Radverkehr im hohen Norden: Kette rechts in Kiel
Bei Kiel denkt man an Küste, Fischbrötchen, Wind und Regen. Ans Fahrradfahren? Wahrscheinlich nicht sofort. Dabei tut die Stadt einiges, um die Fahrradinfrastruktur zu verbessern. Ein Blick auf den aktuellen Stand.
(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)
Gibt man bei Google „Fahrradstadt Kiel“ ein, scheint in Deutschlands nördlichster Hauptstadt einiges gut zu laufen. Es finden sich einige lobende Beiträge, dazu Statistiken vom steigenden Anteil des Fahrrads am Mobilitätsmix und Infos zur wachsenden Fahrradinfrastruktur. „Radverkehrsförderung ist politisch gewollt, einerseits aus Klimaschutzgründen und andererseits aus Gründen der Aufenthaltsqualität. Durch mehr Radverkehr wird die Stadt attraktiver, lebenswerter, ruhiger und gesünder“, begründet Marla Wolframm von der Abteilung Mobilität und Strategie im Kieler Tiefbauamt das Engagement der Stadt für das Zweirad. Oberbürgermeister Ulf Kämpfer kündigte in einem Magazininterview 2023 sogar an, zu Radverkehrs-Leuchtturm-Städten wie Kopenhagen oder Utrecht aufschließen zu wollen.
Ein Blick auf den Status quo erscheint vielversprechend: Bereits 2018 war der Anteil des Radverkehrs auf 22 Prozent gestiegen, im Vergleich zu 17 Prozent in 2002. Derzeit werden neue Daten erhoben, doch Marla Wolframm geht davon aus, dass „die Corona-Pandemie mehr Menschen aufs Rad gebracht hat“, die Zahlen werden also wohl nochmals gestiegen sein. Eine Einschätzung, die Alexander Sonders teilt. Der Volkswirt und Gründer hat Firmen, Institutionen und Kunden zu Personen- und Cargo-Transportmöglichkeiten beraten und gleichzeitig mit seinem Kollegen Klaus-Dieter Nebendahl den Radladen Velostyle eröffnet. Direkt an der Veloroute 10.
Die Kieler Velorouten sollen die Menschen schnell ans Ziel bringen. Mit dem Fahrrad –und manchmal auch mithilfe anderer Fortbewegungsmittel wie einer Fähre.
Verbreitern und verbinden
Das ist eine von sechs Radrouten, die sich durch Kiel ziehen, und die, so beobachtet Alexander Sonders, „unglaublich stark genutzt wird. Vor allem zu Stoßzeiten morgens, abends oder wenn Fußballspiele von Holstein Kiel stattfinden“. Die Stadt hat die Velorouten zu einem Kernprojekt in Sachen Fahrradinfrastruktur gemacht. Es gibt sie in Kiel zwar schon seit 1988, damals war das Fahrradaufkommen aber noch wesentlich geringer, die Anforderungen waren andere. In Kiel arbeitet man deshalb gerade daran, die Velorouten auszubauen und bestenfalls in sogenannte Premiumrouten zu verwandeln, die autofrei oder zumindest autoarm und mit wenigen Kreuzungen und Ampeln gestaltet sein sollen. Denn wenn das Fahrrad schneller ist als das Auto, das derzeit für Strecken länger als fünf Kilometer noch das meistgenutzte Fortbewegungsmittel ist, wird der Anreiz höher, umzusteigen. „Vor einigen Jahren haben wir die ersten fünf Kilometer der Veloroute 10 auf eigenständiger ehemaliger Gleis-trasse fertiggestellt“, berichtet Marla Wolframm. Die Velorouten 1, 2 und 4 werden derzeit erweitert. Erstere wird auf 1,9 Kilometern zu einer vier Meter breiten Zweirichtungsanlage ausgebaut, die Route 2 wurde kürzlich fertiggestellt und mit der Veloroute 4 verbunden. Für die wiederum wurden Kfz-Spuren in Radfahrstreifen umgewandelt.
„Durch mehr Radverkehr wird die Stadt attraktiver, lebenswerter, ruhiger und gesünder.“
Marla Wolframm, Kieler Tiefbauamt
Erneuern und aufstocken
Seit den ersten Versuchen mit längeren Rad- und Schutzstreifen vor zehn bis fünfzehn Jahren hat sich einiges getan. Mittlerweile, so heißt es aus dem Tiefbauamt, werde nicht mehr versucht, den Radverkehr ohne große Veränderungen ins bestehende Verkehrssystem zu integrieren. Vielmehr werde er nun bei der Neu- und Umplanung von vornherein mitgedacht. Und auch bereits existierende Strukturen bekommen ein den aktuellen Anforderungen entsprechendes Update. So werden bestehende Radwege im Zuge der alljährlichen „Fertigerwochen“ saniert – 22 Kilometer waren es 2022 – oder auch der „Umsteiger“, das Fahrradparkhaus am Hauptbahnhof, wird aufgestockt, sodass dort künftig rund 200 Pendlerfahrräder mehr Platz haben.
Eine Mobilitätsstation am Bahnhof bietet Abstellflächen, Informationsangebote und die Möglichkeit, auf Zug, Taxi, Car- oder Bike-Sharing zu wechseln.
An der Mobilitätsstation gibt es auch eine Luftpumpe – damit die Radnutzung nicht an platten Reifen scheitert.
Leihen und pendeln
Nicht alle nehmen jedoch das eigene Rad als Transferfahrzeug zwischen zuhause und Zug: „Wir sehen, dass mit großem Abstand die meisten Verbindungen mit unseren Rädern an Bahnhöfe gehen“, schildert Benno Hilwerling. Er ist für die Projektkoordination der SprottenFlotte zuständig. Dieses Bikesharing-System ergänzt seit 2019 als Teil des „Masterplan Mobilität“, der insgesamt 72 Maßnahmen enthält, den Mobilitätsmix in Kiel und der KielRegion. Gerade wurde es auf ländliche Bereiche in der Region erweitert. Eine Besonderheit, und zunächst als Pilotprojekt auf drei Jahre Laufzeit begrenzt, wie Hilwerling erklärt.
Im urbanen Kiel ist die SprottenFlotte schon gut etabliert. Rund 42.500 Menschen nutzen das Angebot, im Sommer kommen pro Monat auch mal 50.000 Ausleihen zusammen. Die SprottenFlotte umfasst inzwischen etwa 1200 Räder, darunter 100 E-Bikes, zwölf Lastenräder und fünf E-Lastenräder, die die Menschen in Kiel innerhalb der Stadtgrenzen hauptsächlich für Wege von bis zu drei Kilometern nutzen.
Das Bikesharing-System SprottenFlotte gibt es seit 2019 in Kiel. Inzwischen gehören zur Flotte auch Lastenräder.
Unterstützen und fördern
Auch immer mehr ortsansässige Unternehmen engagieren sich in verschiedener Form fürs Rad. So finanzierte beispielsweise Rewe Digital eine SprottenFlotte-Station vor dem Wissenschaftszentrum. My Boo baut in Kiel nachhaltige Bambusbikes und unterstützt damit soziale Projekte in Ghana. Und bei Velostyle geht es um weit mehr als den Verkauf von Fahrrädern und Accessoires. Übergeordnetes Ziel ist es, dass „die Leute das Fahrrad mit einem guten Gefühl verbinden“, erklärt Alexander Sonders. Damit das passiert, veranstaltet Velostyle einmal im Jahr das Kieler Fahrradfest mit Craftbeer, Foodtrucks, Musik und der Möglichkeit zum Probefahren. Um die hochwertigen Räder bei Großveranstaltungen sicher abstellen zu können, kümmert sich Velostyle bei der Kieler Woche zum sechsten Mal um bewachte Fahrradparkplätze. Dass grundsätzlich auch ein Werkstatt-Service angeboten wird, den vor allem Mitarbeiter*innen der Firmen entlang der Veloroute 10 in Anspruch nehmen, ist selbstverständlich – und wird rege nachgefragt. „Bei uns hat sich der Reparaturbedarf in den vergangenen paar Jahren grob verdoppelt“, stellt der Ladengründer fest. Das Quartier um den Grasweg, wo Velostyle seinen Sitz hat, hat sich ebenfalls radverkehrstechnisch stark weiterentwickelt. Sogar eine Pizzeria mit Drive-Thru-Schalter für Radfahrer gibt es dort. In einem nur knapp eineinhalb Kilometer entfernten Bereich des Französischen Viertels, das zwischen drei Velorouten liegt, soll per Beschluss des Bauausschusses nun ebenfalls unter anderem der Komfort für Radfahrende verbessert werden. Neben Fahrradachsen oder Parkplätzen für Lastenräder sind auch Fahrradbügel geplant.
Gas geben und gebremst werden
Letztere, ebenso wie Poller oder Rotmarkierungen von Fahrradflächen auf Autostraßen, zählt Thorben Prenzel zu „den kleinen Maßnahmen, die schnell etwas bringen und deshalb zuerst umgesetzt werden sollten“. Er ist Geschäftsführer von Rad.SH, der kommunalen Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des Fuß- und Radverkehrs in Schleswig-Holstein, die in beratender Funktion mit Kiel zusammenarbeitet und unter anderem den Flyer „Kiel fährt sicher – Regeln und Tipps für Auto- und Radfahrende“ für die Stadt erstellt hat. Er glaubt, Kiel sei in Sachen Radverkehr auf einem sehr guten Weg. Er weiß aber auch, dass viele Maßnahmen langsamer umgesetzt werden (müssen), als es wünschenswert wäre – und dass es ohne gute Kommunikation im Vorfeld nicht immer gelingt, Anwohnerinnen sowie Laden- und Restaurantbetreiberinnen mitzunehmen. Während alle Maßnahmen, die mit Sicherheitsaspekten begründet werden können, seiner Beobachtung nach meist eine höhere Aussicht auf Akzeptanz und damit auf Erfolg haben, gebe es generell beispielsweise immer dann Diskussionen, wenn es um Parkplätze geht. Oder um andere Einschränkungen des Autoverkehrs.
Der Fahrradstadtplan Kiel zeigt Radfahrer*innen schnelle und attraktive Fahrradrouten.
Befürworten und blockieren
Auch wenn die Stadt vor Beginn von Baumaßnahmen Schreiben samt Kontaktmöglichkeit an die direkten Anliegerinnen herausgibt, Projekte in verschiedenen Stadien in den Ortsbeiräten sowie über die lokalen Medien kommuniziert, „können wir nicht alle erreichen“, räumt Marla Wolframm ein. In Kiel sind längst nicht alle Befürworterinnen der Radverkehrsförderung, die sich 2023 auf 30 Euro pro Einwohner belief. Fast so viel wie in Kopenhagen (ca. 35 Euro).
In einem Online-Beitrag des NDR aus 2023 schimpft zum Beispiel CDU-Fraktionsvorsitzender Rainer Kreutz, der Oberbürgermeister versuche, Kiel auch gegen Widerstände als Fahrradstadt zu etablieren. Christina Musculus-Stahnke von der FDP kritisiert, dass die Verbesserungen für den Radverkehr auf dem Rücken der Autofahrerinnen ausgetragen würden, und die AfD moniert in ihrem Programm ein „zunehmendes Ärgernis im Lebens- und Berufsalltag der Bürger“. Dabei sei es der Anspruch der Stadt, bei der Planung alle Verkehrsteilnehmerinnen „mitzudenken und zu vermitteln, warum unsere Radverkehrsmaßnahmen im Einzelnen so wichtig sind“, argumentiert Stadträtin Alke Voß, räumt aber ein, es sei „eine ständige Herausforderung, der Politik und den Kieler*innen die Dauer der Prozesse verständlich zu machen“.
„Kiel ist eine großartige Fahrradstadt – and a bike city is a happy city.“
Alexander Sonders, Velostyle Kiel
Wertschätzen und weitermachen
Denjenigen, die für eine Verbesserung der Radinfrastruktur sind, geht es nämlich nicht immer schnell genug. Auch Fahrradladenbesitzer Alexander Sonders würde sich noch einige Verbesserungen im Detail wünschen, zum Beispiel, dass die Radwege noch besser vernetzt, breiter und besser separiert werden. Er fände außerdem eine höhere Kompromissbereitschaft der verschiedenen Verkehrsteilnehmer*innen wichtig, damit auf der begrenzten Stadtfläche Platz für alle ist. Insgesamt findet er aber, dass Kiel den Radverkehr auf vielen Ebenen fördert und zu Recht regelmäßig in Umfragen und Vergleichsstudien unter den fahrradfreundlichsten Städten Deutschlands landet, denn: „Kiel ist eine großartige Fahrradstadt – and a bike city is a happy city.“
Bilder: Landeshauptstadt Kiel – Christoph Edelhoff, Grafik: Landeshauptstadt Kiel, Landeshauptstadt Kiel – Annika Pleil, SprottenFlotte