Beiträge

Bewegungsräume im urbanen Umfeld werden immer wichtiger für unsere bewegungsarme Gesellschaft. Sie sind heute auch Wegbereiter für die Mobilitätswende, vor allem, was die Flächen für Kinder und Jugendliche betrifft. Ein Erfahrungsüberblick über Bedürfnisse, Chancen und Möglichkeiten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Urbane Bewegungsräume werden oft unterschätzt oder missverstanden. Besonders Flächen, auf denen Kinder und Jugendliche sich in verschiedenen Sportarten austoben können, sind in vielerlei Hinsicht wichtig für die Gesellschaft und deren Gesundheit. Mittelbar sogar auch für die Mobilitätswende, wie noch zu sehen sein wird. Daher fordern Experten mehr solche urbanen Areas wie Skateparks oder Pumptracks oder die Kombinationen von möglichen Formen. Im September 2022 veranstaltete das Mountainbike-Tourismus-Forum zu diesem Thema ein digitales Fachpanel „Biken Urban“, um den Blick für die Zusammenhänge zu schärfen, ihre Chancen und Möglichkeiten auszuloten und Praxis-erfahrungen zu teilen. Dabei waren Vertreterinnen von Wissenschaft und Planungsbüros sowie Entschei-derinnen und Planer*innen aus Gemeindeämtern sowie der Chefredakteur von Veloplan, Markus Fritsch. Die eingebrachten Expertisen und Erfahrungen konnten wir als Grundlage für diesen Beitrag nutzen.

Ein Skateplatz ist ein niederschwelliges Bewegungsangebot. Kinder und Jugendliche müssen keinem Verein beitreten oder sich anmelden, um sich hier sportlich auszutoben.

Warum sind Pumptracks wichtig?

Für den Veranstalter Mountainbike-Tourismus-Forum war es naheliegend, sich mit Urban Biking zu beschäftigen. „78 Prozent der deutschen Bevölkerung leben in Städten. Menschen müssen sich aber wohnortnah erholen können, was diese Bewegungsräume ermöglichen. Auch soziale Aspekte sind aber nicht zu vernachlässigen. Pumptrack und Co. stellen für junge Menschen sozial gerechte Möglichkeiten dar, sich zu entwickeln, denn mit ihnen sind Kinder und Jugendliche von Vereinsstrukturen unabhängig“, erklärt Nico Graaff, Geschäftsführer des Forums. „Für uns ist es ein wichtiges Anliegen, zu zeigen, was diese Bewegungsräume können und wie die Kommunen sie realisieren können.“
Dass Bewegung an sich ein wesentlicher Grundpfeiler unseres Lebens und der Gesellschaft ist, ist unbestritten. Bewegung unterstützt die körperliche wie mentale Gesundheit und ermöglicht, wie schon vor Jahrzehnten bestätigt, auch schon in jungen Jahren erhöhte Lern- und Aufnahmefähigkeit. Ganz wesentlich ist aber auch, dass diese Bewegungsräume für junge Menschen soziale Fähigkeiten trainieren. Pumptracks, Skater- und Rollparks sind Orte, an denen Spaß gemeinsam erlebt wird, an denen aber auch Social Skills wie gegenseitiger Respekt und Rücksichtnahme praktisch erlernt werden.
Und der Bezug zur Mobilitätswende? „Spaß am Fahrradfahren und Mobilitätswende sind verknüpft“, erklärt Markus Fritsch von Veloplan. „Wer als Kind oder Jugendlicher mit dem Rad aufwächst, wird auch als Erwachsener eher das Fahrrad nutzen.“ Dazu kommt: Heute bekämen Kinder das Radfahren als bedrohlich vermittelt. Wer jedoch durch den Fahrspaß auf dem Pumptrack oder anderen Rad-Parcours sein Fahrrad spielerisch beherrscht, der oder die lernt dadurch auch für die sichere und selbstbewusste Radbeherrschung auch im Straßenverkehr.
Dass es nötig ist, Kinder nicht nur ans Radfahren zu führen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, dabeizubleiben, erklärt Ulrich Fillies, Gründer und Beiratsvorsitzender der Aktion Fahrrad, die sich um mehr Radfahr-Initiativen in den weiterführenden Schulen bemüht. Die Kinder machten in der Grundschule den Fahrradführerschein, „doch dann verschwindet das Fahrrad wieder aus dem Blickfeld“. Wie auch die Schulen das Fahrrad in den Unterricht implementieren können, ohne auf diese Areale zurückgreifen zu können, dafür hat er als Gründer der Aktion Fahrrad jede Menge Tipps für Lehrer. Der Verein hat die Schulmeisterschaften aufgebaut, aber auch Geschicklichkeitswettbewerbe lassen sich gut an Schulen organisieren. Und mit den Klimatouren regt Aktion Fahrrad zum Fahrradpendeln zur Schule an, bei dem Kilometer gesammelt und in CO2-Ersparnis umgerechnet werden.

Herausforderung Realisation

Doch warum ist es so schwer, Bewegungsräume zu planen und einzurichten? Oft sind die Bedürfnisse den Entscheiderinnen in den Gemeinden gar nicht bewusst, weiß Stephan Schlüter aus eigener Anschauung. Er ist Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr in Kempten. Schließlich haben die Youngster kaum eine Lobby, ganz im Gegensatz zu den Fußball- oder sonstigen Vereinen anderer Sportarten. Hier fehlt die Vertretung, und daher auch langjährige Erfahrung der Menschen in den Ämtern, die mit ihnen zu tun haben. Welcher Bedarf bei den jungen Menschen da ist, muss erst kommuniziert werden (s. Kasten), und dazu fehlen derzeit feste Strukturen. Umgekehrt helfen beispielsweise auch Rennradvereine nicht weiter, wenn es um Pumptracks geht. Auch in diesen Vereinen kennt man die Bedürfnisse der jungen Radfahrer und Radfahrerinnen nicht, die jenseits von schmalen Rennradreifen unterwegs sind und Radsport eher als spielerische Artistik erleben, wie auf dem BMX-Rad. Auch Jan Kähler, Leiter der Sportentwicklungsplanung und Bereichsleiter Sport der Landeshauptstadt Hannover meint, „die Bedürfnisse der einzelnen Gruppen sind bei den Gemeindeämtern unbekannt“. Sie wissen nicht, wie viele Menschen Rad fahren oder Radsport betreiben. Das Thema Bewegung zu platzieren, sei immer schwierig. Schlüter hat viel Erfahrung mit diesen Herausforderungen und fordert Entscheiderinnen und Planer*innen auf: „Bezieht die Menschen mit ein, macht Öffentlichkeitsarbeit, geht raus auf die Straße und lasst euch sagen, was die Leute wirklich brauchen.“
Noch ein Widerstand, wenn auch diesmal ein innerer, steht den Bewegungsräumen entgegen: Während den Sportvereinen meist eindeutige Entscheidungs- und Planungsabteilungen in den Gemeinden zugeordnet sind, sieht das bei genannten Projekten, die meist auch ungewohnt und fremd für die Administration sind, anders aus. Hier hilft „die gleiche Kaffeemaschine auf dem Flur“, so Schlüter: der vor allem in kleineren Behörden einfache, direkte Dienstweg und die aktive Vernetzung.

„Wir sollten nicht nur die Sportstätte promoten, sondern vor allem auch die Bewegungsflächen“

Stephan Schlüter, Stadt Kempten

Der Skatepark in Gersthofen wurde im Zuge der Sanierung einer existierenden Anlage als langlebige Ortbetonanlage errichtet. Statt aufgestellter Elemente werden Tables & Co. dabei mit dem Untergrund in Betonbauweise modelliert.

In Flächen-Konkurrenz zur Shopping-Mall

Schließlich ist da, vor allem in der Großstadt, auch die Flächenkonkurrenz. Ein Projekt, zu dem die Entscheider in den Ämtern wenig Bezug haben, hat es da grundsätzlich etwas schwerer, seine Fläche zur Verfügung zu bekommen. Denn womit man Erfahrung hat, das lässt sich gut einschätzen, man ist mit seinen gemachten Erfahrungen, etwa mit Turnhallen, auf der sicheren Seite. Auch hier zählt Aufklärungsarbeit in Sachen Pumptrack und Skatepark. Aber andererseits können diese Areale auch einfacher in vorhandene Strukturen eingefügt werden. Eine Möglichkeit ergibt sich, wie der Hannoveraner Kähler betont, gelegentlich in multifunktionaler Nutzung: die Schulhöfe nach Schulschluss öffentlich zugänglich machen und hier entsprechende Optionen zur Verfügung zu stellen. Doch grundsätzlich hängt auch die Wahrnehmung von solchen Möglichkeiten nach wie vor von einzelnen Personen in den Ämtern ab.
Überhaupt, so weiß auch Veloplan-Herausgeber Markus Fritsch: Manche planen und handeln sehr schnell, andere brauchen Jahre für eine Realisation. „Man hat in unterschiedlichen Städten doch auch immer unterschiedliche Ausgangssituationen, das bemerken wir auch am Feedback, dass wir von den Lesern und Leserinnen zurückbekommen.“ Die Strukturen für Entscheidungen für ein Projekt sind nie dieselben – wie eben auch die Menschen, die an den entscheidenden Positionen sitzen.

Bedenken ausräumen

Bleibt eine konkrete Herausforderung, die es Bedenkenträger*innen oft leicht macht: die Kosten. Doch Zahlen helfen da weiter, sie zu überzeugen: Kai Siebdrath vom Bauunternehmen Schneestern, das viel Erfahrung mit der Planung und Realisation von Bewegungsräumen wie Skateparks hat, rechnet vor: „Der Durchschnitts-Pumptrack hat etwa 500 Quadratmeter reine Baufläche und kostet um die 200.000 Euro.“ Ein vergleichsweise niedriger Betrag, der Projektgegnern wenige Argumente geben dürfte.
Aber auch jenseits vom Geld gibt es, nach Schneestern, überzeugende zielführende Argumente. Bei durchschnittlicher Nutzerzahl ergeben sich im Jahr unzählige Stunden, in denen die Kids nicht auf ein Handydisplay gucken und stattdessen beim Spiel Millionen von Kalorien verbrauchen, was ihrer Gesundheit zugutekommt. In größeren Städten könne man sogar mit dreimal so viel Nutzungsintensität rechnen wie in kleinen Gemeinden.

Ein Urban Sports Park, wie hier in Salem, ist ein vielseitiges Rollsportangebot für alle Altersgruppen.

Förderung derzeit einfach

Professor Robin Kähler ist Vorsitzender der IAKS (International Association for Sports and Leisure Facilities). Das ist ein internationaler Verband aus Unternehmen, Kommunen, Vereinen und Dienstleistern, die sich für Sportstätten und Bewegungsräume auf vielerlei Ebenen einsetzen. Kähler weiß: Momentan werden Sportstätten und Bewegungsräume sehr gut gefördert. Allerdings gibt es bei Letzteren mehr Erklärungsbedarf, weil, wie wir schon gesehen haben, Skateparks und Pumptracks bei den Entscheider*innen noch nicht so präsent sind.
Dabei müsste Radfahren aber als Ganzes umfassender gefördert werden, fordert Kähler. Wichtig sei es, Institutionen wie den ADFC mit einzubinden. „Ein Netzwerk hilft da weiter“, sagt er.
Ein wesentlicher Punkt in der deutschen Administration: Es gibt bislang keine einheitlichen Förderstrukturen für Skate-Anlagen, Dirtparks oder Pumptracks. Das muss aber nicht nur von Nachteil sein, meint Projektleiter Schlüter aus Kempten. „Sprecht immer mit den zuständigen Leuten“, erklärt er. Kommunikation mit den direkten Ansprechpartnern, auch jenseits der üblichen Instanzen, zählt besonders da, wo feste Förderungsstrukturen nicht vorhanden sind und Förderung davon abhängt, wie klar die Wichtigkeit des Projekts zu erkennen ist.

Städteplanung ist kein Wunschkonzert? Manchmal doch!

Wünsche können in Erfüllung gehen, auch was den städtischen Raum anbelangt: „Wir brauchen eine Jumpline für Kids!“ schrieben zwei Schulkinder in Kempten an den Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr, Stephan Schlüter. Gemeint ist dabei ein Mountainbike- oder BMX-Rad-Parcours mit Sprunghügel für Kinder. Schlüter wollte das Projekt ausführen, andere Stellen hatten Gründe dagegen. Der Oberbürgermeister der Stadt, selbst Lehrer und mit dem Bewegungsdefizit der Schülerinnen vertraut, wusste: Die jungen Menschen in Stadt brauchen einen solchen Park. Innerhalb weniger Monate wurde ein entsprechender Park mit Jumpline umgesetzt. „Das konnten wir“, erzählt der Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr, „weil wir visionär gearbeitet haben“. Soll heißen: Eine erste Planung für urbane Bike-Angebote lag im Tiefbauamt, dessen Ent-scheiderinnen einen entsprechenden Bedarf schon geahnt hatten, bereits in der Schublade und konnte den entsprechenden Gremien rasch vorgelegt werden. Dazu kommt: Schlüters Abteilung sitzt im Tiefbauamt Kempten. „Wir können vieles bereits auf dem kurzen Dienstweg klären.“

In Zukunft wird noch mehr gepumpt

„Grundsätzlich hat sich die Einstellung von Kommunen zu Anlagen wie Pumptracks und Rollsport-Flächen klar zum Positiven verändert“, erklärt Dirk Scheumann, Gründer und CEO des Unternehmens Schneestern, das Action Sports Parks plant und baut oder bei solchen Projekten unterstützt. Dass diese Bewegungsräume in den letzten Jahren einen Boom erfuhren, sieht er als logisch an, unabhängig von zeitweiligen Einflüssen wie der Corona-Pandemie. „Da sind auch ein paar technische Entwicklungen zusammengekommen“, sagt er und verweist beispielhaft auf den Scooter, mit dem die Kids ihre Tricks machen – ein Produkt, das so vielleicht zehn Jahre alt ist. Dazu kommen die verschiedensten Versionen des Fahrrads von BMX bis zum Dirt Bike. Scheumann glaubt, dass sich die positive Entwicklung zu mehr Flächen für die Jugendlichen und Kinder noch verstärken wird. Zum einen durch das wachsende allgemeine Verständnis, dass auch diese Bewegungsräume gebraucht werden, zum anderen, weil auch eine Weiterentwicklung dieser Flächen ansteht: „Heute treffen im Skatepark Biker oder Skater auf spielende Kinder“, erklärt er. „Da gibt es durchaus Konfliktpotenzial.“ Für eine breitere Nutzung müssen auch für die jüngeren Nutzerinnen bedarfsgerechtere Möglichkeiten geschaffen werden. Dazu will Schneestern schon bald ein neues Produkt vorstellen, das zusammen mit Wissenschaftlerinnen entwickelt wurde. Denn klar ist: Je jünger die Menschen sind, die den Spaß an der Bewegung erleben können, umso gesünder wird und bleibt unsere Gesellschaft. Und desto besser stehen die Chancen für ein Gelingen der Mobilitätswende.


Bilder: Matthias Schwarz, Vanessa Zeller, Janik Steiner, Matthias-Schwarz

Die gebürtige Amerikanerin Meredith Glaser beschäftigt sich beim Urban Cycling Institute der Universität Amsterdam mit den Schwerpunkten Collective und Social Learning. Dabei befasst sie sich vor allem mit der Transformation von Städten. Unter anderem im Rahmen des „Handshake“-Programms (handshakecycling.eu) zum Austausch von Erfahrungen, an dem 13 europäische Metropolen teilnehmen, darunter Kopenhagen, Amsterdam und München. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Frau Glaser, wo sehen Sie die Kernprobleme des heutigen Stadtverkehrs und was muss sich aus Ihrer Sicht ändern?
Wir fassen das Thema Verkehr als Transport-Engineering-Problem auf. Es geht um Zeit, nicht um Wert. Das Ziel ist, Zeit zu sparen und mögliche Verspätungen zu reduzieren. Das schlägt sich im Design der Straßen nieder und den Regeln, die hier gelten. Die Gesetze und Richtlinien, denen Verkehrsplaner folgen, sind aber schon rund hundert Jahre alt. Wichtig ist, sich bewusst zu machen, dass sich seitdem eine Menge verändert hat, in der Gesellschaft, bei Innovationen und Technologien. Vor allem die Art, wie wir unsere Städte heute nutzen, hat sich stark verändert.

Welche Anforderungen gibt es heute mit Blick auf die Städte und Straßen?
Wir sehen heute einen bunten Mix: Die Menschen wollen in der Stadt wohnen und leben, nah bei anderen Menschen. Wichtig ist auch die Nähe zu Aktivitätsmöglichkeiten und Annehmlichkeiten wie Kultur, Restaurants, Cafés – und natürlich die Nähe zu den Arbeitsplätzen. All das hat für Stadtbewohner*innen heute Priorität. Aber unsere Straßen werden immer noch so gedacht und durch die gleichen Regeln und Paradigmen bestimmt, wie vor hundert Jahren. Sie haben sich nicht weiterentwickelt, sondern versuchen, all diese neuen Anwendungen und Qualitäten mit unterzubringen. Wenn wir Straßen als Technologie sehen, dann wäre das vielleicht so, als würden wir versuchen, eine Floppy Disk in ein iPhone 12 einzulegen. Es funktioniert einfach nicht.

Was hat sich inzwischen technologisch verändert und wo gibt es Probleme?
Es gibt große gesellschaftliche Veränderungen und auch viele technische Innovationen. Neben Fahrrädern und E-Bikes die Mikromobilität, die Sharing Economy und Mobility as a Service. Aktuell dienen die Straßen aber nur einem Nutzer: dem Auto! Was wir sehen, sind Konflikte, die zu Verkehrsunfällen mit Todesfolge führen. Allein 3.000 Tote im Verkehr in Deutschland im Jahr 2020 und 300.000 Verletzte. Fakt ist: Viele wären vermeidbar.

Sind Straßen, wie wir sie heute zum Beispiel in Deutschland kennen, dann überhaupt zeitgemäß?
Straßen sind der größte öffentliche Raum jeder Stadt, es gibt also ein großes Potenzial. Derzeit ist jedoch ein Großteil dieses Raums allein für Autos reserviert.

„Wir brauchen mehr Urban Design, mehr Stadtplaner und mehr Input von allen Bürgern und nicht nur von Verkehrsplanern.“

Bei der Sicherheit hat man den Eindruck, dass die Verantwortung oft auf die Verkehrsteilnehmer geschoben wird.
Unsere Forschung hat gezeigt, dass Schuld sozial konstruiert ist. Viele Akteure spielen dabei eine Rolle, wie zum Beispiel die Medien und die Autoindustrie. Die Fakten zeigen, dass die Fahrzeuge immer größer und leistungsfähiger werden. Das bedeutet, dass Menschen außerhalb von Autos, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf Straßen unterwegs sind, einem noch größeren Risiko ausgesetzt sind. Es gibt definitiv eine Verantwortung der Entscheidungsträger, unsere Straßen, besonders in den Städten, sehr sicher zu machen und sie sicher zu halten, besonders für diejenigen, die zu Fuß gehen und Rad fahren.

Vielfach wird das Thema Angst angesprochen, wenn es um den Straßenverkehr oder neben der Straße spielende Kinder geht.
Straßen sind das Lebenselixier einer jeden Stadt. Wenn Straßen für jeden einladend sind, unabhängig davon, wie sie oder er sich fortbewegen kann, dann strömen die Menschen auf diese Straßen. Wenn Menschen Angst zeigen, dann wird es schwierig, diesen mentalen Zustand zu ändern. Angst kann nicht das sein, was wir wollen. Wir wollen menschen- und innovationsfreundliche Städte und Straßen.

Warum sind niedrigere Geschwindigkeiten wichtig und welche Maßnahmen wirken?
Die Absenkung der Geschwindigkeit in Städten ist eine wichtige Maßnahme, denn wir wissen, dass sowohl die Zahl der schweren Crashs, wie auch die Schwere der Verletzungen drastisch gesenkt werden. Die Senkung der Geschwindigkeiten in Städten ist eine wichtige Maßnahme, denn wir wissen, dass sowohl die Zahl der schweren Unfälle als auch die Schwere der Verletzungen drastisch reduziert werden. Aber neben Gesetzen und Regeln gibt es noch eine weitere wichtige Komponente: die Veränderung der Straßen durch Design. Wenn Sie auf einer sehr breiten Straße ohne Verkehr fahren, wollen Sie schnell fahren. Und warum sollte man die Geschwindigkeit reduzieren, zum Beispiel in Tempo-30-Abschnitten, wenn es keine Überwachung gibt? Ein wichtiger Faktor, der mitgedacht werden muss, ist das Design unter anderem durch Fahrbahnmarkierungen, Landschaftsplanung und Beleuchtung. Man muss den Leuten das Gefühl geben, dass sie hier langsam fahren müssen. In den Niederlanden gibt es eine klare Trennung zwischen Durchgangs- und Wohnstraßen.

In den Niederlanden gibt es eine klare Trennung zwischen Durchgangs- und Wohnstraßen. Was ist der Unterschied zu anderen Ländern?
In den Niederlanden wurde das in Schweden entwickelte „Sustainable Safety“-Konzept (Red. Anm.: Vision Zero) erfolgreich durch das Prinzip der hierarchischen Straßen adaptiert. Diese Hierarchie ist selbsterklärend und sehr logisch. Fahrer merken sofort, wo sie sind und was von ihnen erwartet wird. Die Unterschiede zwischen den mehrspurigen Hauptverkehrsstraßen, einer Arterie und einer Wohnstraße merkt man sofort. Wohnstraßen sind meist Einbahnstraßen, sehr schmal und kompakt, mit Bäumen und Grünbepflanzungen und einem Tempolimit von 15 bis 20 km/h. Manchmal ist die Zufahrt für Autos auch ganz gesperrt.

Menschen statt Autos: Die Govert Flinckstraat in Amsterdam 1973 und heute.

Was können andere Länder beim Straßendesign von den Niederlanden lernen?
Die Lehre für andere Städte ist klar, dass ein intuitiv erfassbares Design eine wichtige Rolle spielt. Auch um den Menschen zu signalisieren, dass man an diesen Stellen Zufußgehen und Radfahren präferiert und erwartet. Damit sind wir übrigens nicht nur in Wohnstraßen erfolgreich, sondern auch in Einkaufsstraßen mit Shops und Cafés. Die zweite wichtige Sache: Menschen machen Fehler. Die Gestaltung der Straßen sollte mit einbeziehen, dass menschliches Versagen unvermeidlich ist. Natürlich lässt sich das nicht von heute auf morgen erledigen, aber wir können auch jetzt schon viel tun. Wir brauchen mehr Urban Design, mehr Stadtplaner und mehr Input von allen Bürgern und nicht nur von Verkehrsplanern.

Brauchen wir für die Veränderungen auch ein anderes Mindset?
Die größte Veränderung, die wir sicher brauchen, ist eine kollektive Zustimmung. Natürlich muss nicht jeder Bürger und Verantwortliche direkt zustimmen, aber jeder sollte zumindest anerkennen, dass wir eine Verschiebung bzw. Veränderung benötigen. München hat hier zum Beispiel mit dem Konzept der „Radlhauptstadt“ vor einigen Jahren kommunikativ einen wirklich super Job gemacht und die Menschen mitgenommen.

Wie hoch sind aus Ihrer Sicht die Chancen für schnelle Veränderungen?
Was wirklich wertvoll ist, vor allem jetzt, sind die Learnings aus der Pandemie. Wir haben gesehen, dass Veränderungen wirklich möglich sind. Mit weniger Verkehr, Veränderung im Verhalten der Menschen, zum Beispiel indem man nicht mehr jeden Tag zur Arbeit pendeln muss und mehr lokal unterwegs ist. Es ist traurig, dass es einer Pandemie bedurfte, aber es ist faszinierend zu sehen, wie mit preiswerten Materialien und Kreativität Veränderungen in Gang gesetzt wurden.

Wie ist Ihre Sicht auf die Veränderungen im Verkehr während der Pandemie mit Blick auf Deutschland?
Berlin ist ein fantastisches Beispiel! Die Stadt hat sehr schnell und sehr flexibel reagiert mit einem Netz aus Pop-up-Bikelanes in der Stadt. Diese Fähigkeit, Flexibilität zu zeigen und eine schnelle Antwort zu geben, ist sehr beeindruckend. Wichtig sind aber auch die vielen kleinen Projekte, mit denen Städte zum Beispiel Neues ausprobieren und Akzeptanzgrenzen austesten. Auch zwei Kilometer Straße, die beispielsweise gerade in San Francisco verändert wurden, können etwas sein, was den Menschen die Augen öffnet und ein anderes Denken anstößt.

Wie ist Ihre Einschätzung? Werden temporäre Lösungen nach der Pandemie wieder zurückgebaut oder sind sie ein Durchbruch?
Es wird eine Hauptaufgabe sein die Projekte, aber auch das Umdenken, was klar eingesetzt hat, zu verstetigen. Es ist gut, dass die Menschen merken, dass sich etwas ändert. Was dabei enorm wichtig ist: Die Projekte und Maßnahmen legitimieren Änderungen in der Zukunft. Jedes Experiment, das erfolgreich und permanent wird, wird automatisch zu einer Referenz für jeden Planer, Politiker oder jede Lobbygruppe, die Änderungen möchte. Sie können sagen, schaut her, wie erfolgreich das war! Das ist, wie Dinge sich ändern können.

Online-Kurse: Unraveling the Cycling City

Die akademischen Online-Kurse „Unraveling the Cycling City“ der Universität von Amsterdam werden auf Coursera.com angeboten. Sie werden regelmäßig mit Bestnoten bewertet und wurden inzwischen von über 10.000 Teilnehmer*innen besucht.

urbancyclinginstitute.com/mooc

Welche Fehler sollte man als Verantwortlicher, Politiker oder Planer heute vermeiden?
Der größte Fehler ist sicherlich, Angst vor Veränderungen zu haben, in seiner alten Perspektive und Denkweise stecken zu bleiben. Es ist einfach und bequem für Planer und Beamte, den Status quo beizubehalten, mit Bürokratie, Regeln usw. Der schwierigste Teil ist sicherlich die Arbeit innerhalb der Bürokratie, um das Denken und die Standards zu ändern.

Was würden Sie Verantwortlichen raten? Was brauchen wir für eine Mobilitätswende?
Wir haben heute sehr gute Daten und wissen, dass 30 bis 50 Prozent der Menschen eine Mobilitätswende wollen und sich viele gerne auf das Fahrrad setzen würden. Die Menschen tun es meist nur nicht, weil sie sich unsicher fühlen. Für die, die zusätzlich aufs Rad wollen, brauchen wir andere Zustände im Verkehr. Wir brauchen Straßen, die sich sicher anfühlen, wir brauchen langsameren und weniger Autoverkehr, geschützte Radwege, sichere Abstellanlagen und wir brauchen eine Infrastruktur, die sicher genug ist für Kinder.

„Bieten die Straßen Freiheit für alle Arten von Menschen, alle Altersgruppen und alle Fähigkeiten?“

Orte wie Schulen, an denen Kinder zusammenkommen, sind großartige Gelegenheiten, den Straßenraum neu zu denken. In den 1980er-Jahren wurde die „Van Ostadestraat“ für den Durchgangsverkehr und Parkplätze gesperrt; dadurch entstand Raum für einen Spielplatz, Bäume und viel Platz für Eltern, die sich beim Bringen der Kinder treffen und unterhalten können.

Wieso ist die eigenständige Mobilität von Kindern so wichtig?
Ich komme ja aus Kalifornien und bin als Kind immer von meinen Eltern gefahren worden. Es ist unglaublich zu sehen, dass Kinder in den Niederlanden mit 10 Jahren sicher alleine mit dem Fahrrad zur Schule, zum Sport oder zu Freunden fahren können. Für die Kinder bedeutet das ein wichtiges Empowerment, das sie ihr ganzes Leben begleitet, und außerdem enorme Freiheiten. Die Freiheit gibt es gleichzeitig auch für die Eltern, die ihre Kinder nicht mehr überall hinfahren müssen. Ich bin vor über einem Jahrzehnt nach Amsterdam gezogen, habe selbst zwei Kinder und kann es mir gar nicht mehr anders vorstellen.

Wie müssten Straßen idealerweise aussehen?
Es gibt keine Blaupause oder ein Patentrezept. Die zentrale Frage ist: Bieten die Straßen, die wir haben, Freiheit für alle Arten von Menschen, alle Altersgruppen und alle Fähigkeiten? Können Kinder unbeaufsichtigt sicher neben der Straße spielen? Die meisten Städte werden nein sagen. Daran müssen wir dringend arbeiten – gerade Kinder brauchen in der Zeit nach der Pandemie viel mehr sichere Räume.

Meredith Glaser

ist als Doktorandin am Urban Cycling Institute der Universität Amsterdam tätig. Hier lehrt Professor Dr. Marco te Brömmelstroet, bekannt auch als „Cycling Professor“, Infrastrukturplanung und geografisches Informationsmanagement. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen politische Innovation, Wissenstransfer und Kapazitätsaufbau für eine beschleunigte Umsetzung von nachhaltigen Verkehrszielen. Sie hat den akademischen Output für europäische Projekte (CYCLEWALK und HANDSHAKE) akquiriert und verwaltet, ist Co-Leiterin des Sommerprogramms Planning the Cycling City und hat zur Produktion des Onlinekurs-Programms „Unraveling the Cycling City“ beigetragen. Meredith Glaser stammt aus Kalifornien und hat einen Master-Abschluss in Stadtplanung und öffentliche Gesundheit der Berkeley University. Seit fast 10 Jahren arbeitet sie im Bereich Stadtentwicklung und Transfer nachhaltiger Mobilitätspolitik und ist eine erfahrene Ausbilderin für Fachleute, die die niederländische Verkehrsplanungspolitik und -praxis erlernen möchten.


Bilder: Meredith Galser / Urban Arrow, Amsterdam City Archives (Bilddatenbank), Urban Cycling Institute

Die Bewegungs- und Koordinationsfähigkeiten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland haben rapide abgenommen. Dr. Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule Köln zeigt in einem Gastbeitrag die Hintergründe auf und warnt vor einer Entwicklung, die ohne aktives Gegensteuern in eine Sackgasse führen könnte. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Radfahren schult die Bewegungs- und Koordinationsfähigkeit viel mehr, als den meisten bewusst ist.

Das Fahrrad boomt und Politiker fangen an, diese bewährte Mobilitätsform wahrzunehmen. Auch in den Visionen zur Verkehrswende spielt das Fahrrad eine bedeutende Rolle. Es könnte so weitergehen, doch am Horizont braut sich ein Szenario zusammen, das den meisten Verkehrsplanern völlig fremd scheint: Kinder fahren immer weniger und zunehmend schlechter Fahrrad. Doch die Kinder von heute sind die Radfahrer von morgen, und was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Radfahren bei Kindern rückläufig

„Kinder fahren weniger und schlechter Fahrrad als noch vor zehn Jahren.“ Diese Feststellung wird von Lehrkräften an Grund- und weiterführenden Schulen, von Verkehrssicherheitsberatern der Polizei sowie von Eltern oft geäußert. In der wissenschaftlichen Literatur findet sich zu dieser subjektiven Wahrnehmung von Experten als einzige Quelle eine Studie der Unfallforscher der Versicherer (UDV) zur Häufung von motorischen Schwierigkeiten. Auf Grundlage einer Befragung von 347 Verkehrserziehungsdienststellen (Polizei und Schulen) aus dem Jahr 2009 ergibt sich allerdings ein recht eindeutiges Bild: Während bei der gleichen Fragestellung im Jahr 1997 nur 45,6 Prozent der Befragten angaben, dass die Anzahl der Kinder mit auffallenden motorischen Schwierigkeiten zunähme, stieg der Wert bei der Befragung im Jahr 2009 auf 72 Prozent an. Besonders betroffen schienen Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund zu sein, insbesondere Mädchen, sowie Kinder aus sozial schwächeren Familien, überbehütete, übergewichtige Kinder und Kinder mit Bewegungsmangel. Auffällig auch: Die motorischen Schwächen sind bei Kindern in Großstädten und Städten stärker ausgebildet als bei Kindern auf dem Land. Heute, gut zwölf Jahre nach dieser Befragung, hat sich die Situation nochmals verschärft. Das radspezifische Fertigkeitsniveau der Grundschüler sinkt erkennbar weiter, während die Zahl der Kinder, die sehr schlecht oder gar nicht Fahrrad fahren, steigt.

„Kinder lieben das Radfahren und sind hoch motiviert.“

Angela Baker Price, Lehrerin und Fachberaterin für Mobilitätserziehung in Grundschulen

Große Unterschiede und viel Potenzial an Grundschulen

Das gleiche Bild zeichnen Lehrkräfte an Schulen. Angela Baker Price, Grundschullehrerin und Fachberaterin für Mobilitätserziehung für die Grundschulen der Städteregion Aachen, betont: „Die meisten Kinder fahren weniger und vor allem schlechter Rad als noch vor 15 Jahren.“ Allerdings gäbe es andererseits auch Kinder aus radaffinen Familien, die ihr Fahrrad schon in der Grundschule perfekt beherrschten. Die erfahrene Pädagogin unterrichtet schon seit über 30 Jahren Kinder im Radfahren und stellt fest, dass die Schere zwischen Nichtradfahrern und Radfahrern mehr und mehr auseinandergeht. Während es vor allem in bildungsnahen Schichten recht viele radaffine Familien gibt, sinkt der Anteil bei bildungsfernen Bevölkerungsschichten dagegen drastisch. „Das stellt die Lehrkräfte methodisch vor erhebliche Probleme, denn ich muss absolute Könner im Fahrradtraining mit herausfordernden Übungen beschäftigen und mich gleichzeitig um die Kinder kümmern, die noch nicht fahren können.” Aber Baker-Price sieht auch große Potenziale: „Trotz aller Probleme stelle ich immer wieder fest, Kinder lieben das Radfahren und sind hoch motiviert. Wenn wir diese Chance nicht nutzen, dann sind wir es selber schuld, dass Kinder weniger Rad fahren.“

Best-Practice-Ideen:

Kreis Euskirchen: Der Kreissportbund führt mit Mitteln der Bezirksregierung Fahrradangebote für Kinder und Jugendliche durch. Zusätzlich werden Fortbildungen für Lehrkräfte an Grundschulen angeboten.

Städteregion Aachen: Eine extra geschaffene Stelle für den Radverkehr kümmert sich hier auch intensiv um die Belange junger Radfahrer. So werden Radlernkurse angeboten, Fortbildungen organisiert, Materialien angeschafft und Maßnahmen in Gremien und AGs zur Verbesserung des Radverkehrs durchgeführt.

www.radfahreninderschule.de ist ein Portal für Lehrkräfte an Grund- und Weiterführenden Schulen zum Thema Fahrradunterricht. Hier werden mit Videos erprobte Unterrichtsübungen und Konzepte gezeigt, die einfach nachzumachen sind. Ziel ist, einen möglichst spaßbetonten Fahrradunterricht durchzuführen, der die Sicherheit der Kinder erhöht, indem er ihre Fahrfertigkeiten verbessert. Zudem finden sich hier alle rechtlichen Grundlagen und Termine für Fortbildungen in den Städten und Landkreisen in NRW.

Pumptracks: Der neueste Trend für Kinder und Jugendliche. Auf einer etwa tennisplatzgroßen Fläche versucht man sein Mountainbike ohne zu treten durch Pumpbewegungen mit Armen und Beinen in Schwung zu halten. Einige Kommunen in Deutschland haben schon Pump Tracks eingerichtet und geben radbegeisterten Kids somit eine Anlaufstelle. In Skandinavien ist man schon viel weiter, denn hier finden sich die kostengünstigen Anlagen in sehr vielen Kommunen.

Mehr unter velosolutions.com

Problem: Skepsis bei Lehrern und Eltern

Lehrkräfte äußern in Gesprächen immer wieder große Ängste und Bedenken gegenüber Unterrichtsangeboten, bei denen Fahrrad gefahren wird. Und während an Grundschulen deutschlandweit die Verkehrserziehung und damit das Radfahren verpflichtend auf dem Lehrplan steht, ist es an weiterführenden Schulen sehr schlecht um das schulische Radfahren bestellt. „Wandertage oder Klassenfahrten mit dem Rad sind die absolute Ausnahme“, sagt Prof. Helmut Lötzerich von der Deutschen Sporthochschule in Köln, der sich mit dem Thema im Rahmen einer Schulbefragung befasst hat.
Auch Eltern setzten seltener auf das Fahrrad als Transportmittel. „Das Radfahren mit den Kindern im Stadtverkehr ist uns zu gefährlich“, so Lars Schulz aus Köln, Vater von zwei Grundschulkindern. „Da fahren wir lieber mit dem Auto. Radtouren machen wir am Wochenende und im Urlaub.“ Damit steht er nicht alleine da. Das Verkehrschaos vor Schulen zeigt, dass viele Eltern ihre Kinder am liebsten bis in den Klassenraum fahren würden. Schulleitungen bitten die Eltern jedes Halbjahr schriftlich, auf das Elterntaxi zu verzichten, doch die modernen Helikoptereltern können oder wollen gerade diese Bitte anscheinend nicht erfüllen. Dabei verunglücken überdurchschnittlich viele Kinder in den chaotischen Situationen vor den Schulen. Im Widerspruch dazu steht das oft auch schriftlich formulierte Verbot, Kinder mit dem Rad in die Grundschule zu schicken. Eine gängige Praxis, obwohl den Schulleitungen dazu die gesetzliche Grundlage fehlt, denn der Schulweg ist Sache der Eltern. Die zentrale Frage lautet also: Wo und vor allem mit wem sollen Kinder Rad fahren, wenn sowohl die Eltern als auch die Lehrer vor dem Thema kapitulieren?

Auf „Pumptracks“ bewegt man sich durch Pumpbewegungen mit Armen und Beinen fort. Kostengünstig einzurichten und beliebt bei Klein und Groß.

Mit dem Fahrrad zur Schule: Früher eine Selbstverständlichkeit, heute vielen zu gefährlich.

Bewegungslos mit Smartphone

Mögliche Gründe für die skizzierte Entwicklung finden sich genug, harte Fakten in Form von wissenschaftlichen Studien gibt es jedoch kaum. Ein wesentlicher Treiber für die abnehmenden Radfertigkeiten in den letzten Jahren ist der ausgeprägte und zunehmende Bewegungsmangel von Kindern, der durch die Nutzung von Smart­phones und anderen digitalen Endgeräten noch verstärkt wird. Während vor wenigen Jahren noch Spielekonsolen und Fernseher die Kinder im Haus fesselten, sind das heute die immer verfügbaren Smartphones mit ihren hochattraktiven Inhalten. Kinder, die ein Smartphone bedienen, bewegen sich nicht. Schon im Kleinkindalter haben über 70 Prozent der Kinder Nutzungszeiten von über 30 Minuten pro Tag. Das wurde in einer repräsentativen Studie der Drogenbeauftragten des Bundestags ermittelt.

„Wo und vor allem mit wem sollen Kinder Rad fahren, wenn sowohl die Eltern als auch die Lehrer vor dem Thema kapitulieren?“

Dr. Achim Schmidt, Deutsche Sporthochschule Köln

Elterntaxi erschwert Bewegungskoordination

Der zweite wesentliche Treiber für weniger Radmobilität sind die Eltern bzw. deren Verhalten. Kinder werden zu einem hohen Prozentsatz zur Schule und zu Terminen mit dem Auto gefahren. Selbstgetätigte Wege durch eigene Muskelaktivität gehören im Alltag vieler Kinder zur Ausnahme. Die Gründe hierfür sind die Angst vor Kontrollverlust, Stichwort Helikoptereltern, sowie der zeitlich verdichtete Alltag der Familien. Und Kinder, die sich wenig bewegen, fahren auch weniger und schlechter Fahrrad. Die Transferwirkung von Bewegung auf die Koordination anderer Bewegungsarten ist in der Sportwissenschaft hinlänglich bekannt.

Corona zeigt: Es geht auch anders

Jeder, der mit offenen Augen im Verkehr unterwegs ist, nimmt die während der Schönwetter-Corona-Krise zunehmende Zahl von Kindern und Familien auf Fahrrädern wahr. Gleiches gilt für Rennradfahrer, Inlineskater und Jogger. Oftmals sind Erwachsene mit mehreren Kindern auf Rädern unterwegs, auch aus Bevölkerungsschichten, die man normalerweise nicht auf Rädern sieht. Manche Kinder fahren nunmehr täglich Rad und ihre Eltern unterstützen das.
Das wundert nicht, denn trotz aller Widerstände und hemmender Faktoren ist Radfahren bei Kindern und Jugendlichen außerordentlich beliebt. Bei 4- bis 17-jährigen Mädchen steht Radfahren an erster Stelle der Sportarten. Bei Jungen wird es ab dem Alter von elf Jahren von Fußball von Platz eins verdrängt. Dazu kommt: Kinder motivieren Eltern. Jeder, der Kinder hat, weiß, dass Kinder oftmals der Motor für neue Familienaktivitäten oder Verhaltensänderungen sind. So ist es auch beim Radfahren.

Nachahmenswert: Überall auf der Welt, wie hier in Seattle, USA, bilden Eltern begleitete Fahrradgruppen (Bike Bus/Bike Train) für den Schulweg.

Aktive Förderung gefragt

Es bleibt zu hoffen, dass einiges von dieser Aufbruchsstimmung in den Familien erhalten bleibt und künftig zunehmend mehr Menschen und vor allem Kinder und Jugendliche mit dem Rad im Alltag unterwegs sein werden. Aber auch Kommunen können viel tun, um aktiv steuernd einzugreifen. Die Liste der Fördermöglichkeiten für den Radverkehr von morgen ist lang. Jede Kommune muss für sich entscheiden, welche Maßnahmen Aussicht auf Erfolg haben und was realisierbar ist. Am Geld scheint es oftmals nicht zu mangeln, denn die Töpfe für Verkehrs- und Mobilitätserziehung und damit für das Radfahren von Kindern und Jugendlichen sind gut gefüllt. Wichtig ist, dass sich jemand engagiert kümmert. Denn die Verortung dieses Themas innerhalb der kommunalen Verwaltung ist sehr unterschiedlich. Sie reicht von Radverkehrsbeauftragten, Umwelt- oder Mobilitätsmanagern bis hin zu Verkehrsplanern.

Für mehr Fahrradmobilität von Kindern und Jugendlichen

  • kindgerechte Radinfrastruktur ausbauen
  • Umgestaltung von Kreuzungen zur Erhöhung der Sicherheit von „kleinen“ Radfahrenden
  • Arbeitskreis Schule ins Leben rufen (Grundschule, Sek I, Sek II)
  • Netzwerk Kinder- und Jugendmobilität aufbauen
  • Fortbildungen für Lehrkräfte an Schulen zum Thema Fahrrad
  • Fortbildungen für Erzieher*innen an Kitas
  • Erhebungen zur Radnutzung bei Kindern und Jugendlichen (ggf. als Projektarbeiten an weiterführenden Schulen)
  • Pro-Fahrrad-Kampagnen in Kommunen
  • gezielte Kinder- oder Familienangebote schaffen
  • „Bike Bus“-/„Bike Train“-Projekte fördern

Dr. Achim Schmidt

ist Sportwissenschaftler am Institut für Outdoor Sport und Umweltforschung der Deutschen Sporthochschule Köln und Fahrradexperte. Er befasst sich seit vielen Jahren unter anderem mit der Fahrradsozialisation von Kindern und Möglichkeiten zur Förderung von Bewegung und aktiver Mobilität.


Bilder: Dr. Achim Schmidt, www.pd-f.de / Luka Gorjup, Clint Loper, Klima-Bündnis – Laura Nickel