Mäßig, zweckmäßig oder identitätsstiftend? Vielfältiger Nachholbedarf beim Brückenbau
Mit den Brücken in Deutschland liegt vieles im Argen: zu wenige Neubauten, baufällig, einsturzgefährdet, nicht auf der Höhe der Anforderungen unserer Zeit. Die Liste an Mängeln und Nachholbedarf für Autos, Züge und ÖPNV sowie insbesondere für Zufußgehende und Radfahrende scheint in den letzten Jahren nicht sukzessive abgearbeitet, sondern im Gegenteil immer länger geworden zu sein. Vernachlässigt scheint auch die kulturelle und soziale Komponente.
(erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2025, März 2025)

Vier neue Fahrradbrücken in Tübingen: die beheizte Oberfläche sorgt für Diskussionen.
Brücken sind weit mehr als nur Verkehrsbauwerke. Sie verkörpern kulturelle und geschichtliche Werte, fördern soziale Interaktionen und bereichern die Stadt- und Landschaftsarchitektur. In vielerlei Weise stehen sie auch symbolkräftig für ein Zeitalter oder die Kultur, die sich mit ihr verbindet. Die eigentlichen Fragen gehen damit nicht in die Richtung „wie viel Meter Brücke“ oder „wie viele Nutzer pro Tag“ für welchen Geldbetrag, sondern hin zum erweiterten Sinn und Zweck, der Ingenieurkunst, Ästhetik, kulturelle Identität und Geschichte verbindet.
Brücken stiften Identität
Die Liste berühmter Brückenbauwerke der letzten Jahrhunderte ist lang. Zu vielen Brücken fällt uns sofort die dazugehörige Stadt ein. Sie prägen die Städte nicht nur als beliebtes Fotomotiv, wir interessieren uns auch für ihre Symbolik. So steht etwa die berühmte Pont Neuf aus dem 17. Jahrhundert nicht nur für die Verbindung der Seine-Ufer, sondern auch den Fortschritt im Paris der Renaissance. Sie war die erste Brücke in Paris, die Bürgersteige für Fußgänger hatte und nicht mit Gebäuden überbaut wurde. Die Golden Gate Bridge, eine Ikone San Franciscos, symbolisiert wiederum den Pioniergeist und technische Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Ein ebenfalls viel beachtetes identitätsstiftendes Symbol – dieses Mal für den Radverkehr – ist die um ein Vielfaches kleinere Cykelslangen-(Fahrradschlangen-)Brücke in Kopenhagen, die 2014 gebaut wurde. Sie prägte den Aufbruch hin zu mehr Radverkehr in Kopenhagen wesentlich mit und diente anderen Städten als Vorbild. Ganz neu und wohl ebenfalls identitätsstiftend sind auch die innovativen Fahrradbrücken in Tübingen, die Teil eines umfassenden Mobilitätskonzepts sind, mit dem die Stadt nicht nur in Fachkreisen hohe Bekanntheit und Anerkennung genießt.
„16 Millionen Euro für 365 Meter. Boris Palmer eröffnet Deutschlands teuerste Radbrücke. Sie wird im Winter sogar beheizt.“
Schlagzeile Bild-Zeitung, Oktober 2024
Schwieriges Verhältnis zur Brückenkultur
In aktuellen Diskussionen lässt sich hierzulande der Eindruck gewinnen, dass die Brückenkultur mehr und mehr verloren geht. Gerade bei Ausbau- oder Neubauprojekten für Zufußgehende und Radfahrende kann man meinen, dass sie im Generalverdacht stehen, primär aus ideologischen Gründen geplant oder gebaut zu werden. „16 Millionen Euro für 365 Meter: Boris Palmer eröffnet Deutschlands teuerste Radbrücke. Sie wird im Winter sogar beheizt“, heißt es zum Beispiel reißerisch in der Bild-Zeitung zum 2024 eröffneten Brückenprojekt in Tübingen. Fast automatisch angeheftet scheint heute zudem das Prädikat „umstritten“. Dass die hier kritisierte Brücke als wichtiger Teil des verabschiedeten Tübinger Mobilitätsplans dient – geschenkt. Und dass die Bodenheizung nicht nur klimaneutral ist, sondern auch die Fahrbahn sicherer macht und zudem bauwerkschädigendes Streusalz im Winter verzichtbar wird, was die Standzeit auf geschätzte 100 Jahre verlängern kann – ebenfalls geschenkt. Vielfach scheint es, als ob die zugegeben knappen Ressourcen an Personal, Geld und Zeit zusammen mit Bedenken zu Denkmal- und Landschaftsschutz und Anderem Veränderungen für mehr Fuß- und Radverkehr behindern und damit gewollt oder ungewollt dazu beitragen, Bestehendes zu konservieren. Es wird zudem oft primär an Verbesserungen für den Autoverkehr gedacht – auch wenn das im Einzelfall verkehrstechnisch längst überholt ist.
Kulturell sind Brücken im metaphorischen Sinn Symbole menschlicher Sehnsucht und Willensstärke. Man bricht zu neuen Ufern auf und erschließt nicht nur neue Stadtviertel. Die neuen Fahrradbrücken in Tübingen haben nicht nur praktischen Nutzwert, sie signalisieren auch „Radverkehr ist uns etwas wert“ oder „Radfahrende sind uns etwas wert – und ihre Gesundheit“. Geschickt kommuniziert die Stadt gleichzeitig: Mehr Radfahrende bedeuten weniger Autos in der Stadt. Also weniger Staus und mehr Platz für alle, die mit dem Auto fahren.
Alte Pläne und Restauration vor Innovation
Viel diskutiert und allgemein bekannt ist der Investitionsstau der letzten Jahrzehnte zugunsten eines ausgeglichenen Haushalts. Der zeigt sich auch bei den Brücken. Allein die Autobahnen und Bundesstraßen führen in Deutschland über gut 40.000 Brücken. Seit dem Teil-einsturz der Dresdener Carolabrücke im September 2024 steht der schlechte Zustand der Brücken nach langer Zeit wieder im Fokus der Öffentlichkeit. Dabei gelten Tausende Bauwerke schon seit Langem als sanierungsbedürftig. Über 2300 Brücken und Teilbrücken allein auf den Fernstraßen fallen nach Bewertung der Straßenbaubehörden aktuell in die Zustandskategorien „nicht ausreichend“ und „ungenügend“. Brückenbauexperte Prof. Martin Mertens vom Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwesen der Hochschule Bochum schätzt, dass es mindestens 15 Jahre dauern könnte, um die anstehenden Sanierungen abzuschließen. Sorgen machen dabei vor allem Bauwerke, die vor den 1980er-Jahren erstellt und, aus heutiger Sicht, mit unzureichenden verkehrlichen Grundlasten berechnet wurden.
Voraussetzung für den Zeitplan sei, dass ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt würden und die Politik mitspiele. Dabei ginge es unter anderem um Baurecht, Ausschreibungsverfahren und das Planungsrecht. „Wenn ich beispielsweise eine Brücke neu bauen möchte und nur einen Radweg ergänzen will, bin ich schon außerhalb meines Baurechts und muss ganz von vorn anfangen. Das kann doch nicht sein. Nicht in dieser digitalen Welt“, so Prof. Mertens. Seine Einschätzung zeigt dabei anschaulich, warum eine Angleichung bestehender Pläne an die verkehrlichen Anforderungen mit Blick auf modernen und komfortablen Radverkehr eben alles andere als einfach umzusetzen ist. Tatsächlich werden aktuell bereits vor langer Zeit genehmigte Pläne aus den Schubladen geholt und umgesetzt, auch wenn sie schon jetzt nicht mehr den Bedürfnissen entsprechen. Betoniert wird damit der Zeitgeist von gestern und vorgestern für die nächsten Jahrzehnte. Echte Innovationen werden dagegen „aus Sachzwängen“ verhindert.

Der Wesersprung Mitte ist eine von drei Fahrrad- und Fußgängerbrücken, die in Bremen künftig über die Weser führen sollen.
Zeit der Visionen vorbei?
Angesichts des starken politischen und mitunter populistischen Gegenwinds sowie der schwierigen personellen und gesamtwirtschaftlichen Situation fällt es schwer, an bestehenden Masterplänen festzuhalten oder neue Visionen zu entwickeln. Berlin ist dafür aktuell ein Beispiel. Auf der anderen Seite stehen die Städte und Kommunen im Wettbewerb um Unternehmen und gut ausgebildete Fachkräfte, verbunden mit der Notwendigkeit die Funktionsfähigkeit und das Miteinander zu erhalten und zu verbessern, zum Beispiel durch neue, gut angebundene Wohnquartiere, ausreichende Grünanlagen und Bewegungsmöglichkeiten.
Wenn man genauer auf aktuelle Projekte bei der Brückenplanung und Umsetzung für Radfahrende und Zufußgehende schaut, dann fällt ein Missverhältnis zwischen Anspruch, Notwendigkeiten und der Wirklichkeit ins Auge. Konkrete Äußerungen erhält man selten und wenn, dann hinter vorgehaltener Hand. Allein in der Rheinmetropole Köln schätzen Sachkundige den Bedarf auf rund fünf neue oder erweiterte Brücken. Besprochen wurde während der letzten 10 bis 15 Jahre viel – unter anderem zwei Fahrradbrücken. Konkret geplant oder umgesetzt? Bislang nichts.
Ganz so negativ sind die Aussichten allerdings auch nicht: So hat das Land Nordrhein-Westfalen beispielsweise ein umfangreiches Brückenertüchtigungsprogramm aufgelegt, das auch den Rad- und Fußverkehr berücksichtigt. Auch in Rheinland-Pfalz und Hessen beschäftigt man sich mit Projekten zur Ertüchtigung von Autobahnbrücken, mit innovativen Methoden wie Carbon-Beton, was auch dem Rad- und Fußverkehr zugutekommen soll. Die Stadt Bremen plant mehrere neue Brücken, die sogenannten Wesersprünge, speziell für Fußgänger und Radfahrer als Teil eines größeren Plans zur Förderung der Nahmobilität. In Rostock wird die neue Warnowbrücke gebaut, die speziell für den Rad- und Fußverkehr konzipiert ist. In Bonn soll eine Rheinbrücke als Verbindung für Zufußgehende und Radfahrende geschaffen werden. Weitere Projekte sind die oben angesprochene „Radbrücke West“ in Tübingen, die kürzlich eröffnet wurde, der Franklin-Steg in Mannheim, der als Teil eines nachhaltigen städtebaulichen Projekts die barrierefreie Überquerung der B38 bietet, die im Oktober 2024 eingeweihte Lange Brücke in Uelzen oder der 2021 eröffnete Golda-Meir-Steg in Berlin, der die Stadtteile Moabit und Mitte verbindet. Bei unseren Nachbarn aus den Niederlanden stößt das Ausbautempo auf Unverständnis. Hier wird, auch dank standardisierter modularer Bauweise, sehr erfolgreich gänzlich anders für Radfahrende geplant und gebaut.
Fahrradfreundlich = zukunftsfähig
Eine gute Anbindung stärkt die Attraktivität und Vitalität von Stadtvierteln, während Hindernisse oder Isolation negative soziale und wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen können. Insgesamt betrachtet gibt es dementsprechend wohl etliche Gründe, deutlich mehr Radrouten und Brücken für Radfahrende und Zufußgehende zu bauen oder bestehende Brücken auszubauen oder aufzuwerten – auch angesichts knapper Kassen und gegen oftmals populistische Widerstände. „Radverkehr bleibt der schnellste, günstigste und wirksamste Hebel für nachhaltige kommunale Verkehrspolitik“, betont Heinrich Strößenreuther, NGO-Gründer (u. a. Volksentscheid Fahrrad, Changing Cities e.V.), Buchautor und Keynote-Speaker. Der Radverkehr wachse schneller, als es die vorhandene In-frastruktur erlaube.
Visionen, Ideen und Masterpläne regelmäßig zu überprüfen ist sicher nicht falsch. Andererseits dürfen langfristige Entwicklungen, Ziele und gewünschte Veränderungen nicht aus den Augen verloren werden. Auch das ist eine Aufgabe von Politik und Verwaltung. Brücken für die Zukunft zu schaffen, ist dabei im eigentlichen und übertragenen Sinn ein Pflichtprogramm und eben keine Aufgabe, die nach Parteibuch, Mehrheiten oder der Kassenlage entschieden werden sollte.
Bilder: Universitätsstadt Tübingen, stock.adobe.com – ON-Photography, Freie Hansestadt Bremen