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Google Maps & Co: Navi-Stau vor der Haustür

Auf schnellstem Weg leiten Navigationssysteme zum Ziel. Dabei fahren Privatfahrzeuge und Lkws auch durch verkehrsberuhigte Wohngebiete. Welche Handlungsspielräume besitzen Anwohner*innen und Städte?

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2025, Juni 2025)


Seit Ende 2024 ist die Gärtnerstraße in Friedrichshain-Kreuzberg Fahrradstraße. Nur Anlieger-Pkws sollen hier fahren. Doch Frederik Staab beobachtete, wie der Durchgangsverkehr die Straße zunächst weiter als Schleichweg nutzte. Als Grund vermutet der Anrainer, dass Navigationssysteme in Autos oder auf Smartphones die Fahrradstraße nicht ausweisen. Bei Google Maps beispielsweise können Nutzer*innen fehlende Verkehrsinformationen prinzipiell an die Plattform melden. Dazu muss über die App oder den Browser ein Freitext ausgefüllt werden. Staab berichtet: „Ich hatte die Fahrradstraße bereits gemeldet. Trotzdem navigierte Google Kfz-Verkehr hindurch. Nur jemand, der seinen Navigationspunkt in dieser Straße setzt, dürfte von Google Maps hineingeleitet werden.“ Es dauerte eine Weile, bis die Plattform reagierte und Routen nicht mehr durch die Straße führte.

Es hat gedauert, bis Google die Einbahnstraßenregelung in der Friedrichshainer Gärtnerstraße berücksichtigte. Noch immer muss die Polizei ortsfremde Fahrer*innen ansprechen oder gegen Falschparker*innen vorgehen.

Über 50 Prozent Durchgangsverkehr im Kiez

„Ich glaube, die meisten Menschen gucken nur noch aufs Navi“, sagt Paul Riesenhuber aus dem Neuköllner Körnerkiez. Als er einen Autofahrer auf das „Anlieger frei“-Schild anspricht, lautet dessen Antwort: „Die Navi-Route geht da lang.“ Auf 56 Prozent wurde der anteilige Durchgangsverkehr in seinem Quartier gemessen. Bis der Bezirk 2024 im Rahmen des Verkehrskonzepts Körnerkiez die Umgehungsachse Ilsestraße neu als Fahrradstraße mit gegenläufigen Einbahnstraßen gestaltete. „Mittlerweile ist das bei den großen Navigationsanbietern drin“, bestätigt Riesenhuber. Aber auch das hat gedauert. Ausgewichen wird noch immer. Über die Parallelstraßen.
Boris Hekele von Changing Cities gehört zur Karlsgarten-Kiezblog-Initiative. Beruflich mit Datenprozessen befasst, vermutet er, dass Google Maps zunächst ein gehäuftes User-Feedback abwartet, um Partikularinteressen auszuschließen. Auch Hekele wurde irgendwann klar, dass der Navi-Anbieter viel Durchgangsverkehr durch das Wohngebiet schickt. Mit Druck auf die Politik wurden vorübergehend „Anlieger frei“-Schilder aufgestellt. Als Google Maps weiter den Verkehr durchleitete, meldeten sie das Problem an die Plattform. Zunächst erfolglos. Hekele: „Dann habe ich mich an das Forum von Google gewandt und eine Beschwerde geschrieben. Plötzlich ging alles schnell. Die Durchfahrt durch den Kiez wurde bei Google Maps unterbunden. Die Route wurde über die Hauptstraßen geleitet.“

Sicherheits- und Umweltgefahren durch „Rat Runs“

Was Bewohner*innen der Berliner Kieze schildern, ist wegen der Verbreitung von Google Maps, Waze und anderen Systemen ein globales Phänomen. Informatik-Professor Johannes Schöning von der Universität St. Gallen hat es untersucht. Er sagt: „Das Problem ist, dass die Navi-Geräte egoistisch für jeden Nutzer die schnellste oder effizienteste Route berechnen. Dadurch kommt es zu Zielkonflikten mit der Umgebung und anderen Verkehrsteilnehmern.“ Das Prinzip der schnellsten Route kann ehemals ruhige Nachbarschaften in sogenannte Rat Runs verwandeln und löst eine Kette negativer Effekte aus. Außerörtlicher Verkehr führt zu Staus und längeren Wartezeiten an Kreuzungen. Beim Versuch, diese überfüllten Bereiche zu umgehen, kommt es zu Tempoüberschreitungen und rücksichtslosem Fahrverhalten. Infolgedessen erhöht sich die Unfallgefahr für Fuß- und Radverkehr in Wohngebieten. Bis hin zum „Death by GPS“. Hinzu kommen Auswirkungen auf die Gesundheit durch Lärmbelästigung und Abgase.
Auf der Suche nach Lösungen analysierten Schöning und sein Team Zeitungsartikel aus der Nachrichtendatenbank Nexis Uni. „Bei 90 Artikeln waren wir in der Lage, die Nadel auf Google Maps zu setzen und zu sagen, was dort passiert ist und was die Einflussfaktoren waren“, erläutert Schöning. „Es gab zu zwei Drittel verkehrsbezogene Effekte wie Störungen der Straßenverhältnisse. Ein Drittel waren sicherheitsrelevante, wie die Beeinträchtigungen von Fußgängern. Darunter Staus, Missachtung von Verkehrsregeln, Verschmutzung, Unfälle und Fahrbahnbeschädigungen. Es gab Sicherheitsrisiken, weil Lkws durch 30er-Zonen geleitet wurden.“

Über die Hälfte Durchgangsverkehr zählte man im Neuköllner Kiez um die Ilsestraße. Seitdem sie zur Fahrradstraße umgebaut wurde, wird per Navi-Route über die angrenzenden Wohnstraßen ausgewichen.

Behördliche Lösung erfolgreicher als private

Zu den am häufigsten genannten Lösungsansätzen gehören Straßensperrungen, die Einführung von Beschilderungen, Tempolimits, die Einrichtung verkehrsberuhigter Zonen, Abbiegeverbote. Auch die vollständige Entfernung von Straßen aus der App, Installation von Bremsschwellen, die Entwicklung spezieller Navigationstechnologie für Lkw, Einführung von Einbahnstraßen und die Meldung von Scheinstaus und Scheinunfällen sind denkbare Handlungsschritte. Kiez-Bewohner Boris Hekele denkt sogar an Lösungen, die über ein gesetzliches Regulativ hinausreichen: „Eine Regulation kann auch technisch funktionieren. Bestimmte Bereiche sollten für Autos digital gesperrt werden. Das Fahrzeug bekommt einen Alarm, hier liegt ein Wohngebiet, da darfst du nicht durchfahren. Geht man einen Schritt weiter, kann mit dem Lenkrad nicht mehr reingelenkt werden in den Kiez, weil es digital gesperrt ist.“
Doch welche dieser Vorschläge funktionieren überhaupt? Das Schöning-Team hat Verkehrsstörungen und Lösungsansätze in einer Matrix gegenübergestellt. Dabei wurde zwischen Ansätzen der verantwortlichen Behörden und der betroffenen Anrainer unterschieden. Für einen Beobachtungszeitraum von drei bis sechs Monaten waren Ansätze, die durch die Behörden implementiert wurden, im Verhältnis zwei Drittel zu einem Drittel erfolgreicher als die durch Anwohnerinnen. „Manche Maßnahmen funktionierten überhaupt nicht“, sagt Schöning. Etwa Scheinunfälle oder Scheinstaus an die Apps zu melden. „Straßen von der App zu entfernen, funktioniert bei den Behörden, nicht bei den Anwohnern. Da ist die Straße immer wieder aufgetaucht in den Maps.“ Dass staatliche Stellen erfolgreicher sind, wird mit einer erhöhten Sichtbarkeit der umgesetzten Maßnahmen erklärt. Änderungen bestehender Vorschriften oder Gesetze, Abbiegeverbote, Gewichtsbeschränkungen oder zusätzliche Gebühren für Fahrerinnen auf Hauptstraßen erweisen sich daher als praxistaugliche Optionen.

Verkehrsplanung vor gleichem Dilemma wie Anrainer

Abseits von Infrastrukturmaßnahmen bleiben lokalen Verkehrsplaner*innen den Plattformen gegenüber die Hände gebunden. Hauptproblem ist die schnelle Aktualisierung von Karten. Bis eine neue Straße amtlich vermessen, gemeldet und eingepflegt ist, kann allein schon bis zu einem Jahr vergehen. Aber wie kommt die amtliche Änderung in die Karten der privaten Systemanbieter? Tobias Schunn aus Bietigheim-Bissingen ist als stellvertretender Amtsleiter für die Verkehrsplanung und die Geodaten der Kreisstadt zuständig. Er sagt: „Als Stadtverwaltung können wir nicht leisten, jede Änderung einzeln in jedes System einzupflegen. Wir schicken die Information einmal per E-Mail raus, und die privaten Anbieter können das übernehmen. Vor allem bei TomTom funktioniert das zuverlässig.“ So hätte er es auch gern bei Google Maps gehandhabt. Doch die Plattform stellt keine E-Mail-Adresse für Kommunen bereit. „Bei Google müssen wir unsere Änderungsvorschläge wie jeder private Nutzer in diesen Editor eintragen“, sagt Schunn.

„Bei Google müssen wir unsere Änderungsvorschläge wie jeder private Nutzer in diesen Editor eintragen.“

Tobias Schunn, Verkehrsplaner aus Bietigheim-Bissingen

Früher eine durchgehende Straße, heute Sackgasse für Privatfahrzeuge. Aufgrund der vorgeschlagenen Strecke der Google-Maps-App blockierten Lkws weiterhin diese Feuerwehr-Zufahrt in Bietigheim-Bissingen.

Neuer Radweg von Google Maps abgelehnt

Dabei kann es sogar passieren, dass eine amtliche Änderung abgelehnt wird. Tobias Schunn: „Wir haben eine Straße entfernt, weil sie nur noch als Radweg genutzt werden kann. Google Maps hat unsere Änderungsvorschläge einfach abgelehnt und gesagt, das ist nicht so und die Straße im System gelassen.“ Ein halbes Jahr musste die Stadt warten, bis das endlich korrigiert wurde. In einem anderen Fall bogen trotz einer Straßenverlegung Lkws weiter falsch in eine Grundstückszufahrt für die Feuerwehr ein. Das war durch aufwendige Fahrbahnmarkierungen und Schranken kenntlich gemacht. „Alle haben sich gefragt, wieso passiert das?“, erzählt Schunn. „Bis ich festgestellt habe, in Google Maps war eben die Straße noch nicht richtig dargestellt. Also habe ich das dort gemeldet. Das hat funktioniert.“
Zwar ließen sich Schleichverkehre bei neuerer Stadt- und Verkehrsplanung verhindern, sagt Schunn. Etwa indem Zufahrten so gelegt werden, dass keine attraktive Durchfahrtsverbindung entsteht und Wohngebiete nur punktuell über eine Stichstraße an Hauptstraßen angebunden werden. „Wichtig wäre, dass das Kartenmaterial aktuell ist. Dazu könnte man sich eine gesetzliche Regelung ausdenken. Dass es zumindest eine Anlaufstelle gibt bei den Kartendienstleistern, die Änderungen sofort übernimmt.“

Plädoyer für einen Social-Routing-Ansatz

Johannes Schöning sagt auch, dass die heute bekannten Lösungen lediglich die Symptome des großflächigen Einsatzes von Navigationstechnologien bekämpfen. Um soziale Externalitäten zu vermeiden, könnten bestehende Navigationstechnologien Nutzerinnen über Folgen ihrer Route informieren. Zum Beispiel die Störung des Schulschlusses oder die Lärmbelästigung in den Abendstunden. Der Kontext könnte es Fahrerinnen ermöglichen, verantwortlich Entscheidungen zu treffen und freiwillig ein paar Minuten länger auf einer stark befahrenen Autobahn zu bleiben, um andererseits die negativen Auswirkungen auf Anrainer zu minimieren. Solche Kriterien ließen sich in die Routing-Algorithmen integrieren. Verkehrslärmpegel, CO2-Emissionen, Tempolimits, straßenspezifische Lautstärkebegrenzungen und Randomisierung können in die Routenoptimierung einbezogen werden. Am Ende stünde ein Social-Routing-Ansatz. Mit gerechterer Verkehrsverteilung, weniger Störungen vor der Haustür und einer besseren Ausrichtung auf ein nachhaltiges Stadtleben.

„Man müsste regulatorisch einwirken“

Fragen an Johannes Schöning, Informatik-Professor an der Universität St. Gallen in der Schweiz

Wie können lokale Verkehrsplaner*innen auf globale Navi-Anbieter einwirken?
Ein guter Hebel wäre es, wenn Unternehmen wie Google, Apple oder TomTom einen Gegenwert erkennen. Das heißt, es fließen auch Meta-Daten wie über den Belag von Radwegen von der Behörde an sie. Aber diese kleinräumigen Interessen sind nicht Teil des Geschäftsmodells der großen Tech-Firmen. Deshalb denke ich, man müsste regulatorisch einwirken und das nicht dem freien Markt überlassen. In 20 oder 25 Jahren fließen 60 Prozent des Verkehres autonom. Wer darf bestimmen, wo dieser Verkehr hinfließt? Ich glaube, wir unterschätzen die Wirkkraft der Algorithmen. Obwohl ich die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen bei Google und Apple schätze, würde ich mich besser fühlen, wenn dort eine staatliche Stelle draufschauen könnte.

Waze hat sein System geöffnet, um lokalen Behörden die Interaktion mit Verkehrs- und Routingdaten zu ermöglichen. Ist das für jede Kommune machbar?
Ja, das ist auf jeden Fall machbar. Waze ist ein Tochterunternehmen von Google und verfolgt einen Crowdsourcing-Ansatz. Sodass ich nicht nur als Behörde, sondern auch als Einzelperson aktiv Änderungen melden kann. Natürlich ist das ein Experimentierfeld der Unternehmen, ob das als Quelle dienen kann. Nutzt man Google Maps auf einem Android-Handy, meldet man ja schon ungewollt Daten zurück an Google. Damit kriegen sie Stauinformationen sehr genau hin. Und da macht man so sich noch mal ein bisschen prominenter.

Was halten Sie von der Idee, Nutzer*innenverhalten durch Design-Implikationen zu beeinflussen?
Das fände ich eine spannende Richtung, die man den Großen in die Pflichtenhefte schreiben könnte. Warum wird mir selbst bei kleineren Strecken durch Google Maps stets das Auto als Modalität vorgeschlagen? Weil der Aufbau der Navigations- und Verkehrssysteme autozentriert gestaltet wurde. Das ist ein Grundproblem. Die Fahrradinfrastruktur wird daneben oder darüber gelegt. Würde man es umkehren, das fände ich interessant. Man könnte es auch so regulieren, dass als erstes das Fahrrad oder der Fußweg vorgeschlagen wird und ich bewusst auf das Auto umwählen muss. Aus Programmiersicht wäre das eine Kleinigkeit, wenn Google Maps bei jedem städtischen U-Bahn-Weg unter zwei Kilometern keine Autoroute vorschlagen darf, sondern erst eine Fahrrad- oder Fußgängerroute. Dazu braucht es einen großen politischen Willen. Solche kleinen Design-Implikationen im Interface würde vielleicht zum Umdenken der Nutzerinnen und Nutzer führen.


Bilder: stock.adobe.com – Siam, Frederik Staab, wscher, Johannes Schöning, Tobias Schunn