Porträt – Ehrenamtlicher Radverkehrsbeauftragter: Siebter Sinn für den Radverkehr
Das Ehrenamt ist eine Möglichkeit, sich mit Aufgaben jenseits des Berufsalltags gesellschaftlich einzubringen oder Sinnlücken zu füllen, die die berufliche Beschäftigung offenlässt. Auch im Verkehrsbereich. Roland Rücker arbeitet seit fünf jahren als Radverkehrsbeauftragter in einer hessischen Kleinstadt. Mit Begeisterung.
(erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2025, März 2025)

Roland Rücker fährt selbst leidenschaftlich und andauernd Fahrrad. Das kommt ihm als ehrenamtlicher Radverkehrsbeauftragter zugute.
Zum Interview-Termin in Düsseldorf kommt der Radverkehrsbeauftragte Roland Rücker direkt von der Fahrradkommunalkonferenz in Hannover. Per Bahn und die letzten Kilometer mit seinem schwer bepackten Trekkingrad. In Hannover vertrat er seine Heimatstadt Kelsterbach. Ehrenamtlich. Aber mit viel Elan, wie man sich nach wenigen Minuten, in denen man ihm zuhört, vorstellen kann. Sein Berufsbild füllt er bestens aus: Der drahtige Mann fährt Fahrrad und kommuniziert darüber.
Verkehrsmittel fürs Leben
Die Kombi „Kommunikation und Verkehr“ hatte er früher schon im Blut. Im „ersten Leben“ war der jetzt 59-jährige Rücker Vorfeldlotse auf dem Frankfurter Flughafen. Heißt: Er koordinierte und steuerte die Wege der Flugzeuge auf dem Boden, vor dem Start und nach der Landung. Nun ist er im Vorruhestand. Das Fahrrad war auch schon immer präsent: Für den Arbeitsweg zum Flughafen ebenso wie in der Freizeit. Rennrad, Mountainbike, Reiserad – alle Register des Zweirads zog er im Laufe der Zeit. Eines der Highlights: eine Radreise nach Island und rund um Island herum.
Das Fahrrad als Verkehrsmittel kam aber immer mehr in seinen Fokus. Am Flughafen engagierte er sich dafür, dass die kurzen Strecken von den verschiedenen Einsatzorten innerhalb des Areals von den Mitarbeitern nicht mehr mit dem Auto, sondern mit flughafeneigenen Leihrädern zurückgelegt werden konnten. Außerdem sorgte er für sichere Abstellanlagen für die Mitarbeiter*innen, die mit dem Rad zur Arbeit kamen – so wie er.
Der Weg zum Radwegversteher
Eine Stellenausschreibung im örtlichen Wochen-Anzeigenblatt, das auch amtliche Bekanntmachungen der Stadt dokumentiert, gab den Startschuss: Die Stadt suchte einen Fahrradbeauftragten im Ehrenamt. Eine Bewerbung beim radverkehraffinen Bürgermeister Manfred Ockel und einige Gespräche später hatte Rücker seine Berufung zum Beruf gemacht.
Dabei war die Beschäftigung mit Radverkehr und Radverkehrsanlagen für ihn kein Neuland. Schon früher hatte er massives Interesse daran zu verstehen, wie Rad mobilität in der Stadt gelenkt wird, wie sie sich weiterentwickeln kann, wie man damit zu einer besseren gesellschaftlichen Mobilität beitragen könnte. Er belegte Bildungsurlaube, unter anderem „Fahrradstadt Berlin“ der Weiterbildungseinrichtung Forum Unna. „Eine Woche in Berlin mit Stadtführer, der dir die Radverkehrsstruktur in Berlin erklärt. Ich hab unglaublich viel da gelernt“, erzählt er strahlend. Aber nicht nur Kurse und die täglichen praktischen Erfahrungen prägen sein Wissen über die Möglichkeiten und Visionen des Radverkehrs. Er bildet sich medial weiter. Das wichtigste Buch zur Radfahrmobilität für ihn – und für viele Radverkehrsplaner: Thiemo Grafs „Handbuch Radverkehr in der Kommune“, aus dem er gern zitiert. Aber auch Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft Nahmobilität Hessen (AGNH) sind im Repertoire, genauso wie die Veröffentlichungen des DIFU, Deutsches Institut für Urbanistik, gehörten und gehören für ihn zur Standardlektüre.

Ganz wichtige Aufgabe: auf Patrouille Stellen finden, die den Radverkehr behindern oder gefährlich machen. Dann greift Roland Rücker selbst zum Werkzeug oder informiert die Kelsterbacher Kommunalbetriebe.
Abwechslungsreicher geht nicht: Auch mit der Theorie macht sich Rücker seit Langem vertraut – und liest alles zum Thema mit Leidenschaft. Auf Kongressen und Messen vertritt er Kelsterbach (unten).
Berufsalltag: Kein Bashing!
Was macht man genau in diesem Job? „Ich fahre Fahrrad, in Kelsterbach“, so Rücker lakonisch. Das macht er seit sechs Jahren nun als offizieller Mitarbeiter der Stadt, hat dazu auch eine Ausweiskarte der Stadt und die „Lizenz, Menschen anzusprechen“ und sich ihre Probleme im Verkehr anzuhören. Sich Gedanken zu diesen Herausforderungen zu machen und diese an die Stadt zu kommunizieren. Genau darauf zielt die Stelle ab, die sein Vorgesetzter, Bürgermeister Ockel, die „Scharnierfunktion zwischen Stadt und Bürger“ nennt. Rücker ermöglicht den Zugang der (radelnden) Bürgerinnen zu den Entscheiderinnen in der Stadt.
Und zu erleben gibt‘s jeden Tag einiges: Da fällt ihm auf, dass eine bestimmte Wegführung für Linksabbieger gefährlich ist, dort macht ihn eine Radfahrerin darauf aufmerksam, dass der Radweg eigentlich anders laufen müsste. Auch auf seinem Diensthandy rufen oft Menschen an, die gerade unterwegs sind und ein Problem mit einem Radweg oder einer Verkehrssituation melden wollen – wenn etwa eine Baustelle ohne Umleitung den Weg blockiert. Je nach Problemlage geht die Meldung weiter an die Stadt, das Bauamt oder andere zuständige Behörden. Kommunikation ist extrem wichtig, in beide Richtungen. Was sie nach Meinung Rückers nicht sein soll, auch wenn er gelegentlich darauf aufmerksam macht, wie man sicherer per Rad durch die Stadt kommt: Zurechtweisung. „Kein Bashing! Mit freundlichem Umgang und Expertise kommt man weiter“, ist er überzeugt.
Vielen ein Partner
Die vertrauensvolle Zusammenarbeit ist das Wichtigste dabei. Mit dem engagierten Bürgermeister ohnehin, aber wichtig sind auch die Straßenverkehrsbehörde, das Bauamt, das Bürgerbüro und gelegentlich sogar das Amt für Öffentlichkeitsarbeit. Die Kelsterbacher Kommunalbetriebe, zuständig für die Instandhaltung der Radwege, sind ebenfalls wichtige Ansprechpartner: Ist eine Radweganlage oder eine Abstellanlage beschädigt oder stark verschmutzt, meldet Rücker es dort. Auch die Mobilitätsbeauftragte der Stadt ist eine wichtige Gesprächspartnerin. Überall hat er Ansprechpersonen, und teils ist er eingebunden in entsprechende Abläufe. So hat er beispielsweise zwei Jahre intensiv an einem neuen Radverkehrskonzept der Stadt mitgearbeitet.
Rechtlich zu belangen ist der ehrenamtliche Radverkehrsbeauftragte übrigens nicht – eine von ihm vorgeschlagene bauliche Änderung ist also nicht in seiner Verantwortung, sondern in jener der Stadt. Sie fällt ja auch die Entscheidung für jede Veränderung.
Jenseits der Kommune gibt es noch viele Partner und Institutionen, mit denen er in Sachen Verkehr und In-frastruktur zusammenarbeitet und regen Austausch hat: Allen voran ist die Zusammenarbeit mit dem ADFC und dem VCD für Rücker unerlässlich. Da zieht man oft am gleichen Strang, und die Öffentlichwirksamkeit eines großen Vereins ist nicht zu überschätzen. Intensiven Kontakt gibt es auch zur Radbeauftragten des Kreises und zu Institutionen wie Hessen Mobil, der maßgeblichen Behörde für Planung und das Straßen- und Verkehrsmanagement in Hessen.
Die Kommunikationslust des Radverkehrsbeauftragten geht aber noch weiter: Rücker möchte die Menschen an die Regeln erinnern, die unseren täglichen Verkehr bestimmen sollten. Eine Fernsehsendung wie „Der Siebte Sinn“ in den Siebzigerjahren wäre sein Traum, wenn auch ohne den erhobenen Zeigefinger, eben eher so wie ein unterhaltsamer Wetterbericht. Viele hielten sich nicht mehr an die Verkehrsregeln – zum Teil weil sie diese nicht mehr kennen oder neu hinzugekommene Regeln nicht gelernt haben, ist der Radbeauftragte sicher. Da könnte man doch medial Abhilfe schaffen …
Komplexe Themen und ein langer Atem
Radverkehrsbeauftragter wird man sicher nur mit dem Vertrauen auf das Rad als eines der wesentlichen Verkehrsmittel der neuen Mobilität. Aber es braucht sicher noch etwas mehr: „Kommunikationsstärke ist absolutes Muss“, erklärt Rücker. Keine Angst vor komplexen Zusammenhängen zu haben, wäre auch wichtig. Außerdem sollte man sich gern in umfangreiche Lektüre der Fachliteratur einarbeiten. Fortbildungen sind selbstverständlich.
Und langen Atem und damit eine hohe Frustrationsschwelle brauche es ebenso. „Auch wenn Erfolge manchmal dann doch schneller kommen, als man denkt“, erinnert er sich, und erzählt die Geschichte von einem Kelsterbacher Wohnviertel und dem Weg von dort zum Supermarkt, der über einen neu gebauten Kreisel führte. „Mir war klar, dass viele Menschen den neuen Kreisel per Fahrrad zu gefährlich finden und sich daher lieber doch wieder ins Auto setzen, um zum wenige Hundert Meter entfernten Supermarkt zu kommen.“ Vor allem aber die Kinder radelten damit gefährlicher als vorher, wo die Ampel für Wartezeiten, aber auch sichere Überquerung sorgte.
Rücker konnte der Stadtverwaltung das Problem gut deutlich machen. Und die wurde tätig. Innerhalb einiger Wochen wurde eine Radwegfurt angelgt, die den Weg für die Radler*innen sicherer machte, und zwar mit Vorrang für sie.
Ein Kreisverkehr in Kelsterbach. Hier konnte durch eine Anregung von Rücker eine Radweg-Furt angelegt werden, die den Radfahrer*innen Vorrang gewährt. Eine große Verbesserung der Sicherheit.
Ein Job mit Spaß- wie Frustrationspotenzial
Man müsse sich immer klar sein, meint Rücker: „Wenn es nicht klappt, etwa mit einer kurzfristigen baulichen Veränderung, kann es viele Gründe haben. Das geht beim mangelnden Budget los.” Er hat Verständnis dafür, dass manche Dinge in der Stadt noch wichtiger sind als die Optimierung von Radverkehrsanlagen, wenn das Geld knapp ist. Auch begrenzte Kapazitäten im Rathaus oder bei den ausführenden Unternehmen können bremsen. Die andere Seite – und hier herrscht wohl das höhere Frustrationspotenzial – sind Bürger und Bürgerinnen, die das Auto priorisieren. „Der Radverkehr soll nicht zulasten von Parkplätzen gehen”, so laut Rücker deren Hauptargumentation. „Das ist ein heißes Eisen, und in solche Diskussionen gehe ich nur bis zu einem gewissen Punkt”, erklärt er direkt. Da müsse man ruhig bleiben, und im Hinterkopf haben, dass man ein Vertreter der Behörden sei.
„Meine Motivation war anfangs zu 100 Prozent von der Aufgabe selbst geprägt. Mittlerweile machen 50 Prozent davon die Menschen aus, mit denen ich zu tun habe.“
Roland Rücker, Radverkehrsbeauftragter
Ehrenamt als Lebenselixier
„Mein Ehrenamt ist extrem befriedigend!”, schwärmt der Radverkehrsbeauftragte. Man zweifelt keine Sekunde daran, so enthusiastisch erzählt der umtriebige Mann von seiner Arbeit, aber auch den Erfolgen in Kelsterbach und den spannenden Erfahrungen auf den vielen Terminen wie dem Nationalen Radverkehrskongress und Netzwerktreffen, ADFC-Sitzungen und, und, und.
Nicht nur viel lernen, sondern auch viele fantastische Menschen kennenlernen kann er mit dieser Aufgabe. „Meine Motivation war anfangs zu 100 Prozent von der Aufgabe selbst geprägt. Mittlerweile machen 50 Prozent davon die Menschen aus, mit denen ich zu tun habe”, so Rücker. Nach einem erfüllten Arbeitsleben ist das Ehrenamt für ihn „eine Chance, voll im Leben zu bleiben. Die Menschen geben dir das Gefühl, wirklich gebraucht zu werden.“
Die Aufgabe ist tatsächlich absolut ehrenamtlich: Rücker bekommt ein Handy gestellt und einen Ausweis, der seine Mitarbeit in der Stadtverwaltung Kelsterbach dokumentiert. Er vergünstigt, wie in anderen Städten üblich, den Eintritt in verschiedenen öffentlichen Einrichtungen der Stadt wie dem Hallenbad. Auch Auslagen für seine beruflichen Reisen oder Bücher und Medien zum Thema bekommt er ersetzt. Honorar oder Gehalt erhält er nicht.
Für den Vorruheständler, der völlig in seiner Mission aufgeht, sicher kein Manko. Der Erfolg und die Beschäftigung mit einer Sache, die ihn ausfüllt, sind Honorar genug.

Ehrenamt: vielschichtige Lebensbereicherung
Sich einbringen, der Gesellschaft etwas zurückgeben oder einfach mehr das Gefühl haben, etwas Sinnvolles für alle zu tun:
Ehrenamt kann man in Deutschland in den unterschiedlichsten Bereichen und mit jedem Alter ausüben, von der Hausaufgabenbetreuung bis zur Freiwilligen Feuerwehr. Grundlegende Infos dazu gibt es auf der Seite des DSEE: www.deutsche-stiftung-engagement-und-ehrenamt.de. Meist werden Ehrenämter von eingetragenen Vereinen vergeben, aber gelegentlich arbeitet man auch im Auftrag einer Kommune. Die Möglichkeiten sind ungemein breit angelegt – auch zeitlich. Viele Ehrenämter sind auch für Menschen geeignet, die neben dem Beruf nur wenig Zeit aufbringen können. Bei Interesse kann man direkt mit dem Verein oder der Institution Kontakt aufnehmen.
Bilder: Roland Rücker