,

Neue Mobilität mit Vehicle-to-X

Die nahtlose Vernetzung von Fahrzeugen, Infrastruktur und vulnerablen Gruppen, wie Radfahrenden und zu Zufußgehenden wird von vielen Expert*innen als Gamechanger in der Mobilität gesehen. Mit exponentiell wachsenden Technologien gehen die Entwicklungen unter dem Begriff Vehicle-to-everything (V2X) mit großen Schritten voran. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


Die Zeit ist knapp, die Suche nach einem Parkplatz Stress pur und während man in Gedanken die Tür des Autos öffnet, sieht man neben sich gerade noch einen Schatten: ein Radfahrer – völlig übersehen! Gerade noch gut gegangen. Einige Zeit später, wieder im Auto: Die Sonne blendet extrem. Während man noch hektisch die Blende herunterklappt sieht man etwas schemenhaft vor dem Auto. Eine Frau mit Kinderwagen! Vollbremsung. Die Frau schimpft erschrocken, und ja, da war auch ein Zebrastreifen. Puuh …

Kritische Verkehrssituationen könnten künftig durch moderne Systeme entschärft werden.

Gefährliche Situationen und Unfälle lassen sich vermeiden

Der Mensch ist ebenso leistungsfähig wie durch eine Vielzahl von Faktoren fehleranfällig. Verkehrspsychologen weisen immer wieder darauf hin, wie groß der Einfluss von Wahrnehmungsfehlern, falschen Einschätzungen, zu viel Information, Ablenkung oder emotionalen Zuständen im Straßenverkehr ist. Deutlich verschärft werden die Probleme durch das steigende Verkehrsaufkommen und die damit gewachsenen Anforderungen und vor allem auch durch die stark wachsende Anzahl älterer Verkehrsteilnehmer*innen. Denn mit zunehmendem Alter lassen sowohl die korrekte Wahrnehmung von Entfernungen sowie der tatsächlichen Geschwindigkeit als auch die Reaktions- und Bewegungsfähigkeit deutlich nach. Hier können neue technologische Entwicklungen, wie künstliche Intelligenz (KI) in Verbindung mit Sensoren sowie Vehicle-to-X-Sendern und Empfängern, ganz neue Möglichkeiten zur Verbesserung der Sicherheit, aber auch der Effizienz und Nachhaltigkeit des Verkehrs bieten.
Mit Blick auf die oben genannten Beispiele, die wohl fast jeder und jede Verkehrsteilnehmende kennt, besteht die Hoffnung, dass es in einer nahtlos vernetzten Verkehrswelt, in der Fahrzeuge selbstständig miteinander kommunizieren oder in einem erweiterten Szenario auch mit den Smartphones von Radfahrenden und Zufußgehenden, gar nicht zu solchen gefährlichen Situationen kommen würde. Das Fahrzeug würde den Zebrastreifen ebenso „sehen“ wie die Frau, die ihn benutzt, und auch den Radfahrer, der schräg von hinten kommt, während man gerade die Tür öffnet. Zu Warnungen hinzu kämen auch selbstständige Aktionen, wie eine Gefahrenbremsung oder das kurzfristige Blockieren der Fahrzeugtür.

Einsatzmöglichkeiten von V2X

Kollisionsvermeidung (Fahrzeuge sowie vulnerable Gruppen)
Kollisionen u. a. durch Nicht-Wahrnehmen, z. B. Kreuzungs- und Abbiegeunfälle, Auffahren, Spurwechsel, Tür öffnen (Dooring)

Intelligente Ampeln und Kreuzungen
Anpassung von Ampelphasen basierend auf Echtzeitverkehrsdaten und Priorisierung von Rettungsfahrzeugen und ÖPNV.

Stauvermeidung und Verkehrsmanagement
Echtzeitinformationen über Verkehrsbedingungen

Notfallkommunikation
Schnellere und effizientere Notfallreaktionen

Platooning
Synchronisierte Fahrzeugkolonnen zur Kraftstoff- und Emissionsreduktion

Neue Augen – nur eine von vielen Anwendungen von V2X

Grundsätzlich können mit V2X-Technologien Menschen und Fahrzeuge, aber auch andere sendende Objekte, vergleichbar mit einem Radar, rechtzeitig erkannt werden. Dabei berechnet die KI zusätzlich in Echtzeit die eigene Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit und bewertet die zugelieferten Bewegungsdaten des anderen Objekts. Auf Kollisionskurs? Zeit zu handeln! Angesichts der hohen Zahlen an Unfalltoten und Verletzten sowie den vielen Beinahe-Unfälle ist die Vermeidung von Kollisionen mit Blick auf das Ziel Vision Zero, also möglichst keine Unfalltoten oder Schwerverletzten im Straßenverkehr, enorm wichtig. Dies gilt ebenso für die weiterhin dringend notwendige Mobilitätswende, für die sowohl die objektive als auch die subjektive Sicherheit entscheidend sind. Laut einer Studie des Deutschen Verkehrssicherheitsrates haben beispielsweise etwa 45 Prozent der befragten Radfahrenden in Deutschland angegeben, beinahe in einen Dooring-Unfall verwickelt worden zu sein.
Über den Bereich Verkehrssicherheit hinaus gibt es viele weitere Anwendungsmöglichkeiten, bei denen es in erster Linie um mehr Effizienz und weniger Belastungen geht. Von großem Interesse für Städte dürften auch die anonymisierten Daten sein, die hier potenziell mitgenommen und in Realtime in die Computer und Lenkungssysteme eingespeist und mit weiteren Systemen verknüpft werden könnten.

Herausforderungen und Nutzen von V2X

Die bisherigen Entwicklungen, Erfahrungen und Einsatzmöglichkeiten deuten darauf hin, dass V2X künftig eine zentrale Rolle in der Unfallprävention und im Verkehrsmanagement spielen wird. Aber es gibt auch Herausforderungen zu bewältigen:

Interoperabilität:
Es muss sichergestellt werden, dass verschiedene V2X-Systeme nahtlos miteinander kommunizieren können.

Datenschutz:
Da große Mengen sensibler Daten gewonnen und übermittelt werden, ist der Schutz vor Missbrauch und unbefugtem Zugriff von höchster Bedeutung.

Akzeptanz:
Die breite Akzeptanz und Nutzung von V2X-Technologien hängt von der Bereitschaft der Hersteller, Entscheider und Nutzer ab, entsprechende Technologien und Geräte zu installieren und zu verwenden.

Erprobte Technologie und rasante Fortschritte

Was noch für viele Unternehmen, Entscheidernnen und Anwenderin-nen wie Zukunftsmusik klingt, wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten von Regierungsbehörden und privaten Organisationen vor allem in Nordamerika mit dem DSRC-Standard, der ohne Mobilfunktechnik funktioniert, in verschiedenen Szenarien ausführlich getestet. Diese V2X-Technologie sei ausgereift und die Kommunikationsstandards seien klar, so das allgemeine Credo. Die volle Wirkung entfalten kann V2X allerdings wohl erst mit dem technologischen Nachfolger Cellular V2X (C-V2X). Der zellulare, also um Mobilfunktechnik erweiterte Standard ermöglicht grundsätzlich die direkte Kommunikation mit jedem Smartphone selbst über größere Entfernungen. „Schon in wenigen Jahren werden die Fahrzeuge in ständigem Kontakt miteinander und ihrer Umgebung stehen und dann in der Lage sein, Informationen mit den Smartphones von Fußgängern oder mit einer Ampelanlage auszutauschen“, heißt es dazu beispielsweise von Porsche. Die Vehicle-to-X-Kommunikation macht rasante Fortschritte und die Namen der an der Entwicklung beteiligten Unternehmen lesen sich wie ein Who‘s who der Chip-, Telekom- und Automobilindustrie. Zusammen mit den sich exponentiell entwickelnden Basistechnologien und Bandbreiten in der Übertragung könnte V2X tatsächlich bereits in Kürze schrittweise ausgerollt werden.
Bei Audi schätzt man, dass sich allein in den USA mithilfe von C-V2X bis zum Jahr 2025 rund 5,3 Millionen Fahrzeuge, Verkehrsbaustellen, Bahnübergänge, Fahrräder und andere Einrichtungen und Fahrzeuge beziehungsweise Geräte vernetzen lassen. Bis zum Jahr 2030 könnte diese Zahl auf 61 Millionen anwachsen, darunter 20.000 Fußgängerüberwege, 60.000 Schulzonen, 216.000 Schulbusse und 45 Millionen Smartphones. „Die Roadmap zur Rettung von Menschenleben ist klar, und dass sich Audi zum Einsatz von C-V2X-Konnektivität verpflichtet, ist eine Investition in die Zukunft unseres Verkehrs-Ökosystems”, sagt Brad Stertz, Director of Audi Government Affairs.

„Damit V2X beziehungsweise Bicycle-to-X wirksam werden kann, bedarf es des Beitrags sämtlicher relevanter Akteure – nur das Bündeln aller Kompetenzen führt zum Ziel. Daher wollen wir eine breite Basis in Industrie, Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit schaffen, um gemeinsam das Thema voranzutreiben.“

Claus Fleischer, Geschäftsleiter Bosch eBike Systems

Die Kommunikation der verschiedenen Verkehrsteilnehmenden ist sehr komplex. V2X-Systeme sollen in nicht so ferner Zukunft dabei unterstützen.

Fahrradwirtschaft bringt sich aktiv bei V2X ein

Im Herbst letzten Jahres sorgte eine Pressemitteilung für Aufsehen, die die Gründung einer „Coalition for Cyclist Safety“ in Nordamerika thematisierte. 19 führende Unternehmen aus der Automobil-, Fahrrad- und Technologiebranche hatten sich in einer Initiative zusammengeschlossen, um die Sicherheit von Fahrradfahrerin-nen durch die Entwicklung und den Ausbau eines umfassenden V2X-Ökosystems auf C-V2X-Basis zu verbessern und die Zahl der jährlich mehr als 130.000 Verletzungsfälle bei Radfahrenden auf den Straßen der USA zu verringern. Hintergrund ist, dass das US-Verkehrsministerium seit 2022 dabei ist, Strategien zu entwickeln, um ein vernetztes V2X-Ökosystem zum Verbessern der Verkehrssicherheit Wirklichkeit werden zu lassen. Zu den Gründungsmitgliedern gehören aus der Fahrradindustrie die Accell-Gruppe, AT-Zweirad, BMC, Bosch eBike Systems, Koninklijke Gazelle, Shimano sowie Trek Bicycle Corp. Als neues Mitglied dazugekommen ist inzwischen auch Stromer. Auch wenn es bei der Koalition erst einmal „nur“ um die USA geht – die Entwicklung der Technologien und Standards reicht weit über Nordamerika hinaus und bedeutet einen Kick-off für die Player und Stakeholder in Europa. „Wenn wir uns den wachsenden Bereich der Machine-to-Machine- oder Vehicle-to-X-Kommunikation, also den automatisierten Informationsaustausch zwischen Endgeräten sowie Fahrzeugen anschauen, sehen wir sofort den Bedarf, weltweit gültige Standards zu entwickeln, von denen dann alle profitieren, zum Beispiel in der Verkehrssicherheit“, betont Tim Salatzki, Leiter Technik und Normung beim deutschen Verband ZIV – Die Fahrradindustrie. Ganz vorn beim Thema V2X dabei ist auch die Bosch-Gruppe, die als technologischer Schrittmacher fungiert. Viele Hersteller aus der Fahrradbranche, auch die kleineren, haben die Bedeutung der Technologie inzwischen erkannt: „V2X-Technologie ist essenziell für E-Bikes und Fahrräder, besonders um die Sicherheit der Radfahrerinnen zu erhöhen“, heißt es zum Beispiel von AT Zweirad mit der Marke Velo de Ville. „Die Technologie kann in neue E-Bikes direkt integriert oder bei älteren Modellen nachgerüstet werden, um die Kommunikation mit Fahrzeugen zu ermöglichen.“ Franz Raindl, Head of R&D bei Stromer, betont, dass es bei den Produkten des E-Bike- und S-Pedelec-Spezialisten aus der Schweiz stets darum ginge, diese noch sicherer zu machen. Ein Risikofaktor blieben allerdings die anderen Verkehrsteilnehmer. „Es ist daher wichtig, dass Fahrräder vor allem im städtischen Verkehr besser sichtbar und erkennbar sind.“ Die Kommunikation zwischen Fahrrädern, E-Bikes und anderen Fahrzeugen werde immer wichtiger und berge ein großes Potenzial, die Sicherheit durch Früherkennung zu erhöhen. „Wir arbeiten bereits an der V2X-Technologie für unsere Bikes, eine konkrete Aussage zum Timing der Markteinführung ist zum jetzigen Zeitpunkt aber noch nicht möglich.“
„Die technologischen Entwicklungen im Bereich der V2X-Kommunikation sind vielversprechend“, betont auch Claus Fleischer, Geschäftsleiter von Bosch eBike Systems. „Wir sind überzeugt, durch gemeinsame Anstrengungen das Fahrrad und E-Bike als integralen Bestandteil des V2X-Ökosystems etablieren zu können. Schließlich geht es nicht nur um Technologie. Es geht um sichere, effiziente und nachhaltige Mobilitätslösungen, die das Leben der Menschen verbessern. Es geht um die Gestaltung von Städten, in denen Menschen gerne leben und sich bewegen. Und es geht darum, einen Beitrag zur Bewältigung der globalen Herausforderungen unserer Zeit zu leisten.“
Das Bewusstsein und das Engagement für die Weiterentwicklung und breite Einführung von V2X ist also da, auch wenn man den Eindruck gewinnen kann, dass die Kommunikation dazu in Deutschland und Europa noch Luft nach oben hat. Vorbildcharakter könnte die „Coalition for Cyclist Safety“ sein, die sich auf die Vereinigten Staaten und Kanada konzentriert. Davon ausgehend werde sie „nach Wegen suchen, um gemeinsame Industrieansätze auch nach Europa und in andere Regionen der Welt zu bringen“. Damit Europa nicht ins Hintertreffen gerät, ist demnach wohl eine breite europäische Initiative gefragt.


Illustrationen: Volkswagen AG, bosch-ebike-coalition-for-cyclist-safety, Ettifos