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Die niederländische Fahrradkultur: Erfolge aus dem Fiets-Paradies

Klar, die Niederlande sind ein flaches und dicht besiedeltes Land, in dem Radeln („fietsen“) ohne E-Motor oder hocheffiziente Kugellager, Reifen und Schaltungen einfacher ist, trotz Wind, Regen und Kälte. Natürlich entstand gerade dort ein „Fiets-Paradies“. Doch so einfach ist diese Geschichte nicht. Die niederländische Fahrradkultur fasziniert Menschen weltweit. Doch wie ist sie entstanden und wie funktioniert sie? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Warum setzen viele Niederländerinnen ihre Kinder mit einem zweiten Sattel auf der Stange vorne auf ihr Fahrrad, anstatt hintendrauf? Kinder sollen früh mitbekommen, wie man vernünftig und trotzdem effizient am Straßenverkehr teilnimmt und sich die Weidevögel mitanschauen können. Außerdem bilden Kinder einen guten natürlichen Wind- und Regenschirm. Sie sollen sich an das mitunter raue Wetter gewöhnen. Nicht zuletzt sind sie im Falle eines Sturzes gut gesichert zwischen den Armen der Eltern. Man kann sich zudem auch besser mit den Kleinen unterhalten. Der Wind trägt ihre Stimmen nicht davon. So wurde es zumindest mir selbst erklärt als Teil meiner Erziehung als Niederländer. Zum Kulturbild gehört aber auch, dass ein weitverbreitetes, aber auch sehr unterschiedliches Fahrradverhalten stark durch vorhandene Infrastruktur bedingt ist. Niederländerinnen fietsen nicht unbedingt zum Supermarkt oder zur Arbeit, weil sie niederländisch sind. Menschen aus aller Welt ziehen aus unterschiedlichsten Gründen in die Niederlande und lernen schnell, dass Fietsen nicht nur normal ist, sondern im niederländischen Kontext auch einfach, gesund, nachhaltig, günstig, effizient, herrlich, befreiend, und relativ ungefährlich. Also macht es fast jeder.
Chris Bruntlett ist Manager Internationale Beziehungen bei der Dutch Cycling Embassy und steckt hinter dem Begriff „Fiets-Paradies“. Laut ihm ist Sicherheit ein deutlich gewichtigerer Faktor als Hügel oder das Wetter, der Menschen weltweit davon abhält, auf einen Drahtesel zu steigen.
Wer auf dem Rad im niederländischen Straßennetz aufwächst, der staunt beim Beobachten der Umstände und Einstellungen im Ausland. Wenn sich das Fahrrad im Kopf als Hauptverkehrsmittel etabliert, entstehen andere Selbstverständlichkeiten. Wie oft hatte ich in meiner Kindheit und Jugend einen platten Reifen und bin noch fünf Kilometer nach Hause gelaufen? Meine Eltern hätten mich nicht abgeholt. Das gehört zu der Freiheit, sich selbst zu bewegen. Zu meinen eigenen Erfahrungen als Fietser zählt auch, im Winter über zugefrorene Straßen zur Schule zu schlittern oder die verrücktesten Gegenstände auf Fahrrädern zu transportieren.
Seit etwa einem Jahr fahre ich im Schnitt zwischen 50 und 100 Kilometer pro Woche für Alltagsziele auf deutschen Straßen, über Land und durch die Stadt. In der Zeit wurde ich mindestens eine Handvoll Male von Autofahrenden angeschrien, mehrmals fast angefahren, weil sie beim Abbiegen nicht um sich schauen, und etliche Male von Fremden ungefragt und manchmal inkorrekt auf die Verkehrsregeln hingewiesen. Dergleichen ist mir in den Niederlanden in quasi nie passiert. Inzwischen trage ich hierzulande trotz des Risikos von meinen alten Freund*innen ausgelacht zu werden, immer einen Fahrradhelm. Damit habe ich mich jetzt wohl der deutschen Kultur gefügt. Ein gewissermaßen rebellischer Fahrstil ist mir jedoch geblieben. Die Straße gehört uns allen!

Chris Bruntlett von der Dutch Cycling Embassy hat den Begriff Fiets-Paradies geprägt. Dazu gehören auch die ÖPNV-Fahrräder und Fahrradparkhäuser.

Eine kleine Fiets-Geschichte

Dass Autofahrende im öffentlichen Raum so viel Platz wegnehmen dürfen, obwohl sie heute weiterhin eine Lebensgefahr darstellen, war nicht immer salonfähig. Thalia Verkade, Journalistin für Mobilität bei De Correspondent, und Marco te Brömmelstroet, kritischer Soziologe und bekannt als Fiets-Professor, publizierten dazu das Buch Gesellschaft in Bewegung. Laut diesem Buch starben in den USA, wo das Auto erstmals die Straßen wortwörtlich mit Gewalt eroberte, zwischen 1920 und 1930 etwa 200.000 Menschen im Autoverkehr. Heute werden in Europa ganz selbstverständlich 500 Menschen pro Woche umgebracht im Tausch für komfortable Fahrgeschwindigkeiten für Kfz. Die Niederlande sind hier nur knapp besser als der EU-Durchschnitt. Überall wo im zwanzigsten Jahrhundert das Auto eingeführt wurde, veränderte sich die Straßenkultur auf fundamentale Art, vom Treffpunkt zum Zirkulationsfluss. Nach einigen Jahren gesellschaftlichen Widerstands gegen die Gefahrenursache entstand ein Konsens für mehr Sicherheitsmaßnahmen: Jedes Kind muss heute lernen, im Autoverkehr aufzupassen. Damit normalisierte sich eine nur wenig diskutierte Schuldumdrehung, die im Vergewaltigungskontext vom Feminismus stark kritisiert wird, wie Verkade vergleichend erklärt: „Der Fokus liegt auf der Frage, was verletzliche Opfer anders tun können, um sicherer am Straßenverkehr teilnehmen zu können.“ Derartige Täter-Opfer-Umkehr gibt es auch an anderen Stellen: „Mädchen sollen einfach keine kurzen Röcke tragen.“
Was heute als „richtiges Fahrradland“ oder „Fiets-Paradies“ gilt, ist im historischen Vergleich eher schwach. 1923 waren in den Niederlanden 74 Prozent der Verkehrsteilnehmenden Radfahrerinnen. Ein Rad aus 1920, damals auch schon gebraucht im guten Zustand zu kaufen, würde noch heute am Verkehr teilnehmen können. 1939 gab es 40-mal mehr Fahrräder in den Niederlanden als Autos. 1959 war das letzte Jahr, in dem mehr Kilometer Rad gefahren wurde als Auto: 1500 Kilometer pro Jahr und Person oder etwa vier Kilometer pro Tag. Grob 65 Jahre später schaffen die Niederländerinnen erst seit dem Aufkommen elektrischer Unterstützung wieder rund zwei Drittel dieses Rekordwerts.
Tatsächlich gab es bereits 1901 erstmals öffentliche Gelder für den Bau von Radwegen. Radbesitzende zahlten bis 1941 auch eine Steuer, wie heute für das Auto. Für deutliche Entwicklungsrückschritte sorgte dann der Zweite Weltkrieg. Die Nazis konfiszierten Millionen Räder, der Preis für Ersatzteile explodierte, Vorfahrtsregeln wurden zugunsten motorisierter Fahrzeuge geändert und das Händchenhalten beim Radeln wurde verboten. Starke Einflüsse des US-amerikanischen Marshall-Plans und neue Narrative einer hochtechnologischen Zukunft verliehen dem Auto weiteren Aufwind.

Der Fahrradverband ENFB, die Aktionsgruppe „Stoppt den Kindermord“ und der Verein „Beschützt Fußgänger“ sitzen 1980 bei einer Pressekonferenz zusammen. Sie haben das Fahrradland Niederlande mitgeprägt.

Tiefpunkt in den 70ern

Gute Fahrradinfrastruktur, die nicht nur Platz für Autos auf der Straße schafft, sondern das Radeln wirklich sicher und sinnvoll ermöglicht, wurde auch in den Niederlanden nicht immer selbstverständlich mitgedacht. Die 1970er bilden den historischen Tiefpunkt der niederländischen Fahrradkultur. Etwa 400 Kinder pro Jahr wurden zu der Zeit von Autofahrern im Straßenverkehr umgebracht. Viele Expertinnen machen zivilgesellschaftlichen Widerstand für die Wiederbelebung des Fietses verantwortlich. Der Verein gegen den Kindermord war eine der verkehrsaktivistischen Bewegungen der 70er, die mit ihren vielen Protestaktionen einen demokratischen Prozess in Gang setzten. Und das mit Erfolg: Danach wurden massenweise Radwege gebaut und eine langfristig gedachte Fahrradstrategie in der niederländischen Politik verankert. Der langjährige Ministerpräsident Mark Rutte fuhr bekanntlich mit dem Rad zur Arbeit. International wird diese Selbstdarstellung manchmal missverstanden als „ein gutes Beispiel abgeben“ für nachhaltige und gesunde Mobilität. Dabei wollen sich die Politikerinnen nur als richtige Niederländer*innen präsentieren. Die Menschen fahren Rad, weil es normal ist und nicht, weil sie sich nichts „Besseres“ leisten können. Doch wie sich schon aus dem historischen Vergleich zeigt, ist die Deutung eines Fahrradparadieses ziemlich relativ, und es gibt stark unterschiedliche Perspektiven darauf. Die Dutch Cycling Embassy steht für eine feierliche und optimistische Haltung zum Fiets-Paradies und betont die Vorreiterrolle des Landes. Chris Bruntlett: „Die meisten Städte der Welt sind den Niederlanden 50 Jahre hinterher. Um sichtbar zu verändern, zeigt die Erfahrung, muss die Politik hoch ansetzen.“ Aus internationaler Sicht kann die Infrastruktur für den niederländischen Radverkehr zweifelsfrei schnell beeindrucken. Der Verkehr ist inklusiver für Kinder und Ältere, viele Menschen machen automatisch Sport und die Luft wird weniger verunreinigt. Außerdem werden weniger Rohstoffe und finanzielle Ressourcen für Mobilität ausgegeben, es entsteht mehr öffentlicher Raum für Grün und Spiel und die Leute stehen in der Theorie weniger im Stau.
Der Radverkehr kann sich einer größeren gesellschaftlichen Wertschätzung erfreuen. Radwege werden bei Frost früh gestreut und die Autofahrenden haben gegenüber den Radfahrenden mehr Respekt und sind im Umgang mit ihnen erfahren. International juristisch außergewöhnlich ist zudem, dass Autofahrende in den Niederlanden im Falle eines Unfalls immer für mindestens 50 Prozent der entstandenen Kosten haften, auch wenn sie als unschuldig gelten. Damit spiegeln die Gesetze wider, was auch im Denken verankert ist: Autobesitzende sind kollektiv verantwortlich für eine Gefahr auf der Straße und sollten sich deswegen auch kollektiv gegen den Schaden versichern.
Doch stellen sowohl Thalia Verkade als auch Chris Bruntlett fest, dass dieses Narrativ nicht ohne den Kontext des Autos gedacht und erzählt werden sollte. Dessen Dominanz ist in der Gesamtsicht unausweichlich. Auf 23 Millionen Räder kommen auch in den Niederlanden noch 9 Millionen Pkw und fast die doppelte Menge nur dafür bestimmte Parkplätze. Etwa 92 Prozent dieser Parkplätze können trotz großer Kosten für die Gesellschaft umsonst genutzt werden. Autos sollen vor der Tür parken können, Spielplätze für Kinder dürfen ruhig etwas weiter entfernt liegen. Dass sich diese Realität nicht wirklich verbessert, zeigen Neubauwohnviertel, die weiterhin darauf ausgelegt werden, sogar wenn Bahnhöfe gut erreichbar sind. Es wäre stark übertrieben, zu behaupten, dass infrastrukturelle Kompromisse meistens zugunsten des Rades entschieden werden.

Wem gehört die Straße? Wie sollen Gäste sich benehmen?

Knotenpunkte, wie hier in Utrecht, sind in den Niederlanden oft für Raddurchfluss durchdacht, Autos müssen warten.

Erfolgsfaktoren einer gesellschaftlichen Mobilitätstransformation

Was lässt sich lernen aus der niederländischen Realität und Geschichte? Was können deutsche Städte und Kreise tun, um den Radverkehr zu fördern und zu normalisieren? Sowohl Verkade als auch Bruntlett und die Dutch Cycling Embassy bieten eine ganze Liste wichtiger Punkte. Pragmatisch formuliert ist das Radeln attraktiv zu machen und das Autofahren teuer, langsam und mühsamer. Hilfreich ist es, Straßen so einzurichten, dass Autos, wenn überhaupt, nur als Gäste auf ihnen unterwegs sein dürfen, so gut wie nie Vorfahrt haben, und maximal 30 km/h fahren dürfen. Auch die Haftungsfrage bei Unfällen zugunsten der Fahrradfahrerinnen zu verändern, könnte die Autokultur eindämmen. Die Kosten beim Parken von Autos sollten sich zudem an den realen Kosten orientieren. Durch gute Carsharing-Angebote könnte der Autobesitz drastisch reduziert werden. Bruntlett meint dazu: „Als Radler besitzt man eigentlich nur das ganze Jahr ein Auto, um im Sommer in den Urlaub zu fahren.“ Und weiter: „Politikerinnen brauchen viel Mut, um gegen eine bestehende, manchmal aggressiv verteidigte Autokultur anzugehen. Es gibt aber auch Beispiele von Kommunalpolitik, wo dieser Mut bei der Wiederwahl belohnt wurde.“
Auf dem Weg zu einer Fahrradkultur nach niederländischem Vorbild sind das Modell der 15-Minuten-Stadt, eine bessere Verknüpfung von ÖPNV und Fahrrad und eigene Infrastruktur fürs Fahrrad weitere geeignete Instrumente.
Für große Fortschritte besonders wichtig ist allerdings die dahinter liegende gesellschaftlich Diskussion. Die Zukunft der Straße ist eine politische und soziale und nicht nur eine technische Frage, wie Chris Bruntlett am Beispiel der Wahlfreiheit resümiert: „Bei der typischen Strategie, Wahlfreiheit zwischen Transportmitteln zu behalten und keine Angst zu schüren mit autofreien Städten, lautet die Frage, ob dieser Kompromiss auf lange Sicht ausreicht, um viele Menschen davon zu überzeugen, den privaten Autobesitz aufzugeben.“ Verkade und te Brömmelstroet zeigen einige typische Denkfehler in der Auto-Fahrrad-Diskussion auf, und welche Entscheidungen oft unangefochten oder unsichtbar in einer Mobilitätskultur verankert sind. Ein zentrales Beispiel ist das fragwürdige Kriterium effizienter Mobilität. Historisch führten schnellere Wege nicht zu weniger Reisezeit, sondern zu größeren Wohnungen und größeren Abständen der Reiseziele. Menschen könnten auch wieder näher an ihren Zielen wohnen, auf weniger Fläche, mit weniger Leerstand in Stadtzentren. Die Niederlande als Fahrradparadies zeigen historische Erfolge und beeindrucken weltweit. Als Autoparadies werfen sie mitunter aber die gleichen Fragen auf wie in Deutschland.


Bilder: stock.adobe.com – ChiccoDodiFC, Dutch Cycling Embassy, stock.adobe.com – salarko, stock.adobe.com – creativenature.nl, Fotocollectie Anefo, Stadt Utrecht