Fair Spaces Index: Wie sieht eine gerechtere Gestaltung des Straßenraums aus?
Die Fläche im öffentlichen Raum ist begrenzt. Durchschnittlich nimmt der Autoverkehr einen großen Anteil des Straßenraums ein – ob fahrend oder parkend. Mit dem Fair Spaces Index hat die Mobilitätskonzept- und Mobilitätsberatungsagentur Fair Spaces einen Vorschlag erarbeitet, wie eine gerechtere Aufteilung aussehen kann.
(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)
In Berlin sind 58 Prozent der Verkehrsflächen für das Auto reserviert. Hiervon dienen allein 19 Prozent geparkten Kraftfahrzeugen. Das bedeutet auch, dass es in der Hauptstadt zehnmal mehr Kfz-Parkflächen gibt als Spielplätze. Um eine gerechte Verkehrswende zu erzielen, ist es wichtig, den Straßenraum neu zu denken, sodass er einladend für Menschen ist sowie Aspekte des Klimaschutzes berücksichtigt. Der Fair Spaces Index der gleichnamigen Agentur soll Planer*innen dabei unterstützen.
58 %
In Berlin sind 58 Prozent der Verkehrsflächen für das Auto reserviert.
Hiervon dienen allein 19 Prozent geparkten Kraftfahrzeugen.
Das bedeutet auch, dass es in der Hauptstadt zehnmal
mehr Kfz-Parkflächen gibt als Spielplätze.
Was ist der Fair Spaces Index?
Der Index ist an Kommunen gerichtet und hat das Ziel, gerechte und nachhaltige Mobilität zu schaffen, indem Flächen gerecht verteilt werden. In dem Index werden verschiedene Nutzungen berücksichtigt, wie zum Beispiel öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV), hohe Fußverkehrsmengen, sicherer Rad- und Fußverkehr, Sharing-Stationen sowie Parkraum für mobilitätseingeschränkte Personen und Lieferverkehr. Hinzu kommen als Nutzungsformen Rastmöglichkeiten für Jung und Alt, E-Ladeinfrastruktur, entsiegelte Flächen, Grün- und Spielbereiche. Somit wird nicht nur eine gerechtere Aufteilung des Straßenraums hinsichtlich der Verkehrsmittel bedacht, sondern auch notwendige Kriterien für eine resiliente Stadt wie Stadtgrün und unversiegelte Flächen. Auch werden Kriterien für eine lebenswertere Stadt mit hoher Aufenthaltsqualität (Spielbereiche, Bänke) beachtet.
Das Team von Fair Spaces hat sich der Frage angenommen, was eine gerechtere Aufteilung des Straßenraums bedeutet. Dabei wurden gemeingültige Vorgaben, Ansprüche an eine sichere, aktivere und barrierearme Mobilität sowie an einen schnelleren ÖPNV und lebenswerte Räume, Klimaresilienz und Klimaschutz als Ziele berücksichtigt. In der Erarbeitungszeit wurden wissenschaftliche Erkenntnisse und praxisorientierte Lösungen mit verschiedenen Expert*innen diskutiert. Der Fair Spaces Index wurde von der Dr. Joachim und Hanna Schmidt Stiftung für Umwelt und Verkehr im Jahr 2023 gefördert.
Den Straßenraum gerecht verteilen
Das Thema Flächengerechtigkeit wird im deutschsprachigen Raum seit etwa zehn Jahren intensiver diskutiert. Zahlreiche NGOs, Stiftungen, Universitäten und Institute haben sich des Themas angenommen. Insbesondere das Umweltbundesamt veröffentlicht regelmäßig zu diesem Thema. Flächengerechtigkeit ist nicht einfach zu fassen, sondern wirkt in verschiedenen Dimensionen, darunter Klimagerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit. Am häufigsten wird jedoch die Frage der Verteilungsgerechtigkeit des Straßenraums betont.
In ihrer Funktion wurde die Straße in der Vergangenheit primär als Ort wahrgenommen, auf dem der motorisierte Individualverkehr (MIV) möglichst schnell von A nach B kommt. Die Leitlinie der „Flüssigkeit des (MI-)Verkehrs“ steht auch im Mittelpunkt der Gesetzgebung. Die Anforderungen an den Straßenraum werden durch die Verkehrswende jedoch heterogener. In der Literatur herrscht Einigkeit darüber, dass der öffentliche Straßenraum in Deutschland derzeit nicht gerecht verteilt ist. Vor allem „zu viele Parkplätze” und „zu wenig Platz für den Radverkehr” wurden als Probleme identifiziert. In der Wissenschaft werden zunehmend die gesetzlichen Grundlagen und die Rolle der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen diskutiert. Grundlegende Reformen sind notwendig, um die Kommunen zu ermächtigen, eine menschengerechte Verkehrsinfrastruktur zu planen und umzusetzen. Besonders brisant ist in diesem Kontext, dass mit dem MIV bisher diejenige Mobilitätsform gesetzlich privilegiert wird, die gesamtgesellschaftlich die höchsten externen Kosten verursacht.
Das Werkzeug anwenden
Das Fair Spaces Tool zeigt die jetzige Aufteilung sowie eine gerechtere Aufteilung des Straßenraums nach dem Fair Spaces Index. Das Tool berücksichtigt die verschiedenen Bedarfe und Nutzungen im öffentlichen Straßenraum. Nach Auswahl von bestimmten Parametern wird das Ergebnis prozentual über ein Diagramm visualisiert. Die Ergebnisse sind als Empfehlungen zu verstehen und sollen Möglichkeiten darlegen und zum Nachdenken und Diskutieren anregen. Der Ansatz ist pragmatisch und mit visionärer Note gedacht und berücksichtigt gängige Regelwerke.
In dem Tool wurden verschiedene Fragen definiert. Diese lauten etwa, ob die Straße beidseitig zu begehen ist, ob eine Straßenbahn in der Straße fährt und ob Kfz-Parkbuchten notwendig sind. Zudem werden Breite und Umfang von verschiedenen In-frastrukturen abgefragt, wie die generelle Straßenbreite, Gehwegbreite, Breite von Radverkehrsinfrastruktur und das Ausmaß an versiegelten Flächen.
In der Wissenschaft herrscht Einigkeit darüber, dass der öffentliche Straßenraum in Deutschland ungerecht verteilt ist. Das Fair Spaces Tool zeigt, wie sich der Ist-Zustand flächengerecht verändern müsste.
Wie es funktioniert
Wer das Fair Spaces Tool anwenden will, muss zunächst ein paar Angaben zum Ist-Zustand machen. Im hier illustrierten Beispiel etwa wurde von einer Hauptgeschäftsstraße ausgegangen mit einer Straßenbreite von 30 m und Tempo 50. Es gibt Busverkehr und beidseitiges queres Kfz-Parken in der Straße. Dem Fuß- und dem Radverkehr stehen im Ist-Zustand jeweils 4,2 m zur Verfügung.
Nach der Eingabe der Daten liefert das Fair Spaces Tool eine Grafik mit Kacheln, welche die jetzige Aufteilung prozentual wiedergibt.
Nachdem der Ist-Zustand ermittelt wurde, fragt das Tool im nächsten Schritt nach weiteren Angaben, um den gerechteren Zustand zu erhalten. Für das veranschaulichte Beispiel wurden die Maßgaben gewählt, dass es ein erhöhtes Fußverkehrsaufkommen gibt und der Fußverkehr auf beiden Seiten stattfindet. Auch Parkbuchten, zum Beispiel für den Lieferverkehr sind notwendig, so das Szenario.
Sind alle Angaben gemacht, erscheint eine weitere gekachelte Grafik, die einen direkten Vergleich aus dem Ist-Zustand und dem flächengerechten Zustand ermöglicht. Das Tool spricht außerdem weitere Empfehlungen aus wie die, dass Parkplätze für mobilitätseingeschränkte Personen vorgehalten werden sollen.
In der gerechteren Verteilung des fiktiven Beispiels wird anstelle eines Kfz-Parkstreifens eine Mischzone mit Kfz-Parken empfohlen (8 Prozent) und ein weiterer Teil (6 Prozent) wird zu einer Mischzone ohne Kfz-Parken. Generell sollte ein größerer Anteil jeweils dem Fußverkehr (23 Prozent, vorher 14 Prozent) und dem Radverkehr (18 Prozent, vorher 14 Prozent) gewidmet werden. Der Platz für die Fahrbahn reduziert sich um 40 Prozent (von 56 auf 16 Prozent). Zudem soll ein unversiegelter Bereich entstehen (6 Prozent), um Starkregen abzufedern. Wie dies dann in der Praxis aussehen kann, zeigt die Abbildung Seite 71. Durch eine andere Flächenverteilung kann mehr Platz für den Umweltverbund, klimaresiliente Infrastruktur und generell Platz für Menschen entstehen. Diese Flächenverteilung ist schon jetzt – nach der gültigen StVO – möglich.
Was der Index empfiehlt
Im Rahmen der Erarbeitung des Fair Spaces Index wurden verschiedene Empfehlungen erarbeitet, die eine gerechtere Flächenverteilung symbolisieren sollen. Diese Empfehlungen sind zudem Grundlage für das Fair Spaces Tool. In den nachfolgenden Absätzen sind die wichtigsten Empfehlungen zusammengefasst. Die ausführliche Liste kann auf der Webseite des Fair Spaces Index nachgelesen werden.
Geschwindigkeiten
Sofern es rechtlich möglich ist, ist es empfehlenswert, Tempo 30 einzurichten.
Bei Tempo 30 sollten generell Fahrradstraßen eingerichtet werden.
In Einbahnstraßen wird die Freigabe des Radverkehrs für beide Richtungen empfohlen.
Erst ab einer Straßenbreite von 13,50 m ist die Einrichtung von Tempo 50 möglich. Bei geringeren Breiten ist es nicht möglich, sicheren Rad- und Fußverkehr zu gewährleisten.
Dimensionierung der Nutzung
Je nach Breite der Fahrbahn können unterschiedliche Verkehrsinfrastrukturen und andere Elemente installiert werden, z. B.:
Fußweg: mind. 2,5 m auf einer Seite, mind. 3,5 m bei hohem Fußverkehrsaufkommen
Getrennt geführter Radverkehr (ab Tempo 50): mind. 2,75 m Radverkehrsanlage (Radweg, geschützter Radfahrstreifen)
auf einer Seite, Zweirichtungsradweg: mind. 3,5 m
Entsiegelte Flächen: von 0,25 m bis 2 m je nach Breite der Straße
Weitere Empfehlungen
Bei hohem Kfz-Volumen: keine weiteren Kfz-Fahrstreifen, sondern einen Bussonderstreifen, um die Nachfrage auf der Strecke zu bedienen (Verlagerung von Verkehren)
Parkstreifen ist als Mischfläche zu nutzen, wo nicht nur Kfz-Parken stattfindet (hier wichtig: Lieferzonen, Parkplätze für mobilitätseingeschränkte Personen und E-Ladesäulen), sondern sich auch Bänke, Bäume, Spielbereiche und Fahrradparken befinden.
Parken ist generell nur ab gewissen Straßenbreiten möglich, ist generell zu reduzieren und sollte in Quartiersgaragen und anderen Parkhäusern gebündelt werden.
Steigerung der Aufenthaltsqualität
Durch die Umverteilung des Straßenraums kann der Umweltverbund priorisiert werden.
Bereiche für Grün, Sitzgelegenheiten und Spielen können geschaffen werden.
Interesse, den Fair Spaces Index auch mal auszuprobieren?
Besuchen Sie die Webseite: fair-spaces.de/fsi
Bilder/Grafik: Fair Spaces, stock.adobe.com – Marco2811