im Schnitt acht Jahren erwartet und vor 2016 die Verkaufszahlen von E-Bikes noch weit von den Rekorden der Zwanzigerjahre entfernt lagen. Außerdem dürften viele schwächelnde E-Bikes und deren Akkus zunächst ein Kellerdasein führen, bevor sich Besitzer oder Besitzerin entschließt, den Akku zu erneuern oder das Rad wie auch immer abzugeben. Derzeit sind 155 Hersteller mit der GRS verpartnert.
„Ungenutzte E-Bikes oder gar defekte Akkus bleiben oft jahrelang im Keller liegen. Sie sind ein nicht genutzter Rohstoff für das Recycling und den Einsatz in neuen Batterien.“
Tim Salatzki, Leiter Technik und Normung beim ZIV
Aufbau eines klassischen E-Bike-Akkus. Ein Problem: Zellen altern nicht unbedingt gleichmäßig, ein zuverlässiges Ausleseverfahren fehlt aber noch.
Zellen ersetzen bei Akkus?
„Natürlich gibt es auch gesetzliche Berichts- und Nachweispflichten, die die GRS für die Hersteller übernimmt“, so der Leiter Technik und Normung beim ZIV, Tim Salatzki. Allerdings gibt es für E-Bike-Batterien derzeit keine Mindestrate, wie viele Akkus recycelt werden müssen. „Zukünftig gehören E-Bike-Batterien zur neu geschaffenen Kategorie „Light Means of Transport“-(LMT)-Batterie, für die genaue Sammelziele gelten. Die größte Herausforderung bei diesem System ist die Praxis der Endverbraucher und -verbraucherinnen“, so Salatzki. „Ungenutzte E-Bikes oder gar defekte Akkus bleiben oft jahrelang im Keller liegen. Sie sind ein nicht genutzter Rohstoff für das Recycling und den Einsatz in neuen Batterien.“ Die Alternative für einen Aufschub der Verwertung: Akkus reparieren. Doch das klingt noch nach Zukunftsmusik. Einen Grund nennt E-Bike-Experte Hannes Neupert, Gründer des Vereins Extraenergy, und Mobilitätsberater. Er bedauert, dass es keine sicheren Auslesemethoden über die Qualität von Alt-Akkus gebe. Bedeutet: Batterien, die ja ohnehin als Gefahrengut gelten, können bislang nicht ausreichend seriös und sicher wiederaufbereitet werden. Neupert beklagt hier das mangelnde Interesse der Hersteller an langer Lebensdauer der Akkus und einem florierenden Secondhand-Markt.
Umweltbewusstsein als Radfahr-Argument
Grundsätzlich lässt sich Radfahren schnell mit Umweltbewusstsein in Verbindung bringen. Aber ist dieses Ziel auch eine wesentliche Motivation für die Radfahrenden? 2010 belegte Eva Heinen, heute Professorin an der ETH Zürich und stellvertretende Leiterin des Instituts für Verkehrsplanung und Transportsysteme zusammen mit anderen Forscherinnen, dass der Umweltgedanke durchaus einer der Motivatoren fürs Radfahren ist. Allerdings zähle der positive Effekt des Radfahrens auf die Umwelt nicht zu den wichtigsten Entscheidungsfaktoren fürs Rad. Zunächst werden meist die Unkompliziertheit des Radfahrens angeführt (etwa bei der Parkplatzsuche), der Spaß am Fahren und die Bewegung. Das Ergebnis fällt anders aus, fragt man nach Gründen von Nicht-Radfahrerinnen, die denken, dass sie besser aufs Zweirad umsteigen sollten. Hier steht der Umweltgedanke oft an erster Stelle. Häufig genug bleibt die entsprechende Verhaltensänderung aber aus. Einleuchtend wird das vielleicht, sieht man auf das oft zentrale Argument der Radfahrenden: die Freude am Radfahren. Dieses scheinbar intrinsische Feature des Rads ist offensichtlich ein effizienterer Motivator als alles andere.
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https://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2024/11/AdobeStock_888469832-scaled-e1730816126189.jpeg13392560Georg Bleicherhttps://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2019/08/veloplan-340x156-300x138.pngGeorg Bleicher2024-09-12 15:19:492025-01-15 11:39:25Wo steht das Rad in Sachen Klimaschutz? „Das neue Re-Cycle“
It’s my Bike ist nicht nur ein GPS-Tracker, sondern eine ganze digitale Servicewelt für E-Bike-Besitzer*innen. Das Herzstück des Angebots ist ein digitaler Diebstahlschutz mit Wiederbeschaffungsservice.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)
Der Standort des gestohlenen Fahrrads lässt sich zuverlässig mittels GPS ermitteln. Über die It’s-my-Bike-App können die Fahrerinnen im Fall eines Diebstahls die Polizei verständigen. Zusätzlich zu den Behörden schaltet sich das Bike Hunter Team von It’s my Bike ein und arbeitet eng mit den örtlichen Beamtinnen zusammen, um das gestohlene E-Bike zu suchen und zu finden. Die Arbeit lohnt sich, zeigt die Statistik. Drei von vier Rädern können sichergestellt werden. Das Team agiert auch im europäischen Ausland erfolgreich. Darüber hinaus können Nutzer*innen in der App einen digitalen Unfallassistenten aktivieren und Fahrdaten wie die zurückgelegten Kilometer, Geschwindigkeiten, Strecken und CO2-Einsparungen abrufen. Außerdem besteht die Möglichkeit, eine vergünstigte E-Bike-Versicherung mit GPS-Schutz von Anbieter Alteos abzuschließen und sich damit gegen die Restrisiken abzusichern. It’s my Bike ist als Nachrüstlösung im Fachhandel erhältlich und kostet 199 Euro inklusive drei Jahren und 249 Euro inklusive fünf Jahren Konnektivität. Über die App lässt sich der Service nach Ablauf des Zeitraums ganz einfach verlängern. Die Tracking-Lösung, hinter der das Darmstädter Unternehmen IoT Venture GmbH steckt, ist bei einer Vielzahl namhafter E-Bike-Hersteller bereits ab Werk verbaut. IoT Venture entwickelt die Soft- und Hardware und stellt die notwendige Datenplattform bereit. Außerdem unterstützt der Anbieter die Abnehmer mit einer (White-Label-)App und beim Datenhandling.
https://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2024/11/DSC02447_ITSMYBIKE.jpg23621576Sebastian Gengenbachhttps://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2019/08/veloplan-340x156-300x138.pngSebastian Gengenbach2024-09-12 15:18:342025-01-15 11:41:03Abgesichert für den Fall der Fälle
Ein perfekter Fahrradscheinwerfer würde in der Theorie die Fahrbahn gleichmäßig hell ausleuchten, mit einer komplett waagerechten Hell-/Dunkel-Grenze. Briq-XL ist für Hersteller Busch + Müller der entscheidende Techniksprung, der einer solchen idealen Lichtverteilung so nahekommt wie zuvor kein anderer Scheinwerfer.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)
Der Briq-XL leistet 150 Lux, die sich nicht nur an der hellsten Stelle, sondern fast überall in dem breiten, weiten und gleichmäßigen Lichtfeld bemerkbar machen. Der Scheinwerfer produziert dazu eine klare Hell-/Dunkel-Grenze. Mit traditionellen Zahlenwerten lässt sich das Flächenlicht des Briq-XL laut Hersteller Busch + Müller kaum messen. Statt der Nacht entgegen blickt man in dem von bis zu 8000 Lumen angefüllten Lichtteppich des Fahrradlichts in den Tag. Je nach Lenkeinschlag wird in Kurvenfahrten ein digitales Kurvenlicht sequenziell hinzugeschaltet, was den Lichthorizont waagerecht hält. So sollen Abbiegevorgänge so brillant ausgeleuchtet werden wie die gerade Strecke. An der Kurvenaußenseite fährt der Briq-XL das Licht zeitgleich dort zurück, wo sonst der Gegenverkehr durch eine angehobene Lichtaußenkante geblendet würde. Ein Druck auf den Lenkertaster des Briq-XL aktiviert das weit strahlende Fernlicht. Jeweils drei Lichtöffnungen links und rechts setzen markante Design-Akzente und sorgen für beste Sichtbarkeit von der Seite. Montiert wird der Scheinwerfer am Lenker mit einem robusten, einarmigen Metallhalter. Weil dieser auch um 180° versetzt am Scheinwerfer andocken kann, lässt sich der Scheinwerfer stehend oder unterm Lenker hängend anbringen. Verbindet man das neue Flaggschiff von Busch + Müller per Bluetooth mit der App, öffnen sich einige Möglichkeiten, das Licht zu kontrollieren. Vorgefertigte Modi wie City, Road oder Offroad sind an unterschiedliche Bedingungen angepasst und unter „Mein Modus“ lassen sich Merkmale wie unter anderem Abblend-Fernlicht-Verlauf, Tagfahrlicht, Leuchtbreite und -weite individuell programmieren.
https://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2024/11/156_BriqXL_Lenkermontage-e1730728472971.jpg12792500Sebastian Gengenbachhttps://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2019/08/veloplan-340x156-300x138.pngSebastian Gengenbach2024-09-12 14:58:542025-01-15 11:42:01Vorstoß in eine neue Dimension – mit digitalem Kurvenlicht
Solarenergie ist auch auf Radinfrastruktur ein relevantes Thema. Ein Überblick über erste Lösungen auf öffentlichen Strecken.
(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)
Die Sache mit der Solarenergie auf dem Radweg endete in einem medialen Fiasko. Statt Energie aus erneuerbaren Quellen erntete die Stadt Erftstadt Häme in sozialen Medien, ein NDR-Beitrag mit dem Titel „Realer Irrsinn“ stempelte den Versuch im Ortsteil Liblar zur Lachnummer ab. Was im Jahr 2018 als Vorzeigeprojekt von der damaligen Bundesumweltministerin Svenja Schulze eingeweiht wurde, ist fünfeinhalb Jahre später von der Kommune wieder entfernt worden. 90 Meter Solarradweg, der erste in der Bundesrepublik, sind nun verschwunden. Die Stadt habe „die Notbremse gezogen“, meldete der Kölner Stadt-Anzeiger, Stadtsprecher Christian Kirchharz sagt: „Wir mussten handeln.“
Euphorie beim Start in Erftstadt
Die Hoffnungen, die 2018 ins Pilotprojekt gesetzt wurden, waren erheblich. Der Berliner Ingenieur und Erfinder Donald Müller-Judex hatte mit seinem Unternehmen Solmove an einer Radweg-Oberfläche getüftelt, die in der Lage sein sollte, den Zweiradverkehr ganzjährig sicher zu führen und zugleich Energie aus dem Sonnenlicht in Strom umzuwandeln. Der „Spiegel“ berichtete, so relevant war das Projekt, 16.000 Kilowattstunden würden die 200 mit Solarzellen ausgeschmückten Quadratmeter im Jahr liefern. „Es ist ein bisschen wie ein erster Schritt auf dem Mond“, zitierte das Hamburger Nachrichtenmagazin den Erfinder. Die 90 Meter sind inzwischen wieder asphaltiert. Der Rückbau kostete die Gemeinde 30.000 Euro. Zuvor hatte sich die Wegstrecke in ein Ärgernis verwandelt. Die Oberfläche war aufgeplatzt, Glas aus den Modulen gebrochen, für Radfahrer war die Zukunftstrasse zum Hindernisparcours geworden. Warum das Projekt zum Fehlschlag wurde, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. Erfinder Müller-Judex spricht bis heute davon, die Stadt habe das Vorhaben „blockiert“, ein Zähler wurde nicht montiert, die Heizfunktion kam nicht in Gang, die Unterhaltung der Flächen jedenfalls missglückte und statt Strom erntete man in Erftstadt Spott.
Erkenntnisse aus dem Misserfolg
Doch muss man diesen Versuch deshalb verurteilen? „Grundsätzlich steht die Stadtverwaltung auch anderen Versuchen und Innovationen offen gegenüber“, sagt Sprecher Kirchharz: „Dass der Solarradweg gescheitert ist, verstehen wir als notwendige Erfahrung, die auch gemacht werden müssen. Ein Erfolg wäre für alle besser gewesen, aber die gewonnenen Erkenntnisse sind ebenfalls wertvoll. Der Solarradweg wurde, neben dem kurzen Stück mit den Solarpaneelen, mit einem vollständig versickerungsfähigen Elastopave-Material (PU-basiertes Oberflächensystem) ausgebaut, womit wir sehr gute Erfahrungen gemacht haben.“ Wer nicht wagt, der nicht gewinnt – wer keine Versuche macht, wird auch keine neuen Erkenntnisse gewinnen. Auch diese Lesart lässt sich beim Erftstädter Versuch vertreten.
Der Freiburger Radweg ist an die Bedenken der Radfahrer angepasst und verfügt über ein modernes LED-Beleuchtungssystem.
Solardach in Freiburg
In Freiburg im Breisgau spricht man weiterhin sehr gern über ein anderes Pilotprojekt, das es ebenfalls in den vergangenen Monaten häufig in die Medien geschafft hat. Dort hat der regionale Energieversorger Badenova nach einem Vorstoß durch die Stadt ebenfalls einen Solarradweg gebaut und in Betrieb genommen. Lars Meyer, zuständiger Projektmanager für erneuerbare Energien, gibt gern Vertretern aus anderen Städten und Gemeinden Einblicke in das Projekt, das vor etwa zehn Jahren mit einem Besuch einer Freiburger Delegation in der südkoreanischen Partnerstadt Suwon seinen Ausgang nahm. Damals sah der Leiter des Umweltschutzamts in Fernost einen solarüberdachten Radweg und gab das Ziel aus, im Einklang mit Freiburgs Klimaschutzprogramm ebenfalls eine solche Lösung für die heimische Stadt zu finden. „Es geht darum, einen Beitrag zur dezentralen Energiewende und zum aktiven Klimaschutz zu leisten“, erklärt Lars Meyer. Es war auch wichtig, etwas zu schaffen, das nicht nur in Freiburg funktioniert. „Es geht darum, eine skalierbare und auch ökonomisch umsetzbare Lösung zu schaffen“, berichtet der Planer. Gerade das Vermarkten von Strom im urbanen Raum sei eine Sonderaufgabe, die bei einem solchen Radweg ansteht.
Energiebilanz erst Ende 2026
Seit dem Herbst 2023 ist die Anlage in Freiburg in Betrieb. Sie liegt direkt bei der Messe, gleich in der Nähe des neuen Stadions des Fußball-Bundesliga-Vereins SC Freiburg. 300 Meter ist die Trasse lang, die Überdachung 2,50 Meter hoch und überzogen mit 912 Glasmodulen, die eine angepeilte Energiemenge von 280 Megawattstunden im Jahr liefern sollen. Da das erste Solarjahr nach Inbetriebnahme noch nicht abgelaufen ist, lässt sich über die Ernte noch keine Aussage treffen. Projektleiter Meyer weist darauf hin, dass aufschlussreiche Erkenntnisse auch erst nach drei Jahren zu gewinnen seien – wenn saisonale Schwankungen ausgeglichen sind.
„Es war wichtig, einen direkten Anlieger zu finden, der den Strom im räumlichen Zusammenhang verwertet.“
Lars Meyer, Badenova
Energieerzeugung im öffentlichen Raum
Für den Ingenieur ist eine solche Anlage nicht trivial: „Wir haben dabei eine besondere Herausforderung. Wir stellen hier eine Energieerzeugungsanlage in den öffentlichen Raum. Jeder kann hingehen, jeder kann sie anfassen. Das bedeutet wesentlich höheren Planungs- und Abstimmungsaufwand als bei herkömmlichen Solaranlagen abseits öffentlicher Infrastruktur“, erklärt Meyer. Entsprechend müsse man auch die hohe Dynamik mitbedenken, wenn man ein solches Projekt angehe. „Wir haben ein Gefälle erkannt, das wir zunächst gar nicht so relevant eingeschätzt hatten“, sagt Lars Meyer, „es sind neue Verkehrsbeziehungen dazugekommen.“ Etwa für die Menschen, die die Heimspiele des SC Freiburg im neuen Stadion besuchen und sich nicht an die vorgegebenen Wege halten. „Das mussten wir genauso berücksichtigen wie Kabel, die wir plötzlich gefunden haben und auch den Blick auf mögliche Kampfmittel auf dieser Fläche.“ Es sei wichtig, so Mayer, dass man „beinahe wie im agilen Projektmanagement“ einen Partner hat, mit dem man entsprechend reagieren kann, ohne dass dadurch die Kosten in die Höhe schnellen. Mit dem Generalunternehmer MHB Süd sei das gelungen. Die regendichte Verbindung der Solarmodule gelang mit dem Freiburger Unternehmen Clickcon.
Sicherheit für Radler wichtig
Hinzulernen mussten Meyer und seine Energieexpertinnen beim Thema Radverkehr. Als das Projektteam sich beim Solar Award in Berlin bewarb, gab es aus der Jury konkrete Rückmeldungen von Radfahrern zur Planung. Sie hatten Fragen zur Sicherheit der Verkehrsteilnehmerinnen. „Da haben wir als Ingenieure noch mal dazugelernt, dass bei der Projektpräsentation neben den technischen Aspekten der erneuerbaren Stromproduktion auch die sicherheitstechnischen Aspekte mehr in den Vordergrund gestellt werden müssen“, sagt Meyer. Im Vorfeld hatte es bereits intensive Abstimmungen mit der Stadt Freiburg gegeben. „Man darf die Anlage nicht nur als Stromerzeugungsanlage sehen, sondern eben als Verkehrsweg.“ Anforderungen gibt es an das Lichtraumprofil und zur Position der Stützen für das Solardach. „Wir haben zudem auch ein innovatives LED-Beleuchtungssystem eingebaut, das flexibel auf die Bewegungen auf der Fläche reagiert“, erklärt Meyer.
Es fehlen Standardgenehmigungen
Eine Besonderheit des Bauens im öffentlichen Raum: Die Solar-Radwegüberdachung wurde für die Verwendung von Glas-Glas-Modulen konzipiert, die zusammen mit dem Montagesystem ein regendichtes Dach bilden. Es gab zum Projektstart nur einen Partner, dessen Glas-Glas-Solarpaneele für den Einsatz im öffentlichen Raum zertifiziert waren. Nach den statischen Untersuchungen musste Meyers Team zusätzlich eine vorhabenbezogene Bauartgenehmigung von der Landesstelle für Bautechnik des Regierungspräsidiums Tübingen ersuchen, um zu sichern, dass die geplante Anwendung auch genehmigt war. „Das ist ein hoher Aufwand“, sagt Meyer. Zudem wurde ein Bauwerksbuch nach DIN 1076 erstellt, es gibt wiederkehrende Prüfzyklen: alle drei Jahre Sichtkontrollen und alle sechs Jahre große Prüfungen.
6000
Wenn alle zehn Meter eine Leuchte im Weg verbaut wird rechnet Solareye mit Kosten von etwa 6000 Euro pro Kilometer Radweg.
Wohin mit dem Strom?
Doch wohin mit dem Strom aus der Trasse? „Es war wichtig, einen direkten Anlieger zu finden, der den Strom im räumlichen Zusammenhang verwertet“, sagt Meyer. Sonst sei ein solches Vorhaben nicht wirtschaftlich, denn die EEG-Vergütung und Netzentgelte und Gebühren verhindern Lukrativität im öffentlichen Stromnetz. „Wir haben aber mit dem Fraunhofer ISE einen perfekten Partner, der den entstehenden Strom über eine direkte Leitung in seinen Laboren nutzt“, sagt Meyer. Der Netzanschluss erfolgte direkt im Gebäude. Zudem besteht die Möglichkeit, die Solar-Radwegüberdachung zur Forschung in unmittelbarer Nähe zu nutzen. Das Freiburger Projekt kostete etwa 1,1 Millionen Euro für Entwicklung, Planung und die Umsetzung. 390.000 Euro kamen an Fördermitteln aus dem Klimaschutzfonds der Stadt Freiburg. Ein erhebliches Investment, aber es ist eben ein Pilotprojekt. Das ist auch explizit der Ansatz bei Badenova: „Wir geben unsere Erkenntnisse gern weiter, wollen zur Verbreitung solcher Modelle einen Beitrag leisten“, erzählt Meyer. „Wichtig ist: Die Gespräche mit allen Beteiligten sollte man frühzeitig führen, denn je weiter man mit dem Projekt voranschreitet, umso schwieriger wird es mit den Anpassungen.“
Wattway klebt auf vorhandenen Flächen
Das süddeutsche Projekt interessiert auch den französischen Anbieter Colas. Der hat nach Auskunft von Etienne Gaudin eine Datenbank, in der die Erkenntnisse aller Solar-Verkehrswege gesammelt werden. Selbst sieht man sich als erfahrenen Vorreiter im Verbauen von tragfähigen Solarmodulen auf Verkehrswegen an Parkplätzen, Gehwegen oder eben auch Radstrecken. Mehr als 100 Projekte habe man schon realisiert. Mit dem Produkt „Wattway“ habe man, so behauptet es das Unternehmen, die weltweit erste Solar-Straßenoberfläche entwickelt. Seit 2015 gibt es damit Versuche, in Luxemburg setzte man die Technik schon mal in einem kleineren Versuch auf einen Radweg – 2023 verbaute das Unternehmen seine Technik dann aber auf zwei außerstädtischen Radwegen in den Niederlanden. Das wiederum brachte viel Öffentlichkeit. Die beiden neu mit Solarzellen ausgestatteten Radwege sind jeweils 500 Meter lang und zwei Meter breit. Die beiden Strecken entstanden infolge einer niederländischen Ausschreibung, denn die Regierung möchte erörtern, inwiefern sich Solarenergie auf öffentlicher Infrastruktur einbinden lässt. Das Ziel der Ausschreibung: 80 Megawattstunden auf jedem dieser Wege im Jahr erzielen. Colas-Vertreter Gaudin sagt, die anderen Wettbewerber hätten sich aus dem Verfahren zurückgezogen. Seine Firma realisierte die Wege. Wie viel die öffentliche Hand in den Niederlanden dafür überwies, verrät er nicht – aber in der Ausschreibung war ein Maximalbetrag 1,1 Millionen Euro festgelegt. Etienne Gaudin glaubt, dass die Lösung seines Unternehmens für etwa 2,50 Euro pro Watt zu haben ist. Man könne auf diese Weise langfristig Strom erzeugen, den man wiederum selbst in der Nähe verwenden möchte, erklärt Gaudin. Es geht also, je nach Regulierungslage und Land, um die Verwendung der erzeugten Elektrizität ohne Einspeisung ins Gesamtnetz. „Wir setzen darauf, dass man unsere Lösung auf eine bestehende Infrastruktur auftragen kann“, erklärt Gaudin. Damit die Oberfläche tragfähig ist, setzen die Franzosen nicht auf Glas, sondern auf Verbundmaterial, in dessen Mitte die Solarzellen eingelegt sind. Diese Platten werden auf die jeweiligen Oberflächen aufgeklebt. Colas gibt die Lebensdauer der Platten mit 15 bis 25 Jahren an, was jeweils von der Verkehrslast auf der Fläche abhängt – auf einem Radweg sei eher das Maximum zu erwarten, weil dort keine Last von Autos auf die Fläche drückt.
Das Beleuchtungssystem Solareye berücksichtigt vor allem Belange des Natur- und Emissionsschutzes und macht Wege doch gut erkennbar.
Solarenergie für dunkle Strecken
Einen anderen, deutlich preisgünstigeren Anwendungsfall von Solarenergie bietet der britische Hersteller Solareye. Hier geht es nicht darum, Solarenergie in Netzstrom zu überführen – sondern darum, die Sonnenkraft für die Verkehrssicherheit zu nutzen. Konkret produziert das britische Familienunternehmen Module aus Reflektor, Lampe und Batterie, die sich in einen bestehenden Radweg- oder Gehwegbelag einbauen lassen. „Die meisten Menschen möchten einen beleuchteten Radweg haben“, argumentiert Will Clarke, Vertreter des Unternehmens, „doch offensichtlich gibt es an vielen Stellen Gründe, warum man kein fest verbautes Straßenlicht aufstellen kann, etwa ökologische Argumente und den Schutz gefährdeter Arten.“ Der Ausgangspunkt für das eigene Produkt sei daher ein ökologischer gewesen, sagt Clarke. Anders als solarbetriebene Straßenlaternen lasse sich das in den Weg eingebaute System jedoch auch in nordeuropäischen Winternächten sinnvoll betreiben, denn es ist per se energiesparend. Sparsam ist das System allemal: Clarke rechnet mit Kosten von etwa 6000 Euro pro Kilometer Radweg, wenn alle zehn Meter eine Leuchte im Weg verbaut wird. Solareye hat seine Produkte nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Kontinentaleuropa an Kommunen gebracht. Die Lebensdauer dieser Lösung beziffert Clarke mit acht Jahren, wobei man in der Realität eher von elf Jahren ausgehen könne. Zudem gibt es eine zweijährige Garantie.
Bilder: Oscar Timmers – CAPA Pictures, Raphael Hild, Lindsay Fowke
https://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2024/11/1-20231003-ww-oscartimmers-hd-fuer-WEB-scaled-e1730900867690.jpg13692560Tim Farinhttps://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2019/08/veloplan-340x156-300x138.pngTim Farin2024-09-12 14:52:152025-01-15 11:46:33Photovoltaik in der Radinfrastruktur: Sonne auf dem Weg