(erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Gemeinsames Engagement

Zukunft Fahrrad schließt Kooperation mit „Radeln ohne Alter Deutschland“

Der Branchenverband Zukunft Fahrrad und der Verein „Radeln ohne Alter Deutschland“ haben sich zusammengetan.

Als Dachorganisation setzt sich Radeln ohne Alter Deutschland e.V. für mobilitätseingeschränkte Menschen deutschlandweit ein: 2200 Freiwillige sind dafür bereits an 150 Standorten im Einsatz. Allein im Jahr 2023 wurden über 230.000 Rikscha-Kilometer geradelt und rund 35.000 Fahrgäste befördert.
Natalie Chirchietti, Gründerin und Geschäftsführerin von Radeln ohne Alter Deutschland: „Im nächsten Jahr wollen wir noch inklusiver werden und die Lücken auf unserer Deutschlandkarte weiter schließen, indem wir mithilfe von Spenden mindestens 100 weitere Fahrradrikschas auf die Straße bringen – und so noch vielen weiteren Menschen Lebensfreude und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen.“ Einzel- oder Unternehmensspenden können unter www.radelnohnealter.de/unterstuetzen/ getätigt werden.
Künftig schiebt der Verband Zukunft Fahrrad hier mit an. Elena Laidler-Zettelmeyer, Leiterin strategische Kooperationen bei Zukunft Fahrrad, sagt: „Verkehrsplanung richtet sich noch immer weitgehend nach dem Auto, dabei hat ein großer Teil der Bevölkerung gar nicht die körperlichen oder finanziellen Voraussetzungen, um Auto zu fahren. Dazu gehören Kinder, ältere Menschen, Menschen mit geringem Einkommen und Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Wenn Städte und Kommunen ihre Radwegenetze und ihre Infrastruktur richtig planen, integrativ gestalten und benutzerfreundlich umsetzen, eröffnen sich neue Freiheiten für alle. Und die Fahrradwirtschaft bietet passgenaue Produkte: vom Laufrad bis zum Spezialrad.“

(jw)


Historischer Wechsel

Deutsche Verkehrswacht wählt erstmals eine Präsidentin an die Spitze

Bei der Deutschen Verkehrswacht steht erstmals in der 100-jährigen Geschichte eine Frau an der Spitze des Verbandes. Anfang November wurde Kirsten Lühmann in ihr Amt gewählt.

Kirsten Lühmann folgt auf Kurt Bodewig, der sein Amt nach 17 Jahren vorzeitig niedergelegt hat. Lühmann bringt Erfahrung und Expertise für die Aufgaben mit. Sie war 27 Jahre lang Polizistin in Niedersachsen und 12 Jahre lang Abgeordnete im Deutschen Bundestag, unter anderem als Verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion. Zudem ist sie bereits seit 2022 Vizepräsidentin der DVW.
Kirsten Lühmann: „Ich glaube an die Vision Zero. Als Polizistin habe ich viele Jahre lang erleben müssen, welches Leid Verkehrsunfälle bei Angehörigen verursacht. Als Politikerin habe ich mich darum für legislative Maßnahmen eingesetzt, um die Verkehrssicherheit zu stärken. Als Präsidentin der DVW freue ich mich nun, zusammen mit den vielen Ehrenamtlichen der Verkehrswacht weiter daran zu arbeiten, Menschen eine sichere und selbstbestimmte Mobilität zu ermöglichen.“
Die Mitglieder und Delegierten sprachen Kirsten Lühmann einstimmig ihr Vertrauen aus. Kurt Bodewig wurde im Anschluss für sein langjähriges Engagement zum ersten Ehrenpräsidenten der DVW gewählt. Zur Hauptversammlung im Langenbeck-Virchow-Haus kam auch Bundesverkehrsminister Dr. Volker Wissing und hob in seiner Rede die besondere Geschichte der Verkehrswacht und die Leistung für die Sicherheit im Straßenverkehr hervor.

(jw)


Von Leipzig nach Europa

Nextbike weitet Präsenz in neue Länder aus

Seit 20 Jahren etabliert Nextbike ganzheitliche und nachhaltige Mobilitätslösungen als Teil des öffentlichen Nahverkehrs in ganz Europa. Zuletzt sind drei neue Länder hinzugekommen.

Neben zahlreichen neuen Angeboten in bestehenden Märkten wie z.B. in Polen (Metrobike in Oberschlesien) und Spanien (TUeBICI in Santander), hat Nextbike in diesem Jahr auch drei neue Märkte erschlossen. In den vergangenen Monaten hat Nextbike seine Mobilitätslösungen in den Kosovo, nach Portugal und Griechenland gebracht. Darüber hinaus wurde gerade eine Ausschreibung zur Erweiterung der Präsenz in Frankreich gewonnen: Ab dem Frühjahr 2025 wird Nextbike auch in der Region Mulhouse im Elsass ein öffentliches Bike-Sharing System betreiben.
Jhon Ramirez, Regional General Manager South West Europe: „Der Bedarf an nachhaltigen und gleichzeitig auch dynamischen und erschwinglichen Mobilitätslösungen wächst in ganz Europa, insbesondere im Süden, wo EU-Fördermittel aus dem Social Climate Fonds sehr wertvoll sind, um die Klimaziele zu erreichen und den öffentlichen Verkehr attraktiver zu machen.“ Mittlerweile betreibt Nextbike Bike-Sharing Systeme in 24 europäischen Ländern.

(jw)


Jugendorganisation und Doppelspitze

ADFC stellt sich auf Bundeshauptversammlung neu auf

Der ADFC bringt eine neue Generation von engagierten Radfahrenden an den Start. Die Weichen dafür wurden auf der Bundeshauptversammlung 2024 in Nürnberg gestellt.

In Nürnberg wurde am Wochenende eine Satzungsänderung verabschiedet, durch die im nächsten Jahr die Jugendorganisation „Junger ADFC“ gegründet werden kann. Weiterhin bekommen die ADFC-Bundesorgane künftig eine zweiköpfige Leitung mit mindestens einer Frau an der Spitze.
ADFC-Bundesvorsitzender Frank Masurat erklärt dazu: „Mit der Gründung des Jungen ADFC und der garantierten Präsenz von Frauen an der Verbandsspitze machen wir den ADFC zukunftsfähiger, vielfältiger und repräsentativer. In gesellschaftlich herausfordernden Zeiten ist es uns wichtig, Verantwortung zu übernehmen und unterschiedliche Perspektiven in unsere Arbeit einzubinden. Unser Ziel ist ein lebenswertes, fahrradfreundliches Land mit bezahlbarer, klimafreundlicher Mobilität für alle – eine Vision, für die es sich einzusetzen lohnt. Besonders freut uns, dass künftig viele junge Köpfe mit neuen Ideen das Fahrradland Deutschland im ADFC mitgestalten werden.“

Neue Dynamik

Ein Netzwerk junger Menschen im ADFC, die sich regelmäßig treffen und gemeinsam fahrradpolitische Aktionen organisieren, gibt es schon seit einigen Jahren. Nun wird die Rolle der jungen Menschen im ADFC durch eine Satzungsänderung und eine Vertretung im ADFC-Bundesvorstand weiter gestärkt. Die Gründungsversammlung des Jungen ADFC ist für das Frühjahr 2025 geplant. Angesprochen sind Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 16 bis 26 Jahren. Ziel ist, das Engagement junger Menschen für ein fahrradfreundliches Deutschland zu fördern.

Lösung statt Spaltung

Mit dem politischen Leitantrag bekannte sich die ADFC-Bundesversammlung erneut zu ihren demokratischen Werten. Statt für Spaltung tritt der ADFC für eine Verkehrswende ein, die allen dient, indem sie die Lebensqualität steigert, Emissionen reduziert und bezahlbare Mobilität gewährleistet. Das Fahrrad ist eine Lösung für alle Menschen, im Alltag, in der Freizeit oder im Urlaub – so die Delegierten des ADFC. Radfahren steht für ein positives Lebensgefühl für alle.

(jw)


Bund fördert das Projekt

KI-basiertes Assistenzsystem soll Radfahren sicherer machen

Ein Assistenzsystem für Autos und Lkw, das Radelnde erkennt und den Abstand zu ihnen misst, könnte den Fahrradverkehr in Zukunft sicherer machen. Den Grundstein dafür soll das Forschungsprojekt BikeDetect an der Universität Oldenburg unter Leitung des Wirtschaftsinformatikers Prof. Dr. Jorge Marx Gómez legen.

An dem Vorhaben beteiligt sind die Iotec GmbH aus Osnabrück, assoziierte Partner sind die Stadt Osnabrück sowie der ADFC Osnabrück. Das Projekt wird für 18 Monate vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) in der Innovationsinitiative mFUND mit knapp 200.000 Euro gefördert.
Hauptziel des Projekts ist es, herauszufinden, welche Kombination von Sensoren am besten geeignet ist, um Radfahrende von einem Fahrzeug aus zuverlässig zu erkennen. Dabei setzt das Team auf möglichst kostengünstige Verfahren. Zur Abstandsmessung testen die Forschenden Ultraschall-, Radar- und optische Verfahren, zum Erkennen von Personen auf einem Fahrrad setzen sie auf LiDAR, 3D-Kameras und Wärmemessungen. Entstehen soll ein KI-System, das die aufgenommenen Daten auswertet. Dieses System wird schrittweise entwickelt und im Labor, auf einem Parkplatz und im Straßenverkehr erprobt und verbessert. An der Auswahl möglichst unterschiedlicher Routen für die Feldtests sind die Stadt Osnabrück sowie der ADFC beteiligt.
Die Stadt Osnabrück sieht das Projekt als Möglichkeit, die Sicherheit im Radverkehr zu erhöhen. Ziel ist es, dass motorisierte Verkehrsteilnehmerinnen Werkzeuge an die Hand bekommen, mit denen sie selbst noch besser zum Schutz von Radfahrenden beitragen können. Das Team plant, die Ergebnisse der Öffentlichkeit vorzustellen. Der ADFC Niedersachsen verspricht sich von dem Projekt eine deutlichere Sensibilisierung aller motorisierten Verkehrsteilnehmerinnen für den Radverkehr. „Von eminenter Wichtigkeit ist aber auch, dass die Ergebnisse und Werkzeuge nach Ende der Studie den Kommunen in Niedersachsen landesweit für die Eigennutzung zur Verfügung gestellt werden“, sagt Rüdiger Henze, Landesvorsitzender des ADFC Niedersachsen. Das Ziel müsse nach wie vor die „Vision Zero“ sein, also das Ziel, ein sicheres Verkehrssystem ohne Getötete und Schwerverletzte zu verwirklichen.
Am Ende von BikeDetect soll ein prototypisches Sensorsystem inklusive eines passenden Konzepts zum Datenmanagement zur Verfügung stehen. „Unsere Vision ist es, dass zukünftige Fahrassistenzsysteme auch den Radverkehr im Blick haben und Autofahrer dabei unterstützen, einen sicheren Abstand zu Radfahrerinnen und Radfahrern zu halten“, sagt Projektleiter Jorge Marx Gómez. Das Projekt leiste damit einen wichtigen Beitrag, um die Sicherheit im Radverkehr zu steigern.

(pm)


ADAC hat getestet

Bike+Ride-Anlagen zwischen Licht und Dunkel

Viele der 80 untersuchten Anlagen schneiden im Bike+Ride-Test des Allgemeinen Deutschen Automobilclubs (ADAC) gut ab. Oft mangele es jedoch an Ausstattungsmerkmalen wie Überdachungen oder Anschließmöglichkeiten, so das Fazit des Automobilclubs.

Vor allem für den Pendelverkehr sind gute Abstellanlagen an öffentlichen Verkehrsmitteln wichtig.

Bike+Ride-Anlagen helfen Pendler*innen dabei, das Fahrrad mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu kombinieren. Der ADAC hat sich 80 dieser Anlagen im Einzugsgebiet von zehn deutschen Großstädten mit hohem Pendlervolumen genauer angesehen. In die Gesamtwertung floss neben der Lage, der Ausstattung und der freien Kapazität auch die Sonderausstattung ein. In der Kategorie Lage schnitten 86 Prozent der geprüften Anlagen gut oder sehr gut ab. Positiv wertete der ADAC auch, dass nur zehn Prozent der Anlagen stark ausgelastet oder überlastet waren. Ein Großteil wies zu den Testzeitpunkten noch mindestens 20 Prozent freie Stellplätze auf.
Ausstattung mit Luft nach oben Eine komfortable und wirklich sichere Nutzung ist nicht bei allen Bike+Ride-Anlagen möglich. Etwa ein Viertel der Stellplätze war nicht überdacht. An 84 Prozent fehlt es zudem an Lademöglichkeiten für E-Bikes und an 94 Prozent der untersuchten Bahnhöfe gibt es keine Schließfächer.
An der Hälfte der untersuchten Orte waren abschließbare Anlagen wie Fahrradgaragen oder -boxen überhaupt nicht vorhanden. Wenn es sie doch gab, zeigte sich eine hohe Auslastung. Der ADAC bemängelt weiterhin, dass bei 81 Prozent der Anlagen der Platz zum Anschließen des Rades meist zu eng ist. Als häufigsten Mangel identifiziert der Verein, dass es in 98 Prozent der Fälle keine gesonderten Flächen für Lastenräder gab.

Nutzung und Akzeptanz steigern

Ein Lichtblick lässt sich laut der Analyse des ADAC dennoch erkennen: „Immerhin: Es tut sich etwas. An mehreren Bahnhöfen im Umland der Großstädte werden derzeit neue Abstellmöglichkeiten für Fahrräder gebaut oder sind nach ADAC-Informationen geplant“, heißt es auf der Website des Vereins. Um die Nutzung und Akzeptanz des Bike+Ride-Konzepts weiter zu steigern, empfiehlt der Automobilclub, diese möglichst nah an den Bahnhofszugängen einzurichten. Wichtig seien außerdem Überdachungen und eine komfortable und sichere Nutzung. Es sollte nicht bloß das Laufrad, sondern auch der Rahmen anschließbar sein. Das Platzangebot sollte ausreichend sein, auch an Fahrradgaragen und Boxen, um höherwertige Fahrräder und E-Bikes ebenfalls angemessen zu sichern.
Der Test des ADAC fand außerhalb der Ferien im Zeitraum von April bis Juni 2024 von Dienstag bis Donnerstag zwischen 9 und 16 Uhr statt. Untersucht wurden Anlagen im Umland von Berlin, Bremen, Frankfurt, Hamburg, Hannover, Kiel, Köln, Leipzig, München und Stuttgart. Ausführliche Ergebnisse des Tests finden sich auf der Website des ADAC.

(sg)


Bilder: Radeln ohne Alter, Deutsche Verkehrswacht – Heidi Scherm, Nextbike, pd-f, ADAC – Theo Klein

Eine Schweizer „Klima-Hacker“-Genossenschaft möchte neue Impulse für Mobilität setzen. Inspiriert von Pfadfindern erstellt sie ein simples Modell: Auto weg, alles andere gratis nutzen. Die Stadt Winterthur testete die Kampagne 31Days diesen Sommer. Wie das Modell funktioniert und was die Macher sich versprechen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Die Sache ist leicht erklärt, die Website macht ein einfaches Angebot: „Erlebe für 31 Tage kostenlose Mobilität.“ Was vielen kommunalen Verkehrspolitiker*innen aus dem fantasiebefreiten föderalen Betrieb der Bundesrepublik wie eine Utopie vorkommen muss, ist in der Schweiz bereits Realität geworden. Im zurückliegenden Sommer ließen 1000 Menschen in der Stadt Winterthur ihre Autos stehen, fotografierten den Kilometerstand und durften erst einen Monat danach wieder die Zündung betätigen. Dafür bekamen sie ein komplettes Paket für Fahrten im Nah- und Fernverkehr, sie fuhren mit eigenen Fahrrädern oder mit Leih-E-Bikes, und sie konnten sogar mit einem kleinen Fahrtenguthaben auf die Flotte des Schweizer Carsharing-Anbieters Mobility zurückgreifen. Für diesen Probemonat multimodaler Mobilität zahlten sie nur mit dem Verzicht auf ihr eigenes Auto. 31Days, so der Name dieser Aktion, erlebte eine starke Nachfrage. 3300 Menschen hatten sich laut Organisator für die Aktion registriert. Sie wollten den Gratismonat ohne Auto. Wenn es nach den Initiatoren geht, soll daraus mehr werden. Und die Stadt hofft, dass die Menschen dauerhaft ihr Verkehrsverhalten ändern. „Es ging uns um Sensibilisierung, um die Diskussion und auch darum, Menschen beim Einstieg in langfristig klimafreundliche Lebensweisen zu inspirieren“, erklärt Lukas Schmid, Kommunikationsmitarbeiter im zuständigen Amt der Stadt Winterthur.

Eindeutig lockend: Mit der direkten Ansprache und einem klaren Nutzenversprechen geht das Schweizer Projekt direkt die Menschen an – ungewöhnlich für sonst eher sperrige ÖPNV-Themen.

Hacken für das Klima – eine Schweizer Genossenschaft

Wie kann es gelingen, das Verkehrssystem klimafreundlich umzubauen und dabei relevante Effekte zu erzielen? Mit der Skalierungs- und Disruptions-Logik von Tech-Denkern macht sich die Schweizer Genossenschaft 42hacks genau an diesen Fragenkomplex. Sie ist ein Zusammenschluss von Start-up-Unternehmern und Hacker*innen mit Sitz im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Jessica Schmid ist eine der Mitgründerinnen dieser Genossenschaft, die sich als „Climate Hacker Community“ beschreibt. Neben dem Mobilitätssektor suchen die Hacker auch nach Wegen, um das Klima in den Sektoren Ernährung und Haushalt positiv zu beeinflussen. Sie spricht im Stil echter Tech-Gründer und neigt nicht zu unklaren Worten: „Wir sind extrem selbstkritisch. Wenn wir merken würden, dass das, was wir tun, nicht genug bringt, dann würde ich meine Zeit und meine Energie ganz sicher auf was anderes verwenden“, sagt Schmid. Doch bei 31Days sieht es eben anders aus. Schmid ist sofort gesprächsbereit, als die Interviewanfrage kommt. Derzeit, so schreiben es 42hacks auf ihrer Website, geht es ums Skalieren der Verkehrslösungen. „Ohne die Verkehrsverlagerung kommen wir nicht zu den Klimazielen, die auch der Schweizer Bund ausgegeben hat“, sagt Jessica Schmid. Und das Modell 31Days sei sowohl überzeugender Business- als auch Klima-Case, wenn man es vergrößere.

Was Pfadfinder mit der Verkehrswende zu tun haben

Wie ging das Projekt los? Inspiration für die Veränderung des Modal Splits haben sich die Macher hinter 31Days bei der Jugend geholt, zu deren Wohl ja auch die Verkehrsgewohnheiten in der Gegenwart so schnell wie möglich verändert werden sollten. Dafür reisten Leute vom Team um Jessica Schmid im Sommer 2022 nach Goms im Schweizer Kanton Wallis, wo sich 30.000 Pfadfinder*innen für das so- genannte Bundeslager trafen. Das Team befragte dort junge Scouts: Wie können wir eure Eltern dazu bringen, das Auto weniger zu nutzen? Zurück kam die Einsicht, dass es sich beim Autofahren um eine schlechte Angewohnheit handele, genau wie beim übertriebenen Medien- oder Zuckerkonsum. Nehmt doch einfach für einen Monat den Autoschlüssel weg – und gebt den Eltern dafür Gratis-ÖPNV und -Fahrradmobilität. „Das hat uns wirklich überzeugt, das war die Idee zu 31Days, wir wollten Menschen die Gelegenheit geben, alternative Verkehrsangebote überhaupt zu erleben“, sagt Jessica Schmid.

„Nach 10 kamen 100, nach 100 kamen 1000 Teilnehmer, da ist der nächste Schritt naheliegend.“

Jessica Schmid, 42hacks

Erste Praxistests mit 10 und 100 Personen

Wenige Wochen nach dem Pfadfinderlager startete schon der erste Praxisversuch. In Belp, einer Gemeinde im Kanton Bern, rekrutierte 42hacks zehn Freiwillige, die für 31 Tage ihr Auto stehen lassen würden. Das Projekt war Teil einer größeren Zusammenarbeit zwischen 42hacks und den Mobilitätsunternehmen BLS, SOB, PostAuto und dem Kanton Sankt Gallen, die auf eine Veränderung im Modal Split ausgelegt ist. Kontakte bestanden ohnehin wegen vorheriger Zusammenarbeit zu künstlicher Intelligenz im Verkehrssektor, was auch für die Kooperation bei den Gratistickets hilfreich war. Nach dieser Premiere im Herbst 2022 setzten die Macher 31Days im Sommer 2023 mit dem Faktor zehn um: in Bern gaben 100 Teilnehmer für 31 Tage ihre Autoschlüssel ab und bekamen im Gegenzug freien Zugang zu sämtlichen öffentlichen Verkehrsmitteln der Schweiz sowie zu Mieträdern und auch zur Flotte von Mobility, einem Carsharing-Anbieter. Am 31. Mai 2023 startete dieser Versuch im Kanton Bern. Die Ergebnisse ermutigten die Macher. Man habe die Ziele übertroffen, berichtet Schmid, 27 Prozent der Autos der Teilnehmenden wurden während des Monats oder kurz danach verkauft. In der Nachbefragung gaben 90 Prozent der Teilnehmer an, dass sie ihr Auto weniger und bewusster benutzten. Die Sache erregte schnell Aufmerksamkeit. Der österreichische VCÖ zeichnete 31Days als internationales Vorbildprojekt aus, das Medienecho in der Schweiz war erheblich.

Katrin Cometta, Winterthurer Stadträtin, überreicht am 12. April 2024 gemeinsam mit den Partnern des Projekts einem Teilnehmer der 31-Days-Challenge sein Mobilitätspaket.

Ausgangslage Stadt Winterthur

Im November 2021 beschlossen die Bürgerinnen der Schweizer Stadt Winterthur strenge Klimaziele für ihre Gemeinde. 60 Prozent der Abstimmenden sprachen sich für die Klimaneutralität Winterthurs bis zum Jahr 2040 aus. Nicht nur daraus leitet sich für die Verwaltung der Stadt ein Handlungsbedarf ab. Manuela Fuchs ist Projektleiterin Klima bei der Stadt und berichtet, dass ein Kollege aus ihrer Verwaltung über die Medienberichte auf 31 Days aufmerksam wurde. „Wenn wir Netto-null anstreben und auch eine nachhaltige räumliche Entwicklungsperspektive verfolgen – weg von einem autozentrierten Stadtbild, hin zu mehr öffentlichem Raum für alle –, dann erklärt sich unsere Aufmerksamkeit einfach“, sagt Fuchs. Winterthur verfügt über einen sehr gut ausgebauten öffentlichen Personenverkehr und eine moderne Radinfrastruktur. Aber die Menschen haben ihr Verhalten nur geringfügig verändert. Nach wie vor liegt der Anteil des motorisierten Individualverkehrs am Gesamtaufkommen nach Angaben der Stadt bei rund 40 Prozent. Die Stadt hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Anteil am „Modal Split“ bis 2040 auf 20 Prozent zu halbieren. „31Days legt den Fokus auf die Reduktion von Autofahrten beziehungsweise Autofahrerinnen und passte somit exakt zu den kommunalen Zielen. Diese Chance wollten wir nutzen und konnten uns schnell mit 42hacks auf eine Zusammenarbeit einigen.“ In Winterthur beschloss die Stadtverwaltung, aus dem eigenen Budget 70.000 Franken für einen Teil der Kampagne, nämlich die Finanzierung der Leihräder für die Teilnehmer bei 31Days, bereitzustellen. „Es gibt derzeit viele Projekte und Förderbeiträge für Energie- und Wärmeprojekte, aber kaum Anreize für den Umstieg auf klimafreundliche Mobilität – daher war das für uns ein einfacher logischer Schritt“, erklärt Lukas Schmid, der für die Kommunikation bei Umwelt- und Gesundheitsschutz zuständig ist. Die Stadt Winterthur hat sich darum entschieden, die sogenannten Umsteiger, also jene Teilnehmerinnen, welche während oder nach der Kampagne ihr Auto verkaufen, mit einer Umsteigerprämie aus dem kommunalen Energieförderprogramm zu unterstützen. Das „Kostendach“ beläuft sich auf 250.000 Franken. Umsteigerinnen profitierten von 3000 Franken, wenn ein Haushalt sein einziges Auto verkaufte, oder von 1500 Franken für den Verkauf eines Autos, wenn der Haushalt mehrere besaß. Mit etwa 100 Autoverkäufen rechnete Winterthurs Stadtverwaltung. Die finale Auswertung war bei Redaktionsschluss noch nicht erstellt, eine ursprünglich für November geplante Pressemitteilung wurde auf unbekannten Termin verschoben, da die finalen Zahlen noch nicht vorlagen und man erst auf eine endgültige Evaluation warten wolle. In einer frühen Stellungnahme der Kommune hieß es zudem, dass der CO2-Spareffekt in etwa der Wirkung von Fördermitteln bei Gebäudeisolierung und Photovoltaik entspreche.

Kritik an den Zuschüssen

Diese Incentivierung des Autoverkaufs ist jedoch ein Reizthema im politischen Raum. „Sogar von links kommt Kritik an der Umsteigeprämie der Stadt“, titelte etwa die Lokalzeitung Landbote am 5. September. Beschrieben wird Unmut bei Bürger*innen und in den politischen Parteien, weil die Prämie wiederum nur für Fahrkarten oder Dauerkarten im öffentlichen Verkehrssystem genutzt werden darf. „Verschwendung“ sei das, lässt sich die FDP zitieren, und zwar „ohne nachweisbaren Nutzen“. Die Mitte/EDU spricht sich für mehr E-Auto-Ladestationen und Photovoltaik aus. Bei der SVP heißt es, die gesamte Challenge sei ungerecht gegenüber Leuten, die sonst selten oder nie Auto fahren – und bei der SP findet man gar, dass die Stadt jene Menschen für dumm verkaufe, die ohne eine solche Aktion freiwillig auf den Pkw verzichten. Eine Forderung nach detaillierter Analyse der Kosten pro Einsparung bei CO2 fordert die SVP dem Bericht zufolge. Das ist etwas, dem 31Days-Mitinitiatorin Schmid jedoch offen gegenübersteht. „Es geht ja gerade darum, realistische Preise pro Tonne CO2 zu beziffern und Maßnahmen objektiv vergleichbar zu machen.“ Man müsse jedoch schauen: Wie hoch sind die externen Kosten des Straßenverkehrs wirklich? Wie steht es um die gerechte Verteilung, wenn etwa das Anbringen von Photovoltaikanlagen auf Eigenheimen gefördert werde – der komplette Verzicht auf Pkw allerdings nicht?

Die nächsten Schritte für 31Days

Um die Auswirkungen und Kosten-Nutzen-Rechnung genauer zu erfassen, arbeiten die Projektpartner mit zwei wissenschaftlichen Institutionen zusammen. Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und die Scuola universitaria professionale della Svizzera Italiana (SUPSI) sind mit einer wissenschaftlichen Begleitstudie beauftragt, deren Ergebnisse allerdings erst Ende 2025 vorliegen werden. Schließlich geht es um die dauerhaften Wirkungen des Projekts. Derweil ist Mit-Initiatorin Schmid darauf aus, den nächsten logischen Schritt zu machen. „Wir wollen skalieren. Nach 10 kamen 100, nach 100 kamen 1000 Teilnehmer, da ist der nächste Schritt naheliegend“, sagt sie – jedoch auch ein bisschen humorvoll. Ihr Ziel ist vor allem, das Projekt schneller weiterzuentwickeln und zu verbreiten. „Wir wollen nicht immer ein halbes Jahr verhandeln, um dann ein Jahr arbeiten zu können – deshalb treiben wir das Projekt mit viel Nachdruck voran und stecken auch in Verhandlungen für weitere Auflagen“, erklärt Jessica Schmid. Ein angedachter Start mit einer der größten deutschen Städte sei jedoch wegen des kommunalen Sparkurses nicht zustande gekommen. Schmid jedoch ist vollends überzeugt, dass dieser Ansatz weiter fruchten wird. „Ich habe mit mehr als 400 der Teilnehmer aus Winterthur gesprochen, und was ich gehört habe, lässt keinen Zweifel zu. Da hat sich für viele eine ganz neue Welt aufgetan.“


Bilder: 31 Days, Umwelt- und Gesundheitsschutz Stadt Winterthur

Seit Jahrzehnten wird der Verkehr von Männern für Männer geplant. Dabei würden von einer gendergerechten Verkehrsplanung alle Verkehrsteilnehmer*innen profitieren. Um dies zu erreichen, sind jedoch strukturelle Änderungen notwendig. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Die Mobilitätsmuster von Männern und Frauen unterscheiden sich grundlegend. Während der Großteil der gesunden berufstätigen Männer auf direktem Weg zur Arbeit und zurück pendelt, legen Frauen im Alltag viele kurze Wege zurück – etwa zur Kita, zum Job, zum Supermarkt oder mit den älteren Familienmitgliedern zum Arzt oder in den Park. Die Fachwelt bezeichnet dieses Mobilitätsmuster als Wegekette, die vor allem durch Care-Arbeit entsteht. Damit ist das Kümmern um junge oder ältere Familienmitglieder gemeint. Männer erledigen zwar ebenfalls Care-Arbeit, jedoch investieren Frauen jede Woche 44 Prozent mehr Zeit in diese Aufgaben.
Dass Frauen im Alltag viele kurze Wege zurücklegen, ist bekannt. Bislang können die Planer*innen in den Verwaltungen oder Verkehrsunternehmen jedoch für diese Strecken keine Angebote entwickeln, weil ihnen dafür die Datengrundlage fehlt. Die Care-Arbeit wurde beispielsweise in den verschiedenen Mobilitätserhebungen bisher nicht separat erfasst. „Gender Data Gap” nennt man diese Datenlücke in der Wissenschaft. Nicht nur in den Mobilitätsberufen, sondern auch in der Mobilitätsplanung sei die weibliche Perspektive unterrepräsentiert, heißt es dazu auf der Webseite des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr. Mit der neuen DLR-Studie „Please Mind the Gap“ zeigen die Wissenschaftlerinnen Dr. Laura Gebhardt, Sophie Nägele und Mascha Brost, dass sich dieser Gendergap auch in der Gestaltung der Fahrzeuge fortsetzt.
„Mit Gender ist nicht ausschließlich die Frau gemeint“, sagt Dagmar Köhler, Mobilitätsexpertin beim niederländischen Beratungsunternehmen Mobycon. Gender beziehe sich auf das soziale Geschlecht. Es meine demnach alle, die nicht in die Kategorie „gesunder, weißer, berufstätiger Durchschnittsmann“ passen. Dazu zählen beispielsweise Ältere, Kinder, Menschen anderer Herkunft und all jene, die mit viel Gepäck, Gehhilfen oder Ähnlichem unterwegs seien.
Die Alltagsmobilität gendergerecht zu planen, erfordert ein konsequentes Umdenken in der Verkehrsplanung. „In den Städten sind die Streckennetze oft sternförmig aufgebaut“, sagt Dr. Laura Gebhardt, Mobilitätsforscherin am DLR-Institut für Verkehrsforschung in Berlin. Das komme den Anforderungen von Vollzeit arbeitenden, pendelnden Personen (überwiegend Männer) entgegen. Sie könnten schnell von zu Hause zur Arbeit und zurück gelangen. „Wege für Care-Arbeit sind dagegen häufig kreisförmig organisiert und befinden sich in Wohnortnähe“, sagt die Wissenschaftlerin. Diese für die Care-Arbeit typischen komplexen Wegeketten wurden jedoch bisher nicht ausreichend differenziert erhoben. Planenden und Forschenden fehle deshalb eine gute Datengrundlage, um die Bedürfnisse von Frauen in der Stadt- und Verkehrsplanung besser zu berücksichtigen, stellt Gebhardt fest. Grundsätzlich sei ein Umfeld, in dem Frauen mit Kindern oder Älteren entspannt unterwegs sein können, gut für Care-Arbeit. Dazu gehören Straßen mit Tempo 30, großzügigen Grünanlagen und breiten Fuß- und Radwegen. „Die Fahrradwege sind im Idealfall so breit, dass Frauen dort mit ihren Kindern ausreichend Platz haben und trotzdem von schnellen Radfahrenden bequem überholt werden können“, sagt die Wissenschaftlerin.

„Mit Gender ist nicht ausschließlich die Frau gemeint.“

Dagmar Köhler, Mobycon

Radwege in Kopenhagen: Die Wege sind breit und vom Autoverkehr physisch getrennt. Hier sind die Menschen jeden Alters und Könnens sicher unterwegs und kommen auf direkten Weg ans Ziel.

Die 15-Minuten-Stadt ist gendergerecht

Ein Planungsansatz, der der Alltagsmobilität von Frauen entspricht und diese verbessert, ist laut Laura Gebhardt die 15-Minuten-Stadt. Die Idee ist, dass man dort alles, was man im Alltag benötigt, innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß oder mit dem Fahrrad sicher und bequem erreicht – den Arzt, die Schule, den Supermarkt, Kulturangebote oder den nächsten Park. Die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, setzt dieses Konzept bereits in der französischen Hauptstadt um. Dutzende Kilometer an Radwegen sind in den vergangenen Jahren in den verschiedenen Quartieren entstanden. Viele von ihnen sind mit physischen Barrieren vom Autoverkehr deutlich getrennt.
„Radwege für 8- bis 80-Jährige“, nennt Dagmar Köhler dieses Prinzip. Die Mobilitätsexpertin, die bis Ende 2023 die Fahrradakademie am Deutschen Institut für Urbanistik geleitet hat, erklärt: „Wenn die 8-jährige Tochter oder die 80-jährige Mutter sicher mit dem Rad durch die Stadt fahren können, ist die Radinfrastruktur für Menschen jeden Geschlechts, Alters und Könnens sicher“, sagt sie, „und zwar subjektiv und objektiv.“
In den Niederlanden werde die Radinfrastruktur seit Jahrzehnten nach diesem Grundsatz geplant, sagt die Mobilitätsexpertin. Komfort und subjektive Sicherheit seien dort elementar für die Radverkehrsplanung. „Sie müssen auf der gesamten Radroute vorhanden sein und können nicht wegrationalisiert werden“, sagt sie. Der Begriff „Gender“ werde in den Regelwerken zwar nicht formuliert, aber indirekt bereits umgesetzt.

Wenn die Radwege sicher und komfortabel zum Ziel führen, nutzen Frauen häufig das Fahrrad. In Deutschland lag der Frauenanteil bei der letzten bundesweiten Erhebung 2017 bei 36 Prozent.

Gut fürs Image: Frauen auf Fahrrädern

In Dänemark dagegen beobachtet die Regierung sehr genau, wie viele Frauen Rad fahren. „Dort ist ein hoher Anteil an Rad fahrenden Frauen ein Indikator für Qualität und gelungene Planung“, sagt Dagmar Köhler. Deshalb arbeiten die Kommunen daran, Frauen mit sicheren Radwegen und guten ÖPNV-Angeboten zum Fahrradfahren zu verführen. Das Konzept geht auf. In Dänemark bilden Frauen mit 53 Prozent sogar eine knappe Mehrheit unter den Radfahrenden. In Deutschland sind es laut dem Fahrradmonitor von 2023 nur 36 Prozent.
Die dänischen Planer*innen machen es den Frauen leicht. Die Radinfrastruktur ist beispielsweise in Kopenhagen sicher, selbsterklärend und lückenlos. Auf Radwegen oder Fahrradstraßen werden Frauen dort durch die Quartiere gelotst. Davon profitieren auch die Kinder. 65 Prozent von ihnen fahren in Dänemark mit dem Rad zur Schule, sofern der Schulweg ein bis drei Kilometer vom Wohnort entfernt ist. In Dänemark werden 15 Prozent aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt, bis zu einer Strecke von zehn Kilometern sind es sogar 21 Prozent. Deutschland hinkt dieser Entwicklung hinterher. Laut der jüngsten Verkehrsprognose des Bundesverkehrsministeriums erreicht die Bundesrepublik im Jahr 2040 gerade mal einen Radverkehrsanteil von 11,8 Prozent am Gesamtverkehr. Das entspricht einem Wachstum von 1,5 Prozent innerhalb von 21 Jahren. Dabei hat das Fraunhofer Institut Anfang des Jahres berechnet, dass auch hierzulande ein Radverkehrsanteil von 45 Prozent möglich sei. Die Voraussetzung dafür ist eine Infrastruktur auf hohem Niveau, ähnlich wie in den Niederlanden.

Eine neue Studie des DLR zeigt: Das Unfallrisiko für Frauen, Kinder und Ältere im ÖPNV ist deutlich höher als für einen typischen Mann mittleren Alters.

Sicheres Umsteigen auch nachts

Dazu gehört auch eine gute Verknüpfung mit anderen Verkehrsmitteln. „In Dänemark und den Niederlanden denken die Planer den Rad-, Fuß-, Bus- und Bahnverkehr stets in miteinander verzahnten Netzen“, sagt Dagmar Köhler. Das sei entscheidend, damit die Menschen bequem ihre Ziele erreichen. Verschiedene europäische und nationale Studien zeigen, dass Frauen klimafreundlicher unterwegs sind und häufiger Busse und Bahnen nutzen als Männer. Allerdings müssen sie sich auch sicher fühlen, wenn sie vom Bus oder der Regionalbahn aufs Fahrrad wechseln, insbesondere nachts. Eine Studie des Bundeskriminalamts aus dem Jahr 2022 zeigt: Zwei von drei Frauen (67 Prozent) haben nachts in öffentlichen Verkehrsmitteln Angst. Die staatliche Eisenbahnbehörde (Nederlandse Spoorwegen, NS) lässt eine Vielzahl der Fahrradparkhäuser bewachen, die sie an Bahnhöfen betreibt, um die subjektive und objektive Sicherheit zu erhöhen. Das Personal ist 15 Minuten vor Ankunft des ersten Zuges vor Ort und geht 15 Minuten nach Ankunft des letzten Zuges. Davon profitieren alle Radfahrenden.
„Eine gendergerechte Radverkehrsplanung hat viele Facetten“, sagt Dagmar Köhler. Seit Anfang 2024 setzt sie sich in dem Netzwerk „Women in Cycling Germany“ mit über 300 engagierten Expertinnen aus der Fahrradbranche dafür ein, die Mobilität und Gremien inklusiver zu gestalten. „Um das zu erreichen, müssen sämtliche Gremien vielseitig, mit mehr Perspektiven besetzt sein“, sagt sie.
„Wir brauchen in der Mobilitätsbranche deutlich mehr Frauen, auch in den Entscheidungspositionen“, sagt auch Dr. Laura Gebhardt, Verkehrsforscherin am DLR-Institut in Berlin. Für ihre DLR-Studie „Please mind the Gap“ hat sie mit ihren Kolleginnen verschiedene Verkehrsmittel untersucht. „Aus Studien und Datenanalysen wissen wir, dass Frauen den öffentlichen Verkehr häufiger nutzen und auch eher bereit sind, aufs Autofahren zu verzichten“, sagt Gebhardt. Die Rahmenbedingungen machen es ihnen allerdings schwer. „Denn viele Busse und Bahnen sind gar nicht auf ihre Bedürfnisse ausgelegt“, sagt die Verkehrsforscherin. Wenn Frauen ihre Kinder oder ältere Angehörige begleiten, sind sie oft mit Taschen und Gepäck, Kinderwagen oder Rollatoren unterwegs. In Bussen und Bahnen fehle aber Stauraum, den Frauen gut erreichen können, sagt Gebhardt. Das macht das Bahn- und Busfahren für sie oft unbequem und manchmal sogar unmöglich.
Außerdem ist das Unfallrisiko für Frauen, Kinder und Ältere im ÖPNV deutlich höher als für einen typischen Mann mittleren Alterns. Viele Frauen können aufgrund ihrer Körpergröße die Haltestangen oder Halteschlaufen nicht erreichen, wenn die Sitze belegt sind. „Kommt es zu einem Unfall, ist das Verletzungsrisiko für sie ungleich höher, weil die Innenausstattung der Fahrzeuge für einen typischen 1,80-Meter-Mann ausgelegt ist“, sagt Gebhardt.

„Wir brauchen in der Mobilitätsbranche deutlich mehr Frauen, auch in den Entscheidungspositionen.“

Dr. Laura Gebhardt, DLR-Institut für Verkehrsforschung

Trinken vermeiden in der Bahn

Neben der Sicherheit in öffentlichen Verkehrsmitteln spielt auch die Sauberkeit der Toiletten im Regional- und Fernverkehr eine Rolle. „Aufgrund von Menstruation, Wechseljahren oder Schwangerschaft haben Frauen einen viel höheren Anspruch an die Hygiene von Zugtoiletten als Männer“, sagt Gebhardt. Doch oftmals sind Toiletten in Regional- wie in Fernzügen verdreckt oder gesperrt. Der Bahnbeauftragte der Bundesregierung, Michael Theurer (FDP), hatte im Sommer auf eine Anfrage der Union im Bundestag berichtet, dass im Jahr 2023 jede achte Toilette (12,5 Prozent) in der DB Regio und 3,7 Prozent der WCs in Fernverkehrszügen verschmutzt oder gesperrt waren.
Frauen reagieren auf diese Zustände mit eigenen Strategien. In einer niederländischen Untersuchung erklärten 41 Prozent der befragten Frauen im Jahr 2010, dass sie während der Bahnfahrt gar nichts oder nur wenig trinken, um den Toilettengang im Zug zu vermeiden. „Das ist ungesund und ein Zeichen, dass das aktuelle Angebot nicht zu den Bedürfnissen der Kundinnen passt“, sagt Gebhardt. Neue Ansätze in diesem Bereich könnten dazu beitragen, Kund*innen zu halten und neue zu gewinnen – etwa mit geschlechtergetrennten Toiletten. „Die Damentoilette sollte über mehr Platz verfügen, damit zum Beispiel auch Frauen mit Kleinkindern ausreichend Platz in der Kabine finden“, sagt Gebhardt. Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) hatten 2019 im Zug Giruno getrennte Toiletten eingeführt. Aber laut einer SBB-Sprecherin wird das Konzept aus Platzgründen nicht fortgeführt.

Der Gendergap setzt sich im Fahrzeugdesign von Autos, Bussen und Bahnen fort. Bislang ist der Durchschnittsmann das Maß der Dinge für die Gestaltung der Fahrzeuge.

Crashtest-Dummys sind männlich

Der „Mobility Gender Design Gap“ betrifft jedoch nicht nur öffentliche Fahrzeuge; auch im Privatwagen sind Frauen einem höheren Verletzungsrisiko ausgesetzt. Eine kürzlich veröffentliche Studie der Unfallforscher der Versicherer (UDV) belegt, dass Frauen selbst auf dem Beifahrersitz eineinhalbmal verletzungsgefährdeter sind als Männer, weil für Einstellungen und Test stets ein männlicher Crashtest-Dummy verwendet wird. „Die Ergonomie muss für kleine Personen besser werden, etwa mit individuell einstellbarer Pedalerie oder mehr Beinfreiheit“, mahnte die Leiterin der UDV, Kirstin Zeidler. Das gilt für den Fahrer- und den Beifahrersitz.
Das Wissen dafür ist vorhanden. Bereits 2019 hat Astrid Linder, Professorin für Verkehrssicherheit am Schwedischen Nationalen Straßen- und Verkehrsinstitut, in einem TED-Talk den weiblichen Crashtest-Dummy „Eva“ präsentiert. Eva ist 1,62 Meter groß, wiegt 62 Kilogramm und Brust, Becken und Hüfte sind dem weiblichen Körperbau nachempfunden. Eva könnte für Crashtests mit Autos, Bussen oder Zügen verwendet werden. Aber weder auf EU-Ebene noch bundesweit werden für die Zulassung von Pkw oder in den Vergabeverfahren für Busse oder Schienenfahrzeuge Sicherheitssysteme gefordert, die Genderunterschiede berücksichtigen. Für Frauen ist das Verletzungsrisiko bei einem Unfall mit dem Privatwagen oder in einem öffentlichen Verkehrsmittel deshalb stets höher als bei einem Mann.
Um diesen Gendergap in der Verkehrsplanung und Gestaltung von Fahrzeugen zu beheben, plädiert Laura Gebhardt für umfassendere Datenerhebungen, die unter anderem auch die Care-Arbeit differenziert erfassen. Es sei entscheidend, die Bedürfnisse der verschiedenen Verkehrsteilnehmer*innen zu verstehen und sie in die Gestaltung einzubeziehen, um ein sicheres und komfortables Verkehrssystem für alle Menschen zu schaffen. Laut einem Sprecher des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr wurden für die Studie Mobilität in Deutschland 2023 erstmals auch Wegeketten erfasst. Sie erscheint im kommenden Frühjahr.


Bilder: stock.adobe.com – Darren Baker, Andrea Reidl, stock.adobe.com – Peak River, stock.adobe.com – svetlanais, stock.adobe.com – Sven-Olaf Fröhlich

Der herbstliche Morgenwind schneidet durch die Straßen Berlins, während sich zahlreiche Radfahrende ihren Weg durch den Verkehr bahnen – darunter Hipster auf minimalistischen Rädern, Pendelnde auf E-Bikes und Eltern auf Lastenrädern, in denen warm eingepackt die Kinder sitzen. Das Fahrrad hat als umweltfreundliches und flexibles Verkehrsmittel in Städten wie Berlin zunehmend an Bedeutung gewonnen und wird auch in der Stadtplanung immer relevanter. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Die Radverkehrsförderung hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem differenzierten Planungsansatz entwickelt, der unterschiedliche Zielgruppen anspricht. In Berlin, einer Stadt mit besonders diversen Fahrradkulturen, ist diese zielgruppenspezifische Planung besonders gefragt, um den Anforderungen der verschiedenen Radfahrenden gerecht zu werden.
Lange galt die Ansicht, dass sich Radfahrende einfach wie Autos verhalten sollten, um im autodominierten Straßenraum bestehen zu können. Doch gerade wer neu aufs Rad steigt, fühlt sich dabei oft verloren und unsicher. Heute denkt man um: Radwege sollen nicht nur mutigen Radler*innen zur Verfügung stehen, sondern allen Menschen ein sicheres Gefühl geben. Ziel der Radverkehrsförderung ist es, die Radverkehrspolitik und -kultur so zu transformieren, dass der Radverkehrsanteil signifikant steigt und Radfahren in seiner gesellschaftlichen Bedeutung stetig normalisiert wird. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Radverkehrsförderung grundlegend gewandelt, weg von einem Planungsparadigma, das auf das sogenannte Vehicular Cycling setzt, hin zu einer zielgruppenspezifischen Förderung, die breite Bevölkerungsschichten und insbesondere potenzielle Radfahrende anspricht.
Das Vehicular Cycling, ursprünglich von John Forester in den 1970er-Jahren in den USA propagiert, fordert, dass Radfahrende sich wie Autofahrende im Straßenverkehr verhalten, um sich ihren Raum anzueignen. Radfahrende sollen demnach mitten auf der Straße fahren, Handsignale bei Spurwechsel oder Abbiegevorgängen geben, den Schulterblick verwenden, mit den Autos im Verkehr mitfließen und sogar mit den Autos im Stau stehen. Diese Sichtweise hat jedoch lange Jahre den Ausbau sicherer Infrastruktur behindert und wird heute als exklusiv kritisiert, da sie unerfahrene und unsichere Radfahrende ausschließt. Viele der in den 1980er- und 1990er-Jahren angelegten Fahrradschutzstreifen auf der Straße sind Relikte dieses aus heutiger Sicht antiquierten Planungsverständnisses.
Heute liegt der Fokus auf einer inklusiven Planung, die ein breiteres Publikum ansprechen soll. Roger Gellers Konzept „Four Types of Cyclists“ verdeutlicht, dass nicht alle Radfahrenden dieselben Bedürfnisse haben: Von „Strong and Fearless“ bis „Interested but Concerned“ unterscheidet Geller vier Typen, die unterschiedliche Anforderungen an die Infrastruktur stellen. Gellers Typologie hat wesentlich beeinflusst, wie geplant und potenzielle Radfahrende angesprochen werden und steht als konzeptuelles Modell weitestgehend im Einklang mit empirischen Ergebnissen zur hiesigen Radnutzung. Die zen-trale Frage ist, wie diese unterschiedlichen Ansprüche in der Radverkehrsplanung berücksichtigt werden können: Sind die Wünsche und Vorstellungen von geübten und ungeübten Radfahrenden tatsächlich so unterschiedlich? Können wir von selbstbewussten Radfahrenden lernen, um potenzielle Radfahrende abzuholen? Um dies zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die Fahrradkultur Berlins als lebendiges Beispiel einer multikulturellen Radszene zu werfen.

Das Konzept „Four Types of Cyclists“ von Roger Geller visualisiert unterschiedliche Typen von Radfahrenden.

Vielfalt der Fahrradkulturen im Schmelztiegel Berlin

Großstädte wie Berlin vereinen vielfältige Fahrradkulturen. Diese Vielfalt belebt die Stadt, stellt die Radverkehrsplanung jedoch vor Herausforderungen, da die Bedürfnisse und Erwartungen der einzelnen Gruppen teils stark auseinandergehen. In Berlin fahren Hipster auf Fixies, Familien mit Kindern kämpfen sich auf Lastenrädern durch den Verkehr und Akti-vistinnen engagieren sich für den Ausbau der Radinfrastruktur, während die sportliche Szene Geschwindigkeit und Stil schätzt. Diese unterschiedlichen Interessen verdeutlichen, dass die Berliner Fahrradkultur kein einheitliches Bild abgibt – sie reflektiert die individuellen Ansprüche und sozialen Hintergründe der Stadtbewohnerinnen.
In vielerlei Hinsicht weicht Berlin damit von den stereotypen Vorstellungen der deutschen Fahrradkultur ab, die oft durch schwere Fahrräder und Sicherheitsausrüstung geprägt ist. Einige Radfahrer*innen beschreiben die Ausstattung des typischen (in der Vorstellung tatsächlich fast ausschließlich männlichen) Radlers als „20-Kilo-Trekking-Panzer“ oder „Vollschutzblech-Fahrrad mit fünf Lampen“ – ein Bild, das der Vielfalt an unterschiedlichen Radfahrenden und ihren spezifischen sozialen und kulturellen Hintergründen nicht gerecht wird. Und auch das wissenschaftliche und planerische Verständnis des Radfahrens ist häufig stark vereinfacht und unsensibel gegenüber kulturellen Differenzen.
Radfahrende werden oft als „bewegliche Objekte“ wahrgenommen, die von A nach B wollen, während individuelle Motivationen und Nutzungsformen sowie subjektive Wahrnehmungen, Stile und Praktiken oft unterrepräsentiert bleiben. Obwohl sich die einzelnen Gruppen stark unterscheiden, eint sie die gemeinsame Suche nach Sicherheit und Akzeptanz im Straßenverkehr.

„Wir können uns aufs Fahrrad einigen, aber wir können uns nicht mal darauf einigen, wie das Fahrrad aussieht, wo wir mit dem Fahrrad fahren: Fahren wir im Gelände, fahren wir auf der Straße, fahren wir auf einem separierten Radweg, fahren wir bei den Autos mit? Also auf alles andere kann man sich nicht einigen, außer auf das Fahrrad. Und ist das ein Sport-Vehikel? Ist das ein Alltags-Vehikel? All diese Fragen beantwortet jede Szene unterschiedlich.“

Auszug aus einem vom Autor geführten Interview aus dem Dezember 2021

Aktivist*innen des Volksentscheids Fahrrad besetzten 2016 die Berliner Oranienstraße und forderten bessere Infrastruktur für Radfahrende.

Das Fahrrad als kleinster gemeinsame Nenner

Obwohl sie Radfahren unterschiedlich erleben, eint die Rad fahrenden Menschen der Wunsch nach einer Stadt, in der Radfahren sicher und selbstverständlich ist. Das Fahrrad ist der kleinste gemeinsame Nenner in der städtischen Fahrradkultur, doch die Auffassungen von Art, Nutzung und benötigter Infrastruktur variieren stark. Während einige eine Trennung des Radverkehrs vom motorisierten Verkehr befürworten, sehen andere die Integration als besseren Weg. Es gilt, Gemeinsamkeiten zu identifizieren und Kompromisse zu finden. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Akteurinnen und Szenen sind oft feiner Natur, was es Außenstehenden schwer macht, diese zu erkennen. Daher wird häufig nicht weiter differenziert: Ein Fahrrad ist ein Fahrrad, eine Radfahrerin ist eine Radfahrerin. Dennoch sind Unterschiede in sozialen Praktiken und Bedeutungen entscheidend, um die Fahrradkultur angemessen zu verstehen. Ein überkomplexes Bild der Szene braucht es trotz der großen Vielfalt nicht. Zwar zeigt sich eine zunehmende Differenzierung innerhalb der Fahrradszenen, gleichzeitig nähren sie sich an und durchmischen sich. Historisch wurde zwischen Radsport und Alltagsradfahren unterschieden, was in der Radverkehrsförderung zu einer Spaltung führte. Dies war zeitweise so wichtig, dass sich Anfang des 20. Jahrhunderts die gesamte Radverkehrsförderung in Nationen aufteilte, die das Radfahren eher als Sport verstanden, wie Frankreich oder Italien, und jenen, die das Radfahren als Alltags- und Freizeitmittel betrachteten, wie die Niederlande oder Dänemark (Carstensen & Ebert 2012). Diese Trennung ist heutzutage jedoch weitgehend aufgelöst, wie beispielsweise der aktuelle Gravel-Trend zeigt, der viel stilvoller, aber ähnlich wie das klassische Tourenfahren verschiedene Elemente aus Sport, Reisen und Freizeit kombiniert. In Städten wie Kopenhagen oder Amsterdam ist das Fahrrad ein alltägliches Verkehrsmittel. In vielen anderen europäischen Städten hat es hingegen einen stärkeren subkulturellen Charakter. Denn in Städten, in denen das Radfahren weniger normalisiert ist, muss man sich stärker als Rad-fahrerin identifizieren und gegenüber den automobilen Strukturen behaupten – man muss es „wirklich wollen“. Dies führt zu subkulturellen Szenen mit spezifischer Ausrüstung: Kleidung, Helmen, Reflektorstreifen, Messenger Bags oder Lycra. Diese subkulturellen Ausprägungen des Radfahrens können neue Nutzer*innen abschrecken, da Radfahren oft als anspruchsvoll, schweißtreibend und unsicher wahrgenommen wird. Etablierte Radfahrende werden in diesem Sinne als Hindernis für die Normalisierung des Radfahrens gesehen, da sie den Sport- und Lifestyle-Aspekt betonen, der Radfahren eher als voraussetzungsvoll und nicht als für alle zugängliche Alltagspraktik darstellt. Die Radverkehrsförderung versucht daher, das Radfahren von sportlichen Aspekten zu entkoppeln und das Fahrrad als normales Verkehrsmittel zu etablieren.

Ein modernes Gravelbike samt Bikepacking-Ausrüstung, schon kann das nächste Abenteuer losgehen.

Begeistern oder ausgrenzen?

Es ist jedoch problematisch, Radfahrende und Nicht-Radfahrende gegeneinander auszuspielen. Denn die Normalisierung des Radfahrens hängt stark von der allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz ab. Der sportliche Aspekt kann dabei auch Begeisterung für das Radfahren erzeugen, indem er Geschichten erzählt, Bilder und Moden schafft und Menschen inspiriert. Es sollte also eher darum gehen, beides miteinander in Einklang zu bringen und die Potenziale und Synergien zu betonen. Mögliche Botschaften: „Zum Radfahren ist kein spezielles Fahrrad und keine spezielle Kleidung notwendig, aber wenn du Spaß daran hast, kannst du dich bis ins kleinste Detail individuell ausstatten“, oder: „Um Rad zu fahren musst du kein Mitglied einer bestimmten Szene sein, aber du hast die Möglichkeit dich mit anderen in Gemeinschaft zu begeben“.
Um dieser Heterogenität gerecht zu werden, ist eine kultursensible Planung erforderlich. Die sollte nicht nur Unterschiede respektieren, sondern auch die gemeinsamen Bedürfnisse aller Radfahrenden in den Vordergrund stellen und die Synergien betonen. Dabei ist es wichtig, klarzustellen, dass zum Radfahren keine spezielle Ausrüstung oder ein szenespezifischer Lifestyle erforderlich ist. Dann können erfahrene Radfahrende ihr wertvolles Wissen zur Planung von Radverkehrsinfrastruktur beisteuern. Ein Kurier sagte mir gegenüber: „Wenn du hundert Kuriere in Berlin zusammennimmst, fahren die im Jahr mehr als eine Million Kilometer mit dem Rad. Das ist eine Menge Erfahrung, die für bessere Infrastruktur genutzt werden könnte.“

„Wenn du hundert Kuriere in Berlin zusammennimmst, fahren die im Jahr mehr als eine Million Kilometer mit dem Rad. Das ist eine Menge Erfahrung, die für bessere Infrastruktur genutzt werden könnte.“

Radfahrende nutzen die geschützte Radspur am Kottbusser Damm – ein Fortschritt für den Berliner Radverkehr.

Radverkehr kultursensibel planen

Obwohl verschiedene Gruppen das Radfahren unterschiedlich wahrnehmen und einsetzen, ähneln sich ihre Anforderungen an eine gute Radin-frastruktur. Deshalb sollten sowohl erfahrene als auch neue Radfahrende in den Dialog eingebunden werden, um eine inklusive Radverkehrsförderung zu schaffen. Praktische Maßnahmen wie baulich getrennte Radwege, verbesserte Sichtbarkeit und zugängliche Angebote für neue Radfahrende schaffen nicht nur Sicherheit, sondern wirken integrativ. Erfahrene Radfahrende, die häufig besonders hohe Anforderungen an Geschwindigkeit und Dynamik haben, bringen wertvolle Perspektiven in die Planung ein und helfen, infrastrukturelle Schwachstellen zu identifizieren.
Indem wir den Dialog zwischen den Radkulturen fördern und sichere, leicht zugängliche Wege für alle Radfahrenden schaffen, unterstützen wir eine Stadt, in der Radfahren kein exklusives Hobby, sondern eine integrative Praktik ist. Letztlich geht es darum, Radfahren als etwas zu sehen, das verbindet – nicht als etwas, das voneinander trennt. Unabhängig davon, ob jemand Kurierin, Pendlerin, Sportlerin oder Alltagsradlerin ist, bleibt der Wunsch derselbe: sicher, komfortabel und schnell ans Ziel zu kommen.


Bilder/Grafik: Joshua Meissner, Geller 2006, Norbert Michalke, Changing Cities e.V., Stefan Hähnel, Matthias Heskamp

Christian Hoffmann ist seit gut zwei Jahren Präsident des Bundesamts für Logistik und Mobilität (BALM). Das Amt befindet sich mitten in einem Wandel zu einer dynamischen und entstaubten Behörde. Ein erklärtes Ziel ist dabei, Fahrradfreundlichkeit ganz nah an der Lebensrealität der Menschen erlebbar zu machen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Aus dem Bundesamt für Güterverkehr (BAG) wurde im vergangenen Jahr das BALM. Welche Veränderungen gingen mit der Umbenennung einher?
Es war eine Umbenennung, da haben Sie vollkommen recht. Wir haben keine organisationsinternen Umstrukturierungen vorgenommen, sondern haben in den letzten Jahren eine Veränderung der Aufgaben erlebt. Das ist im Bereich unserer Kon-trolldienste, die wir digital und modern weiterentwickeln, genauso festzustellen wie im Bereich der Ahndung, der Maut und der Verkehrswirtschaft, unsere klassischen Tätigkeitsfelder. Aber auch im Bereich des Krisenmanagements, mit welchem wir mit der Beförderung und Verteilung ukrainischer Geflüchteter als ad hoc reagierende Krisenmanagementbehörde durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BDMV) beauftragt wurden. Schließlich haben wir mit hoher Geschwindigkeit und Intensität den Bereich der modernen Mobilität ausgebaut. Das BALM ist als zentraler Projektträger zur Förderung des Radverkehrs im Auftrag des BMDV erste Anlaufstelle für viele Fragen zur Finanzierung und Förderung des Rad- und Fußverkehrs, des ÖPNV und betrieblichen Mobilitätsmanagements. So hat der neue Name, der ja auf den Minister zurückzuführen ist, eine neue Strahlkraft, die das gesamte Aufgabenportfolio vollumfänglich abbildet.

„Wir haben in den letzten Jahren eine Veränderung der Aufgaben erlebt.“

Christian Hoffmann, Präsident des Bundesamts für Logistik und Mobilität

Sie selbst sind schon seit 2005 beim BALM und seit gut zwei Jahren dessen Präsident. Was reizt Sie an diesem Aufgabenfeld?
Dass es sich immer dynamisch weiterentwickelt und nie Stillstand herrscht. Man kann daraus eine unheimlich starke Motivation ziehen. Sie gestalten hier mit. Gerade bei den Modellvorhaben und bei den Ideen, auch den längerfristigen kommunalen Investitionen. Wenn Sie da mit der Zeit gehen und Dinge unterstützen können, die dann in der Lebensrealität sichtbar sind und gesellschaftlichen Nutzen bringen, macht das ein Stück weit zufrieden.

Welche Bereiche und Kompetenzen des BALM machen sich denn in der Lebensrealität besonders bemerkbar?
Im Prinzip haben alle Bereiche und Kompetenzen des BALM konkrete Auswirkungen auf die jeweilige Lebensrealität. Wir sind als BAG mit hoheitlichen Überwachungsaufgaben gestartet, die heute so wichtig sind wie früher. Wir sorgen für Verkehrssicherheit auf den Straßen und einen fairen Wettbewerb in einer zunehmend unter Druck stehenden Branche.
Eine moderne, auf die zukünftigen Bedarfe ausgerichtete Mobilität zu fördern, steht ebenfalls für die konkrete Gestaltung von Lebensrealitäten. Wir haben in Köln ja selbst eine Innenstadtlage als Behörde. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen kommen mit dem Rad zur Arbeit. Und das unterstützen zu können, dass es sichere, gut ausgebaute, schlaglochfreie Radwege gibt, ist ebenso Ansporn wie zu sagen: Wir fördern Modellvorhaben im Bereich des ÖPNV, die sowohl in den urbanen als auch in den ländlichen Raum ausstrahlen.


„Wenn Sie mit der Zeit gehen und Dinge unterstützen können, die dann in der Lebensrealität sichtbar sind und gesellschaftlichen Nutzen bringen, macht das ein Stück weit zufrieden.“

Christian Hoffmann, Präsident des Bundesamts für Logistik und Mobilität

Viele Fördermaßnahmen des Bundes mit Radverkehrsbezug werden vom BALM verwaltet. Das Amt sorgt mit der Transferstelle und der Förderfibel für etwas Durchblick. Ist die Förderlandschaft Ihrer Ansicht nach zu unübersichtlich?
Zu unübersichtlich ist sie nicht, aber zunehmend komplex, auch durch verschiedene Fördergeber mit unterschiedlichen Bedingungen für Förderung. Unser Anspruch ist es, mit der Förderfibel niederschwellig interaktive Angebote zu machen. Diese ist auch als Ergänzung zur Hotline, mit einem Förderlotsen als Ansprechpartner, zu verstehen.

Dass die Förderungen so komplex sind, ist aber unvermeidlich? Oder ließe sich das vereinfachen?
Das kommt drauf an. Es geht immer um den jeweiligen Förderbereich und die rechtliche Ausgestaltung der jeweiligen Förderrichtlinie. Soweit unsere Erfahrung uns in die Lage versetzt, beratend auf entsprechende Sachverhalte Einfluss zu nehmen, sprechen wir uns immer dafür aus, dass es so einfach wie möglich geht, damit die Mittel möglichst schnell zum Fördernehmer kommen. Wir fördern in der Regel Modellvorhaben, die eine Strahlkraft und eine Übertragbarkeit sicherstellen sollen.

Laut Christian Hoffmann ist Deutschlands Förderlandschaft nicht zu unübersichtlich, aber zunehmend komplex. Mit dem Förderlotsen und der Förderfibel will das BALM Abhilfe schaffen.

Haben Sie ein Beispiel für ein Förderprogramm, wo Sie im Vorfeld Einfluss nehmen konnten?
Das machen wir eigentlich bei allen Förderprogrammen, dass wir in guter Zusammenarbeit mit dem BMDV in den Austausch gehen. Es gibt manchmal auch Programme, bei welchen uns das nicht so möglich ist, weil sie zum Beispiel aus dem Parlament kommen und Abgeordnete bestimmte Vorstellungen haben, die wir umzusetzen haben. Natürlich haben wir durch langjährige Erfahrung die Expertise, Vorschläge zu machen, an welcher Stelle bestimmte prozessuale Schritte gekürzt werden können. Umgekehrt geben wir auch Hinweise, was man noch beachten sollte. Das ist völlig unabhängig vom Gegenstand gern gesehen vom BMDV. Wenn das Programm friktionsfrei durchlaufen kann, hat jeder was davon.

Wie macht man ein Programm friktionsfrei?
Wenn man investive Maßnahmen plant, also zum Beispiel den Bau eines Fahrradparkhauses, dann ist es nicht nur die Aufgabe der Förderrichtlinie, das Programm technisch umzusetzen. Sondern wir tragen auch die kommunikative Verantwortung, den Bedarfsträger und den Fördernehmer entsprechend zu informieren, welche Punkte und Komplikationen man am besten schon in einer Vorplanungsphase in den Blick nehmen müsste.
Im besten Fall funktioniert das über die Transferstelle und den Förderlotsen im Vorfeld, dass wir unsere Erfahrungen eben auch als nicht-monetäres Angebot formulieren und Best-Practice-Beispiele über Netzwerke zur Verfügung stellen. Da kommt immer wieder das Mobilitätsforum Bund ins Spiel, mit welchem wir in einem ersten Schritt in der Transferstelle Wege zeigen, wie Förderungen gelingen können. In einem zweiten Schritt bieten wir auch Wissensaufbau über Aus- und Fortbildungen an und nehmen diese Best-Practice-Beispiele als Orientierung.

Die Kernkompetenzen des Bundesamts für Güterverkehr, das zum BALM umstrukturiert wurde, lagen im Bereich der Verkehrswirtschaft, der Maut und der Ahndung. Heute ist das Aufgabenspektrum breiter.

Sie sind in Ihrer Arbeit ja in gewisser Weise von der Bundespolitik abhängig. Wenn das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung zum Klima- und Transformationsfonds für Förderchaos sorgt oder die Regierung sich zerstritten zeigt, wie gehen Sie mit solchen Situationen um?
So gut wie möglich! Wir hängen ja als BALM nicht an der ganzen Bundesregierung, sondern am BMDV. Dort haben wir sehr gute Abstimmungsverhältnisse. Dort erfährt das, was wir hier vorantreiben, sehr viel Zuspruch und Unterstützung. Wir haben Diskussionen über die Auskömmlichkeit von Haushaltsmitteln geführt, aber nicht über die Sinnhaftigkeit der Förderprogramme. Das muss man klipp und klar so sagen. Natürlich hat das (Chaos um den Klima- und Transformationsfonds, Anm. d. Red.) insgesamt zu einer haushalterischen Mangellage geführt, aus der der Radverkehr aber budgetär vergleichsweise gut herausgekommen ist.

Wie gut werden die Fördermittel abgerufen und wie bekannt sind die Programme im Einzelnen? Mitunter gibt es ja auch Förderprogramme etwa auf Landesebene, die auf dieselben Inhalte abzielen.
Es ist richtig, dass es oft komplementäre Angebote des Landes gibt. Das sind wichtige Fragen, wenn man im Vorfeld den Gesamtfinanzierungsbedarf klärt. Wenn es konkret darum geht, wie die Mittel abgerufen werden, muss man zwischen investiven und nichtinvestiven Maßnahmen unterscheiden. Gerade im investiven Bereich habe ich bei baulichen Leistungen natürlich ganz andere Vorlaufzeiten und auch gewisse Umsetzungszeiten, die in der aktuellen wirtschaftlichen Lage noch mit Baukostensteigerungen und Ähnlichem einhergehen. So treten tatsächlich immer wieder Verzögerungen ein. Wir bieten hier sehr viel Unterstützung an, um Fragen zu klären und den Mittelabfluss zu gewährleisten. Wir beobachten aber auch, dass gerade auf kommunaler Ebene sehr viel Schwung reingekommen ist. Man hat das Problem erkannt und der Abruf der Mittel wird immer fließender.

Wie stark wird die Transferstelle genutzt, die Sie in diesem Kontext betreiben?
Die Transferstelle ist mit dem Förderlotsen eine der vier Säulen des Mobilitätsforums Bund und zunehmend gefragt. Im besten Fall vor der konkreten Antragsstellung auf Fördermittel. Genau zu diesem Zeitpunkt sollte das Ob und Wie geklärt werden. Aber es passiert auch – dadurch, dass unsere Förderprogramme stark überzeichnet sind, da es eben doch mehr Nachfrage als Angebot gibt – dass man den Förderlotsen auch nach erfolgloser Antragsstellung seitens der Kommune in Anspruch nimmt und noch mal „lessons learnt“ bestimmt.

Wie öffentlichkeitswirksam ordnen Sie gerade in Bezug auf die moderne Mobilität die Arbeit des BALM ein?
Wir sind hier zunehmend proaktiv ausgerichtet. Wenn wir hier gesellschaftlich relevante Vorhaben umsetzen, dann müssen wir dies auch fortlaufend und unmittelbar kommunizieren. Früher haben wir ausschließlich mit Presseinformationen und unserem Internetauftritt gearbeitet. Jetzt richten wir unsere Öffentlichkeitsarbeit viel stärker auf die Kommunikation über Social-Media-Kanäle wie LinkedIn oder Instagram aus.
Darüber hinaus legen wir in der Öffentlichkeitsarbeit einen weiteren Schwerpunkt auf Messeauftritte und auf die Ausrichtung von Konferenzen und Veranstaltungen, wie den jährlich stattfindenden Fahrradkommunalkonferenzen. Das sind besonders wichtige Punkte, um das BALM ganz generell erlebbar zu machen, Transparenz herzustellen und zu zeigen, dass man mit uns in Kontakt treten kann.
Nehmen wir zum Beispiel mal dieses Gebäude. Das ist eine ältere Liegenschaft, die man auch als gesichtslosen Bau in der Kölner Innenstadt wahrnehmen könnte. Aber hier arbeiten Kölnerinnen und Kölner. Und nahezu alle Aufgaben, die wir hier wahrnehmen, sind auch für die Kommunalverwaltung interessant. Also sind wir gerade dabei, mit der Kölner Oberbürgermeisterin eine Partnerschaft einzugehen. Wir wollen die Arbeit, die wir tun, auch direkt vor der eigenen Haustür wirken sehen.

„Wir haben Diskussionen über die Auskömmlichkeit von Haushaltsmitteln geführt, aber nicht über die Sinnhaftigkeit der Förderprogramme.“

Christian Hoffmann, Präsident des Bundesamts für Logistik und Mobilität

Christian Hoffmann und sein Team wollen, dass ihr Arbeit auch vor der eigenen Haustür, also auch vor der Liegenschaft des BALM in Köln sichtbar wird. Mit der Kölner Oberbürgermeisterin entwickeln sie derzeit eine Partnerschaft.

In Sachen Kooperation sticht auch die Zusammenarbeit mit dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club für den Radtourismuskongress heraus. Wie wichtig sind solche Kooperationen generell für das BALM und welche potenziellen Partner haben Sie noch im Blick?
Die Zusammenarbeit mit einem wichtigen Verband auf europäischer Ebene ist sehr wichtig, um nahe der Branche den Bedarf erkennen zu können. Wir haben den Anspruch, zu wissen, was konkret dort passiert.
Wenn man ins Inland schaut, haben wir mit der Geschäftsstelle Radnetz Deutschland ein sehr breites Aufgabenspektrum. Es geht nicht nur darum, wichtige Radwege instand zu halten, auszubauen und zu verbessern. Es geht auch darum, diese Radwege erlebbar zu machen, durch Marketingkonzepte gerade im touristischen Bereich. Wir arbeiten in der Geschäftsstelle mit allen Bundesländern zusammen, von daher sind das in der föderalen Struktur die wichtigsten Partner, die man braucht.

Was Radverkehr angeht, sind sicher auch die Kommunen zentrale Handlungsträger. Gibt es ein Thema, das diese Ihrer Meinung nach beim Radverkehr noch stärker in den Blick nehmen müssten?
Wir formulieren Angebote aus unserer Perspektive des Fördergebers. Kommunen sind in ihrem jeweiligen Bedarf oft gar nicht ohne Weiteres vergleichbar. Und deshalb wissen die Kommunen in den meisten Fällen selbst am besten, was für den jeweiligen Bedarf vor Ort das Richtige ist. Aus diesem Grund steht es mir an dieser Stelle nicht zu, das zu bewerten. Wir arbeiten daran, die Erfahrungen, die wir sammeln, in Angebote umzuwandeln, und werben für das Abfordern dieser Angebote durch die Kommunen, weil ich auch die kommunalen Abhängigkeiten und Diskussionen kenne und weiß, wie schwer es manchmal sein kann, solche Projekte vor Ort umzusetzen.

Das BALM führte im vergangenen Jahr eine Auslandsexkursion nach Paris durch. Was kann sich die deutsche Verkehrspolitik generell oder was können sich die Kommunen im Speziellen im Ausland abschauen?
Die Auslandsexkursion diente dazu, die Fahrradfreundlichkeit der Stadt wirklich erlebbar zu machen. Hier ist es unsere Aufgabe, durch angereicherte Best-Practice-Veranstaltungen Impulse geben zu können.
Wir suchen uns im Inland wie im Ausland positive Beispiele heraus. Das hat auch im Fall der Paris-Exkursion sehr gut funktioniert. Die Verkehrspolitik der Stadt Paris steht unter anderem beispielhaft für eine Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs vor Schulen. Best-Practice-Beispiele – beziehungsweise deren modellhafte Umsetzung – konnten vor Ort besichtigt werden, welche dann auch entsprechend übertragbar waren.

Wie soll sich das BALM in den kommenden Jahren Ihrer Zielsetzung nach weiterentwickeln?
Wir werden den Weg, den wir eingeschlagen haben, konsequent weitergehen. Das heißt, dass wir uns als Fördergeneralist weiterhin bewähren, beweisen und in Anspruch genommen werden. Das heißt, dass es uns gelingt, mit wachsender Expertise immer zielgenauer und treffsicherer Förderung zu betreiben. Ich wünsche mir auch, dass wir unsere Agilität als ad hoc handelnde Krisenmanagementbehörde beibehalten. In der Vergangenheit haben wir bewiesen, dass wir sehr schnell sehr gut handlungsfähig sind. Das sind Faktoren, die heute eine wichtige Rolle spielen. Das können Sie nur machen, wenn die ganze Behörde so tickt.
Wir wollen in einem dynamischen Entwicklungsprozess bleiben, denn Stillstand ist Rückschritt. Das gilt, glaube ich, überall, aber erst recht im Aufgabenfeld der modernen Mobilität. Man muss am Puls der Zeit bleiben.


Bilder: BALM

Gute Infrastruktur spricht Einladungen aus und vermittelt echte Sicherheit – gerade schwächeren Verkehrsteilnehmer*innen. Wird man weiterhin nur träumen dürfen? Von einer gemeinsamen Anstrengung, die wirklich allen hilft? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Kennen Sie das Zitat in der Überschrift? Der Schlüsselsatz aus dem 1989er-Film „Feld der Träume“ sitzt mir schon lange wie ein Ohrwurm im Kopf. Dort im ländlichen Iowa ist mit „es“ ein Baseballfeld gemeint, das Kevin Costner als Farmer Ray Kinsella in seinem Maisfeld errichtet. Eine Stimme, die nur er hören kann, hat ihn davon überzeugt. Unter dem Spott seiner Nachbarn pflügt er einen Teil seines Ackers um und ruiniert so den familiären Frieden und beinahe seine Landwirtschaft. Als das Spielfeld jedoch fertig ist, erscheinen plötzlich „Geisterspieler“: Ihrerseits verdutzte, tote Legenden des Nationalsports, die durch das verbliebene Maisfeld ins Diesseits zurückkommen, um wieder Baseball zu spielen.
In meinem Mantra ist freilich „es“ das Radwegenetz und „er“ der Straßenverkehr einer lebenswerten Zukunft: unmotorisierter, umweltfreundlicher, platzsparender, gleicher, menschlicher und respektvoller. Denn gute Infrastruktur spricht ja ein Angebot aus, eine Einladung: Hier bist du Mensch, hier darfst du’s sein. Und zwar egal, welche Mobilitätsform man wählt. Dieses Privileg gilt hierzulande seit Jahrzehnten nahezu exklusiv fürs Kfz. So sehr, dass viele Menschen es als Anrecht leben. Höchste Zeit für eine Notbremsung! Und wenn der Film auch mit einer bis zum Horizont reichenden Autokolonne endet, so steht sie ja doch, die Hoffnung: auf eine Menge an Menschen, deren Erkenntnis oder Einsehen es benötigt, damit der verspottete Visionär am Ende recht behält.
Meine Vision, das ist eine Mobilität der Zukunft, die Fortbewegungsbedürfnisse von Menschen erfüllt, ohne zum Luxusgut zu werden, und gleichzeitig Natur, Gesundheit und Wohlergehen schützt, ohne sie zu gefährden. Ich wünsche mir einen Lebensraum, dem sich der Verkehr unterordnet, keinen Verkehrsraum, der das Leben verdrängt. Ich wünsche mir Tempo 30 innerorts, Superblocks und weitestgehend autofreie Städte. Da gibt es viele interessante internationale Vorbilder.
Seit der Straßenverkehrsgesetz-Novelle 2024 haben deutsche Kommunen eine Menge mehr Befugnisse, „es“ zu bauen. Beziehungsweise weniger Ausreden, es nicht zu tun. Doch geschieht da nichts von allein. Es braucht viel gute Laune, unser aller zivilbürgerliches, gesellschaftliches Engagement und striktes Nachhaken bei oder durch politische Akteur*innen, um die unzähligen kleinen nötigen Schritte umsetzen. Hoffentlich, so eine weitere Vision, im Dialog, geprägt von Rücksicht, Offenheit und Fairness, was Platzbedarf und wahre Kosten betrifft. Denn was sonst hülfe gegen die Beantwortung komplexer Fragen mit einfachsten Parolen und gegen die stark selektive Wahrnehmung in den Echokammern? Zu oft wird dort statt eines solchen Miteinanders ein Kampf erklärt: Pass nur auf, die wollen dir was wegnehmen! Dabei sollten wir uns doch mit allen Menschen, die ein Mobilitätsbedürfnis haben, an einen Tisch setzen! Als Chefredakteur eines Fahrradkulturmagazins bin ich überzeugt, dass das Fahrrad ein großer Teil der Lösung ist – aber natürlich nicht der einzige. Ohne gesellschaftliche Mehrheiten ist ein ausgewogener und friedlicher Verkehr nicht zu realisieren.
Weiter wie bisher, das geht ohnehin nicht mehr. Der alte Sponti-Spruch wird noch immer täglich wahrer: „Wer Straßen sät, wird Autos ernten.“ Oder Stau. Mehr Straßen, mehr Stau, mehr unglückliche Menschen. Es sah zwischendurch mal kurz so aus, als ginge es in eine gute Richtung. Doch die Bundesverkehrspolitik hat in Sachen Fahrrad und Lebensqualität alle Bremsen festgezogen. Wo Unionsparteien ans Lenkrad gelassen werden, legen sie den Rückwärtsgang ein und geben Vollgas – wie man „schön“ in Berlin beobachten kann.
Bei den politischen Hiobsbotschaften dieser Tage bekommt man den Eindruck, dass sich das Fenster der Möglichkeiten hierfür eher schließt. Wir müssen und können über vieles reden. Nur eines ist aus meiner Sicht nicht verhandelbar: Vision Zero. Die Schwächeren müssen geschützt werden und Rücksichtnahme zur Selbstverständlichkeit. Ich will keine Verkehrstoten mehr hinnehmen!


Bilder: Vaude – pd-f, Frank Stefan Kimmel – pd-f

Henning Rehbaum ist Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag für den Radverkehr. Nach seinem Empfinden „verändert sich gerade etwas in der Fahrradwelt“. Ein Professionalisierungsschub sei deutlich spürbar. Die große Aufgabe sei es nun, „sympathisch zu bleiben“. Das Fahrrad sei ein enormer Sympathieträger. Es braucht aus der Mitte der Gesellschaft starken Rückhalt – aber ohne moralischen Zeigefinger. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Hinweis: Das Gespräch wurde kurz vor dem Bruch der Ampelregierung geführt.

Vor Kurzem waren Sie bei der Klausur Ihrer CDU-Fraktions-Arbeitsgruppe Verkehr. Wie gelingt es Ihnen dort, mit dem Thema Fahrrad durchzudringen und dem Radverkehr Gewicht zu geben?
Als Volkspartei CDU/CSU haben wir uns zum Ziel gesetzt, dass jeder Verkehrsträger zu seinem Recht kommt. Natürlich ist das Auto für viele Menschen, gerade im ländlichen Raum, wo ich herkomme, wichtig, aber auch das Fahrrad spielt im Münsterland eine große Rolle. Das Fahrrad ist bei uns Alltagskultur – und diesen Spirit, dass das Fahrrad etwas ganz Normales ist, für die Breite der Gesellschaft, den will ich in meiner Partei noch viel mehr verankern. Es gibt Regionen in Deutschland, da ist das Fahrrad schon lange angekommen, aber auch andere, vielleicht topografisch schwierigere, da muss es erst noch zur Selbstverständlichkeit werden. Hierzu beizutragen, das habe ich mir zur Aufgabe gemacht.

Von der Gleichberechtigung aller Verkehrsträger wird ja immer wieder gerne gesprochen, aber es gibt hierzu sehr unterschiedliche Interpretationen. Gerade hier in Berlin, unter einer CDU-Verkehrssenatorin, wird mit dem Anspruch „Verkehr für alle“ die Entwicklung des Radverkehrs stark ausgebremst und stattdessen eine „Auto-First“-Politik betrieben. Die Verkehrsthematik wird ideologisch stark aufgeladen – auch von Vertreter*innen Ihrer Partei.
Einseitige Sichtweisen gibt es natürlich in allen Parteien und bei den Grünen hat man manchmal den Eindruck, dass es für sie nur den Radverkehr als Allheilmittel gibt. Immerhin hat die CDU in Berlin, indem sie das Autothema für sich besetzt hat, die Wahl gewonnen – das war ja ein stark vom Verkehrsthema geprägter Wahlkampf. Ich persönlich glaube, dass die Wahrheit in der Mitte liegt. Auf die Dauer müssen wir für alle Verkehrsträger vernünftige Lösungen haben. Ohne Autos wird Berlin nicht funktionieren, daher muss auch das Auto zu seinem Recht kommen. Es gibt nicht nur schwarz oder weiß! Die große Herausforderung für Fahrrad und Auto ist ja das sichere Kreuzungsdesign. Und dafür fehlen in Berlin massenhaft Fachleute.
Das läuft in NRW besser. Dort hat die CDU-Regierung den Radwegebau auch dadurch beschleunigt, dass wir die Umweltverträglichkeitsprüfung abgeschafft haben, denn Radwegebau ist praktizierter Umweltschutz! Das konnten wir dann auch im Bund durchsetzen, im Rahmen der Planungsbeschleunigung – und gegen den anfänglichen Widerstand von Umweltverbänden und den Grünen. Das ist ein Fortschritt.

„Für einen Mischverkehr von Kfz und Fahrrad ist auch Tempo 30 noch zu schnell, diese Temporeduzierung ersetzt keine eigenständige Radverkehrsinfrastruktur.“

Henning Rehbaum, Bundestagsabgeordneter

Der politische Diskurs hat sich in den letzten zwölf Monaten deutlich verändert, populistische Töne sind oft dominierend, eine sachliche Auseinandersetzung zu führen, wird immer schwieriger.
Politische Kräfte, die auf schnelle Maßnahmen dringen, werden abgekanzelt, die Grünen als „Verbotspartei“ gebrandmarkt. Was denken Sie darüber? Können wir ohne dirigistische Vorgaben die Probleme in einem verträglichen Zeitrahmen lösen?

Wir haben tatsächlich keine Zeit zu verlieren, aber wir erleben doch gerade, wie die Ampel beim Klimaschutz scheitert. Aktuell erreichen wir ja nur deshalb die Klimaziele, weil die Wirtschaft schrumpft. Wir haben in Deutschland noch nie so wenig Wärmepumpen verkauft wie gegenwärtig. Habeck hat mit einer chaotischen Förderpolitik alles abgewürgt. Und mit Verboten kommt man dann schon gar nicht weiter. Dann investieren die Leute eben nicht, fahren ihren Diesel, bis er auseinanderfällt. So funktioniert das nicht. Die Regierung muss den Leuten die Möglichkeit aufzeigen, Klimaschutz zu betreiben. Das müssen die auch schaffen können und das muss verlässlich sein, damit man darauf bauen kann. Diese Verlässlichkeit fehlt zurzeit.
Mit dem Deutschlandticket tun wir dem ÖPNV auch keinen Gefallen. Wir brauchen aber einen starken ÖPNV auch in Verknüpfung mit dem Radverkehr. So wie das Ticket aktuell organisiert ist, entzieht es dem ÖPNV massiv Geld. Milliarden, die für seinen Ausbau dringend gebraucht werden. Das ist eine Rolle rückwärts für den Klimaschutz.
Dasselbe gilt für den Radverkehr. Wir müssen, damit die Leute aufs Fahrrad umsteigen, ermöglichen: Vernünftige Radwege, gute Fahrradinfrastruktur, Fahrrad-Parkhäuser, tolle Produkte, wie sie die Industrie ja bereithält, eine zeitgemäße Regulatorik. Jetzt müssen wir Gas geben, damit die Leute fürs Fahrrad motiviert sind.

Der Grat ist ja schmal zwischen dem „Ermöglichen“ und Entscheidungen, die auch einschränken. Wenn es beispielsweise um die Neuverteilung des Verkehrsraums zugunsten des Fahrrads geht, dann sind wir sofort in aufgeheizten Debatten.
Das ist so. Der Kampf um die Fläche ist da. Allerdings gibt es auch viele Symboldebatten: Jeder Kfz-Parkplatz, den man dem ruhenden Autoverkehr abgejagt hat, ist in der Fahrradszene eine Trophäe. Das heizt die Stimmung aber nur weiter auf. Schließlich gibt es genügend Leute, die aufs Auto angewiesen sind, zumindest in bestimmten Lebensphasen. Wir müssen aufpassen, dass sich das nicht weiter aufschaukelt, also raus aus den Schützengräben! Wir müssen bessere Lösungen finden. Wir können auch Fahrradstraßen oder Fahrradzonen in der zweiten Reihe einrichten, das muss nicht an Hauptstraßen sein, wo jeder Meter Straßenbreite zählt. Die haben schließlich auch eine überregionale Transportfunktion.

Wir führen aber auch Geisterdebatten, selbst wir jetzt hier in diesem Gespräch. Sie haben mehrfach betont, dass man das Auto ja nicht abschaffen kann, weil es für viele eine wichtige Funktion hat. Nach meiner Wahrnehmung gibt es aber keine relevante politische Stimme, die das Auto komplett abschaffen will. Warum also reden wir überhaupt darüber?
Diese Debatten gibt es schon auf lokaler Ebene, oftmals über den Umweg des Parkraum-Wegnehmens. Wo sollen die Leute dann ihr Auto abstellen? Das ist dann eine Folgekette. Wenn man in manchen Kreisen fordert, Autos raus aus der Stadt, dann kriegt man da schon Applaus. Das heizt nur unnötig auf. Wir müssen auch aufpassen, dass wir das Pflänzchen Einzelhandel nicht durch zu hohe Parkgebühren kaputtmachen. Es fahren zwar viele mit dem Fahrrad in die Stadt, aber eben nicht alle. Und die bleiben dann weg. Wir müssen aufpassen, dass wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Nicht jede Lösung, die in Kopenhagen gut funktioniert, funktioniert auch in Bergisch-Gladbach.

Warum reden wir bei solchen Themen eigentlich immer nur über „autoarme“ Innenstädte und nicht über attraktive Begegnungsräume, in denen man sich frei bewegen und die Kinder mal laufen lassen kann? Warum steht der Verlust des Autos im Mittelpunkt und nicht der Gewinn, Stichwort Aufenthaltsqualität?
Es braucht maßgeschneiderte Lösungen! Manche Städte sind Industriestandorte, da müssen die Arbeitnehmer auch hinkommen können. In jedem Fall gilt für uns: Erst mal ein Angebot schaffen und dann die Veränderungen beim Verkehr angehen. Also: Erst Parkraum in vertretbarer Nähe zu den Zielen schaffen, dann den Verkehr neu strukturieren. Die Reihenfolge ist wichtig. Das war auch unsere Kritik beim Deutschlandticket: Erst das ÖPNV-Angebot ausbauen und dann ein attraktives Ticket obendrauf setzen. So ist es beispielsweise in Wien gelaufen, dann steigen die Leute auch um. Aber einfach erst die knappen Parkplätze teurer machen und sagen: Dann bleiben die Leute mit dem Auto halt draußen, das ist keine kluge Strategie. Ich bin ein Fan von vielen Park-and-Ride-Stellplätzen und auch von Bike and Ride.

Zurück zum Radverkehr und damit zum Straßenverkehrsgesetz (StVG): Bei unserem letzten Gespräch waren Sie den Ampel-Plänen gegenüber recht reserviert. Jetzt ist der Kompromiss mit den Ländern da. Wie bewerten Sie das Ergebnis? Sind Sie für den Radverkehr zufrieden oder hätten Sie sich anderes gewünscht?
Wir müssen erst mal schauen, wie das anläuft. Das ist jetzt ein klassischer politischer Kompromiss der Bundesregierung mit den Ländern. Kleine Fortschritte sind durchaus zu erkennen. Ich hätte mir gewünscht, dass der unter dem letzten CSU-Verkehrsminister entwickelte Katalog von Rahmenbedingungen für Tempo 30 aufgenommen worden wäre. Ich bin ja kein Freund von innerorts flächendeckendem Tempo 30, aber dass es vor Kindergärten, vor Schulen, vor Krankenhäusern und Altenheimen etc. ohne weitere Bürokratie Tempo 30 geben können sollte, finde ich vernünftig. Das kann ich als bürgerlicher Politiker, der nah an den Menschen im Wahlkreis ist, vorbehaltlos unterstützen. Das sieht man auch als Autofahrer ein, wenn da zur Begründung ein Schild steht „Achtung Kindergarten“. Solche lokal begrenzten Tempolimits sollten leichter möglich sein. Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit ist hingegen keine gute Idee, z.B. wenn man einen zügigen Busverkehr möchte …

… wobei auch bei der aktuellen Regelgeschwindigkeit von Tempo 50 Ausnahmen nach unten und oben problemlos möglich sind …
Für einen Mischverkehr von Kfz und Fahrrad halte ich auch Tempo 30 noch für zu schnell, diese Temporeduzierung ersetzt keine eigenständige Radverkehrsinfrastruktur. Sicherheit ist das ganz entscheidende Thema. Das hat für mich Priorität – und das ist am allerbesten mit einem abgetrennten Radweg zu erreichen.

Welche Entwicklungen sehen Sie im Parlamentskreis Fahrrad? Ist der eine Smalltalk-Runde oder ein zielführendes Instrument für eine fahrradfreundlichere Kultur im Deutschen Bundestag?
Der geistige Vater des PK Fahrrad ist ja unser viel zu früh verstorbener Gero Storjohann. Er war unermüdlich in der Sache, aber zugleich hat er immer wieder auch nach innen in die Partei hinein Brücken für den Radverkehr gebaut. Dieser Spirit schwebt immer noch über dem Parlamentskreis, und die Mitglieder, egal, welcher Partei sie angehören, verstehen sich gut. Alle gemeinsam haben das Ziel, das Fahrrad in die Köpfe und in die Herzen der Parlamentarier zu bekommen und das Fahrrad auch im Bundestag stärker zu etablieren.
Die Sitzungen des Parlamentskreises Fahrrad sind sehr fruchtbar und man erfährt vieles, wofür im hektischen Parlamentsalltag sonst gar keine Zeit wäre, so haben wir uns im PK Fahrrad beispielsweise sehr intensiv über Schulstraßen informiert, das war großartig.


Bilder: Christian Fischer

Lastenräder sind für viel Gewicht gemacht. Die Organisation Youth4Planet packt noch eine Ladung Ideen obendrauf. Mit der Macht des Geschichtenerzählens verfolgt sie das Ziel, junge Menschen für eine nachhaltige Zukunft zu inspirieren und so dem Klimawandel und Fake News zu trotzen. Wie funktioniert das? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Geht nicht gibt‘s nicht für ein kreatives Lastenrad. Es rollt und rollt und rollt für eine nachhaltige Welt: Das CreatiVelo radelte als mobiler Botschafter für einen positiven Wandel und Medienrad zur Klimakonferenz in Glasgow 2021. Bei der Klimakonferenz in Dubai 2023 war es als Reportagerad und mobiler Kommunikationsort vor Ort. Im Ahrtal ist das Rad der gemeinnützigen Organisation Youth4Planet (Y4P) nun als radelnder Kummerkasten und Mutmacher unterwegs, um die Menschen nach der Flut zu ermutigen. An luxemburgischen Schulen wird es als mobiler Workshop-Ort, fahrende Bühne oder mobiles Studio für Umfragen auf dem Marktplatz eingesetzt. Und auch in Indien wurde nun schon zum zweiten Mal eine CreatiVelo-Challenge durchgeführt. Studierende setzen dabei eigene Forschungs- und Bildungsideen radelnd um, etwa eine umherziehende Gesundheitsberatung.

Körper und Geist in Bewegung bringen

Y4P möchte mit den umgebauten E-Lastenrädern für eine nachhaltige Welt inspirieren und so die nachhaltige Transformation wortwörtlich ins Rollen bringen: „Das Fahrrad ist ja nicht nur das Fahrrad, sondern ein System zur Erkundung der Welt“, sagt Gründer und Vorsitzender Jörg Alte-kruse. Das CreatiVelo könne Ideen sowohl einsammeln als auch verbreiten. Er vergleicht dieses Konzept mit der Renaissance, als italienische Architekten durch Europa zogen und ihre neuen Bau-Ideen bis in die kleinsten Dörfer verbreiteten. Körperliche Bewegung sei zentral für geistige Veränderung. Das CreatiVelo vereine das und helfe so, junge Menschen für die Transformation zu empowern. Zudem schaffe es einen „Third Space“ – einen öffentlichen Raum, an dem Menschen sich treffen und austauschen können, ohne dafür bezahlen zu müssen, erklärt Altekruse. Sprich, ein Stückchen gelebte Transformation.
Das CreatiVelo sei ökologisch sauber, überall einsetzbar, ganz lokal und global vernetzt zugleich. Das bauliche Grundprinzip ist immer gleich: ein E-Lastenrad mit drei Rädern, hinten eine Lastenfläche mit einer Box – 80 cm breit, 120 cm lang, 145 cm hoch. Diese ist abnehmbar und auf Rollen. Mit an Bord ein in die Seitenfläche integrierter 50-Zoll-Monitor mit Klappe gegen Regen oder als Sonnenschutz. Solarpaneele und eine Batterie machen das Rad autark. Auf der Rückseite der Box ist Platz für ein großes Poster. In der Box: Mikrofone, Kamera, Laptop, Mischpult, Lautsprecher, Bühnenpodest, Kuppelzelt, Tisch und Hocker. Das Lastenrad hat Internetverbindung. Über die App EarthBeat sind die Räder auch untereinander verbunden. An den Außenwänden der Box prangen auffordernde Botschaften wie: „Lass uns gemeinsam die Erde retten.“

Das Konzept CreatiVelo funktioniert global, ob in Indien, Glasgow oder Luxemburg.

Nachhaltigkeit als Ziel

Y4P sitzt in Deutschland und Luxemburg und hat eine Niederlassung in den USA. Gründer Altekruse ist Filmemacher für Nachhaltigkeitsthemen. Als er eine 2013 veröffentlichte Fernsehserie über die Kipppunkte des Klimasystems drehte, merkte er, dass der Impact der Filme „gleich null“ war, obwohl sie in mehr als 100 Ländern gezeigt wurden. Die Filme hätten die „Lücke zwischen den Informationen und dem eigenen Standort“ nicht überbrücken können. Das sei der „Augenöffner“ für ihn gewesen, nicht länger nur mit Filmen in die Welt hinauszurufen, sondern etwas anderes zu tun. Als Ergebnis gründete er im Jahr 2015 Y4P. Im selben Jahr fuhr er mit jungen Leuten von verschiedenen Kontinenten nach Grönland, um sie zu Augenzeug*innen von schmelzenden Eismassen durch den Klimawandel zu machen. Die Jugendlichen drehten in Grönland selbst einen Film, traten im Fernsehen auf und berichteten in ihren Schulen von der Reise.
Die Idee von Y4P ist eng mit den UN-Nachhaltigkeitszielen verknüpft, die auch 2015 verabschiedet wurden und etwa Armut abschaffen, Klimawandel stoppen oder Ungerechtigkeiten bekämpfen sollen. Diese Ziele seien machtvoll, weil sie die Vision von 193 Ländern seien, so Altekruse, auch wenn man über Details streiten könne. So teile er das liberale Wirtschaftsverständnis der SDGs nicht, das auf Wirtschaftswachstum setzt. Er sieht die Lösung in einer zirkulären Ökonomie, um wieder innerhalb planetarer Grenzen zu leben.

„Das Fahrrad ist ja nicht nur das Fahrrad, sondern ein System zur Erkundung der Welt.“

Jörg Altekuse, Youth for Planet

Geschichten erzählen mit dem Handy

Das Y4P-Konzept nennt Altekruse „Storytelling for Future“: Y4P führt Storytelling-Workshops an Schulen, Universitäten oder in anderen Organisationen durch. So entstünden immer neue sogenannte Action Teams, die dann gemeinsam „ausschwärmen“ und Projekte umsetzen. In den Workshops lernen die Jugendlichen, wie sie Geschichten erzählen und Kurzfilme drehen – leicht und unkompliziert mit dem Smartphone, das die meisten eh in der Hosentasche haben. Sie sollen das Handy gezielt einsetzen, um die Welt um sie herum wahrzunehmen, festzuhalten und zu dokumentieren. Es gehe in den Workshops neben technischem Know-how vor allem darum, dass junge Menschen Mut für einen Standpunkt entwickeln: „Wenn ich eine Kamera irgendwo hinhalte, dann entscheide ich die Perspektive. Wenn ich eine andere Perspektive einnehmen will, dann muss ich halt weiter weggehen“, macht Altekruse mit dem Handy vor.
Junge Menschen sollen „Fähigkeiten entwickeln, um die Zukunft überhaupt anzupacken und nicht zitternde Knie zu kriegen“, beschreibt er. So sollen sie ermächtigt werden, sich im Raum und in der Welt so aufzustellen, dass sie eine Perspektive für sich und ihre Stimme finden. Eine der ersten Übungen sei deshalb, Handyfotos zu machen und diese auf ihre Geschichten hin zu analysieren. Etwa, welche Emotionen zugeparkte Straßen wachrufen. Durch die genaue Auseinandersetzung mit der Realität entstünden Ideen und Lösungen für eine neue, schönere Welt. So will Altekruse auch die Demokratie stärken: „Wir sind ein Teil des Gegengifts“ gegen die Zukunftsangst und die Unmengen an Falschinformationen, die etwa die AfD, Trump und mancher Milliardär säe. „Dagegen helfen nur starke Personen.“ Seine Vision: durch Y4P „resiliente Gemeinschaften und Individuen zu erzeugen, die sich vernetzen und gemeinsam an den erkannten Zielen arbeiten“.
Auf der Website von Y4P kann man sich durch viele Videos klicken, die vom Mut und der Energie verschiedener Menschen erzählen und Hoffnung machen: Etwa ein Rapsong über Plastik von Hamburger Schülerinnen; ein Video über Fairtrade- Orangensaft von Schülerinnen aus Luxemburg. Oder ein Video, das die Geschichte von Menschen im Togo zeigt, die die Küstenerosion zu bekämpfen versuchen.

CreatiVelos bestehen aus verschiedenen Komponenten – von A wie Antrieb bis Z wie zuklappbarer Monitor. So werden die Lastenräder quasi zur Eier legenden Wollmilchsau.

Lastenräder machen Schule

Inspiriert zu den CreatiVelos wurde Altekruse von der Bäckerei gegenüber seinem Hamburger Büro, die Brot mit einem Lastenrad transportiert. 2021 wurden die ersten Lastenräder umgebaut. Die Kinderkrankheiten seien mittlerweile überwunden: Die ersten Räder seien zu hoch gewesen und auf der Fahrt nach Glasgow zur Klimakonferenz mehrmals umgekippt. Aufgrund der Höhe passten sie auch nicht in Garagen oder durch Schultüren, erzählt Altekruse schmunzelnd.
Da Altekruse durch seine Dreharbeiten gut vernetzt ist, entstehen Projekte an ganz verschiedenen Orten der Welt: In dem kleinen Land Luxemburg arbeitet Y4P mit den 44 weiterführenden Schulen zusammen, führt Workshops und Forschungsprojekte durch und setzt drei CreatiVelos ein, bald sollen es sieben sein.
In Indien wurde nun bereits die zweite Challenge durchgeführt – eine Art mehrwöchige Sommeruniversität mit selbstorganisiertem Lernen: 12 Universitäten, über 30 Teams, über 150 Studierende. Die Studierenden schraubten die CreatiVelos vor Ort selbst zusammen mithilfe eines Startkapitals und dem, was sie auf Schrottplätzen fanden.. Ihre Universitäten unterstützen die Teams materiell und inhaltlich, so Altekruse. Die Teams entwickelten eigene Forschungsideen für die Challenges und schwärmten dann für acht Wochen aus. Adressiert werden dadurch etwa die Nachhaltigkeitsziele Klimaschutz und hochwertige Bildung: Ein CreatiVelo wurde so zur mobilen Gesundheitsberatung, mit der die Studierenden durch Dörfer radelten und über den Monitor Ärztinnen hinzuschalteten. Das sei bei den Menschen vor Ort und den Ärztinnen sehr gut angekommen und habe Mut gemacht, berichtet Altekruse. Ein anderes Team verschrieb sich mit einem Forschungsprojekt der Mädchenbildung und versuchte Diskriminierungen abzubauen. Wieder ein anderes Team habe Schadstoffe im Fluss Brahmaputra gemessen und dann gemeinsam mit NGOs angefangen, ihn zu reinigen. Die Studierenden hätten anschließend von einer Erfahrung fürs Leben geschwärmt und große persönliche Lernerfolge erzielen können, so Altekruse. Die erste Kohorte stand der zweiten als Coach zur Seite. Eine dritte Kohorte solle bald starten. Festgehalten werden diese Geschichten per Handyvideo und Posts auf Social Media oder es werden Vorträge gehalten. Auch die lokale Presse berichte.

Mut nach der Flut

In Deutschland ist ein CreatiVelo im Ahrtal unterwegs. Entstanden sei die Idee gemeinsam mit einer Psychologin, die mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen nach der Flutkatastrophe arbeitete. An einem Gymnasium in Adenau führte Y4P 2022 gemeinsam mit Psychologinnen einen Storytelling-Workshop durch, um sie zu ermutigen. Dabei blieb es nicht. Menschen in Sinzig im Ahrtal hörten vom Workshop und dem CreatiVelo. Mehrere Bildungsinstitute hatten sich nach der Flut zu einer Bildungsregion zusammengeschlossen. Dort ist das CreatiVelo nun als mobiles Event-Studio zum Erkunden von Berufs- und Ausbildungswegen im Einsatz und wird von verschiedenen Schulen bespielt: „Die Idee ist, eine Art Frischzellenkur für das Ahrtal aufzubauen, wo die jungen Leute nicht gehen müssen, sondern lernen, dass Dableiben auch was Gutes für sich hat und sie gestalten können“, erklärt Altekruse. Die Aufbruchshaltung für das Ahrtal nach der Katastrophe werde so durch das CreatiVelo unterstützt. Die Botschaft: „Hey da geht noch mehr. Lasst euch nicht entmutigen“, sagt Altekruse.
Diese Botschaft will er am liebsten überall verbreiten. Seine Vision: Jede deutsche Hochschule und jede Schule hat Action Teams mit CreatiVelos. Leider seien hierzulande die Strukturen sehr „verknöchert“ und es habe einige Rückschläge gegeben. Er sei im Kontakt mit der Initiative „Frei Day“, die sich dafür einsetzen, dass ein Tag die Woche freigeschaufelt wird für Zukunftsthemen. Das CreatiVelo sei wie dafür gemacht, neue Zukunftsformate umzusetzen, findet er. Etwa könnten Schüler*innen die Luftqualität in Stadtteilen messen und den Gemeinderäten vorlegen.

„Wir bauen Denkweisen und Systeme auf, wie zum Beispiel das CreatiVelo-Betriebssystem für ein bewegtes Lernen, was so aufgebaut ist, dass die Beteiligten lernen, wie sie für sich eine positive Zukunftsvision entwickeln“, so Altekruse von Y4P. Er steht vor dem ersten CreatiVelo frisch nach der Auslieferung.

Bildung in Bewegung

Vielleicht kommt bald auch das Bildungssystem in Nigeria ins Rollen. Auf der Klimakonferenz in Dubai baute sich ein Kontakt zum nigerianischen Gouverneur Mohammed Umaru Bago auf. Dieser möchte nun Tausende CreatiVelos mit Y4P für Nigeria organisieren, um sie als mobile Schulen einzusetzen, da in Nigeria aus unterschiedlichen Gründen viele junge Menschen die Schule abbrechen. So könnten junge Menschen direkt bei sich im Ort weiter an Bildung kommen. Die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) sei angefragt für Gelder, so Altekruse. Auch seien bereits die ersten Kontakte zu Edmilson Rodrigues, Bürgermeister von Belem in Brasilien, wo 2025 die Klimakonferenz stattfinden wird, geknüpft. Der Plan: 2025 soll ein Y4P-Action Team mit CreatiVelo vor Ort sein.
Es wird deutlich: Geht nicht gibt‘s weder für ein kreatives Lastenrad noch für Altekruse. Für ihn gelte stets das Prinzip: „Da, wo ich heute stehe, kann ich anfangen loszulegen und neu entwickeln, nicht in die Vergangenheit gucken und sagen ‚Ach Mist‘.“ Er gucke immer nach der nächsten Chance. Die nächste Chance, die ins Rollen kommen kann.


Bilder: Youth4Planet

Wie lässt sich von Politik, Verkehrsplanern und Akteuren der Zivilgesellschaft dem Populismus gegensteuern? Wie sichert man Erreichtes für die nachhaltige Mobilitätswende? Perspektivwechsel und Dialog gehören in den Instrumentenkoffer. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Populistische Parteien sitzen jetzt in Ländern und Kommunen. Mittlerweile muss nicht einmal die AfD oder das BSW vorn liegen, um Klimaschutzprojekte infrage zu stellen. Beispiel Eichwalde: Anders als im Landesdurchschnitt siegte bei den Brandenburgwahlen im September die SPD mit 34,3 Prozent der Zweitstimmen vor der AfD (20,7 Prozent). Nur was nutzt vorläufiges Aufatmen engagierter Kommunalpolitiker*innen, wenn etablierte Parteien den Populismus kopieren? Jörg Jenoch, Bürgermeister von Eichwalde (Wähler Initiative Eichenwalde), sagt sogar: „Die wahren Populisten sind nicht die AfD, sondern die CDU und teilweise die SPD, sofern sie deren Art und Weise übernehmen.“ Auch Christoph Kollert, Verbundkoordinator des Nudafa-Reallabors für interkommunale Radverkehrsförderung vor Ort, findet: „Ich glaube, dass jetzt die anderen Parteien merken, damit kann man was machen. Sie kapern das und bringen es immer mehr ein.“ Als die Eichwalder CDU-Fraktion einen Eilantrag auf Aufhebung des Beschlusses für die Klimaschutzhülle einer Grundschule stellte, wurde sie auch von der SPD-Fraktion unterstützt. Da wurde eine Maßnahme, die von der Gemeindevertretung ehemals gemeinsam beschlossen wurde, plötzlich als ideologisches Projekt gehandelt.

Die Kernelemente sozialverträglicher Mobilität. Sie helfen, potenzielle Maßnahmen auf ihre Sozialverträglichkeit hin zu prüfen.

Positive Narrative statt Triggerworte

„Wir haben auch einen Fehler gemacht“, räumt der Bürgermeister ein, „weil wir das Klimaschutzhülle genannt haben. Eigentlich ist das eine Lärmschutzhülle. Sie soll die Schule vor Fluglärm schützen.“ Entsprechend wortsensibel reagiert Christian Klasen von DialogWerke GmbH neuerdings in seiner Kommunikation für Mobilitätsprojekte. Er sagt: „Dass wir mit einer Maßnahme soundso viel Gramm CO2 einsparen, damit kriege ich die Leute nicht. Schließlich ist das persönliche Mobilitätsverhalten das große Einfallstor von Populisten. Die sind da, wenn sie argumentieren können, jemandem wird etwas weggenommen. In den Mobilitätsplänen sprechen wir deshalb nicht mehr von Klimaschutz. Wir sagen, so bekommen wir eine lebenswerte Stadt, Verkehrssicherheit und Gesundheit. Durch diese Maßnahme verbessert sich der Schulweg für die Kinder.“

Zeitnahe Umsetzung schafft Vertrauen

Mit Bezug auf das „Wording“ weist man in Eichwalde allerdings auf eventuelle Finanzierungsabhängigkeiten hin. Zum Beispiel, wenn Kommunen das Klimaschutzziel mal eben streichen wollen, die Projekthilfen jedoch ausdrücklich dafür vorgesehen sind. Gefragt nach seiner Strategie gegen den Populismus, setzt Jörg Jenoch grundsätzlich auf eine Verschlankung von Verwaltungsprozessen. „Wenn Sie bei uns in den Haushalt hineinschauen, sehen Sie eine strukturelle Unterfinanzierung. Dabei geht es uns noch gut. Trotzdem können wir unsere Aufgaben nicht zeitgerecht erfüllen. Wenn man es schaffen würde, dass die Verwaltung Prozesse zügiger umsetzen kann, schafft man Vertrauen, weil dann die Erfolge kommen.“ Umgekehrt gilt: „Je länger es braucht und je weniger Leute nachvollziehen können, dass es etwa noch zwei Jahre länger dauert, verlieren sie auch Vertrauen.“ Wichtig ist dem Bürgermeister daher, dass man konsequent Bürokratie abbaut und den Kommunen die Möglichkeit gibt, ihre Probleme selbst mit ihrer Kompetenz vor Ort zu lösen.

Den Masterplan gegen Populismus gibt es nicht. Je nach Situation und Verantwortungsbereich können unterschiedliche Maßnahmen die Mobilitätswende sichern.

Instrument verkehrsrechtliche Anordnung

Eine Methode, mit dem kontroversen Thema Verkehrsberuhigung umzugehen, nennt Christoph Kollert: „Im Prinzip handelt es sich dabei um eine Populismusvermeidungsstrategie. So wollten wir ursprünglich die Bahnhofstraße zur Fahrradstraße umgestalten. Das kocht immer richtig hoch, besonders wenn es in der Straße schon andere Themen gibt, wie die Stärkung des Einzelhandels. Also haben wir gesagt, machen wir eine Maßnahme, mit der wir das Thema Fahrrad wieder rausnehmen.“ Gibt es in einer Straße zum Beispiel Unfälle, kann die Verwaltung ein Handlungserfordernis feststellen für einen verkehrsberuhigten Bereich. Dazu muss ein Antrag beim Straßenverkehrsamt gestellt werden. In Eichwalde hat die zuständige Behörde das bejaht. Kollert: „Sie hat sogar gesagt, wir wundern uns, wieso ihr das nicht längst gemacht habt. Wir schauen also, was wir verkehrsrechtlich machen können, ohne zu sagen, wir machen jetzt Radverkehrsförderung. Heraus kommt ein verkehrsberuhigter Bereich, der nicht Fahrradstraße heißt.“

„Wir schauen also, was wir verkehrsrechtlich machen können, ohne zu sagen, wir machen jetzt Radverkehrsförderung.“

Christoph Kollert, Verbundkoordinator NUDAFA

Kommunale Aufgaben externalisieren

Weil eine Kommune bei Angriffen auf Verkehrsprojekte regelmäßig im Mittelpunkt steht, kann sie bestimmte Maßnahmen abgeben. An Institutionen wie Schulen oder Vereine, die bei Bürger*innen Glaubwürdigkeit und Vertrauen besitzen. So sagt der Nudafa-Koordinator: „Die Kommunen stehen populistisch in einer besonderen Situation. Andererseits ist es für einen Populisten viel schwieriger, den ADAC Brandenburg dafür zu kritisieren, dass er einen Verkehrsprojekttag an der Grundschule Eichwalde macht.“
Deshalb hält es Kollert für eine weitere Strategie, Aufgaben zu externalisieren. Dazu gehört die Mobilitätsbildung. „Das sollte die Schule machen, der ADFC, ADAC oder VCD.“ Generell hält er es für falsch, zu sagen, allein die Kommunen machen die Verkehrswende. „Wenn wir das mit der Verkehrswende schaffen wollen und gleichzeitig der Populismus zunimmt, brauchen wir die Nichtverwaltungsakteure in der Gesellschaft, die die Dinge tun. Auch der ADFC kann die Landesregierung verklagen, warum es immer noch keine Schulstraßen gibt.“

Sozial verantwortlich planen

Sind Populisten mit den klassischen Sündenböcken wie Migranten oder Armutsbetroffene erfolgreich, werden sie möglicherweise auch aufgrund unausgesprochener Themen gewählt. Unter solch schlichten Nebelkerzen schwelen Krisen, auf denen die Politik bisher keine erfolgreichen Antworten findet: Wohnungsnot, mangelnde Gesundheitsversorgung oder Bildungskrise. Hinzu kommt, dass die eigene, prekäre Lage selbst in Umfragen ungern eingeräumt wird. „Es ist uncool, arm zu sein“, sagt Ragnhild Sørensen. Sie ist Sprecherin des Vereins Changing Cities. „Wer in Teilzeit arbeitet, zahlt genauso viel für die Transportkosten zur Arbeit, wie jemand, der in Vollzeit arbeitet. Dabei verdient er vielleicht nur die Hälfte. Ist das gerecht? Das sind Sachen, die Verkehrspolitiker nicht unbedingt auf den Schirm haben.“ Dabei betrifft Armut nicht nur Lebensstandards, sondern ebenso mangelnde Teilhabe an gesellschaftlichen Bereichen. In einen strategischen Instrumentenkoffer gegen Populismus gehört deshalb der Blick auf alle Gruppen.

Erfolgreiche Bürgerbeteiligung nimmt sich die Zeit, den Diskussionsraum aufzubauen. Dabei ergänzen sich Fach- und Diskurs-Kompetenz.

Rückkehr der runden Tische

Entsprechend bildet eine sozialverträgliche Mobilitätswende eine Säule der Arbeit der DialogWerke. Christian Klasen erklärt: „Populisten sagen, dass sie auf die armen, einfachen Leute achten. In Köln haben wir sehr erfolgreich einen runden Tisch „Mobilität und Gesellschaft“ eingeführt. Die Stadt legt viel Wert auf die soziale Gerechtigkeit. Weil wir alle vorgeschlagenen Maßnahmen auch danach betrachten, ob sie sozialverträglich sind, haben wir dazu ein Modell gebaut.“ Die sieben Kernelemente der Sozialverträglichkeit spiegeln die Themen auf der untersten Ebene: Teilhabe, Barrierefreiheit, Bezahlbarkeit, Erreichbarkeit, Zuverlässigkeit, Sicherheit und Gesundheit. Am runden Tisch sitzen zufällig ausgewählte Bürger und Bürgerinnen aus möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen. Blindenverein, Seniorinnen, Studierende, Kirche, Migrationsrat und Bürgergeldempfängerinnen. „Was unsere Mobilitätsplaner vorlegen, prüfen wir dort. Zu sagen, checkt selber, ob das sozialverträglich ist, wäre daher auch ein Vorbeugen gegen Populisten. Hat man das Siegel von so einem Gremium dran, ist für die schon mal eine Tür weniger offen. Wir haben den Eindruck, dass das gut funktioniert.“

Die eigene Blase verlassen

Selbstkritisch räumt Christoph Kollert ein: „Bei unserem Fahrradparkhaus haben wir den Fehler gemacht, die Gründe voranzustellen, die uns selbst überzeugen und antreiben. Weniger haben wir daran gedacht, wo es zusätzliche Vorteile gibt. Beispielsweise für die Leute, die dann da parken können. Je mehr Fahrräder kommen, desto weniger Leute kommen mit dem Auto. Zu sagen, was unsere Maßnahmen über die eigene Perspektive hinaus leisten. Dafür müssen wir unser Auge schärfen.“
Für den eigenen Perspektivwechsel lohnt es sich, häufiger die eigene Blase zu verlassen. Denn auch von Populisten lässt sich lernen. Was für die Politik gilt, die zu Bürgergesprächen lädt, stimmt ebenso für Akteure der Zivilgesellschaft. Changing Cities erprobt neuerdings die Methode Door-to-door. „Also wirklich an Türen klopfen und statt Ausgrenzung den direkten Dialog suchen“, sagt Ragnhild Sørensen. „Das funktioniert auch ganz gut.“ Manchmal rufen Bürgerinnen bei ihr an, um sich über ihre Initiativen zu beschweren. „Dann nehme ich mir eine Viertelstunde Zeit. Die ersten sieben Minuten sind reine Beschwerde. Später gibt es doch Dialog und Verständnis.“ Zum Beispiel beschwerte sich eine Frau aus Brandenburg, dass ihre Autodurchfahrt zur Stadt in einem Kiezblock unterbunden werden sollte. „Ich habe ihr geantwortet, es ist auch nicht schön für die Anrainer, wenn alle vor ihren Häusern durchfahren. Das hat sie ein Stück weit verstanden. Dann habe ich versucht, ihr zu erklären, dass wir nicht unbedingt wollen, dass sie nicht mehr Autofahren kann. Sondern, dass diejenigen besser durchkommen, die wirklich darauf angewiesen sind.“ Die Frau hat das akzeptiert. Den vielleicht wichtigsten Punkt schob die Brandenburgerin hinterher, als sie sagte: „Das müssen sie aber öfters erzählen, dass es ihr Ziel ist, dass Menschen, die aufs Auto angewiesen sind, Auto fahren können.“ So eine direkte Kommunikation ist zugleich eine Herausforderung für Changing Cities. Denn die Arbeit auch gegen populistische Falschinformationen über geplante Projekte bindet viel Zeit. „Zu den eigentlichen Themen kommt die NGO dann nicht. Zum Teil sind wir deshalb ausgebremst“, sagt Sørensen. Das sei wiederum eine Strategie von Populistinnen, die sich gegen nachhaltige Verkehrsmaßnahmen stemmen.

Mit Diskurskompetenzen ausstatten

Damit das Projekt von den Betroffenen überhaupt verstanden wird, braucht es Diskurskompetenz. „Wir müssen die fachliche Kompetenz darstellen für die Leute, mit denen wir diskutieren“, sagt Christian Klasen. Das Büro DialogWerke hat dafür Anforderungen für eine faktenbasierte Bürgerbeteiligung entwickelt. „Das gilt auch für die Politiker*innen, ob die neu sind oder nicht. Sie müssen fachliches Wissen haben und nicht nur aus ihrem Bauchgefühl heraus handeln. Also fachliche Kompetenz im nötigen Rahmen, damit sie wirklich damit arbeiten können. Die brauchen wir bei den Fachakteuren, aber auch bei den Bürgerinnen und Bürgern.“ Der Dialog soll auf Augenhöhe geführt werden. „Wenn man das hinbekommt, können wir darüber reden, wie wir das machen.“

„Wer in Teilzeit arbeitet, zahlt genauso viel für die Transportkosten zur Arbeit, wie jemand, der in Vollzeit arbeitet.“

Ragnhild Sørensen, Changing Cities

Wirtschaft ist Teil der Verkehrswende

Grundsätzlich ist die Wirtschaft ein wesentlicher Einflussfaktor. Sie besitzt ein hohes Interesse an Regulierung und Kontinuität über Legislaturperioden hinaus. „Die IHK fördert Lastenräder für Kleinunternehmer und Handwerker“, sagt auch Christoph Kollert. „Unternehmen stellen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Fahrräder, Helme, Duschen und Umkleideschränke zur Verfügung. Das ist etwas, das die Kommunen ohnehin nicht leisten können. Bei den Unternehmen sorgt das für Mitarbeiterbindung, sie werden attraktiver. Das gehört zu den Maßnahmen, die wir brauchen, um die Verkehrswende zu schaffen. Die Wirtschaft könnte da noch eine viel größere Rolle übernehmen. Vielleicht müsste sie auch mehr fordern.“

Pflege vorhandener Infrastruktur

Schließlich gerät beim Fokus auf innovative Verkehrsprojekte der Status quo mitunter aus dem Blickfeld. Dabei führt fehlende Instandhaltung der vorhandenen öffentlichen Versorgung zu einem verminderten Vertrauen in demokratische Institutionen. So erkennt die Raumforschung unterschiedlich ausgestattete Infrastrukturen als Einfallstore für Populismus. Als wichtigste Aspekte werden das Stadt-Land-Gefälle, sozioökonomische Unterschiede sowie Zentrum-Peripherie-Gegensätze genannt. Solche infrastrukturellen Lücken werden durch Rechtspopulisten besetzt. Zwar zeigt gerade die Verkehrspolitik die Widersprüche ihrer Positionen. In einer Veröffentlichung der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft heißt es in einem Beitrag zum infrastrukturellen Populismus von Matthias Naumann: „Einerseits plädiert die AfD bundesweit für den motorisierten Individualverkehr und gegen Fahrverbote oder auch gegen Regelungen zur Verminderung von Feinstaub. Andererseits sprachen sich AfD-Abgeordnete im Stuttgarter Gemeinderat für eine Kombination aus öffentlichen und umweltfreundlichen Verkehrsmitteln aus. […] Ebenso steht das Bekenntnis der AfD für den Erhalt von sozialen Infrastrukturen in ländlichen Räumen im Widerspruch zur austeritätspolitischen Ausrichtung der Partei insgesamt.“ Neben dem Ausbau bleibt daher auch die Pflege der Infrastruktur eine gesunde Basis gegen Lückenbesetzungen durch Populist*innen.

Die 7 Kernelemente sozialverträglicher Mobilität


Bilder: René Frampe, DialogWerke, Gemeinde Eichwalde, Changing Cities

Klar, die Niederlande sind ein flaches und dicht besiedeltes Land, in dem Radeln („fietsen“) ohne E-Motor oder hocheffiziente Kugellager, Reifen und Schaltungen einfacher ist, trotz Wind, Regen und Kälte. Natürlich entstand gerade dort ein „Fiets-Paradies“. Doch so einfach ist diese Geschichte nicht. Die niederländische Fahrradkultur fasziniert Menschen weltweit. Doch wie ist sie entstanden und wie funktioniert sie? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Warum setzen viele Niederländerinnen ihre Kinder mit einem zweiten Sattel auf der Stange vorne auf ihr Fahrrad, anstatt hintendrauf? Kinder sollen früh mitbekommen, wie man vernünftig und trotzdem effizient am Straßenverkehr teilnimmt und sich die Weidevögel mitanschauen können. Außerdem bilden Kinder einen guten natürlichen Wind- und Regenschirm. Sie sollen sich an das mitunter raue Wetter gewöhnen. Nicht zuletzt sind sie im Falle eines Sturzes gut gesichert zwischen den Armen der Eltern. Man kann sich zudem auch besser mit den Kleinen unterhalten. Der Wind trägt ihre Stimmen nicht davon. So wurde es zumindest mir selbst erklärt als Teil meiner Erziehung als Niederländer. Zum Kulturbild gehört aber auch, dass ein weitverbreitetes, aber auch sehr unterschiedliches Fahrradverhalten stark durch vorhandene Infrastruktur bedingt ist. Niederländerinnen fietsen nicht unbedingt zum Supermarkt oder zur Arbeit, weil sie niederländisch sind. Menschen aus aller Welt ziehen aus unterschiedlichsten Gründen in die Niederlande und lernen schnell, dass Fietsen nicht nur normal ist, sondern im niederländischen Kontext auch einfach, gesund, nachhaltig, günstig, effizient, herrlich, befreiend, und relativ ungefährlich. Also macht es fast jeder.
Chris Bruntlett ist Manager Internationale Beziehungen bei der Dutch Cycling Embassy und steckt hinter dem Begriff „Fiets-Paradies“. Laut ihm ist Sicherheit ein deutlich gewichtigerer Faktor als Hügel oder das Wetter, der Menschen weltweit davon abhält, auf einen Drahtesel zu steigen.
Wer auf dem Rad im niederländischen Straßennetz aufwächst, der staunt beim Beobachten der Umstände und Einstellungen im Ausland. Wenn sich das Fahrrad im Kopf als Hauptverkehrsmittel etabliert, entstehen andere Selbstverständlichkeiten. Wie oft hatte ich in meiner Kindheit und Jugend einen platten Reifen und bin noch fünf Kilometer nach Hause gelaufen? Meine Eltern hätten mich nicht abgeholt. Das gehört zu der Freiheit, sich selbst zu bewegen. Zu meinen eigenen Erfahrungen als Fietser zählt auch, im Winter über zugefrorene Straßen zur Schule zu schlittern oder die verrücktesten Gegenstände auf Fahrrädern zu transportieren.
Seit etwa einem Jahr fahre ich im Schnitt zwischen 50 und 100 Kilometer pro Woche für Alltagsziele auf deutschen Straßen, über Land und durch die Stadt. In der Zeit wurde ich mindestens eine Handvoll Male von Autofahrenden angeschrien, mehrmals fast angefahren, weil sie beim Abbiegen nicht um sich schauen, und etliche Male von Fremden ungefragt und manchmal inkorrekt auf die Verkehrsregeln hingewiesen. Dergleichen ist mir in den Niederlanden in quasi nie passiert. Inzwischen trage ich hierzulande trotz des Risikos von meinen alten Freund*innen ausgelacht zu werden, immer einen Fahrradhelm. Damit habe ich mich jetzt wohl der deutschen Kultur gefügt. Ein gewissermaßen rebellischer Fahrstil ist mir jedoch geblieben. Die Straße gehört uns allen!

Chris Bruntlett von der Dutch Cycling Embassy hat den Begriff Fiets-Paradies geprägt. Dazu gehören auch die ÖPNV-Fahrräder und Fahrradparkhäuser.

Eine kleine Fiets-Geschichte

Dass Autofahrende im öffentlichen Raum so viel Platz wegnehmen dürfen, obwohl sie heute weiterhin eine Lebensgefahr darstellen, war nicht immer salonfähig. Thalia Verkade, Journalistin für Mobilität bei De Correspondent, und Marco te Brömmelstroet, kritischer Soziologe und bekannt als Fiets-Professor, publizierten dazu das Buch Gesellschaft in Bewegung. Laut diesem Buch starben in den USA, wo das Auto erstmals die Straßen wortwörtlich mit Gewalt eroberte, zwischen 1920 und 1930 etwa 200.000 Menschen im Autoverkehr. Heute werden in Europa ganz selbstverständlich 500 Menschen pro Woche umgebracht im Tausch für komfortable Fahrgeschwindigkeiten für Kfz. Die Niederlande sind hier nur knapp besser als der EU-Durchschnitt. Überall wo im zwanzigsten Jahrhundert das Auto eingeführt wurde, veränderte sich die Straßenkultur auf fundamentale Art, vom Treffpunkt zum Zirkulationsfluss. Nach einigen Jahren gesellschaftlichen Widerstands gegen die Gefahrenursache entstand ein Konsens für mehr Sicherheitsmaßnahmen: Jedes Kind muss heute lernen, im Autoverkehr aufzupassen. Damit normalisierte sich eine nur wenig diskutierte Schuldumdrehung, die im Vergewaltigungskontext vom Feminismus stark kritisiert wird, wie Verkade vergleichend erklärt: „Der Fokus liegt auf der Frage, was verletzliche Opfer anders tun können, um sicherer am Straßenverkehr teilnehmen zu können.“ Derartige Täter-Opfer-Umkehr gibt es auch an anderen Stellen: „Mädchen sollen einfach keine kurzen Röcke tragen.“
Was heute als „richtiges Fahrradland“ oder „Fiets-Paradies“ gilt, ist im historischen Vergleich eher schwach. 1923 waren in den Niederlanden 74 Prozent der Verkehrsteilnehmenden Radfahrerinnen. Ein Rad aus 1920, damals auch schon gebraucht im guten Zustand zu kaufen, würde noch heute am Verkehr teilnehmen können. 1939 gab es 40-mal mehr Fahrräder in den Niederlanden als Autos. 1959 war das letzte Jahr, in dem mehr Kilometer Rad gefahren wurde als Auto: 1500 Kilometer pro Jahr und Person oder etwa vier Kilometer pro Tag. Grob 65 Jahre später schaffen die Niederländerinnen erst seit dem Aufkommen elektrischer Unterstützung wieder rund zwei Drittel dieses Rekordwerts.
Tatsächlich gab es bereits 1901 erstmals öffentliche Gelder für den Bau von Radwegen. Radbesitzende zahlten bis 1941 auch eine Steuer, wie heute für das Auto. Für deutliche Entwicklungsrückschritte sorgte dann der Zweite Weltkrieg. Die Nazis konfiszierten Millionen Räder, der Preis für Ersatzteile explodierte, Vorfahrtsregeln wurden zugunsten motorisierter Fahrzeuge geändert und das Händchenhalten beim Radeln wurde verboten. Starke Einflüsse des US-amerikanischen Marshall-Plans und neue Narrative einer hochtechnologischen Zukunft verliehen dem Auto weiteren Aufwind.

Der Fahrradverband ENFB, die Aktionsgruppe „Stoppt den Kindermord“ und der Verein „Beschützt Fußgänger“ sitzen 1980 bei einer Pressekonferenz zusammen. Sie haben das Fahrradland Niederlande mitgeprägt.

Tiefpunkt in den 70ern

Gute Fahrradinfrastruktur, die nicht nur Platz für Autos auf der Straße schafft, sondern das Radeln wirklich sicher und sinnvoll ermöglicht, wurde auch in den Niederlanden nicht immer selbstverständlich mitgedacht. Die 1970er bilden den historischen Tiefpunkt der niederländischen Fahrradkultur. Etwa 400 Kinder pro Jahr wurden zu der Zeit von Autofahrern im Straßenverkehr umgebracht. Viele Expertinnen machen zivilgesellschaftlichen Widerstand für die Wiederbelebung des Fietses verantwortlich. Der Verein gegen den Kindermord war eine der verkehrsaktivistischen Bewegungen der 70er, die mit ihren vielen Protestaktionen einen demokratischen Prozess in Gang setzten. Und das mit Erfolg: Danach wurden massenweise Radwege gebaut und eine langfristig gedachte Fahrradstrategie in der niederländischen Politik verankert. Der langjährige Ministerpräsident Mark Rutte fuhr bekanntlich mit dem Rad zur Arbeit. International wird diese Selbstdarstellung manchmal missverstanden als „ein gutes Beispiel abgeben“ für nachhaltige und gesunde Mobilität. Dabei wollen sich die Politikerinnen nur als richtige Niederländer*innen präsentieren. Die Menschen fahren Rad, weil es normal ist und nicht, weil sie sich nichts „Besseres“ leisten können. Doch wie sich schon aus dem historischen Vergleich zeigt, ist die Deutung eines Fahrradparadieses ziemlich relativ, und es gibt stark unterschiedliche Perspektiven darauf. Die Dutch Cycling Embassy steht für eine feierliche und optimistische Haltung zum Fiets-Paradies und betont die Vorreiterrolle des Landes. Chris Bruntlett: „Die meisten Städte der Welt sind den Niederlanden 50 Jahre hinterher. Um sichtbar zu verändern, zeigt die Erfahrung, muss die Politik hoch ansetzen.“ Aus internationaler Sicht kann die Infrastruktur für den niederländischen Radverkehr zweifelsfrei schnell beeindrucken. Der Verkehr ist inklusiver für Kinder und Ältere, viele Menschen machen automatisch Sport und die Luft wird weniger verunreinigt. Außerdem werden weniger Rohstoffe und finanzielle Ressourcen für Mobilität ausgegeben, es entsteht mehr öffentlicher Raum für Grün und Spiel und die Leute stehen in der Theorie weniger im Stau.
Der Radverkehr kann sich einer größeren gesellschaftlichen Wertschätzung erfreuen. Radwege werden bei Frost früh gestreut und die Autofahrenden haben gegenüber den Radfahrenden mehr Respekt und sind im Umgang mit ihnen erfahren. International juristisch außergewöhnlich ist zudem, dass Autofahrende in den Niederlanden im Falle eines Unfalls immer für mindestens 50 Prozent der entstandenen Kosten haften, auch wenn sie als unschuldig gelten. Damit spiegeln die Gesetze wider, was auch im Denken verankert ist: Autobesitzende sind kollektiv verantwortlich für eine Gefahr auf der Straße und sollten sich deswegen auch kollektiv gegen den Schaden versichern.
Doch stellen sowohl Thalia Verkade als auch Chris Bruntlett fest, dass dieses Narrativ nicht ohne den Kontext des Autos gedacht und erzählt werden sollte. Dessen Dominanz ist in der Gesamtsicht unausweichlich. Auf 23 Millionen Räder kommen auch in den Niederlanden noch 9 Millionen Pkw und fast die doppelte Menge nur dafür bestimmte Parkplätze. Etwa 92 Prozent dieser Parkplätze können trotz großer Kosten für die Gesellschaft umsonst genutzt werden. Autos sollen vor der Tür parken können, Spielplätze für Kinder dürfen ruhig etwas weiter entfernt liegen. Dass sich diese Realität nicht wirklich verbessert, zeigen Neubauwohnviertel, die weiterhin darauf ausgelegt werden, sogar wenn Bahnhöfe gut erreichbar sind. Es wäre stark übertrieben, zu behaupten, dass infrastrukturelle Kompromisse meistens zugunsten des Rades entschieden werden.

Wem gehört die Straße? Wie sollen Gäste sich benehmen?

Knotenpunkte, wie hier in Utrecht, sind in den Niederlanden oft für Raddurchfluss durchdacht, Autos müssen warten.

Erfolgsfaktoren einer gesellschaftlichen Mobilitätstransformation

Was lässt sich lernen aus der niederländischen Realität und Geschichte? Was können deutsche Städte und Kreise tun, um den Radverkehr zu fördern und zu normalisieren? Sowohl Verkade als auch Bruntlett und die Dutch Cycling Embassy bieten eine ganze Liste wichtiger Punkte. Pragmatisch formuliert ist das Radeln attraktiv zu machen und das Autofahren teuer, langsam und mühsamer. Hilfreich ist es, Straßen so einzurichten, dass Autos, wenn überhaupt, nur als Gäste auf ihnen unterwegs sein dürfen, so gut wie nie Vorfahrt haben, und maximal 30 km/h fahren dürfen. Auch die Haftungsfrage bei Unfällen zugunsten der Fahrradfahrerinnen zu verändern, könnte die Autokultur eindämmen. Die Kosten beim Parken von Autos sollten sich zudem an den realen Kosten orientieren. Durch gute Carsharing-Angebote könnte der Autobesitz drastisch reduziert werden. Bruntlett meint dazu: „Als Radler besitzt man eigentlich nur das ganze Jahr ein Auto, um im Sommer in den Urlaub zu fahren.“ Und weiter: „Politikerinnen brauchen viel Mut, um gegen eine bestehende, manchmal aggressiv verteidigte Autokultur anzugehen. Es gibt aber auch Beispiele von Kommunalpolitik, wo dieser Mut bei der Wiederwahl belohnt wurde.“
Auf dem Weg zu einer Fahrradkultur nach niederländischem Vorbild sind das Modell der 15-Minuten-Stadt, eine bessere Verknüpfung von ÖPNV und Fahrrad und eigene Infrastruktur fürs Fahrrad weitere geeignete Instrumente.
Für große Fortschritte besonders wichtig ist allerdings die dahinter liegende gesellschaftlich Diskussion. Die Zukunft der Straße ist eine politische und soziale und nicht nur eine technische Frage, wie Chris Bruntlett am Beispiel der Wahlfreiheit resümiert: „Bei der typischen Strategie, Wahlfreiheit zwischen Transportmitteln zu behalten und keine Angst zu schüren mit autofreien Städten, lautet die Frage, ob dieser Kompromiss auf lange Sicht ausreicht, um viele Menschen davon zu überzeugen, den privaten Autobesitz aufzugeben.“ Verkade und te Brömmelstroet zeigen einige typische Denkfehler in der Auto-Fahrrad-Diskussion auf, und welche Entscheidungen oft unangefochten oder unsichtbar in einer Mobilitätskultur verankert sind. Ein zentrales Beispiel ist das fragwürdige Kriterium effizienter Mobilität. Historisch führten schnellere Wege nicht zu weniger Reisezeit, sondern zu größeren Wohnungen und größeren Abständen der Reiseziele. Menschen könnten auch wieder näher an ihren Zielen wohnen, auf weniger Fläche, mit weniger Leerstand in Stadtzentren. Die Niederlande als Fahrradparadies zeigen historische Erfolge und beeindrucken weltweit. Als Autoparadies werfen sie mitunter aber die gleichen Fragen auf wie in Deutschland.


Bilder: stock.adobe.com – ChiccoDodiFC, Dutch Cycling Embassy, stock.adobe.com – salarko, stock.adobe.com – creativenature.nl, Fotocollectie Anefo, Stadt Utrecht