Eurovelo-Routen: Radwege, die Europa verbinden
Grenzüberschreitende Fahrradrouten sind gut für Alltags- wie Urlaubsradler*innen und die heimische Wirtschaft. Aber sie fördern auch den Austausch der Menschen und damit europäische Werte.
(erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2025, März 2025)
Einmal am ehemaligen Eisernen Vorhang entlangradeln – von der Barentssee im Norden Europas bis zum Schwarzen Meer im Süden. Für manche klingt das verrückt, für andere nach einem spannenden Fahrradabenteuer. Die Eurovelo-Route 13, der Iron Curtain Trail, ist fast 10.000 Kilometer lang. Über 40 Jahre trennten Mauern, Zäune und Grenzsoldaten die Länder und Menschen voneinander, heute zieht die Route jährlich Tausende Rad-lerinnen aus aller Welt an. Die Eurovelo-Route 13 ist einer von 17 Radfernwegen, die den Kontinent durchqueren und verbinden. Seit 1995 plant und betreut der Europäische Radfahrverband (ECF) das inzwischen rund 90.000 Kilometer lange Netz im engen Austausch mit den Vertreterinnen der Länder. Die länderübergreifenden Strecken sind für die Kommunen wichtig. Sie fördern eine nachhaltige Mobilität im Alltag, in der Freizeit und im Urlaub und sind gut für die Wirtschaft.
Ein genauer Blick auf die einzelnen Eurovelo-Routen zeigt jedoch: Die Qualität muss deutlich besser werden. Der Rheinradweg (EV15) und die Atlantikküsten-Route (EV1) wurden im vergangenen Jahr als erste Routen nach dem „European Certification Standard“ (ECS) zertifiziert. Sie gehören zu den Vorzeige-Radwegen im Eurovelo-Netz und entsprechen den Standards der ADFC-Qualitätsrouten. Auf ihnen sind die Radfahrenden meist komfortabel und fernab vom Autoverkehr unterwegs oder auf wenig befahrenen Straßen. Das gilt jedoch nicht für alle Routen. Im Baltikum etwa sind manche Streckenabschnitte zwar ausgeschildert, aber nicht ausgebaut. Dort müssen sich die Radfahrenden auf der Eurovelo-Route 10 die Straße mit Bussen und Lastwagen teilen. Bei der letzten Bestandsaufnahme des ECF 2022 waren 64 Prozent (ca. 56.000 km) des Eurovelo-Netzes ausgebaut.
Der ECF plant, die Qualität der Eurovelo-Routen bis 2030 deutlich zu verbessern. Der Verband wirbt damit, dass sich die Investition in den Radverkehr für die Kommunen entlang der Routen lohnt. Denn Radfahren liegt im Trend. Allein zwischen 2019 und 2022 stieg die Zahl der Nutzer*innen der Eurovelo-Routen um elf Prozent. Eine internationale ECF-Analyse aus dem Frühjahr 2024 zeigt zudem: Trotz Inflation erwarten fast 90 Prozent der Radreiseveranstalter, dass der Umsatz und die Zahl der Gäste steigen oder zumindest gleich bleiben.
„Mit über 9.800 Kilometern verfügt Deutschland über das längste nationale Netz an Eurovelo-Strecken.“
Agathe Daudibon, Eurovelo-Managerin (ECF)

Freie Fahrt und Austausch
Neben ihrem Nutzen für die Wirtschaft und die Verkehrswende haben die länderübergreifenden Fahrradrouten auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Sie verbinden Länder und Menschen miteinander und symbolisieren Europas Ziele und Werte – Demokratie, Freiheit, Frieden und Sicherheit. Die Eurovelo-Route 13, der Iron Curtain Trail, spielt dabei eine besondere Rolle. Normalerweise schlagen die Vertreterinnen der Nationalen Eurovelo-Koordinierungszentren (NECC) dem Eurovelo Council neue Routen vor. Beim Iron Curtain Trail war der ehemalige Europaabgeordnete Michael Cramer der Ideengeber. Er wollte im Grünstreifen entlang des Eisernen Vorhangs einen Ort der Begegnung und interkulturelle Erfahrungen schaffen. „Nur wer seine Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“, zitiert Cramer Wilhelm von Humboldt. „Das friedliche Ende des Kalten Kriegs ist keine Selbstverständlichkeit, wir hatten damals großes Glück“, sagt Cramer. Die EU unterstützte seine Idee und finanzierte die Route. Der Ausbau läuft seit Jahrzehnten, ist aber noch nicht abgeschlossen. Auch nicht in Deutschland. Erst im vergangenen Jahr wurde eine Lücke im Berliner Mauerradweg mit dem Bau einer Bahnunterführung geschlossen. Über 20 Jahre lang mussten Touristinnen und Alltagsradlerinnen einen Umweg von drei Kilometern über Kopfsteinpflaster fahren. Dass es den Mauerradweg gibt, ist ebenfalls Cramers Verdienst. Direkt nach der Wende hatte er als Abgeordneter mit seiner Partei (Bündnis 90/Die Grünen) und dem ADFC vorgeschlagen, einen Radweg entlang der Mauer in der Hauptstadt zu bauen. Das stieß jedoch auf Widerstand. „Viele Politikerinnen, Anwohnerinnen und Medien wollten die Mauer schnell abreißen“, erinnert sich Cramer. Der CDU-Politiker Theo Waigel wollte den Grünstreifen an der Bernauer Straße in eine sechsspurige Schnellstraße umwandeln. „Aber Helmut Kohl, damals Bundeskanzler und Historiker, lehnte das ab“, sagt Cramer. Kohl wollte die Erinnerung an die Teilung für nachfolgende Generationen bewahren. Das war jedoch noch kein Ja zum Mauerradweg. Über zehn Jahre lang warben Umweltverbände und Radaktivistinnen für den Radweg. Sie diskutierten mit Politikerinnen, Verbänden und Anwohnerinnen und malten streckenweise selbst Piktogramme auf die 160 Kilometer lange Strecke. 2001 startete Michael Cramer dann seine „Mauerstreifzüge“, eine Radtour in acht Etappen auf den ehemaligen Postenwegen der DDR-Grenztruppen rund um Westberlin. „Allein auf einer Etappe waren 250 Radfahrende dabei“, sagt er. Seitdem haben jedes Jahr etwa 1000 Radelnde an diesen Touren teilgenommen.

Am Point Alpha auf der Eurovelo-Route 13 war der Kalte Krieg greifbar. Er war einer von vier
US-Beobachtungsstützpunkten in Hessen. Heute ist Point Alpha eine Mahn-, Gedenk- und Begegnungsstätte.
Touristenmagnet Mauerradweg
In dem Jahr beschloss der Berliner Senat, den Mauerradweg auszubauen und zu beschildern. Mittlerweile ist er nahezu fertig und spielt eine wichtige Rolle für den Tourismus in Berlin. Konkrete Zahlen zu den Radreisenden auf dem Mauerradweg liegen laut Christian Tänzler, Pressesprecher der Tourismusabteilung Berlins, nicht vor. Aber Radreiseanbietern zufolge sei der Mauerradweg die meist nachgefragte und am stärksten befahrene Route in der Stadt. „Auf keiner anderen Tour ist die vielfältige Geschichte der Stadt so erfahrbar wie dort“, sagt Tänzler. Gäste aus Deutschland und anderen Ländern kommen nach Berlin, um die Zeugnisse der Geschichte zu sehen. „Der Mauerradweg steht für Teilung, Kalten Krieg, aber auch für die friedliche Revolution und Freiheit“, sagt der Tourismusexperte.
Um die Rahmenbedingungen für den Iron Curtain Trail festzulegen, organisierte die Europäische Kommission mehrere Workshops mit Vertreter*innen aus 20 Ländern. Gemeinsam legten sie Standards für die Streckenführung fest. Dazu gehört, dass der Trail möglichst nah an der Grenze verläuft und sie häufig kreuzt. Außerdem sollten Radfahrende gute Bedingungen zum Übernachten und Einkehren vorfinden, und die Etappen sollen an historischen Zeugnissen des Eisernen Vorhangs vorbeiführen.

„Die Eurovelo-Routen verbinden Regionen und Länder miteinander, sie machen es den Menschen leicht, sich auszutauschen und zu vernetzen.
Michael Cramer, Ideengeber Iron Curtain Trail
Polen wird Vorbild für Deutschland
Der Aufbau einer Eurovelo-Route ist in vielen Ländern ein wichtiger Impulsgeber. „Gerade in Osteuropa ist das die Initialzündung für den Radtourismus“, sagt ein ADFC-Sprecher. Dort sind die Eurovelo-Routen oft das erste und einzige radtouristische Produkt und damit das Rückgrat der radtouristischen Entwicklung. Das gilt auch für Polen. Laut Cramer hinkte Polen zehn Jahre den Nachbarländern beim Ausbau des Iron Curtain Trails (EV13) hinterher. Das änderte sich, als die Tourismusbehörde mit Marta Chelkowska eine neue Führung bekam und mit dem Ausbau begann. „Seit vier Jahren gibt es in Polen nun einen durchgehenden, ausgeschilderten, komfortablen Radweg mit Blick auf die Ostsee. Alle Schwachstellen sind beseitigt“, sagt Cramer. Für ihn wird Polen damit zum Vorbild für Deutschland. Denn auf dem deutschen Abschnitt der EV13 fehlt mancherorts der Lückenschluss oder eine sichere Infrastruktur.
Vor allem in Mecklenburg-Vorpommern müssen einige Stellen des Ostseeküstenradwegs saniert werden. Große Teile des Radwegs, der direkt am Wasser verläuft, wurden im Frühjahr 2019 durch eine Sturmflut abgetragen. Einige Strecken sind zwar bereits erneuert worden, andere jedoch nur provisorisch oder gar nicht. Für die Regionen kann das auf lange Sicht zum Problem werden. Denn der Ostseeküstenradweg ist bei Radreisenden beliebt. Damit das so bleibt, braucht es komfortable und zusammenhängende Wege.
Die Länder können für die Entwicklung der Eurovelo-Routen Fördermittel der EU beantragen, etwa von „Interreg“. Diese Initiative unterstützte mit fast fünf Millionen Euro das „AtlanticOnBike“-Projekt der Eurovelo-Route 1. Die Beteiligten schufen touristische Angebote, die das Radfahren mit regionalen Besonderheiten verbinden, wie „Radfahren und Gastronomie“, „Radfahren und Angeln“ oder lokale Rundradwege für Tagesausflüge. Ein ähnliches Tourismusprojekt fördert Interreg derzeit für die Länder des Iron Curtain Trails in Mitteleuropa. Alle Kommunen entlang dieser etwa 3000 Kilometer langen Route können das fertige Konzept anwenden und davon profitieren – auch in Deutschland.
Deutschland schneidet beim Ausbau der Eurovelo-Routen laut dem ADFC insgesamt gut ab. „Mit über 9800 Kilometern verfügt Deutschland über das längste nationale Netz an Eurovelo-Strecken“, sagt Agathe Daudibon, Eurovelo-Managerin beim ECF. Die Wege sind zu 90 Prozent durchgehend und fahrradfreundlich ausgebaut. Das liegt auch daran, dass sie mit den nationalen Radrouten im Radnetz Deutschland übereinstimmen. Allerdings sind 73 Prozent der Eurovelo-Strecken hierzulande laut Daudibon nicht beschildert. Wegen der geografischen Lage sei eine lückenlose Beschilderung aber entscheidend, um die internationalen Routen mit den Nachbarländern zu verbinden und die Marke Eurovelo insgesamt zu stärken. Dazu gehöre auch eine Online-Plattform, die die deutschen Eurovelo-Routen samt ihrer Angebote übersichtlich präsentiert.
Die Bekanntheit der Eurovelo-Routen in Deutschland lässt sich also noch verbessern. Das ist vor allem in Zeiten notwendig, in denen über Grenzschließungen diskutiert wird. „Die Eurovelo-Routen verbinden Regionen und Länder miteinander, sie machen es den Menschen leicht, sich auszutauschen und zu vernetzen“, sagt Cramer. Ihr primäres Ziel ist es zwar, den Radtourismus anzukurbeln, aber damit geht immer auch das Interesse an fremden Landschaften, Kulturen und Menschen einher – und ein Austausch auf Augenhöhe.
Unterwegs im Baltikum auf Eurovelo-Routen: Einige Abschnitte haben Vorzeigecharakter, auf anderen müssen sich Radfahrende die Fahrbahn mit dem Fernverkehr teilen. Aber das Umdenken pro Radverkehr hat begonnen.
Bilder: www.eurovelo.com, Michael Cramer, Andrea Reidl