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S-Pedelecs im Selbstversuch: Zwischen Freiheit und Freiwild

Wenn das Bike spielerisch mit Autos im Stadtverkehr mithalten kann, dann beginnt die Verkehrswende und damit die Freiheit. So könnte man das Versprechen des S-Pedelecs interpretieren. Doch sind Autofahrende bereit, die Straße zu teilen? Oder werden S-Pedelec-Nutzende zum Freiwild? Fahrstil-Herausgeber Gunnar Fehlau startete für die neue Ausgabe des Radkulturmagazins einen Selbstversuch.

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2025, September 2025)


Der erste Blick auf ein S-Pedelec offenbart fürs ungeschulte Auge fast keinen Unterschied zum klassischen Pedelec. Widmen wir uns darum kurz den inneren Werten: Während das „klassische“ Pedelec die Beine bis 25 km/h unterstützt, „schiebt“ das S-Pedelec bis 45 km/h mit. Aus einem gemütlichen Radwegrad wird so ein Verkehrsmittel mit Tour-de-France-Tempo. Dass dieses Fahrzeug – denn es ist juristisch kein Fahrrad mehr – auf deutschen Straßen fahren darf, ist kein Ergebnis eines planvollen, politischen Gestaltungsverfahrens, sondern vielmehr Konstruktions- und Regulationsslalom durch die Anforderungen und Ausschließungen bestehender Fahrzeugklassifizierung. Die ersten S-Pedelecs auf die Straßen zu bringen, war in den Nullerjahren exakt so kompliziert, wie es hier klingt, und hing nicht selten vom Wohlwollen einzelner Institutionen und Personen ab. Was an einem Ort legal in den Verkehr gebracht werden konnte, wurde an anderer Stelle abgewiesen. Diese wilde Phase wich vor gut zehn Jahren einem weitgehend einheitlichen bundesweiten Vorgehen.

Vom Fahrrad zum Fahrzeug

Mit der rechtlichen Transformation vom Fahrrad zum Fahrzeug (Kleinkraftrad, Klasse L1e B bei zweirädrigen bzw. L2e bei dreirädrigen Fahrzeugen) gehen viele kleine und große Unterschiede einher. Das Gesetz schreibt Details und Ausstattungsmerkmale vor, wie eine bestimmte Form der Bremshebel, die Ausführung des Seitenständers, die Lichtfunktionen oder auch seitliche orange-farbene Reflektoren, um nur einige zu nennen. Das Fahrzeug muss versichert und mit entsprechenden Kennzeichen gefahren werden. Bei Nutzung, Wartung, Unterhalt und Modifikation muss umgedacht werden.

Das Straßenschild „S-Pedelec frei“ findet man bisher nur in und um Tübingen.

Wo die Freiheit fahren darf

Alle, die ihre Teenage-Jahre vor der Jahrtausendwende erlebten, sind beim S-Pedelec-Verstehen im Vorteil. Sie können auf die Mofa-Lebensrealität ihrer Jugendzeit referenzieren. Das hat eine gewisse juristische Unschärfe, trifft aber in vielen Aspekten den Punkt. Etwa bei der Streckenwahl. Das S-Pedelec ist ein Kraftfahrzeug. Damit sind Waldwege, Stadtparks und auch Radwege tabu, so sie nicht explizit für die Nutzung mit dem „Leichtkraftrad“ freigegeben sind. Der Umkehrschluss: Mit dem S-Pedelec muss man auf der Straße fahren.

Gut behütet

Während beim Fahrrad die Entscheidung zum Helmtragen eine individuelle und freiwillige ist, schreibt die StVO schon seit vielen Jahren für Vehikel der Fahrzeugklassen, die auch das S-Pedelec umfassen, einen „geeigneten Helm“ vor. Auch hier zeigte sich, dass einzelne Akteurinnen den Begriff „geeignet“ anfangs extrem unterschiedlich auslegten. So kam es zu Verkehrskontrollen, in denen Polizistinnen monierten, dass auf dem S-Pedelec ein Motorrad-Integralhelm zu tragen sei. Hier hat ein Interessenvermittlungsprozess zwischenzeitlich für Klarheit und entsprechende „Normierung“ gesorgt. Es gibt S-Pedelec-konforme Helme, die in Erscheinung und Nutzungserleben (Gewicht, Tragekomfort, Rundumsicht usw.) nahe am Fahrradhelm sind und deren Sicherheits-Niveau der S-Pedelec-Geschwindigkeit Rechnung trägt. Es gilt aber rigoros: kein Helm, kein Fahren!

Traumgeschwindigkeiten im Ruhepuls

Hersteller Stromer hat mir zum Praxistest für diesen Artikel ein „ST5“ zur Verfügung gestellt. Jetzt ist Zeit, mal auf das Rad zu steigen und in den Alltag zu fahren: mittleren Unterstützungsmodus und mittleren Gang eingelegt und reingetreten. Heidewitzka, geht da die Luzie ab! Der Bolide beschleunigt unter sportivem Antritt fast spielerisch auf 40 km/h. Dem Reflex, nach links in die Fahrradstraße abzubiegen, muss ich widerstehen: nicht mein legales Terrain! Ich kurve auf die Hauptstraße und reihe mich in den Autoverkehr ein. Ein paar beherzte Pedalumdrehungen und Gangwechsel, schon erreiche ich die 45-km/h-Schallmauer. Will ich schneller fahren, so geht dies nur per Muskelkraft oder mit Gravitationsunterstützung. Dennoch bin ich legal nicht zu überholen und schwimme im Autoverkehr mit.

Ballert wie ein starkes Peloton

Der Stromer dekalibriert alles Gelernte zum Verhältnis von Reintreten und Fahrgeschwindigkeit. Was sonst das Pedalieren um die 25 km/h ist, verschiebt sich um gut 15 bis 20 Stundenkilometer. Im Positiven wie im Negativen. Man tut gut daran, sich sehr schnell an den längeren Bremsweg, die notwendigen Reaktionszeiten und schrägeren Kurvenlagen zu gewöhnen, sonst wird es für alle brenzlig. „Schneller“ jedoch grundsätzlich mit „gefährlicher“ gleichzusetzen, wäre zu kurz betrachtet.
Die Argumentation der Beschleunigungsreserve, mit der Petrol-Heads gern die Wahl starker Motorisierungen erklären, leuchtet mir, auf dem S-Pedelec sitzend, durchaus ein. Außerdem sollten wir hier über das Phänomen der Differenzgeschwindigkeit sprechen: Das S-Pedelec, das dank seiner höheren Geschwindigkeit im Verkehr mitschwimmt, wird im Verkehrsgeschehen seltener überholt werden – das vermeidet Engstellen und Gefahrenmomente. Genau aus dieser Argumentation heraus sprechen sich manche Verkehrsexpert*innen für eine Angleichung der maximalen Unterstützungsgeschwindigkeit beim Pedelec und S-Pedelec an die gängigen Geschwindigkeitslimits (30 und 50 km/h) aus. Allerdings nur hinter vorgehaltener Hand: „Diese Anpassung ist politisch nicht diskutier- und umsetzbar“, heißt es.

Innerer Paradigmenwechsel

Radfahrerinnen fahren ja häufig so schnell, wie sie können. Das herkömmliche Pedelec macht in dieser Logik „untrainierte Radfahrende“ zu trainierten, aber im eigentlichen Sinne nicht zu „besonders schnellen“. Anders das S-Pedelec: Es hebelt halbwegs fitte Radfahrende in jene Geschwindigkeitsgefilde, die abseits starken Gefälles nur in Radrennen erreicht werden. Daran müssen sie und Verkehrsteilnehmende sich erst einmal gewöhnen. Nicht nur deshalb tun S-Pedelec-Pilotinnen gut daran, nicht weiterhin stets so schnell zu fahren, wie sie können, sondern so, wie es der jeweiligen Verkehrssituation angemessen ist. Auf dem Rad ist das für viele eine völlig neue Betrachtungsweise – auch wenn sie sie im Kfz längst verinnerlicht haben.

Bereitschaftsspanne

Wer die Alltagsmobilität mit dem S-Pedelec erledigt, ist auf den gleichen Strecken unterwegs, die andere noch aus Gewohnheit oder frei von besserem Wissen mit dem Auto zurücklegen. Die Spanne der Bereitschaft, der Vorstellung davon, wie sehr man das eigene Verhalten zu ändern in der Lage ist, ist hierzulande noch recht schmal, scheint es. Doch das S-Pedelec bietet eine ganze Reihe von Ansätzen, die die Änderungsbereitschaft unterstützen – es ist die Verkehrswende zum Selbsteinschalten. Motivation (und finanzielle Möglichkeiten) vorausgesetzt!

Selbst ein prominent angebrachtes Versicherungskennzeichen heißt nicht für alle sofort: Der darf gar nicht auf den Radweg!

Das Wissen der anderen

Als sportlicher Radfahrer, der oft unter dem Zustand von Radwegen leidet, juble ich mit dem S-Pedelec auf: Endlich kann ich legal auf der Straße flitzen, statt über den Radwege-Acker zu holpern! Doch der Jubel ist verfrüht. Das Fahren mit dem S-Pedelec auf der Straße ist nur so lange entspannt, wie es keine anderen Verkehrsteilnehmerinnen gibt. Damit ist nicht der Umstand ihrer Existenz gemeint. Wir Radfahrenden sind Autos auf Straßen und Wegen gewohnt. Auch, dass diese – da ist die Studienlage eindeutig – häufig zu eng überholen. Doch das rechtskonforme S-Pedelec-Fahren auf der Straße „triggert“ Autofahrende besonders außerorts, wenn sich neben der Straße ein Radweg befindet. All die 40 Millionen Fußballbundestrainerinnen, die es besser zu wissen glauben als Julian Nagelsmann, sind nämlich durchweg auch „Zivilpolizist*innen mit unzureichendem Regelwissen“, die meinen, S-Pedelec-Fahrende maßregeln zu dürfen: Sie hupen, fluchen, gestikulieren wild, sie drängeln und schneiden. „Die Hölle, das sind die anderen“, sagte der französische Philosoph Jean-Paul Sartre, und das beschreibt das S-Pedelec-Fahren im deutschen Straßenverkehr bestens.

Emotionale Abnutzungseffekte

Die Freude, mit einer ungekannten Leichtigkeit im Verkehrsgeschehen mitschwimmen zu können, verzückt mich vom ersten Meter an. Da ist zum einen der profane Rausch der Geschwindigkeit, dem zu erliegen mir eine fast kindliche Freude bereitet. Das hat aber auch eine emanzipierende, empowernde Komponente: „Endlich dazugehören! Nicht mehr am Rand rumeiern, sondern mittendrin sein und dabei!“ Der Stromer hat „echt Wumms“ und damit durchaus Verkehrswendepotenzial. Nach einigen Fahrten nutzt sich meine rohe Freude an der formidablen Beschleunigung zwar etwas ab und weicht einer Selbstverständlichkeit, einer Gewöhnung. Das ist aber auch gut, weil meine Aufmerksamkeit damit wieder ins Außen, also ins Verkehrsgeschehen geht. Das neue Tempo auf Alltagswegen sorgt dafür, dass ich die Wegzeiten neu kalkuliere und so meinen Tagesablauf anpassen kann. Und ist der Wecker einmal auf später gestellt, gewöhnt man sich umgehend daran.
Doch einen großen Haken hat die Sache: Die Einschränkung in der Streckenwahl mit dem S-Pedelec schmerzt mich stark. Statt auf dem breiten Waldweg autofern, zügig und direkt vorwärtszukommen, muss ich den Wald meiden, darf die Radwege nicht nutzen und bin auf Landstraßen angewiesen. Ein Terrain, das Autofahrende nur ungern teilen und dies auch lautstark mitteilen. Und als Fahrzeug darf man ein S-Pedelec auch nicht im Zug mitnehmen.
Spitze ich meine Erfahrungen zu, so könnte ich sagen, dass mein Pulsschlag eher vom Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmenden abhängt als von der Intensität meines Pedalierens. Für den Status quo des (S-Pedelec-)Radverkehrs kein gutes Zeugnis!

„Damit S-Pedelec-Fahrende nicht zum Freiwild in einer Autowelt werden, benötigen sie bessere Rahmenbedingungen.“

Gunnar Fehlau

Die Freiheit jenseits der Grenzen

Andere Länder haben das anders geregelt. So dürfen in der Schweiz S-Pedelecs sehr wohl auf Radwegen fahren. Freilich nicht mit 45 km/h, aber das ist auch nicht die Prio der Fahrenden. Sie wollen und können spielerisch/situativ entscheiden, ob sie in „üblicher Fahrradgeschwindigkeit“ auf dem Radweg pedalieren oder mit bis zu 45 km/h auf der Straße. S-Pedelecs haben dort auch deshalb einen 35-mal höheren Marktanteil, verglichen mit Deutschland (0,5 gegenüber 18 Prozent der verkauften E-Räder). Auch Belgien hat seine Gesetzgebung ähnlich angepasst und seither boomen S-Pedelecs dort. Belgien war auf deutschem Niveau und nähert sich schweizerischen Verhältnissen.

Freiheit braucht Struktur

Verschiedene Sozialwissenschaften erklären, dass Freiheit Struktur braucht und dass Verhältnisse Verhalten prägen. Beides kann sicherlich auch fürs S-Pedelec gelten.
Das S-Pedelec braucht eine geeignete Infrastruktur, es braucht praxisgerechte Gesetze und die Verhältnisse im Straßenverkehr müssen so geregelt werden, dass sie sicheres Verhalten für alle Verkehrsteilnehmenden von allen Verkehrsteilnehmenden hervorbringen oder zumindest nicht unterminieren.

Verkehrswende zum Selberstarten

Als erste Stadt hat Tübingen 2019 den Schritt gewagt und ein Radwegenetz für S-Pedelec-Nutzer*innen freigegeben. In Zusammenarbeit mit der Landesregierung von Baden-Württemberg ist so ein spezielles Verkehrsschild entstanden, das auf die Freigabe von S-Pedelecs auf diversen Verkehrsflächen hinweist. Rund 100 dieser Schilder sind mittlerweile im Stadtgebiet installiert und das so entstandene S-Pedelec-Wegenetz umfasst ca. 80 Kilometer. Außerdem wurden Geschwindigkeitsbeschränkungen an sicherheitsrelevanten Knotenpunkten eingeführt. Die Bilanz bislang: Es gibt keine polizeilich gemeldeten S-Pedelec-Unfälle und keine Beschwerden aus der Öffentlichkeit.

Der Autor und sein Leih-Bolide.

Sowas wie ein Fazit

Dies ist kein Test des Stromer ST5. Allerdings wollte ich sehr wohl „die Idee S-Pedelec“ auf den Prüfstand stellen. Ich muss festhalten, dass die Fahrzeuggattung absolut das Zeug hat, die Zwangsläufigkeit der Gleichung „Mobilität = Auto“ für mancherlei Anwendungsszenario zu durchbrechen. Das S-Pedelec schrumpft Pendeldistanzen und reduziert Fahrzeiten gehörig.
Damit S-Pedelec-Fahrende nicht zum Freiwild in einer Autowelt werden, benötigen sie bessere Rahmenbedingungen aus geeigneter Infrastruktur, angepasster Gesetzgebung und kooperativer Umgangskultur. Damit beschreibt das S-Pedelec im Brennglas, was auch dem gemeinen Fahrrad(fahren) in dieser Gesellschaft fehlt. Und dennoch: Mit ein wenig Besonnenheit macht es schon jetzt richtig viel Spaß!


Bilder: Stromer – Elstner Ruben, Gunnar Fehlau, Frank Stefan Kimmel