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Das Potenzial ist groß: Welche Rolle spielt der Radverkehr beim Klimaschutz?

In der Klimabilanz macht der Verkehrssektor seit Jahrzehnten keine gute Figur. Eine neue Studie zeigt nun: Das Fahrrad kann beim Emissionssparen einen enormen Beitrag leisten.

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)


Mehr Radverkehr ist gut fürs Klima und steigert die Lebensqualität in den Städten – das ist seit Jahrzehnten bekannt. Allerdings wurde der mögliche Beitrag des Radverkehrs zum Klimaschutz deutlich unterschätzt. Eine Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI im Auftrag des Allgemeinen Deutscher Fahrrad-Clubs (ADFC) bescheinigt dem Radverkehr mit Blick auf den Klimaschutz „enormes Potenzial“.
Laut den Forschenden entstehen 45 Prozent der Treibhausgasemissionen 2035 im landgebundenen Personenverkehr auf Strecken bis zu 30 Kilometern Länge. Diese Distanzen können ihren Berechnungen zufolge zukünftig zu einem großen Teil mit dem Rad oder dem E-Bike statt per Auto zurückgelegt werden. „Auf diese Weise könnten jedes Jahr 19 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente (CO₂-Äq) eingespart werden“, sagt Clemens Brauer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer ISI und Mitautor der Studie. Die Voraussetzung dafür ist eine Infrastruktur auf hohem Niveau, ähnlich wie in den Niederlanden.
Die Niederlande sind seit Jahrzehnten Fahrradland. 61 Prozent der Bevölkerung sind dort regelmäßig mit dem Rad unterwegs. Im Durchschnitt legen die Menschen dort täglich 2,6 Kilometer mit dem Fahrrad zurück. In Deutschland schwingen sich mit 34 Prozent gerade mal halb so viele Menschen regelmäßig aufs Fahrrad. Hinzu kommt: Sie sind damit nicht täglich unterwegs, sondern laut der Studie Mobilität in Deutschland, nur an 120 Tagen im Jahr auf einer Strecke von 3,7 Kilometer.
Aus Sicht von Klimaexpertinnen und Verkehrswissenschaftlerinnen können die Deutschen das Rad im Alltag deutlich öfter nutzen. Im Jahr 2022 hat das Umweltbundesamt (UBA) vorgerechnet, dass jeder Berufspendler 350 Kilogramm CO₂ im Jahr einspart, wenn er für einen fünf Kilometer langen Arbeitsweg aufs Rad steigt statt ins Auto. Auch in den Innenstädten kann mehr Radfahren die Klimabilanz schnell verbessern. Dort sind 40 Prozent aller Autofahrten kürzer als fünf Kilometer. Auf diesen Entfernungen lohnt laut UBA-Berechnungen der Umstieg besonders, weil das Fahrrad in der Innenstadt im direkten Tür-zu-Tür-Vergleich mit Bus oder Auto das schnellste Verkehrsmittel ist.
Allerdings punkten Zeitersparnis und Klimaschutz nicht bei Autofahrerinnen. Der Privatwagen ist seit Jahrzehnten das Verkehrsmittel der Wahl in Deutschland. 88 Prozent aller Wege wurden 2021 damit zurück-gelegt und zwei Drittel der Pendlerinnen (68 Prozent) fuhren nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr mit dem Pkw in die Firma oder ins Büro – auch auf kürzeren Strecken. Das hat Folgen: Der Verkehrssektor hat im Jahr 2023 rund 13 Millionen Tonnen mehr CO₂ produziert, als die Klimaziele erlauben.

Mit einer „Weiter-wie-bisher“-Politik wird der Anteil des Radverkehrs bundesweit bis 2035 nur minimal steigen.

Schnell, schneller, Fahrrad: Im Stadtverkehr kommt man mit dem Rad auf einer Strecke von bis zu vier Kilometer Länge am schnellsten ans Ziel.

Wie viel Radverkehr ist möglich?

Aber wie bringt man die Menschen dazu, vom Auto aufs Fahrrad umzusteigen? Um darauf eine Antwort zu finden, hat das Forscherteam vom Fraunhofer-Institut die Perspektive gewechselt. „Unsere Leitfrage war: Wie verhalten sich die Deutschen, wenn sie ähnliche Bedingungen wie in den Niederlanden vorfinden, also wenn die Bedingungen zum Radfahren ideal sind?“, sagt der Wirtschaftsingenieur Clemens Brauer. Mit anderen Worten: Wie viel Radverkehr ist in Deutschland bei niederländischen Standards möglich?

Neues Verkehrsmodell für den Radverkehr

Mit den klassischen Verkehrsmodellen stießen die Forscher bei ihrer Studie schnell an Grenzen. „Diese berechnen anhand von Wegezeiten und Kosten die Verkehrsmittelwahl“, sagt Brauer. Die eigentlichen Treiber des Radverkehrs sind aus Sicht der Forscherinnen jedoch subjektive Faktoren, wie die subjektive und objektive Sicherheit, die die Radinfrastruktur bietet, sowie der Komfort, aber auch das Verkehrsklima. Diese sozialwissenschaftlichen Daten haben die Wissenschaftlerinnen über den Fahrradklimatest des ADFC und das Vorhandensein von Fahrradinfrastruktur in ihre Analyse integriert und damit ein neues Verkehrsmodell für die Radverkehrsforschung entwickelt.
Insgesamt haben die Forscher drei Bausteine identifiziert, die Deutschland zum Fahrradland machen. Dazu gehören eine einladende Infrastruktur mit qualitativ hochwertigen und sicheren Radnetzen in Städten und Regionen, eine bessere Anbindung des Radverkehrs an den ÖPNV und Fernverkehr und der Umbau der Kommunen zur Stadt der kurzen Wege. „Eine Stadt der kurzen Wege beinhaltet auch, dass der Platz in den Zentren für Autos eingeschränkt wird“, erklärt Brauer. Das bedeute, dass Kommunen Fahrspuren und Parkplätze zurückbauen, Tempo 30 vielerorts zur Regelgeschwindigkeit werde und dass die Kommunen dafür sorgen, dass Tempolimits auch eingehalten werden.

Was machen die Menschen, wenn die Radinfrastruktur hierzulande ähnlich hochwertig und attraktiv ist wie in den Niederlanden? Wissenschaftler*innen prognostizieren: Sie fahren Rad, und zwar richtig viel.

Mal eben den Radverkehr verdreifachen?

Würden die drei Bausteine konsequent umgesetzt, wird sich der Radverkehr in Stadt und Land bis zum Jahr 2035 verdreifachen, so die Berechnungen der Forschenden. Konkret sagen sie, dass der Radverkehrsanteil auf allen Wegen in Stadt und Land auf 45 Prozent steigen würde. Die Zahl gilt für Strecken bis zu 30 Kilometer Länge. „Die Verlagerung kommt hauptsächlich vom Auto“, sagt Brauer. Das bedeutet: Die Menge der Wege, die bislang dort mit Pkw zurückgelegt wurden, würde in etwa halbiert. Die Wissenschaftlerinnen gehen davon aus, dass viele Umsteigerinnen für die langen Distanzen aufs E-Bike wechseln würden.

Das E-Bike als Pendlerrad

Die Motorisierung der Fahrräder spielt für die Verkehrswende und den Klimaschutz eine entscheidende Rolle. Bereits 2017 hat die Studie Mobilität in Deutschland (MID) gezeigt, dass Pendlerinnen mit dem E-Bike Strecken bis zu etwa 17 Kilometer zurücklegen. Die Studie PendlerRatD der Professorin Jana Heimel von der Hochschule Heilbronn bestätigte die Ergebnisse 2022. Ihre Ergebnisse zeigen, dass etwa ein Fünftel der Autofahrerinnen aufs Fahrrad umsteigen könnten. Mit dem Boom der E-Bikes wächst die Zahl an potenziellen Umsteiger*innen weiterhin. 2017 lag der Anteil der verkauften E-Bikes laut Zweirad-Industrie-Verband noch bei 19 Prozent. Im vergangenen Jahr wurden erstmals mehr E-Bikes (53 Prozent) verkauft als klassische Fahrräder.

Jetzt gefragt: Geld, Tempo und politischer Wille

Das Wissen für den Umbau zum Fahrradland Deutschland ist laut den Forschenden vorhanden. „Vieles, was wir in den Bausteinen beschreiben, steht seit 2021 im Nationalen Radverkehrsplan 3.0 (NRVP 3.0) der Bundesregierung“, sagt Brauer. Jetzt gehe es darum, dass die Bundesregierung und die Landesregierungen mit Geld und politischem Willen das Tempo beim Ausbau steigern. Zum Vergleich: Die Niederlande, die etwas kleiner sind als Niedersachsen, haben in den 1960er-Jahren mit dem Ausbau ihres Radwegenetzes begonnen und verfügen heute über rund 40.000 Kilometer Radwege. Deutschland hingegen bringt es laut Bundesverkehrsministerium entlang von Bundes-, Landes- und Kreisstraßen auf insgesamt 56.482 Kilometer Radwege, ohne die kommunalen Radwege.
Die Forscher des Fraunhofer ISI sind über die OpenStreetMap-Analyse auf bundesweit 425.000 km Fahrradinfrastruktur gekommen. „Davon dürfte aber nur ein Bruchteil mit niederländischen Qualitätsstandards vergleichbar sein“, sagt Brauer. So sind auch für den Radverkehr freigegebene Fußwege oder Forst- und landwirtschaftliche Wege als Fahrradinfrastruktur ausgewiesen.

In Paris sind mehr Fahrräder als Auto unterwegs

Der Blick ins Ausland zeigt jedoch, dass der Umbau pro Fahrrad nicht immer Jahrzehnte braucht. In Paris hat das Fahrrad das Auto als Fortbewegungsmittel im Zentrum innerhalb weniger Jahre überholt. Nur noch 4,3 Prozent der Wege werden in der Innenstadt der französischen Hauptstadt mit dem Auto zurückgelegt. Das geht aus der Befragung „Enquête Mobilité par GPS“ (EMG) des Stadtplanungsinstituts „Paris Region“ hervor. Das Institut hat zwischen Oktober 2022 und April 2023 per GPS-Tracker die Alltagsmobilität von 3.337 Einwohner*innen der Region Paris im Alter von 16 bis 80 Jahren aufgezeichnet. Demnach kommt das Fahrrad auf 11,2 Prozent. Im Jahr 2021 lag der Anteil des Autos noch bei neun Prozent und der des Fahrrads bei 5,6 Prozent. 2010 wurden sogar nur drei Prozent der Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt.
Um das zu erreichen, hat die Stadt Paris in den vergangenen Jahren im Zuge ihrer Klimapolitik stark in Fahrradwege investiert. Die Radwege im Zentrum wuchsen laut Stadtregierung von keinen Radwegen im Jahr 1980 auf 273 Kilometer im Jahr 2010 und rund 1100 im Jahr 2021. Besonders beliebt sind bei den Radfahrenden die Radrouten, die die Radfahrenden physisch vom Autoverkehr trennen. Dazu gehören der Boulevard de Sébastopol oder auch die Rue de Rivoli. In den Pariser Vorstädten ist das Auto weiterhin das Verkehrsmittel der Wahl. Dort wollen die Behörden das Zug- und Stadtbahnnetz ausbauen, um die Autonutzung zu reduzieren.

„Wer das Radfahren in seiner Stadt fördern will, sollte Radwege und Fahrradstellplätze bauen, die auch Kinder, Frauen und Ältere gerne nutzen, weil sie sich dort sicher fühlen.“

Clemens Brauer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer Institut

Entwicklung einer Fahrradkultur

In Deutschland bauen Städte wie Karlsruhe, Hamburg oder Frankfurt seit einiger Zeit ihre Radinfrastruktur massiv aus. Das allein reicht jedoch nicht, laut den Forscherinnen. „Damit Deutschland Fahrradland wird, sollten Politik und Kommunen bundesweit am Aufbau einer Fahrradkultur mitwirken“, sagt Brauer. Dazu gehöre, ein gesellschaftliches Bewusstsein zu etablieren, dass das Fahrrad ein vollwertiges Verkehrsmittel ist und Fußgängerinnen und Radfahrende im Straßenverkehr besonders geschützt werden müssen.
„Wer das Radfahren in seiner Stadt fördern will, sollte Radwege und Fahrradstellplätze bauen, die auch Kinder, Frauen und Ältere gerne nutzen, weil sie sich dort sicher fühlen“, sagt Brauer. Verschiedene Untersuchungen wie die dänische Studie „Gender & (Smarte) Mobilität“ haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass Frauen einen höheren Anspruch an die Qualität und Sicherheit von Radinfrastruktur haben als Männer. Laut der internationalen Untersuchung sind in der Regel stets deutlich mehr Männer mit dem Rad in Städten unterwegs als Frauen. Anders in Dänemark. Dort bilden Rad fahrende Frauen mit 53 Prozent sogar eine knappe Mehrheit. Der Grund dafür liegt in der Infrastruktur.
In Dänemark werden Radnetze in Städten und Regionen nach einheitlichen Standards angelegt. So werden Autos und Fahrräder an Hauptstraßen konsequent voneinander getrennt. In den Quartieren, in denen Frauen im Alltag oft unterwegs sind und häufig anhalten, sind sie auf Fahrradstraßen unterwegs. Das bedeutet, dass die Autos dort den Radlerinnen folgen, ohne zu drängeln. Manche nennen das Fahrradkultur, andere gelerntes Verhalten. Fest steht für die Forscherinnen: Dieses Verhalten muss gepflegt werden, sowohl durch politische Vorbilder als auch durch eine klare Positionierung der Politik zu einer klimafreundlichen Alltagsmobilität wie dem Fuß- und Radverkehr, und nicht zuletzt durch die Schaffung einer geeigneten Infrastruktur.

Wie geht es weiter?

„Die drei Bausteine, die der Potenzialanalyse zugrunde liegen, stellen keine konkreten politischen Forderungen dar“, sagt Brauer. Allerdings weist er mit seinen Kolleg*innen darauf hin, dass eine „Weiter-wie-Bisher“-Politik den Anteil des Radverkehrs bundesweit bis 2035 nur minimal steigern würde, von aktuell 13 auf 15 Prozent. Mit einem Ausbau des Radverkehrs nach niederländischem Vorbild sind 45 Prozent möglich und damit auch deutlich mehr Lebensqualität in Kommunen und Klimaschutz im Verkehr.
Um den Radverkehr auf diesen Prozentsatz zu steigern, müssten Bund, Länder und Gemeinden jährlich jeweils eine Milliarde Euro in die Fahrradinfrastruktur investieren, sagte Frank Masurat, Bundesvorsitzender des ADFC bei der Vorstellung der Potenzialanalyse. Dann können die CO₂-Emissionen bis 2035 auf 38 Millionen Tonnen sinken. Die Bundesregierung würde das Potenzial des Radverkehrs für den Klimaschutz nutzen. Bei einer „Weiter-wie-bisher“-Politik würde der Wert nur auf 57 Millionen Tonnen sinken.


Bilder: stock.adobe.com – Sergei Malkov
Grafik: Umweltbundesamt
Grafiken: ADFC