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Künstliche Intelligenz: Gamechanger für den Radverkehr?

Künstliche Intelligenz ist vor allem in der Forschung zunehmend relevant für den Radverkehr. Die ersten Praxisanwendungen gibt es aber auch. Das Potenzial ist riesig.

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2025, Juni 2025)


Fahrräder oder elektrische Leichtfahrzeuge nehmen über Sensoren die Oberflächenqualität auf. Künstliche Intelligenz hilft, die Daten auszuwerten.

Wer schon einmal die Oberflächenqualität eines kommunalen Radwegenetzes erfasst hat, weiß, wie aufwendig diese Aufgabe ist. Moritz Beeking von der Forschungsgesellschaft Salzburg Research beschreibt das verbreitete Vorgehen, um die Daten zu erfassen: „Die traditionelle Art, das zu messen, ist, die Erschütterungen zu messen.“ Dabei sei es mitunter notwendig, den gleichen Streckenabschnitt mehrmals zu befahren, um eine verlässliche Statistik zu erhalten. Gemessen wird nur der Teil des Weges, den die Reifen tatsächlich überrollen. Testpersonen, Reifendruck und andere Variablen gilt es zudem nicht zu verändern.
Ein Forschungsprojekt von Salzburg Research hat bereits gezeigt, wie es besser geht. Die Forschenden nutzten ein Sensorfahrrad von Anbieter Boréal Bikes. Diese Räder sind in der Lage, unter anderem mit lichtbasierten Lidar-Scannern die ganze Breite eines Radwegs bei einer einzigen Befahrung aufnehmen. „Wenn wir das Lidar-basiert machen, bekommen wir ein tatsächliches dreidimensionales Oberflächenmodell“, beschreibt Beeking. So ließen sich die Daten auch zwischen Städten vergleichen. „Das ist eine viel objektivere Darstellung der Situation.“

„Ein KI-System ist immer nur so gut wie die Trainingsdaten.“

Moritz Beeking, Salzburg Research

Was ist Radweg und was nicht?

Um die gewonnenen Daten auszuwerten, setzt das Team von Salzburg Research künstliche Intelligenz ein. Das ist deshalb hilfreich, weil der Sensor permanent das komplette Umfeld des Sensorrads aufnimmt, also auch Bereiche, die nicht zum Radweg gehören und deshalb auch nicht auszuwerten sind. „Was uns die künstliche Intelligenz an der Stelle bringt, ist, dass sie für uns erst mal klärt, welche Punkte zum Radweg gehören.“ So lässt sich viel händische Arbeit einsparen.
Zwingend notwendig wäre der Einsatz eines Algorithmus mit künstlicher Intelligenz für die Klassifikation nicht. Aber da der gescannte Untergrund sehr divers beschaffen ist, ist die KI im Vorteil gegenüber klassischen Algorithmen. „Ab einer bestimmten Streubreite an Situationen, die auftreten können, ist es weniger Aufwand, Trainingsdaten zu labeln und ein künstliches Intelligenzsystem zu trainieren, anstatt all diese Fälle in einem regelbasierten Algorithmus abzubilden“, sagt Beeking.
Händisch zu arbeiten, war für Beeking und sein Team dennoch notwendig, um die Oberflächen in einem ersten Schritt zu labeln und die KI zu trainieren. „Ein KI-System ist immer nur so gut wie die Trainingsdaten“, stellt Beeking fest. „Bei uns sind relativ viele händische Schritte nötig, weil wir als Forschungsinstitut erstmal zeigen, dass ein Verfahren funktioniert und die Automatisierung dann noch sehr viel zusätzlichen Aufwand bedeuten würde.“ In einer kommerziellen Anwendung dürften einige Schritte wegfallen, schätzt Beeking.
Auch in der Kontrolle kommt menschliche Intelligenz zum Einsatz. Denn die KI macht auch Fehler, wie sich an einem Beispiel aus einem anderen Forschungsprojekt von Salzburg Research zeigt. Dabei wurden mithilfe der Sensorfahrräder Überholvorgänge gemessen. An einigen Stellen kam es dazu, dass die KI ein Auto bei aufeinanderfolgenden Standbildern im Wechsel als entgegenkommend und überholend einordnete. Menschliches „Weltwissen“, wie Beeking es bezeichnet, ist manchmal unabdingbar, um solche Fehler zu erkennen.
Für Fahrräder und andere kleine Fahrzeuge, die mit Sensoren ausgestattet sind, sieht der Forscher ein großes Potenzial. „Im Autobereich ist das bereits gängige Praxis“, weiß der Beeking. Die österreichische Infrastrukturgesellschaft ASFINAG befahre jeden Autobahnkilometer mindestens einmal jährlich mit einem entsprechenden Mess-Lkw. Vergleichbare Messergebnisse der Fahrbahnqualität seien für Radwege in der Praxis gut nutzbar. „Sie bekommen eine Karte, die hat grüne Striche, überall da, wo alles gut ist und rote Striche da, wo es schlecht ist“, beschreibt Beeking.
Die Arbeit mit Sensorfahrrädern mit anderem Fokus könne auch Rückschlüsse auf gefährliche Stellen in der Infrastruktur zulassen. Mit Blick auf Privatanwender*innen vermutet Beeking, dass sich Warnsysteme, wie es sie etwa mit dem Garmin Vario, einem Rücklicht mit integriertem Radar, schon gibt, deutlich weiterentwickeln dürften: „Zumindest auf höherpreisigen E-Bikes könnte es künftig Sensorsysteme geben, die vor komplexeren Verkehrssituationen warnen können.“

Klaus David leitet ein großes Forschungsprojekt zu KI an der Uni Kassel. Er untersucht selbst, was Wearables über das Verhalten von Radfahrer*innen verraten.

Autos müssen Radverkehr besser verstehen

In einem Konsortium rund um die Uni Kassel stellt man Sicherheit ebenfalls in den Fokus der Forschung. Der Kasseler Professor Klaus David, der das Projekt „DyNaMo: Sichere und nachhaltige Mobilität in der Stadt von morgen“ leitet, erklärt: „Wir möchten KI-basiert die Verkehrssicherheit von Radfahrenden signifikant verbessern. Das ist aus unserer Sicht ein Schlüsselproblem beim Radverkehr, dass die Anzahl der Schwerverletzten und Getöteten mit zunehmendem Radverkehr steigt.“
Das umfassende Projekt verfolgt gleich mehrere Forschungsansätze. David selbst erforscht, wie gut sich Wearables, also tragbare Technologie wie beispielsweise Smartwatches, nutzen lassen, um das Verhalten von Radfahrenden zu erfassen. Ein Konsortiumskollege legt sein Augenmerk auf Fahrerassistenten für Autos. „Die modernen Fahrzeuge sind ja alle mit Assistenzsystemen ausgestattet“, erklärt David. Mit verschiedenen Sensoren und Kameras überwachen moderne Autos die Umgebung und können im Ernstfall warnen und sogar eingreifen. Diese Lösungen sind selbst bei kleinen und günstigeren Autos verbreitet, weil sie für die Bewertungen bei Crash-Tests entscheidend sind. Es gilt, „dass die begehrten fünf Sterne unerreichbar sind, wenn Assistenzsysteme keinen erheblichen Beitrag dazu leisten, Unfälle zu vermeiden oder zumindest die Schwere erheblich zu mindern“, schreibt der Automobilclub ADAC in diesem Zusammenhang.
Die Grundlagenforschung des Dynamo-Projekts zielt mitunter darauf ab, die Assistenzsysteme zu verbessern. Die Forscherinnen interessiert etwa, wie gut sich herausgestreckte Arme erkennen lassen, bevor Radfahrende abbiegen. Auf Basis der Forschung ließe sich auch ein Assistenzsystem für Radfahrende bauen, betont David. Das Interesse an der Forschung sei auch seitens der Fahrradindustrie vorhanden. Ein Mitarbeiter von Hersteller Riese & Müller etwa sitzt im Beirat des Projekts. Im Forschungsprozess setzen David und seine Kolleginnen an mehreren Stellen auf KI. Ein Schwerpunkt liegt in der Analyse von Videos. KI spare Arbeit ein und ermögliche es, große Datenmengen zu analysieren, erläutert David. Zudem erhalte man bessere Statistiken. In der Vergangenheit hätte man studentische Hilfskräfte mit der mühseligen Arbeit beauftragen müssen. Hinzu kommt laut David: „Man bekommt manchmal auch Sachen raus, die ein Mensch gar nicht gesehen hätte.“ Wichtig ist es dennoch, den Überblick zu behalten, wie die KI arbeitet. „Wir haben es so angelegt, dass wir alle Daten und alle Schritte richtig gut sehen und verstehen können“, erklärt David. Er betont die Bedeutung des Datenschutzes in diesem Kontext: „Wenn man das später als Dienst anbietet, wird man mit anonymisierten Daten arbeiten.“

Das System Aware AI von Yunex Traffic erkennt mit KI, welche Art Verkehrsteilnehmer*innen eine Kreuzung nutzen. Für Kommunen erhöht das den Handlungsspielraum, auf die unterschiedlichen Gruppen einzugehen.

Forschung trifft Praxis

Einen praktischen Nutzen verbinden die Forschenden schon während des Projekts mit der Nutzung von KI. Videos, die vor Schulen und Unis gemacht werden, untersuchen die Forschenden auf Verhaltensfehler hin und schulen dann zu den entsprechenden Regelverstößen an der jeweiligen Institution.
Bereits praxiserprobt sind die KI-gestützten Lösungen von Anbieter Yunex Traffic. Das Produkt Aware AI sorgt an Kreuzungen für einen besseren Verkehrsfluss und mehr Sicherheit. Wer andere Verkehrsmittel als den MIV priorisieren möchte, muss diese zunächst erkennen können, beschreibt Produktexperte Dominic Berges die Vorzüge des Systems. Bis zu zehn Kameras überwachen eine Kreuzung und unterscheiden dabei zwischen zwölf verschiedenen Verkehrsmodi. Mit konventionellen Lösungen, etwa in die Fahrbahn eingelassenen Induktionsschleifen, sei das nicht möglich, so Berges: „Mit einfachen Schleifen, wie sie in etwa 95 Prozent der Fälle verbaut sind, kann man keine oder nur sehr eingeschränkt Klassen detektieren. Man erkennt nur, dass etwas da ist – aber nicht, ob es ein Bus, ein Pkw oder ein Fahrrad ist.“
Das Yunex-System setzt vor allem bei der Detektion und Klassifikation der Verkehrsteilnehmerinnen KI ein. Die KI ermittelt also, wer sich an der Kreuzung befindet. Wie die Signalanlage schaltet, folgt dann vorher festgelegten, systematischen Regeln. Einen vollständigeren Überblick über den Verkehr zu haben, ist ein großer Vorteil für Kommunen, findet Berges: „Das gibt mir ganz neue Möglichkeiten, eine Strategie hinsichtlich einer Priorisierung umzusetzen und sogar Konfliktfälle zu identifizieren.“ Kommunen können aus dem System auch Zähldaten gewinnen, die sich fürs Verkehrs-Management nutzen lassen. Die Lösung lässt sich niederschwellig integrieren und ist auch mit älteren Steuerungsgeräten kompatibel. In der Praxis bedeutet der gewonnene Spielraum zum Beispiel, dass man älteren Menschen je nach Bedarf mehr Zeit geben kann, um eine Straße zu überqueren, indem man die Grünphase verlängert. Möglich ist es außerdem, abbiegende Kfz-Fahrerinnen mit einem zuschaltbaren Warnblinklicht vor Radfahrer*innen zu warnen. Diese Warnfunktion lässt sich zudem mit sogenannten Onboard-Units kombinieren, die in vielen Städten im öffentlichen Personennahverkehr eingesetzt werden, um diesen an Kreuzungen zu priorisieren. Eine Roadside-Unit an der Kreuzung sendet dann eine Warnung an die Geräte in den Bussen, was die Gefahr, beim Rechtsabbiegen Radfahrende zu übersehen, minimieren soll.

KI-Assistent hilft bei Förderung

Die Beispiele von Yunex Traffic zeigen, dass KI bereits jetzt den Radverkehr positiv beeinflussen und Kommunen mehr Handlungsspielraum geben kann. Auf anderem Wege tut das auch der KI-Assistent Konrad, den die Arbeitsgemeinschaft fahrrad- und fußgängerfreundliche Kommunen in Mecklenburg-Vorpommern e. V. vor wenigen Monaten der Öffentlichkeit präsentierte. Konrad soll es vor allem ländlichen Gemeinden ermöglichen, eigenständige Radverkehrskonzepte zu erarbeiten. Dafür nutzt die KI einen Werkzeugkasten als Schritt-für-Schritt-Anleitung. Der Zugang erfolgt über die Plattform ChatGPT. Tim Birkholz, Geschäftsführer der AGFK MV, erklärt: „Viele Gemeinden wollen den Radverkehr voranbringen, verfügen aber nicht über die nötige Fachexpertise. Der Werkzeugkasten vermittelt ihnen das erforderliche Wissen – und mit Konrad wird die Erarbeitung noch einfacher. So entsteht die Basis für förderfähige Konzepte und konkrete Maßnahmen.“ Der Assistent soll dabei unterstützen, Kommunen zu entlasten und Prozesse zu vereinfachen. Die KI hilft Menschen auch ohne fachspezifische Vorkenntnisse dabei, Inhalte zu erarbeiten und Anträge zu formulieren. „Das weiße Blatt Papier gehört damit der Vergangenheit an“, schreibt die AGFK MV auf ihrer Website.


Bilder: Yunex Traffic, Salzburg Research, Xenomatix, Immanuel König