,

Mobilitätskultur verstehen und gestalten: Wie lässt sich der Kulturkampf beenden?

Die Diskussion um Mobilität, Verkehrswende und nachhaltige Verkehrspolitik ist intensiver und kontroverser denn je. Oft fällt der Begriff „Kulturkampf“ – zwischen Autofahrerinnen und Radfahrerinnen, Stadt und Land und Menschen, die radikale Veränderung befürworten oder den Status quo verteidigen. Doch ist es wirklich ein Kulturkampf? Oder fehlt schlicht ein tiefes Verständnis für Mobilitätskulturen, deren Dynamiken, Einflussfaktoren und kluges Eingreifen? Welche Konflikte sind notwendig, welche Flanken gilt es zu vermeiden, und welche Kämpfe sind gewinnbar? Um Mobilität erfolgreich zu gestalten und Konflikte abzubauen, müssen wir die Ursachen gescheiterter Reformen, die Essenz der Mobilitätskultur und die Erfolgsfaktoren für Wandel verstehen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Der Autoverkehr schrumpft – ein Prozess, der vor Corona begann und durch Homeoffice-Verlagerung beschleunigt wurde. Besonders montags und freitags bleiben viele Arbeitnehmer*innen zu Hause. Bundesweit sind die Kfz-Bewegungen in den letzten fünf Jahren um 10 bis 20 Prozent gesunken, in Großstädten seit einem Jahrzehnt jährlich um 0,5 Prozent. Verbesserungen im ÖPNV, Radwege und Sharing-Angebote zeigen Wirkung. In Berlin sinkt überraschend die Zahl der zugelassenen Fahrzeuge, obwohl der Gesamttrend durch Zersiedlung, Demografie, Zweitautos und steigende Einkommen weiter Richtung Überpopulation zunimmt. Ältere Jahrgänge und mehr berufstätige Frauen, die häufiger Auto fahren, belasten zusätzlich die Straßen. Staus an den Einfallstraßen werden zum wachsenden Problem.
Zum Reflektieren, zum Wiederholen, wann immer es geht, und zur Einleitung jeglicher Argumentation: Pkw-Verkehr schrumpft. Schrumpfender Platzbedarf ermöglicht jede Menge neue Gestaltungsmöglichkeiten für die gesamte Mobilität.

Gut gemeintes Scheitern

Verkehrsreformen und Mobilitätsprojekte scheitern oft nicht an fehlenden Ideen oder mangelnder Finanzierung, sondern an falsch designter Umsetzung, ihrem politischen Rückhalt und ihrer Kommunikation. Wie bereits im Buch „Die Verkehrswesen – miteinander den Kulturkampf beenden“ (von den Autoren dieses Artikels) gezeigt, kann es hilfreich sein, zu reflektieren, in welchem Lager man steht und aus welchem man entsprechend argumentiert, plant und handelt. Die polarisierten Haltungen personifizieren in dem Buch Verkehrswendy und der böse Rolf, die stellvertretend für Verkehrs-wendeaktivistinnnen und archetypische Autofahrerinnen stehen. Die Figuren sind ein gutes Werkzeug, mit dem sich zielsicher erspüren lässt, ob man sich selbst gedanklich und kommunikativ im Wendy- oder Rolf-Lager bewegt. Das Scheitern liegt oft in zentralen Hindernissen wie der emotionalen Verankerung der Mobilität, der Mobilitätskultur, einer Fake-Partizipation, kommunikativen Schwächen, politischen Gesinnungen sowie in falsch designten Change-Strategien.

„Verkehrswendy und der böse Rolf” sollen als gegensätzliche Archetypen helfen, die Debatte zu verstehen.

Inklusiv das aktuelle Mobilitätsgefühl erreichen

Mobilität ist mehr als Fortbewegung – sie ist eng mit Lebensstilen, Identitäten und Freiheitsgefühlen verknüpft. Das Auto steht für Unabhängigkeit, Status und Komfort, das Fahrrad für Nachhaltigkeit, Gesundheit und Gemeinschaft. Maßnahmen, die diese Aspekte negativ beeinflussen, greifen tief in persönliche Überzeugungen ein, ähnlich einem emotionalen Eisberg mit verborgenen Gefühlen. So führte ein „Mimimi“-Autowahlkampf der CDU in Berlin zum Erfolg, obwohl klare Argumente ihn hätten schnell neutralisieren können, etwa: „Liebe Autofahrer*innen, der Ausbau der A100 lässt Euch jahrelang im Stau stehen; schnelle Bike+Ride-Angebote und Radschnellwege wären sofortige Entlastung.“
Verkehrliche Veränderungen werden jedoch schnell als Angriff auf Lebensstile wahrgenommen, vor allem wenn sie bestehende Privilegien infrage stellen. Wo zum Beispiel früher vor der Haustür geparkt werden konnte, sind nun 150 Meter Fußweg nötig. Veränderungen folgen oft dem Pareto-Prinzip – Verbesserungen für einige bedeuten Nachteile für andere.
Erfolgreiche Ansätze müssen das Mobilitätsgefühl relevanter Gruppen ansprechen und in ihrem Jargon für kleine Veränderungen werben. Politische Stoßrichtungen sind dabei klar verteilt: CDU, FDP und AfD auf der einen, Grüne, Linke, Volt und Teile der SPD auf der anderen Seite. Kommunikation birgt viele Stolperfallen – bürgerliche Klientel schaltet bei „Gender-Deutsch“ ab. Wer diese Fallstricke ignoriert, riskiert, dass gute Verkehrspolitik wegen Nebenschauplätzen scheitert. „Wendy und Rolf” geben da die richtigen Signale.

Kommunikative Schwächen und Fake-Partizipation

Viele Reformen scheitern, weil sie schlecht erklärt, unprofessionell kommuniziert oder Menschen falsch oder zu wenig einbezogen werden. Fühlen sich Bürgerinnen übergangen, reagieren sie oft ablehnend – selbst bei objektiv sinnvollen Maßnahmen. Beteiligung wirkt dagegen wie eine Farce, wenn alles bereits entschieden ist oder bestimmte Lösungen von vornherein ausgeschlossen werden. Besonders deutlich wird dies in den Renderings der „Stadt von morgen“, wo Autos kaum auftauchen. Ein Partizipations-Overkill signalisiert häufig Entscheidungsschwäche und mobilisiert Gegnerinnen, während klare Entscheidungen, beherzte Kommunikation und rasche Realisierung auf der Straße Konflikte klein halten könnten.
Auch das „Planungsdeutsch“ verkehrstechnokratischer Begriffe ist kaum hilfreich: Begriffe wie „Verlagerung“, „Umwidmung“ oder „Parkraumbewirtschaftung“ klingen negativ, erzeugen keine greifbaren Bilder („Was ist eigentlich diese Verkehrswende, von der einige immer sprechen?”) und schaffen zu wenig Rückhalt. Es braucht eher den klaren und verbindlichen Klartext, ohne um den heißen Brei zu reden. Menschen mit verschiedenen Bildungs- und Milieu-Hintergründen müssen das Gesagte verstehen und annehmen können, egal ob Sabine, die Aldi-Verkäuferin, Erwin, der Baggerführer, Margot, die Leitende Angestellte, oder Thomas, der Geschäftsführer.

Falsch designte Change-Strategien

Maßnahmen scheitern oft, weil ihre Umsetzung zu lange dauert und dadurch zu viel Angriffsfläche bietet. Sie scheitern auch, wenn sie schlecht durchdacht sind, unnötigen Widerstand provozieren oder zu plakativ und mit überschaubarer Wirkung umgesetzt werden. Oft hätten andere Stellen größere Wirkung erzielt, ohne politischen Schaden anzurichten. Ein Beispiel ist die Friedrichstraße: Sie autofrei zu machen, war unklug, da andere Berliner Straßen mit mehr Fußgängerverkehr und weniger Autos besser geeignet gewesen wären. Ebenso problematisch sind neue breite Radwege, die niemand nutzt, aber kräftig Stau produzieren und politische Wut erzeugen – wie die Abwahl von Rot-Grün in Berlin zeigt.
Es gilt, Maßnahmen entweder schnell und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle umzusetzen oder solche zu wählen, bei denen Konsens mit den vermeintlichen Gegnern möglich ist. Fahrradstraßen statt Radwege an Hauptstraßen wären eine Option, die auch ADAC und ADFC unterstützen könnten, wenn die Qualität stimmt. Kompromisse schließen heißt, dass alle ein wenig unzufrieden sind, aber man miteinander besser vorankommt, anstatt sich an wenigen Punkten lange zu verkämpfen, um kaum was zu erreichen. Nicht jeder „Krieg” oder „Kampf um die Flächen“ lohnt sich, manche enden als Pyrrhussieg.

Mobilitätskultur als Abbild der Maßnahmen der Vergangenheit

Mobilitätskultur ist das Zusammenspiel aus Gewohnheiten und dem heutigen Verkehrsgeschehen, Werten, Normen und Infrastrukturen, die bestimmen, wie sich Menschen fortbewegten und heute bewegen können.
Gewohnheiten und Routinen haben sich eingeschliffen, lassen sich aber mit neuen guten Angeboten oder mit gezielten Change-Kampagnen ändern. Der neue und gute Radweg an der Kantstraße in Berlin brachte einen Radverkehrszuwachs von 300 Prozent, ohne große Kampagne. PR-Kampagnen mit Fokus auf diejenigen mit Autobesitz führten zu 30 Prozent Fahrzeugabmeldungen.
Die gebaute Umgebung prägt und reflektiert und fördert die Mobilitätskultur. Breite Straßen und Parkplätze fördern Autoverkehr, während Radwege und Fußgängerzonen den Umweltverbund stärken.

Alle sauer aufeinander – die gemeinsame Sprache verstehen und nutzen.

„Wer Radwege sät, wird Radverkehr ernten”

In die Kulturfrage wollen wir deshalb gar nicht tiefer einsteigen, denn „die” Mobilitätskultur eines Landes ist ein Ergebnis vieler historischer Entscheidungen. Die Niederlande haben selbstverständlich eine andere Mobilitätskultur, weil 50 Jahre eine andere Politik als in Deutschland gemacht wurde (mehr dazu im Artikel ab Seite 54 in dieser Veloplan-Ausgabe). Aber auch Münster und München unterscheiden sich kolossal. Für die Mobilitätskultur ist es hilfreich, sich auf gutes Change- und Kommunikationsdesign zu konzentrieren und den Kulturkampf-Aspekt einfach rechts liegen und ausfallen zu lassen.

Erfolgsfaktoren für den kulturellen Wandel

Wer Mobilitätskultur erfolgreich gestalten und verändern will, muss gezielt an bestehenden Strukturen anknüpfen und gleichzeitig neue Perspektiven eröffnen. Reformen sollten nicht als Angriffe auf bestehende Mobilitätskulturen wahrgenommen werden. Stattdessen ist es wichtig, an vorhandene Strukturen und Gewohnheiten anzuknüpfen und die konkret machbaren Schritte der Veränderungen zu gehen. Dazu braucht es auch eingängige Narrative: Gute Autopolitik heißt, Bike+Ride und Radschnellwege auszubauen, denn das reduziert Staus und Parkplatzsorgen für alle Einpendelnden. Allein schon der Gedanke, jede radverkehrspolitische Maßnahme als „hilfreich für Rolf” anzupreisen, ist schon ein wichtiger Schlüssel für die Gestaltung einer Miteinander-Kultur und wachsende Akzeptanz. Kleine, sichtbare Erfolge sind oft der Schlüssel für größere Veränderungen. Pilotprojekte, wie temporäre Radwege oder autofreie Tage, ermöglichen es, neue Ideen zu testen und den Menschen zu zeigen, dass Wandel möglich ist, ohne dass er sofort bedrohlich wirkt. Die erfolgreichen Pilotprojekte in einer Haltung von agilem Management oder Rapid Prototyping zu skalieren – das verändert konfliktarm bestehende Mobilitätskulturen und Infrastrukturen.
Die Mobilitätskultur ändert sich durch die infrastrukturellen Angebote und deren Nutzung. Wer die Kulturkämpfe auslässt, kann sich mit den kulturellen Erfolgsfaktoren und den eigenen verkehrspolitischen Fähigkeiten auf reale Veränderungen konzentrieren, die dann Schritt für die Schritt die Mobilitätskultur verändern.

Vom Kulturkampf zum Miteinander-Konsens

Der „Kulturkampf“ in der Mobilitätsdebatte ist zu großen Teilen eine Inszenierung. Es gibt nicht nur Trennendes, sondern weit mehr Faktoren, die die Menschen verbinden: die gemeinsame Sehnsucht nach weniger Stress, Sicherheit, mehr Lebensqualität, attraktiven Innenstädten und nachhaltiger Mobilität, die zur “freien Wahl für freie Bürger” einlädt . Wenn wir die aktuellen Mobilitätskulturen verstehen und respektieren, können wir Konflikte abbauen, Konsensschritte identifizieren und miteinander gestalten – für Städte und Regionen, in denen Mobilität weniger trennt, sondern mehr verbindet.


Bilder: stock.adobe.com – EdNurg, Tremoniamedia