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Schon in den 80er-Jahren befand der niederländische Verkehrsplaner Hans Monderman, Straßenverkehre sollten nach dem Vorbild holländischer Eislaufplätze organisiert werden: Alle fahren wie sie wollen – und achten aufeinander. Dieses Konzept der Anarchie im Straßenraum gewinnt als Shared Space immer mehr Befürworter unter Stadtplanern, wie drei Beispiele zeigen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


In den Niederlanden wird Shared Space oft auch als Verkehrsplanung nach dem anarchischen Vorbild eines Eislaufplatzes beschrieben: Wenn alle fahren wie sie wollen, wird mehr aufeinander geachtet.

In deutschsprachigen Ländern ist häufig auch von Mischflächen oder Begegnungszonen die Rede. Konkrete Designs unterscheiden sich lokal. Denn bei Shared Space handelt es sich weniger um ein Planungsinstrument. Vielmehr geht es um ein ergebnisoffenes Gestaltungsprinzip, das alle Funktionen im öffentlichen Raum (wieder) ins Gleichgewicht bringen soll. Bis heute ist das Verhältnis unter Verkehrsteilnehmern unausgewogen. Dominierte mit dem Paradigma der autogerechten Stadt lange Zeit das Auto, soll es im Shared Space deshalb eher als geduldeter Gast unterwegs sein. Auch von der strikten Separation der Verkehrsteilnehmer in einzelne Fahrspuren wird (mehr oder weniger) abgesehen. Und statt Überregulierung durch Verkehrsschilder setzt Shared Space auf die soziale Verantwortung mündiger Bürgerinnen und Bürger.

Mehr Aufmerksamkeit durch Verunsicherung

Deutschland gilt als das Land mit den weltweit meisten Verkehrsschildern. Etwa 20 Millionen davon regeln, was auf den Straßen erlaubt und verboten ist. Wer als Radfahrerin oder Autofahrerin aus dem gewohnten Schilderwald in ein schilderloses Areal einfährt, ist zunächst irritiert. Gerade dieses Gefühl der Unsicherheit ist im Shared Space jedoch beabsichtigt. Untersuchungen aus Schweden und Holland zeigen, dass Verkehrsteilnehmer*innen in nicht regulierten Situationen eher stimuliert werden, miteinander zu kommunizieren, als wenn Verkehrsschilder und Spuren das Verhalten regeln. Darauf weist auch der Psychologe Pieter de Haan vom Kenniscentrum Shared Space im niederländischen Leeuwarden hin: „Ist ein Schema auf den ersten Blick nicht klar, weil neue und ungewisse Ereignisse eintreten, ist die Person alarmiert. Als Reaktion darauf passt sie ihr Verhalten an. Sie verlangsamt ihre Geschwindigkeit, schaut sich um und beobachtet andere Menschen.“
Dabei bringt Shared Space eigentlich nur zurück, was es schon einmal gab. „Zwar hat man das Konzept als eine neue Idee eingeführt“, erläutert de Haan. „Aber geht man 100 Jahre zurück, gab es überall Shared Space. Ende der 1920er-Jahre, als die ersten Wagen auftauchten, wurden Regeln eingeführt. Es folgten Ampeln und die Trennung der Verkehrsteilnehmer nach Fahrspuren.“ So begann man, mit Verkehrszeichen zu kommunizieren. Die eigene Vorfahrt wurde von Ampeln und Schildern erteilt, anstatt situativ von anderen Verkehrsteilnehmern per Handzeichen oder Blickkontakt. Die Kommunikation wurde monodirektional.
Stures Fahren nach Verkehrszeichen kann dazu führen, dass das eigentliche Verkehrsgeschehen aus dem Blick gerät. Mitunter überfährt ein Rechtsabbieger, dessen Ampel Grün zeigt, einen Fußgänger, der ebenfalls bei Grün die Straße quert. De Haan: „Shared Space reaktiviert die soziale Kommunikation. Schilder sind dann nicht mehr nötig.“

In Deutschland ist Bohmte in Niedersachsen ein Vorreiter bei der Umsetzung von Shared Space – mit deutlichen Effekten für die Verkehrssicherheit.

Probieren geht über Studieren

In Deutschland gehört die Gemeinde Bohmte in Niedersachsen seit 2008 zu den Vorreiterprojekten. Vor der Änderung der konventionellen Infrastruktur stand eine mutige Entscheidung. „Mord und Totschlag“ prophezeiten Hannoveraner Verkehrsplaner dem Vorhaben. „Probieren geht über Studieren“, lautete die Antwort des damaligen Bürgermeisters Klaus Goedejohann. Zehn Jahre später resümierte er in der FAZ (24.07.2018) das Unfallgeschehen: „Im Durchschnitt ein Leichtverletzter im Jahr.“
In Bohmte ging man das Konzept in Form eines großen Kreisverkehrs an. Bahnhofsvorplatz und zentraler Platz wurden im Zuge der Umsetzung als Schwerpunkte definiert. Um eine langsamere und vorsichtigere Fahrweise zu erzwingen, wurde die Fahrbahnbreite dazwischen unter sechs Meter verringert. Straße wie Gehwege wurden auf das gleiche Niveau gesetzt, allerdings farblich markiert. Sämtliche Verkehrsschilder wurden demontiert. Die letzte Tafel vor Einfahrt in den Shared Space verweist auf die Tempo-30-Zone davor. Der Abbau von Schildern und Ampeln entlastete Bohmte übrigens auch finanziell. Den Großteil der 2,1 Millionen Euro für die baulichen Eingriffe steuerte die Gemeinde selbst bei. Eine halbe Million kam aus dem damaligen Infrastrukturprogramm Interreg North Sea Region Programme der EU.

Shared Space statt vierspuriger Straße auf dem Duisburger Opernplatz.

Auf die Verkehrsstärken kommt es an

Das Ergebnis: Nach einer ersten Zufriedenheitsanalyse der Fachhochschule Osnabrück bescheinigten Anwohner wie Gewerbetreibende dem Areal eine neue Aufenthaltsqualität. Klassische Bedenken lokaler Händler über Umsatzeinbußen bestätigten sich nicht. Im Gegenteil wird der Effekt der Außenwirkung von Bohmte als geschäftsfördernd eingeschätzt. So freut sich auch Modehaus-Inhaber Hubertus Brörmann in der FAZ: „Als hier noch eine Ampel stand, … habe man permanent aufheulende Motoren gehört. Nun sei der Lärm gleichmäßiger und insgesamt weniger geworden. […] Dreimal habe es da so richtig gescheppert. Wenn jetzt an anderen Stellen was passiere, dann, weil die regelversessenen Menschen zu wenig mitdenken würden.“
Hinzu kommen ein verbesserter Verkehrsfluss und seltene Staus. Ein Tempo von bis zu 40 km/h wird kaum überschritten. Wenig geändert hat sich an der Zahl von knapp 13.000 Autos, die jeden Tag über die historische Bremer Straße brettern. Sie bildet mit Rathaus, Kirche, Bahnhof und Einzelhandel den Ortskern. Der neue Gemeinderat Lutz Birkemeyer, selbst Radfahrer und Befürworter des Shared Space, benennt die Ursache: „Der überregionale Verkehr angebundener Landesstraßen sorgt dafür, dass das Konzept in Bohmte nicht vollständig zur Geltung kommt.“
Aus demselben Grund hapere es in der Praxis noch an der Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer: Die schiere Übermacht des Autos verdrängt Radfahrende an den Straßenrand. Deshalb hält Birkemeyer das Shared-Space-Konzept an weniger befahrenen Straßen für sinnvoller. Auch unter Expert*innen ist von maximalen Verkehrsstärken die Rede, damit ein Shared Space Sinn ergibt. Die Zahlen schwanken zwischen 8000 bis 25.000 täglichen Durchfahrten. Oder darüber. Das Land Bremen setzt auf ein Mittelmaß und empfiehlt in einem Papier, die Verkehrsstärke von 15.000 Kraftfahrzeugen bei zweistreifigen Straßen nicht zu überschreiten.

„Shared Space reaktiviert die soziale Kommunikation. Schilder sind dann nicht mehr nötig.“

Pieter de Haan, Kenniscentrum Shared Space

Barrierefreiheit und optimale Sichtbeziehungen

Auch der Duisburger Opernplatz ist ein stark frequentiertes Areal. Wo einst eine vierspurige Straße vor dem Theater verlief, befindet sich heute ein Shared Space. Die einheitlich mit Pflaster gestaltete Fläche ist als verkehrsberuhigter Bereich ausgeschildert und sieht Schrittgeschwindigkeit vor. Die dort mündende Mosel- sowie Neckarstraße sind in den Shared Space eingebunden und als Tempo-30-Zone ausgewiesen. Verbleibende Fahrspuren wurden auf eine pro Richtung reduziert und durch einen Mittelstreifen getrennt. Die Ränder mit Flachborden und dunklem Pflaster abgesetzt. Radfahrerinnen können hier überall fahren, Fußgän-gerinnen besitzen Vorrang.
Kerngedanke der Planungsphilosophie im Shared Space ist, dass Fußgängerinnen, Radfahrerinnen und Autofahrer*innen per Blickkontakt interagieren. Sehbehinderte Menschen sind von dieser Möglichkeit jedoch ausgeschlossen. Deshalb sind im Duisburger Shared Space, ähnlich wie in Bohmte, Fahrbahnkanten taktil erfassbar. So können auch sehbehinderte Menschen sie queren. Malte Werning, Pressesprecher der Stadt Duisburg, beobachtet auch eine gesteigerte Solidarität und Rücksichtnahme verschiedener Gruppen untereinander. Zudem haben sich die Kfz-Verkehrsmengen seit dem Umbau um etwa ein Drittel reduziert. Und es gibt weniger Staus als zuvor. Werning sagt: „Erkennbar ist eine merkliche Entschleunigung des Kfz-Verkehrs.“ Er räumt allerdings ein, dass Autofahrer offenbar noch Nachholbedarf haben: „Die Vermeidung von illegalem Parken braucht viel Kontrolle und damit hohen Personaleinsatz.“ Denn Parken ist am Opernplatz nicht mehr gestattet. Das Parkverbot optimiert die Sichtbeziehungen, die für den Shared Space entscheidend sind. Dafür wurden auch störende Barrieren beseitigt und auf feste Einbauten oder eine Bepflanzung verzichtet.

In der Berliner Maaßenstraße werden Verkehrsteilnehmer*innen mit Erklärtafeln begrüßt.

Hohe Aufenthaltsqualität

Der Shared Space in der Berliner Maaßenstraße ist als Begegnungszone ausgewiesen. Zu den angestrebten Zielen gehörten geringere Kfz-Geschwindigkeiten, eine höhere Aufenthaltsqualität und ein rücksichtsvolleres Miteinander aller Verkehrsarten sowie bessere Querungsmöglichkeiten für Fußgängerinnen. Zugleich sollten die Verkehrsabwicklung und die Belieferung von Gewerbebetrieben möglichst beibehalten werden. Im Rahmen der Umgestaltung wurden eine Tempo-20-Zone mit eingeschränktem Halteverbot ausgewiesen. Parkplätze sowie Flächen für den fließenden Kfz-Verkehr wurden reduziert. Hinzu kamen urbane Begegnungsflächen mit Möblierung sowie neu gestaltete Querungsstellen. Ganz ohne weitere Beschilderung kommt man in der Maaßenstraße nicht aus. So werden Verkehrsteil-nehmerinnen an allen Zugängen von Tafeln begrüßt, die entscheidende Spielregeln erläutern: „Die Begegnungszone ist eine Straße für alle. Rücksicht und Achtsamkeit gehen vor – egal ob zu Fuß, mit dem Rad, im Auto oder beim Liefern und Laden. Alle haben Platz – Rad- und Autofahrende auf der Fahrgasse. Parken ist hier nicht erlaubt, Halten nur zum Liefern und Laden.“
Zwar entstand die Begegnungszone in der Maaßenstraße im Rahmen von Modellprojekten mit fußverkehrsfördernden Maßnahmen. Übergeordnetes Ziel ist aber ein Miteinander von Fuß-, Rad- und Autoverkehr im Verkehrsraum. Beim Ortsbesuch erweist sich das Areal als echte Flaniermeile. Geschäfte, Cafés und Restaurants sowie die Aufenthaltsbereiche davor sind gut frequentiert. Radfahrerinnen und Fußgängerinnen trauen sich gleichermaßen auf die Straße. Ein von der Verkehrsverwaltung beauftragter Vorher-Nachher-Bericht macht ebenfalls Mut: Auch im Berliner Beispiel ist die Kfz-Verkehrsmenge um rund ein Drittel gesunken. Bereits die Kurvenführung bei der nördlichen Einfahrt vom Nollendorfplatz her in die Begegnungszone erzwingt eine Verlangsamung des Kfz-Verkehrs. Der Anteil der Fahrzeuge, die mehr als 30 km/h fahren, sank von 47 Prozent auf 9 Prozent. Wurde vor dem Umbau in Fahrtrichtung Nord schneller gefahren als in südlicher Richtung, liegen die Fahrgeschwindigkeiten mittlerweile in beiden Richtungen ähnlich niedrig.
Während die Anzahl der Fußgän-gerinnen nach der Umgestaltung um rund 30 Prozent stieg, ist der Anzahl der Radfahrenden dem Bericht nach weitgehend konstant geblieben. Wegen des Rückbaus früherer Radwege nutzt der überwiegende Teil der Radfahrenden die Fahrgasse anstelle der Gehwege. Diese wurden gegenüber dem Vorher-Zustand deutlich entlastet. Zwar wird gelegentlich auch die Aufenthaltsfläche gequert. In der Regel klappt das aber. Konflikte zwischen Radfahrenden und Fußgängerinnen wurden nicht beobachtet.

„Erkennbar ist eine merkliche Entschleunigung des Kfz-Verkehrs.“

Malte Werning, Stadt Duisburg

Voraussetzung Partizipation

Jeder Shared Space besitzt eigene lokale Herausforderungen. In Berlin stand der Wunsch nach niedrigeren Kfz-Geschwindigkeiten bei der Öffentlichkeitsbeteiligung im Vordergrund. Ähnlich gingen in Bohmte und Duisburg dem konkreten Shared- Space-Projekt Versammlungen, intensive Diskussionen und Workshops voraus. Denn nicht zuletzt gelingt „Shared Space“ nur in Konsens von kommunaler Politik, Anrainern und Gewerbetreibenden. Die Akzeptanz für einen Kulturwandel im Verkehrsraum hängt entscheidend von dieser Partizipation ab.
Pieter de Haan formuliert das so: „Sicherheit ist nicht die erste Idee von Shared Space. Unser Ziel ist es, einen schönen Platz für Menschen zu gestalten. Der Raum ist der Raum der Menschen, wo sie sich aufhalten und in dem sie interagieren: Vielleicht gibt es dort Läden oder Cafés. Wie es am Ende genau aussieht, hängt von dem Kontext und der lokalen Kultur ab. Also versuchen wir auch, das Design der Umgebung gemeinsam mit den Anwohnern an diese Kultur anzupassen. Nur so erhält Shared Space eine Identität.“

Shared Space Basics

Gute Voraussetzungen für Shared Space

  • An örtlichen (Haupt-)Geschäftsstraßen, Quartiersstraßen und Plätzen
  • Fußgänger- und Radverkehr bestimmen das Straßenbild
  • Hoher Querungsbedarf von Fußgängerinnen und Radfahrerinnen
  • Die tägliche Kfz-Verkehrsstärke liegt bei max. 15.000 Kfz.
    (Je nach Gestaltungselementen und Geschwindigkeitsniveau sind höhere Belastungen denkbar.)
  • An Straßenabschnitten mit einer Länge von 100 bis 800 m
  • Möglichkeit der Anordnung von Grün- und Aufenthaltsbereichen
  • Ausweisung als verkehrsberuhigter Bereich

Partizipation
Shared Space immer gemeinsam mit Bürgern, Gewerbetreibenden, Verkehrsplaner und Entscheidungsträger vor Ort konzipieren.

Nivellierung
Shared Space weitgehend höhengleich gestalten. Ggf. den Straßenraum mit Begrünung, Einbauten oder eingesetzten Flachborden gliedern, sofern dadurch Sichtbeziehungen nicht behindert werden. Eine Trennung der Fahrbahn vom Seitenraum oder die Kanalisierung des fließenden Verkehrs kann notwendig sein.

Rückbau von Beschilderung und LSA
Shared Space weitgehend ohne Lichtsignalanlagen, Beschilderung und Markierung gestalten. Als verkehrsberuhigten Bereich ausweisen, um dem Fußgängerverkehr rechtlich Vorrang zu geben, geringe Geschwindigkeiten abzusichern und das Parken zu regeln.

Gute Sichtbeziehung
Die funktionierende Kommunikation der Verkehrsteilnehmer*in-nen untereinander bedingt gute Sichtbeziehungen. Sichtbehindernde Einbauten im Straßenraum entfernen. Dazu gehört die Einschränkung des Parkens.

Barrierefreiheit
Shared-Space-Abschnitte barrierefrei und mit Rücksichtnahme auf die Anforderungen spezieller Gruppen wie Kinder und ältere Menschen gestalten. Die Nivellierung der Fläche im Shared Space ist bereits ein Vorteil für Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung. Hinzu kommen Blindenleitsysteme, z. B. durch den Einbau von Bodenindikatoren zur Querung.


Bilder: Reyer Boxem, Lutz Birkemeyer, Uwe Köppen, Wolfgang Scherreiks

Rotterdam baut seine Innenstadt seit einigen Jahren fundamental um. Das Zentrum soll zur „City Lounge“ werden. Zufußgehen und Radfahren haben dann ebenso oberste Priorität wie der Zugang zu mehr Grün für alle Bewohner der Hafen- und Industriestadt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Von Rotterdams Innenstadt war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr viel übrig. Alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen riesige Brachflächen rund um die Laurenskerk (Laurenskirche). Dort, wo sich einst die Altstadt befand, wurden in der Folge breite, mehrspurige Straßen gebaut sowie riesige Kreisverkehre für Autos und Straßenbahnen. Bis zum Jahr 2000 hatte die boomende Industriestadt am Flussdelta von Rhein und Maas das amerikanischste Straßennetz der Niederlande. Dann fand ein Kurswechsel statt. Das neue politische Ziel ist, das Zentrum in eine moderne „City Lounge“ zu verwandeln. Wo heute noch Autos fahren und parken, sollen Wiesen und Parks entstehen und der rasant wachsenden Bevölkerung Platz zum Bewegen, Spielen und Pausieren bieten. Dafür muss der Autoverkehr massiv zurückgedrängt und durch mehr Rad- und Fußverkehr ersetzt werden. Das Tempo, mit dem Politik und Planer den Wandel vorantreiben, ist hoch.

Ambitionierte Ziele für die Industriestadt

Außenstehenden erscheint die Stadt mit dem größten Seehafen Europas wie ein riesiges Pilotprojekt. Seit 15 Jahren wird die Stadt bereits umgebaut. Das hat einen Grund: Die Industrie- und Autostadt soll klimaresilient werden. Um das zu erreichen, hat die Stadt 2020 beschlossen, in den kommenden zehn Jahren sieben Stadtprojekte umzusetzen. Mit 230 Millionen Euro sollen sieben grüne Lungen im Zentrum entstehen, die bei Starkregen das Wasser aufnehmen und bei extremer Hitze die Umgebung kühlen. Dafür wird etwa ein großer Parkplatz begrünt, ein Park in Größe von elf Fußballfeldern direkt am Hafen geschaffen und ein Eisenbahnviadukt in einen Park verwandelt, der sich durch mehrere dicht besiedelte Stadtteile zieht. „Rotterdam hat ambitionierte Ziele und traut sich, sehr innovativ zu sein“, sagt Sophie Simon, Mobilitätsexpertin des niederländischen Beratungsunternehmens Mobycon. Die Verkehrsexpertin lebt in der Hafenstadt und bekommt den Umbau täglich mit. Der Wandel ist rasant. Noch vor zehn Jahren lag der Anteil des Radverkehrs hier mit gerade mal 20 Prozent und damit weit unter dem landesweiten Wert von 27 Prozent. Aber die Hafenstadt holt auf. 2020 legten bereits 28 Prozent der Menschen ihre Wege mit dem Rad zurück und es werden stetig mehr. Die Basis für den Umstieg bilden unter anderem die Fußgängerstrategie, das neue Parkraummanagement und das zukunftsweisende Mobilitäts- und Fahrradkonzept.
Der Name des Fahrradkonzepts ist Programm: „Fahrradkurs 2025 – Das Fahrrad als Hebel in der Rotterdamer Mobilitätswende“ heißt der Titel (Fietskoers 2025 – De Fiets als hefboom in de Rotterdamse mobiliteitstransitie). Für die Hafenstadt bedeutet das: Menschen jeden Alters und Einkommens sollen hier zukünftig sicher und komfortabel mit dem Rad von zu Hause ans Ziel kommen.

„Die Menschen suchen sich nicht nur alternative Routen, sie steigen auch auf andere Verkehrsmittel um.“

Bart Christiaens, Fahrradkoordinator in Rotterdam

Mehr als der Wechsel von einem Verkehrsmittel zum anderen. Die Stadt soll grüner werden, den Menschen im Sommer Schatten spenden und Platz zum Verweilen anbieten.

Umbauprojekt „Coolsingel“

Wie die neue Infrastruktur dafür in der Praxis aussehen könnte, lässt sich heute ein wenig in der umgebauten Straße „Coolsingel“ erahnen. Sie ist rund 700 Meter lang und eine der Hauptachsen in der Innenstadt. Anfang 2018 waren hier noch täglich rund 22.000 Autos unterwegs, außerdem Straßenbahnen sowie Rad-fahrerinnen und Fußgängerinnen. Dann wurde der Coolsingel umgebaut. Seitdem gibt es auf der Westseite der Tram statt einer zweispurigen Fahrbahn einen 4,5 Meter breiten Zweiwege-Radweg. Der Rest der Fahrbahn wurde zum Fußweg. Autoverkehr gibt es nur noch auf zwei Fahrspuren östlich der Tram und nur noch mit Tempo 30. Das zeigt Wirkung. Der Verkehrslärm ist seit dem Umbau deutlich zurückgegangen. Auch der sandfarbene Radweg und das helle Pflaster der erweiterten Fußgängerpromenade – gut gegen das Aufheizen im Sommer – haben die Straße verändert. Mit den 77 schattenspendenden Baumriesen (38 wurden neu gepflanzt) und den vielen neuen Sitzgelegenheiten unter den Laubbäumen steigt die Aufenthaltsqualität. Es erinnert an die großzügigen Boulevards in Südeuropa. Rund 58 Millionen Euro hat der Umbau gekostet. Geht das Konzept der Planerinnen auf, sind hier langfristig nur noch 10.000 Autos unterwegs. „Wenn ich dort bin, habe ich den Eindruck, dass bereits heute deutlich weniger Autos unterwegs sind“, sagt Bart Christiaens, Fahrradkoordinator von Rotterdam. Die genauen Zahlen kennt er noch nicht, denn die will die Gemeinde für eine realistische Einschätzung erst nach der Pandemie erheben. Aber schon während der Bauphase habe sich ein Teil des Verkehrs verlagert, sagt Christiaens. In einigen Nebenstraßen sei die Zahl der Autos etwas gestiegen, aber in einem geringeren Ausmaß, als es die Verkehrsanalyse vorhergesagt habe. Ein Teil der Fahrzeuge, die zuvor auf dem Coolsingel unterwegs gewesen seien, seien einfach verschwunden. Dieses Phänomen erleben Verkehrsplaner immer wieder, selbst beim Einrichten von Baustellen. „Die Menschen suchen sich nicht nur alternative Routen, sie steigen auch auf andere Verkehrsmittel um“, erläutert Christiaens das Phänomen. Trotz des guten Starts bleibt für ihn die Verkehrsentwicklung im Coolsingel in den kommenden Monaten spannend. In der unmittelbaren Nähe der Straße befindet sich rund ein halbes Dutzend Parkhäuser. „Die Frage ist, ob die Menschen zu den Einkaufszentren und in die Kinos weiterhin mit dem Auto fahren oder Alternativen nutzen“, sagt er. Das neue Parkraummanagement sieht vor, dass mehr Menschen den ÖPNV nutzen (siehe Kasten). Aber Christiaens weiß: „Die Menschen brauchen eine gewisse Zeit, um sich an die neue In-frastruktur zu gewöhnen.“ Rund um den Coolsingel wird diese Phase wohl noch eine Weile andauern. Schließlich sind die nächsten Großprojekte dort bereits in Planung. In ein paar Jahren soll der angrenzende Hofplein (Hofplatz) mit seinem 20 Meter breiten Springbrunnen umgebaut werden. Seine Neugestaltung ist eines der sieben Stadtprojekte und soll Radfahrerinnen, Fußgängerin-nen und Anwohnerinnen den Zugang überhaupt erst ermöglichen. Bislang umrunden Autos und Busse auf drei Fahrspuren den Brunnen, dazwischen kreuzen die Straßenbahnen. Fuß- oder Radverkehr waren hier nicht vorgesehen. Nach dem Umbau soll der Brunnen zum Herzstück des neuen Parks werden, mit vielen Fußwegen und Sitzgelegenheiten für die Anwohner. Die Straßenbahn darf weiterhin passieren, der Autoverkehr wird jedoch in einem großen Bogen um den Park herumgeführt.

Die Illustration zeigt, wie der Hofplein nach dem Umbau aussehen soll: Der Springbrunnen wird zum Zentrum eines neuen Parks für die Anwohner des Viertels.
Der Bahnhof im Zentrum ist Rotterdams Foyer zur Stadt und gibt einen Ausblick auf ihre Zukunft. Rad fahren, zu Fuß gehen oder der Umstieg auf Bus und Bahn sollen überall so leicht und komfortabel werden wie hier.

Schnelle Umsetzung von Großprojekten

Für die Transformation setzt Rotterdam auf eine breite interdisziplinäre Beteiligung. 25 Partner haben die sieben Stadtprojekte mitentwickelt. Ihre Fachrichtungen reichen von der Architektur über die Kunst und den Jugendrat, bis hin zu Vertreter*innen sozialer Organisationen und der Gemeinde. Die Phase von der Planung bis zur Eröffnung ist mit rund zehn Jahren sehr knapp bemessen. „Der Coolsingel ist etwa innerhalb von drei Jahren geplant und umgebaut worden“, sagt Sophie Simon. Dass es so schnell geht, liegt aus ihrer Sicht an dem Regelwerk „CROW“ für Verkehrsplaner, das der deutschen ERA (Empfehlungen für Radverkehrsanlagen) entspricht. „Sämtliche Infrastruktur aus den Niederlanden baut auf den CROW-Richtlinien auf“, sagt die Mobycon-Expertin. Die Planer und die Verwaltungen orientierten sich an den modernen Richtlinien, weshalb der Bau von Radinfrastruktur in den Niederlanden deutlich schneller vonstattengehe als in Deutschland. „Die ERA ist veraltet. Viele deutsche Städte entwickeln deshalb eigene Standards“, sagt die Expertin. Das kostet Zeit. Sie sagt: „Es wäre viel einfacher, wenn alle ein einheitliches Regelwerk verwenden würden.“

28 %

28 Prozent der Menschen legten 2020
ihre Wege mit dem Rad
zurück, und es werden stetig mehr.

Vor dem Umbau: Bürgerbeteiligung und Pop-up-Tests

Zu jeder Planung gehört in den Niederlanden auch der intensive Austausch mit den Bürgerinnen vor Ort. „Bereits vor der ersten Planung befragt man die Anwohnerinnen; was gut und was schlecht in ihrer Straße funktioniert, worauf sie stolz sind und wo sie sich gerne aufhalten“, sagt Sophie Simon. Dieser Austausch werde zur Halbzeit und gegen Ende der Planung wiederholt. Für sie ist das Feedback wertvoll. „Manche Pläne funktionieren gut in der Theorie, aber nicht in der Praxis“, sagt sie. Deshalb sei es wichtig, nachbessern zu können. Außerdem zeige der Dialog den Bürgerinnen und Bürgern, dass Entscheidungen nicht über ihren Kopf hinweg getroffen werden.
In Rotterdam werden die neuen Pläne vor dem schlussendlichen Umbau in einem Testlauf ausprobiert. Das gilt beispielsweise auch für die Sperrung einer Nebenstraße des Coolsingels. In der „Meent“ störten „Auto-Poser“ seit Langem die Nachtruhe der Anwohnerinnen. Um das abzustellen, wurde die beliebte Flaniermeile für den Autoverkehr zeitweise gesperrt. Zunächst für zwei Monate jeweils donnerstags, freitags und am Wochenende. Bewährt sich die Sperrung, soll sie laut Sophie Simons dauerhaft umgesetzt werden. Auch in den Niederlanden sind nicht alle vom Kurs der Politik begeistert. Trotzdem bleibt der große Protest aus. „Die Akzeptanz ist größer, weil das Fahrrad omnipräsent in unserer Gesellschaft ist“, sagt Sophie Simon. Aber anscheinend zeigt auch die Umgestaltung der Innenstadt Wirkung. Christiaens bemerkt einen Wandel während des Feedback-Prozesses. „Die Menschen kommen zu unseren Veranstaltungen und unterstützen unsere Idee zum Umbau der Stadt“, sagt er. Das ist selbst in den Niederlanden neu und bestärkt die Planerinnen auf ihrem Weg.

Sichtbare Mobilitätswende

Die Mobilitätswende und die steigende Aufenthaltsqualität sind bereits vielerorts sichtbar und spürbar. Besonders deutlich ist das für Touristinnen am Hauptbahnhof. Früher verliefen direkt vor der Eingangshalle eine mehrspurige Straße und das Schienennetz. Wer heute aus der lichtdurchfluteten, weitläufigen Halle tritt, steht auf einem riesigen Vorplatz, auf dem sich vor allem Fußgängerinnen und Radfahrerinnen tummeln. Linke Hand geht es für Pendelnde und Reisende weiter zur Straßenbahn. Fahrradpendlerinnen erreichen nach wenigen Schritten einen der beiden Eingänge zum unterirdischen Fahrradparkhaus. Laufbänder bringen sie ins Untergeschoss zu den rund 5.200 Fahrradstellplätzen. Autopendler*innen hingegen müssen ein paar Hundert Meter laufen, um zu unterirdischen Parkhäusern zu gelangen. Wer nicht unbedingt darauf angewiesen ist, lässt sich auch nicht mit dem Auto abholen, denn die einspurige Einbahnstraße vor dem Bahnhof lässt keinen Stopp zu. Ähnlich sieht es auf der Rückseite des Bahnhofs aus. Die wenigen Parkplätze dort sind für Taxis reserviert. Mit dem neuen Bahnhof hat die Stadt ein Statement gesetzt. Das Zeitalter des Autos geht langsam zu Ende in der Stadt. Wer in Rotterdam zu Fuß, mit Bus, Bahn oder Rad unterwegs ist, bekommt Vorrang – jedenfalls langfristig. Bis es tatsächlich so weit ist, müssen noch viele Straßen umgebaut werden. Neben Raum zum Fahren brauchen Radfahrende aber auch Stellplätze für ihre Räder.

Ein Fahrradparkhaus und 1.000 zusätzliche Stellplätze am Bahnhof reichen nicht mehr aus, um den Bedarf zu decken.

Auch die Doppelstockparker an der Markthalle reichen nicht mehr für Pendler*innen, die von hier aus per Bus, Bahn oder Metro weiterreisen.

Mehr Fahrradstellplätze benötigt

15.000 Fahrradstellplätze gibt es momentan im Zentrum. Das klingt viel. Gebraucht werden aber 45.000, also dreimal so viele. Dass die Stellplätze nicht reichen, hat einen Grund: In den vergangenen zehn Jahren sind 60 Prozent mehr Menschen aufs Rad gestiegen als zuvor und es werden täglich mehr. „Entsprechend viele Räder stehen überall in der Innenstadt am Straßenrand“, sagt Sophie Simon. Das gilt auch für die Wohngebiete. „In der Straße, in der ich wohne, gibt es zehn Fahrradbügel“, sagt sie. Dabei würden Hunderte gebraucht. Aus ihrer Sicht wäre es am einfachsten, in jeder Wohnstraße ein bis zwei Pkw-Stellplätze in Fahrradparkplätze umzuwandeln. Das ist momentan nicht vorgesehen. Allerdings können sich die Anwohnerinnen bei Bedarf direkt an die Stadt wenden. „Wenn drei Anwohner gemeinsam eine Anfrage stellen, dann wird für drei bis sechs Monate ein sogenanntes Fietsvlonder (Fahrradgeländer) aufgestellt“, sagt der Fahrradkoordinator. Das Pop-up-Kunststoffdeck mit zehn Fahrradbügeln wird auf einem Parkplatz abgestellt. Wenn die Fahrradbügel gut genutzt werden und sich die übrigen Anwohnerinnen nicht beschweren, dann wird das temporäre Modul durch einen dauerhaften Fahrradstellplatz ersetzt. Das gelingt laut Christiaens bei 80 Prozent der Pop-up-Stellplätze. Die Maßnahme ist jedoch nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. „Das Fahrradparken ist aktuell unsere Achillesferse“, so Christiaens. Mit seinem Team stockt er die Zahl der Stellplätze zwar permanent auf. Erst im Sommer kamen unter anderem rund 1.000 Stellplätze am Bahnhof hinzu und in der Nähe des Coolsingels wurde eine Fahrradgarage für 450 Räder eröffnet. Trotzdem fehlen große Flächen zum Fahrradparken im Zentrum. Bald sollen deshalb unter anderem im Keller eines ehemaligen Kaufhauses sowie in einer Bibliothek eine Parkgarage entstehen. Denkbar seien auch leerstehende Ladenlokale. Die Suche nach Flächen wird den Fahrradkoordinator auf jeden Fall auch in den kommenden Jahren beschäftigen. Die Gemeinde geht davon aus, dass 2030 mehr als 60.000 Fahrradstellplätze benötigt werden.

„Rotterdam hat

ambitionierte Ziele

und traut sich,

sehr innovativ zu sein“

Sophie Simon, Mobycon

Fahrradmobilität für alle

Eine weitere Herausforderung für die Politik ist es, den Anteil des Radverkehrs möglichst im gesamten Stadtgebiet gleichmäßig zu erhöhen. Das ist gar nicht so leicht. Im Süden der Stadt gaben zum Beispiel 52 Prozent der Befragten bei der letzten Mobilitätserhebung an, nie oder fast nie das Fahrrad zu nutzen. Christiaens kennt die Zahlen seit Jahren. „In Rotterdam Zuid leben traditionell viele Hafenarbeiter und Migrantinnen in der zweiten oder dritten Generation“, sagt er. Die niederländische Fahrradkultur habe sich dort noch nicht durchsetzen können. Manche der dort lebenden Rotterdamerinnen können gar nicht Radfahren oder besitzen kein Fahrrad. Um das zu ändern, startete die Gemeinde mit verschiedenen Partnern vor fünf Jahren das Programm „Fietsen op Zuid“. Die verschiedenen Organisatoren arbeiten eng mit Ansprechpartnerinnen vor Ort zusammen und versuchen über verschiedene Projekte, das Fahrrad als Alltagsverkehrsmittel bei den Menschen zu etablieren. „Cycle Along“ ist einer von vielen Bausteinen des Programms und wendet sich an Frauen mit bikulturellem Hintergrund. Neben Radfahrkursen für Hunderte von Frauen wird auch ein Botschafterinnen-Netzwerk aufgebaut. Das heißt, die ehemaligen Teilnehmerinnen bringen anderen Frauen vor Ort Fahrradfahren bei. Damit erweitern die Frauen gemeinsam ihren Aktionsradius und bilden neue Netzwerke. Für Kinder gibt es spezielle Kurse über die dortige BMX-Schule. Damit alle nach den Kursen weiterradeln können, hat die Stadt die „Fietserbank“ (Fahrradbank) eingerichtet. Wer sich kein eigenes Rad leisten kann, bekommt dort ein verwaistes Fahrrad. Rund 1.000 Fahrräder bekommen so jedes Jahr einen neue Besitzerinnen.
Aber es geht nicht nur darum, dass jeder und jede fähig ist, Rad zu fahren. Die neu gewonnenen Radfahrerinnen müssen sich auch trauen, mit dem Rad quer durch die Stadt zu fahren. Das will der „Fietskoers 2025“ sicherstellen. „Eine der Hauptkomponenten des Plans ist, dass die Infrastruktur gleichermaßen für schnelle und langsame Radfahrerinnen ausgelegt wird“, sagt Sophie Simon. Für sie ist das ausschlaggebend, um alle potenziellen Radfahrerinnen und Radfahrer in den Sattel zu bringen. Viele der älteren Radwege Rotterdams sind für die stetig wachsende Zahl an Radfahrenden jedoch zu schmal. Christiaens hat dazu bereits eine Idee. Die langsameren Radfahrenden sollten zukünftig weiterhin die Radwege nutzen, sagt er. Sportliche Radfahrerinnen und schnelle E-Bike-Fahrerinnen könnten dagegen auf die Fahrbahn wechseln und sich mit den Autos den Platz teilen. Das funktioniert aus seiner Sicht jedoch nur, wenn stadtweit Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit eingeführt wird. Für ihn ist das der nächste Schritt. Künftig also Tempo 30 auch in Rotterdam. Das passe auch deutlich besser zu dem Ziel der Stadt, das Zentrum in eine City Lounge umzuwandeln.



Industrie- und
Hafenstadt
Rotterdam

Rotterdam ist mit rund 650.000 Einwohnerinnen und Einwohnern nach Amsterdam die zweitgrößte Stadt der Niederlande. Die an der Mündung von Rhein und Maas gelegene Stadt ist vor allem für den wichtigsten Industriehafen Europas bekannt. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Innenstadt im Jahr 1940 bei einem deutschen Luftangriff mit verheerenden Bränden fast vollständig zerstört und danach neu aufgebaut. Die Bevölkerung hat sich heute durch Zuwanderung verjüngt und ist sehr durchmischt. Rund die Hälfte der Menschen hat eine migrantische Geschichte. Eine Besonderheit gibt es beim Einkommen: Während das Durchschnittseinkommen im Stadtgebiet niedriger ist als im Landesschnitt, ist es im Umland der Stadt höher. Die Arbeitslosenquote lag in den letzten Jahren deutlich über dem Durchschnitt der Niederlande.


Bilder: Dutch Cycle Embassy, Gemeinde Rotterdam, Andrea Reidl, Melissa und Chris Bruntlett – Mobycon, stock.adobe.com – markus thoenen

The Dutch Blueprint for Urban Vitality

von Melissa und Chris Bruntlett

Abkupfern erwünscht! Wie kommen Städte schneller zu mehr Lebensqualität und mehr Radverkehr? Expert*innen empfehlen, sich an funktionierenden Beispielen und Lösungen zu orientieren. Melissa und Chris Bruntlett haben genau dazu eine Anleitung geschrieben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Der Fokus des Buchs liegt auf den Niederlanden. Hier finden die ursprünglich kanadischen Campaigner und Radverkehrsexperten inspirierende Best-Practice-Beispiele en masse. Mit ihrem international geschulten Blick verharren sie aber nicht auf der „Fietsers“-Nation, sondern stellen vielfältige globale Bezüge und Vergleiche her. Durch persönliche Geschichten erklären die beiden verständlich und motivierend, wie eine menschen- und fahrradgerechte Planung aussehen kann. Im Buch finden sich grundlegende Lektionen aus der Verkehrsplanung, die anschaulich durch Interviews, Reportagen und Berichte ergänzt werden. Diverse Projekte sind auch fotografisch belegt. Beim Betrachten der inspirierenden Bilder für gelungene Infrastruktur kann man Neid empfinden oder diesen konstruktiv umwandeln und zur Tat schreiten.
Radverkehrsplaner*innen profitieren von der internationalen Fachexpertise. Denn das Autorenpaar nutzt die Vergangenheit, um die Gegenwart zu erklären und arbeitet so heraus, wie Zukunftsfähigkeit in der Stadtplanung entsteht und erkennbar ist. Die Niederlande sehen die beiden dabei als ideale „Blaupause“. Ihr Appell: „Der Auftrag ist es nun, die Lektionen der Niederländer weiter zu verbreiten – was funktioniert und was nicht – und andere aus ihrem jeweiligen Status quo herauszubekommen, damit sie sehen, was möglich ist, wenn sie ihre Autoabhängigkeit hinter sich lassen.“ Die Geschichten machen Lust, sich den beiden anzuschließen und sich aufzumachen auf den Weg hin zu einer nachhaltigen Mobilität und „glücklicheren, gesünderen und menschlicheren Städten“.

Melissa und Chris Bruntlett haben sich in Kanada mit der Agentur Modacity einen Namen gemacht. Seit 2019 leben sie mit ihren Kindern in Delft. Melissa arbeitet für die Mobilitätsberatung Mobycon und Chris ist als Kommunikationsmanager für die niederländische Fahrradbotschaft tätig.


Building The Cycling City: The Dutch Blueprint for Urban Vitality | von Melissa & Chris Bruntlett | Island Press Verlag | 1. Auflage 2018 | ca. 220 Seiten, Softcover | ISBN: 978-1-610918-794-4 | 22,75 Euro


Die gebürtige Amerikanerin Meredith Glaser beschäftigt sich beim Urban Cycling Institute der Universität Amsterdam mit den Schwerpunkten Collective und Social Learning. Dabei befasst sie sich vor allem mit der Transformation von Städten. Unter anderem im Rahmen des „Handshake“-Programms (handshakecycling.eu) zum Austausch von Erfahrungen, an dem 13 europäische Metropolen teilnehmen, darunter Kopenhagen, Amsterdam und München. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Frau Glaser, wo sehen Sie die Kernprobleme des heutigen Stadtverkehrs und was muss sich aus Ihrer Sicht ändern?
Wir fassen das Thema Verkehr als Transport-Engineering-Problem auf. Es geht um Zeit, nicht um Wert. Das Ziel ist, Zeit zu sparen und mögliche Verspätungen zu reduzieren. Das schlägt sich im Design der Straßen nieder und den Regeln, die hier gelten. Die Gesetze und Richtlinien, denen Verkehrsplaner folgen, sind aber schon rund hundert Jahre alt. Wichtig ist, sich bewusst zu machen, dass sich seitdem eine Menge verändert hat, in der Gesellschaft, bei Innovationen und Technologien. Vor allem die Art, wie wir unsere Städte heute nutzen, hat sich stark verändert.

Welche Anforderungen gibt es heute mit Blick auf die Städte und Straßen?
Wir sehen heute einen bunten Mix: Die Menschen wollen in der Stadt wohnen und leben, nah bei anderen Menschen. Wichtig ist auch die Nähe zu Aktivitätsmöglichkeiten und Annehmlichkeiten wie Kultur, Restaurants, Cafés – und natürlich die Nähe zu den Arbeitsplätzen. All das hat für Stadtbewohner*innen heute Priorität. Aber unsere Straßen werden immer noch so gedacht und durch die gleichen Regeln und Paradigmen bestimmt, wie vor hundert Jahren. Sie haben sich nicht weiterentwickelt, sondern versuchen, all diese neuen Anwendungen und Qualitäten mit unterzubringen. Wenn wir Straßen als Technologie sehen, dann wäre das vielleicht so, als würden wir versuchen, eine Floppy Disk in ein iPhone 12 einzulegen. Es funktioniert einfach nicht.

Was hat sich inzwischen technologisch verändert und wo gibt es Probleme?
Es gibt große gesellschaftliche Veränderungen und auch viele technische Innovationen. Neben Fahrrädern und E-Bikes die Mikromobilität, die Sharing Economy und Mobility as a Service. Aktuell dienen die Straßen aber nur einem Nutzer: dem Auto! Was wir sehen, sind Konflikte, die zu Verkehrsunfällen mit Todesfolge führen. Allein 3.000 Tote im Verkehr in Deutschland im Jahr 2020 und 300.000 Verletzte. Fakt ist: Viele wären vermeidbar.

Sind Straßen, wie wir sie heute zum Beispiel in Deutschland kennen, dann überhaupt zeitgemäß?
Straßen sind der größte öffentliche Raum jeder Stadt, es gibt also ein großes Potenzial. Derzeit ist jedoch ein Großteil dieses Raums allein für Autos reserviert.

„Wir brauchen mehr Urban Design, mehr Stadtplaner und mehr Input von allen Bürgern und nicht nur von Verkehrsplanern.“

Bei der Sicherheit hat man den Eindruck, dass die Verantwortung oft auf die Verkehrsteilnehmer geschoben wird.
Unsere Forschung hat gezeigt, dass Schuld sozial konstruiert ist. Viele Akteure spielen dabei eine Rolle, wie zum Beispiel die Medien und die Autoindustrie. Die Fakten zeigen, dass die Fahrzeuge immer größer und leistungsfähiger werden. Das bedeutet, dass Menschen außerhalb von Autos, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf Straßen unterwegs sind, einem noch größeren Risiko ausgesetzt sind. Es gibt definitiv eine Verantwortung der Entscheidungsträger, unsere Straßen, besonders in den Städten, sehr sicher zu machen und sie sicher zu halten, besonders für diejenigen, die zu Fuß gehen und Rad fahren.

Vielfach wird das Thema Angst angesprochen, wenn es um den Straßenverkehr oder neben der Straße spielende Kinder geht.
Straßen sind das Lebenselixier einer jeden Stadt. Wenn Straßen für jeden einladend sind, unabhängig davon, wie sie oder er sich fortbewegen kann, dann strömen die Menschen auf diese Straßen. Wenn Menschen Angst zeigen, dann wird es schwierig, diesen mentalen Zustand zu ändern. Angst kann nicht das sein, was wir wollen. Wir wollen menschen- und innovationsfreundliche Städte und Straßen.

Warum sind niedrigere Geschwindigkeiten wichtig und welche Maßnahmen wirken?
Die Absenkung der Geschwindigkeit in Städten ist eine wichtige Maßnahme, denn wir wissen, dass sowohl die Zahl der schweren Crashs, wie auch die Schwere der Verletzungen drastisch gesenkt werden. Die Senkung der Geschwindigkeiten in Städten ist eine wichtige Maßnahme, denn wir wissen, dass sowohl die Zahl der schweren Unfälle als auch die Schwere der Verletzungen drastisch reduziert werden. Aber neben Gesetzen und Regeln gibt es noch eine weitere wichtige Komponente: die Veränderung der Straßen durch Design. Wenn Sie auf einer sehr breiten Straße ohne Verkehr fahren, wollen Sie schnell fahren. Und warum sollte man die Geschwindigkeit reduzieren, zum Beispiel in Tempo-30-Abschnitten, wenn es keine Überwachung gibt? Ein wichtiger Faktor, der mitgedacht werden muss, ist das Design unter anderem durch Fahrbahnmarkierungen, Landschaftsplanung und Beleuchtung. Man muss den Leuten das Gefühl geben, dass sie hier langsam fahren müssen. In den Niederlanden gibt es eine klare Trennung zwischen Durchgangs- und Wohnstraßen.

In den Niederlanden gibt es eine klare Trennung zwischen Durchgangs- und Wohnstraßen. Was ist der Unterschied zu anderen Ländern?
In den Niederlanden wurde das in Schweden entwickelte „Sustainable Safety“-Konzept (Red. Anm.: Vision Zero) erfolgreich durch das Prinzip der hierarchischen Straßen adaptiert. Diese Hierarchie ist selbsterklärend und sehr logisch. Fahrer merken sofort, wo sie sind und was von ihnen erwartet wird. Die Unterschiede zwischen den mehrspurigen Hauptverkehrsstraßen, einer Arterie und einer Wohnstraße merkt man sofort. Wohnstraßen sind meist Einbahnstraßen, sehr schmal und kompakt, mit Bäumen und Grünbepflanzungen und einem Tempolimit von 15 bis 20 km/h. Manchmal ist die Zufahrt für Autos auch ganz gesperrt.

Menschen statt Autos: Die Govert Flinckstraat in Amsterdam 1973 und heute.

Was können andere Länder beim Straßendesign von den Niederlanden lernen?
Die Lehre für andere Städte ist klar, dass ein intuitiv erfassbares Design eine wichtige Rolle spielt. Auch um den Menschen zu signalisieren, dass man an diesen Stellen Zufußgehen und Radfahren präferiert und erwartet. Damit sind wir übrigens nicht nur in Wohnstraßen erfolgreich, sondern auch in Einkaufsstraßen mit Shops und Cafés. Die zweite wichtige Sache: Menschen machen Fehler. Die Gestaltung der Straßen sollte mit einbeziehen, dass menschliches Versagen unvermeidlich ist. Natürlich lässt sich das nicht von heute auf morgen erledigen, aber wir können auch jetzt schon viel tun. Wir brauchen mehr Urban Design, mehr Stadtplaner und mehr Input von allen Bürgern und nicht nur von Verkehrsplanern.

Brauchen wir für die Veränderungen auch ein anderes Mindset?
Die größte Veränderung, die wir sicher brauchen, ist eine kollektive Zustimmung. Natürlich muss nicht jeder Bürger und Verantwortliche direkt zustimmen, aber jeder sollte zumindest anerkennen, dass wir eine Verschiebung bzw. Veränderung benötigen. München hat hier zum Beispiel mit dem Konzept der „Radlhauptstadt“ vor einigen Jahren kommunikativ einen wirklich super Job gemacht und die Menschen mitgenommen.

Wie hoch sind aus Ihrer Sicht die Chancen für schnelle Veränderungen?
Was wirklich wertvoll ist, vor allem jetzt, sind die Learnings aus der Pandemie. Wir haben gesehen, dass Veränderungen wirklich möglich sind. Mit weniger Verkehr, Veränderung im Verhalten der Menschen, zum Beispiel indem man nicht mehr jeden Tag zur Arbeit pendeln muss und mehr lokal unterwegs ist. Es ist traurig, dass es einer Pandemie bedurfte, aber es ist faszinierend zu sehen, wie mit preiswerten Materialien und Kreativität Veränderungen in Gang gesetzt wurden.

Wie ist Ihre Sicht auf die Veränderungen im Verkehr während der Pandemie mit Blick auf Deutschland?
Berlin ist ein fantastisches Beispiel! Die Stadt hat sehr schnell und sehr flexibel reagiert mit einem Netz aus Pop-up-Bikelanes in der Stadt. Diese Fähigkeit, Flexibilität zu zeigen und eine schnelle Antwort zu geben, ist sehr beeindruckend. Wichtig sind aber auch die vielen kleinen Projekte, mit denen Städte zum Beispiel Neues ausprobieren und Akzeptanzgrenzen austesten. Auch zwei Kilometer Straße, die beispielsweise gerade in San Francisco verändert wurden, können etwas sein, was den Menschen die Augen öffnet und ein anderes Denken anstößt.

Wie ist Ihre Einschätzung? Werden temporäre Lösungen nach der Pandemie wieder zurückgebaut oder sind sie ein Durchbruch?
Es wird eine Hauptaufgabe sein die Projekte, aber auch das Umdenken, was klar eingesetzt hat, zu verstetigen. Es ist gut, dass die Menschen merken, dass sich etwas ändert. Was dabei enorm wichtig ist: Die Projekte und Maßnahmen legitimieren Änderungen in der Zukunft. Jedes Experiment, das erfolgreich und permanent wird, wird automatisch zu einer Referenz für jeden Planer, Politiker oder jede Lobbygruppe, die Änderungen möchte. Sie können sagen, schaut her, wie erfolgreich das war! Das ist, wie Dinge sich ändern können.

Online-Kurse: Unraveling the Cycling City

Die akademischen Online-Kurse „Unraveling the Cycling City“ der Universität von Amsterdam werden auf Coursera.com angeboten. Sie werden regelmäßig mit Bestnoten bewertet und wurden inzwischen von über 10.000 Teilnehmer*innen besucht.

urbancyclinginstitute.com/mooc

Welche Fehler sollte man als Verantwortlicher, Politiker oder Planer heute vermeiden?
Der größte Fehler ist sicherlich, Angst vor Veränderungen zu haben, in seiner alten Perspektive und Denkweise stecken zu bleiben. Es ist einfach und bequem für Planer und Beamte, den Status quo beizubehalten, mit Bürokratie, Regeln usw. Der schwierigste Teil ist sicherlich die Arbeit innerhalb der Bürokratie, um das Denken und die Standards zu ändern.

Was würden Sie Verantwortlichen raten? Was brauchen wir für eine Mobilitätswende?
Wir haben heute sehr gute Daten und wissen, dass 30 bis 50 Prozent der Menschen eine Mobilitätswende wollen und sich viele gerne auf das Fahrrad setzen würden. Die Menschen tun es meist nur nicht, weil sie sich unsicher fühlen. Für die, die zusätzlich aufs Rad wollen, brauchen wir andere Zustände im Verkehr. Wir brauchen Straßen, die sich sicher anfühlen, wir brauchen langsameren und weniger Autoverkehr, geschützte Radwege, sichere Abstellanlagen und wir brauchen eine Infrastruktur, die sicher genug ist für Kinder.

„Bieten die Straßen Freiheit für alle Arten von Menschen, alle Altersgruppen und alle Fähigkeiten?“

Orte wie Schulen, an denen Kinder zusammenkommen, sind großartige Gelegenheiten, den Straßenraum neu zu denken. In den 1980er-Jahren wurde die „Van Ostadestraat“ für den Durchgangsverkehr und Parkplätze gesperrt; dadurch entstand Raum für einen Spielplatz, Bäume und viel Platz für Eltern, die sich beim Bringen der Kinder treffen und unterhalten können.

Wieso ist die eigenständige Mobilität von Kindern so wichtig?
Ich komme ja aus Kalifornien und bin als Kind immer von meinen Eltern gefahren worden. Es ist unglaublich zu sehen, dass Kinder in den Niederlanden mit 10 Jahren sicher alleine mit dem Fahrrad zur Schule, zum Sport oder zu Freunden fahren können. Für die Kinder bedeutet das ein wichtiges Empowerment, das sie ihr ganzes Leben begleitet, und außerdem enorme Freiheiten. Die Freiheit gibt es gleichzeitig auch für die Eltern, die ihre Kinder nicht mehr überall hinfahren müssen. Ich bin vor über einem Jahrzehnt nach Amsterdam gezogen, habe selbst zwei Kinder und kann es mir gar nicht mehr anders vorstellen.

Wie müssten Straßen idealerweise aussehen?
Es gibt keine Blaupause oder ein Patentrezept. Die zentrale Frage ist: Bieten die Straßen, die wir haben, Freiheit für alle Arten von Menschen, alle Altersgruppen und alle Fähigkeiten? Können Kinder unbeaufsichtigt sicher neben der Straße spielen? Die meisten Städte werden nein sagen. Daran müssen wir dringend arbeiten – gerade Kinder brauchen in der Zeit nach der Pandemie viel mehr sichere Räume.

Meredith Glaser

ist als Doktorandin am Urban Cycling Institute der Universität Amsterdam tätig. Hier lehrt Professor Dr. Marco te Brömmelstroet, bekannt auch als „Cycling Professor“, Infrastrukturplanung und geografisches Informationsmanagement. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen politische Innovation, Wissenstransfer und Kapazitätsaufbau für eine beschleunigte Umsetzung von nachhaltigen Verkehrszielen. Sie hat den akademischen Output für europäische Projekte (CYCLEWALK und HANDSHAKE) akquiriert und verwaltet, ist Co-Leiterin des Sommerprogramms Planning the Cycling City und hat zur Produktion des Onlinekurs-Programms „Unraveling the Cycling City“ beigetragen. Meredith Glaser stammt aus Kalifornien und hat einen Master-Abschluss in Stadtplanung und öffentliche Gesundheit der Berkeley University. Seit fast 10 Jahren arbeitet sie im Bereich Stadtentwicklung und Transfer nachhaltiger Mobilitätspolitik und ist eine erfahrene Ausbilderin für Fachleute, die die niederländische Verkehrsplanungspolitik und -praxis erlernen möchten.


Bilder: Meredith Galser / Urban Arrow, Amsterdam City Archives (Bilddatenbank), Urban Cycling Institute

Die Niederlande stellen für viele das Land dar, wie man es sich hier nach einer Verkehrswende wünscht. Beispiele zeigen: Mit Radwegen allein ist es nicht getan. Man muss dranbleiben und in größeren Zusammenhängen denken. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Wer an der Station Centraal in Amsterdam aus dem Zug steigt, steht mitten in einer Großstadt – und in einer Mobilitäts-Idylle: Über den weiten Vorplatz nur Radfahrer, Taxis und kleine E-Autos auf schmalen Wegen. Ansonsten ist der Platz von Fußgängern bevölkert, viele auf dem Weg zur wenige Meter entfernten Straßenbahn- und Busstation. Von hier aus fahren Bahnen in alle Winkel der weitverzweigten Stadt, die sich in den letzten Jahren sogar über künstlich angelegte Inseln im Norden ausgebreitet hat. Kurz vor dem Haupteingang des Bahnhofs beginnt die nahezu autofreie Einkaufsstadt.
In den letzten 15 bis 20 Jahren gab es auch durch Zuwanderung einen Schub an Arbeitsplätzen in der größten Stadt der Niederlande. Sie wächst kontinuierlich. Heute hat sie gut 850.000 Einwohner, vor 20 Jahren waren es noch 680.000. Die Räder der Fahrradpendler stehen wenige Meter von den Gleisen entfernt in teils schwimmenden Fahrradparkhäusern am Hinterausgang des Bahnhofs. Ihre Zahl wird laufend aufgestockt, trotzdem hinkt die Stadt dem weiter wachsenden Bedarf oft hinterher. Amsterdam ist aber auch die touristisch wichtigste Stadt in den Niederlanden. In den letzten Jahren lockte sie immer mehr Touristen und Hotelketten an.

Beispiel Amsterdam: die permanente Arbeit an der Lebensqualität

Die holländische Weltstadt wird, wie alle größeren Wirtschaftszentren, täglich von enormen Pendlerströmen heimgesucht. Natürlich leidet auch die Grachtenstadt unter der Verkehrslast, vor allem in Sachen Autoverkehr, auch wenn man es am bahnhöflichen Idyll zunächst gar nicht sieht. Staus wie in München oder Köln auf und neben den Hauptverkehrsadern, schlechte Luft, zu wenig Platz. Das gibt es auch hier. Doch die Stadt kämpft dagegen an. Autos aus dem Innenstadtbereich heraus zu halten, ist nicht einfach. Offizielle Internetseiten der Stadt raten davon ab, die Stadt per Auto zu besuchen. Ein dichtes Netz aus Park & Ride-Plätzen sorgt für etwas Entlastung. Die relativ hohen Gebühren eines elektronisch gesteuerten Bezahlsystems schrecken vom Besuch per Auto ab.
Und die Bewohner? In den Wohnvierteln wurden in den letzten 15 Jahren Parkausweise für Anwohner extrem verteuert. 535 Euro kosten sie in Amsterdam im Schnitt. Und die Parkplätze werden abgebaut: jährlich um etwa 1.500. Wer innerhalb der Stadt umzieht, muss im neuen Viertel auf seinen Parkausweis obligatorisch verzichten.
Intelligente Verkehrsplanung und -routing, ein ständig optimiertes Netz der öffentlichen Verkehrsmittel und, natürlich, das bekannte feingliedrige und eigenständige Radwege-Netz sind hier die größten Mobilitäts-Garanten. „Für unsere Städte gibt es nur eine Möglichkeit zu mehr Lebensqualität, und der führt über die Verringerung des Autoverkehrs“, sagt Bernhard Ensink, strategischer Berater beim Verkehrsplanungs- und Beratungsunternehmen Mobycon. Mittlerweile hat die Firma 45 Mitarbeiter an drei niederländischen Standorten, zudem einen Standort in Nordamerika. Ensink hat Erfahrung in Sachen Lenkung von Mobilitätsströmen und Förderung von Fahrradverkehr. Er war Gründer und Leiter der internationalen Fachkonferenz Velocity und leitete ab 2006 den Dachverband der europäischen Radfahrerverbände ECF.

Neue Herausforderungen und Pop-up-Radwege durch Corona

Die aktuelle Corona-Krise bringt neue Herausforderungen und bedeutet für Mobycon noch mehr Arbeit: Das Unternehmen war auch als Berater bei Corona-Pop-up-Radwegen in Berlin involviert. Für ihre Planung wurde kurzfristig sogar ein Handbuch in mehreren Sprachen herausgegeben – abrufbar auf der Internetseite mobycon.com. Eine Erfahrung aus Ensinks langjähriger Beratung und Analyse, die er für allgemeingültig hält: „Überall, wo mehr als 30 Stundenkilometer gefahren werden darf, macht Mischverkehr keinen Sinn!“ Eine klare Trennung der Wege für Autos und Fahrräder – ein Konzept, wie man es in den Niederlanden fast überall bestätigt bekommt. „In Holland ist es so, dass ambitionierte Städte mit eigenem Personal Projekte und Programme erarbeiten.“ Für die erste Analyse und Beratungen wird gern auf externe Unternehmen zurückgriffen. „Die Analyse ist das Wichtigste. Unterschiedliche Ausgangslagen brauchen unterschiedliche Maßnahmen“, sagt er und verweist auf Projekte in Delft und Rotterdam, wo regionale Fahrrad-Schnellstraßen gebaut wurden. In anderen Städten hätte man diese vielleicht ganz anders angelegt – entscheidend seien die Arten der Pendlerströme, vorhandene In­frastrukturen und vieles mehr. Und stehen bleiben gibt es nicht: Seit einigen Jahren werden bei Mobycon auch spezifische Besonderheiten für die schnellen S-Pedelecs in die Netzplanung einbezogen.

Fahrradsozialisation: in den Niederlanden eine gesellschaftliche Aufgabe

Natürlich muss man nicht nur baulich nachhelfen, um die Bewohner und Touristen auf die Räder zu bekommen, sondern zunächst gesellschaftlich. Wie mit einer Fahrrad-Bürgermeisterin für Amsterdam. Diese Ehrenamtsstelle gibt es in Amsterdam seit 2016 und mittlerweile auch andernorts. Katelijne Boer­mas Aufgabe ist es unter anderem, in der Bevölkerung Ideen für noch mehr Fahrradmobilität aufzuspüren und weiterzugeben – auch an die Behörden. Vernetzung ist für sie hier ein Zauberwort. Ein Fokus ihrer aktuellen Arbeit ist das Thema „Kinder aufs Fahrrad“. Helikopter-Eltern sind keine deutsche Erfindung, auch in Amsterdam gibt es den Trend, Kinder per SUV zur Schule und zu Freizeitaktivitäten zu chauffieren. Hier versucht man, dem entgegenzutreten. Aufklärung, Lernprogramme, Verbreitung von Lastenrädern. Schließlich sollen die Kinder nicht an das Auto gewöhnt werden, sondern an intelligente Nutzung nachhaltiger Mobilitäten – und das Fahrrad. Mit bis ins Detail abgestimmten Programmen lernen Kinder hier, gut und sicher Fahrrad zu fahren.

Vernetzt denken bringt Mobilitäts-Mehrwert. Die Hälfte der Bahnreisenden nutzt in den Niederlanden das Fahrrad als Zubringer.

Fahrradparadies? Das ist nur die halbe Geschichte

Das Bild der Niederlande als Fahrradnation ist richtig, aber es ist nur die Perspektive der letzten 30 bis 40 Jahre. Oft wird vergessen, dass auch Städte wie Amsterdam nicht als „Biketown“ geboren wurden. Es hilft, die Situation in Deutschland zu verstehen, wenn man sich die Geschichte der Fahrradnation vor Augen führt. Zunächst gleicht die Vergangenheit der Niederlande der bundesdeutschen Geschichte: Vor dem Zweiten Weltkrieg dominierte das Fahrrad das Stadtbild uneingeschränkt. Radwege? Auch sie gab es, aber Autos waren in der Unterzahl, in den meisten kleineren Städten waren Radwege kaum vorhanden, da unnötig. Durch eine dem deutschen Wirtschaftswunder ähnliche ökonomische Dynamik erreichten die Niederländer nach dem Krieg schnell einen hohen Wohlstand. Prosperität hieß auch hier: Konzentration auf das Auto. Ab Mitte der 1950er Jahre musste deshalb in vielen Städten mehr Platz fürs Auto geschaffen werden. Ganze Straßenzüge wurden abgerissen und neu aufgebaut. Mehrspurige Führungen, riesige Parkplätze in den Innenstädten. Es gab die ganze Palette an Umwidmungen der Flächen, die man auch aus Deutschland kennt. Die Zahl der Radfahrer sank dabei jedes Jahr um sechs Prozent.

„Wir müssen jetzt darüber nachdenken, was wir der jungen Generation vermitteln“

Katelijne Boerma, Amsterdamer Fahrrad-Bürgermeisterin

Mehr Auto-Mobilität – mehr Unfälle

Die durchschnittlich pro Tag zurückgelegte Strecke pro Person versiebenfachte sich auf fast 30 Kilometer. 1971 erreichte eine Folge der Entwicklung seinen traurigen Höhepunkt: 3300 Menschen starben bei Verkehrsunfällen, darunter ein hoher Prozentsatz an Kindern.
Hier trennen sich die Entwicklungen der beiden Länder: Ab den Siebzigern gingen die Holländer zu Tausenden auf die Straßen, um gegen die Verkehrstoten zu demonstrieren. Sie forderten sicherere Straßen und lebenswertere Innenstädte für Menschen, denen der Platz zum Leben weggenommen worden war. Wesentlich mit zu einem Umdenken beigetragen hat dabei die Ölkrise 1973. Sie verstärkte den Protest und stellte neben mehr Sicherheit und Menschenfreundlichkeit im Verkehr auch den Umweltgedanken und die Unabhängigkeit vom Erdöl in den Mittelpunkt. Einige kleinere Städte gingen voraus und schufen autofreie Innenstädte. Wo Mischverkehr bleiben sollte, da wurde ein neues Radwegenetz entwickelt – mit getrennten Wegen für Autos und Räder, Autostraßen wurden oft zurückgebaut. Wo komplette Fahrrad-Netze umgesetzt wurden, stieg der Anteil der Fahrradnutzung binnen kurzer Zeit wieder um bis zu 75 Prozent an. Mit fahrradpolitischen Richtlinien, die nicht verpflichtend waren, aber vom ganzen Land übernommen wurden, hatten sich die Niederlande auf den Weg zum Fahrradland gemacht, wie wir es heute kennen. Nebeneffekt: Laut Statista gab es im Jahr 2018 nur 678 Verkehrstote im ganzen Land.
Eine Voraussetzung für so einen Wandel ist unerlässlich: „Das Fahrrad muss als vollwertiges Verkehrsmittel anerkannt werden – von allen Beteiligten, vom Verkehrsplaner über die Behörden bis hin zum Nutzer“, betont auch Bernhard Ensink.

Fahrradanteil Utrecht: 40 Prozent und steigend

Eine der Städte, die in und nach den Siebzigern weitreichend umgebaut wurden, ist Utrecht. Die Stadt zählt 350.000 Einwohner, 125.000 Radfahrer sind laut Statistik täglich mit dem Rad in der City unterwegs. Das braucht entsprechend breite Radwege für die Rushhours, aber auch Parkmöglichkeiten. Um die 35.000 Plätze sollen es allein in der Innenstadt sein. Doch Utrecht ist auch eine Durchgangsstadt. Sie liegt zentral im Land, der Bahnhof Utrecht Centraal spielt eine herausragende Rolle für den Fernverkehr. Vor allem ins 45 Kilometer entfernte Amsterdam pendeln die Bewohner und die der umliegenden Ortschaften zur Arbeit. Für die Möglichkeit, das mit der Bahn in 25 Minuten zu tun, sorgt unter anderem auch das größte Fahrradparkhaus der Welt. Von der Einfahrt ins Parkhaus unter dem Bahnhof bis zum Zug brauchen Pendler etwa 10 Minuten – inklusive sicherem Abstellen des Zweirads. Seit Ende 2019 sind allein dort 12.500 Rad-Parkplätze vorhanden, dazu um die Ecke mehrere Hundert weitere für Spezial- und Lastenräder. Das Parkhaus ist mit einem Leitsystem ausgestattet, das die Reihen angibt, in denen sich freie Plätze befinden.
Dieses Beispiel zeigt: Vernetzt zu denken bringt Mobilitäts-Mehrwert. Wer Auto-Pendlerströme vermindern will, sorgt für gute Anschlüsse bei der alternativen Mobilität schon auf halbem Weg dorthin. In den Niederlanden erreicht rund die Hälfte der Pendler den Bahnhof mit dem Fahrrad. Schon innerhalb der Stadt sichert ein auf den Radverkehr zugeschnittenes Wegenetz eine komfortable Anfahrt zum Bahnhof. Am Ankunftsort wird die Fahrt mit dem öffentlichen Verkehr OV oder Leihrädern von OV Fiets. Diese auch am kleinsten holländischen Bahnhof vorhandenen Leihräder kosten 3,85 Euro je Tag. Deutlich günstiger wird es mit dem Jahresticket, das nur wenige Euro kostet. Von der Stadt finanzierte Fahrradlehrer geben Unterricht oder helfen Neuzugezogenen, sich auf dem Rad in der Großstadt zurechtzufinden. E-Tretroller, die hierzulande vor Kurzem noch als vermeintliche Mobilitätsrevolution gefeiert wurden, sind in den meisten niederländischen Städten übrigens so gut wie nicht vertreten; sie werden einfach nicht gebraucht.

Auf einem guten Weg: Die vorhandenen Radschnellwege in den Niederlanden in Grün, die orangefarbenen sind in der Planungs- oder Ausführungsphase. Zentren sind bereits teils sehr gut abgedeckt. Grau: Verbindungsrouten der Kluster.

Niederländer denken größer und vernetzter

„Hier in Holland sind alle Autofahrer auch Fahrradfahrer“, sagt Marion Kresken vom IPV Delft, einem Ingenieurbüro in der gleichnamigen Stadt, das sich mit der Planung und Durchführung von Radweganlagen, speziell Brücken beschäftigt. „Das fördert das Verständnis füreinander und für die Radnetz-Planungen ungemein. Überhaupt gibt es in den Niederlanden viel mehr Institutionen und Verbände, die netzwerkartig zusammenarbeiten und vom öffentlichen Träger auch gern einbezogen werden. Man analysiert zusammen und denkt zusammen nach, das kann sehr effektiv sein.“ Und auch die unterschiedliche Mentalität und Lebensweise wirke sich auf die Entwicklung und Dynamik hin zur neuen Mobilität aus. „Man denkt hier vernetzter, größer.“ Ein gutes Beispiel ist der geradezu ikonische Hovenring in Eindhoven, der die Radfahrer aus dem gefährlichen Kreuzungsverkehr nimmt und ihnen auf lichter Höhe einen eigenen Kreisverkehr gibt. Dabei war nicht der Wunsch nach einem besseren Fluss des Fahrradverkehrs der Anlass, „sondern der Wunsch nach ungehindertem Autoverkehr“, erklärt dazu Bernhard Ensink. Der kühne Entwurf von IPV Delft kam bei den Entscheidern in Niederlanden gut an. „Unsere Entwürfe für deutsche Projekte sind dagegen oft zu gewagt, was die Reichweite der Lösungen anbetrifft“, so Marion Kresken. In Deutschland traue man sich derzeit weniger zu und es sei komplizierter, etwas auf die Beine zu stellen.

IPV Delft hat den Hovenring in Eindhoven mitentwickelt und gebaut. Der erhöhte Kreisverkehr wurde wie eine Hängebrücke mit Abspannseilen an einem Pylon aufgehängt. Die Anfahrrampen für die Radfahrer sind relativ lang, um die Steigung gering zu halten. Täglich nutzen etwa 4000 bis 5000 Radfahrende das Bauwerk. Die Kosten des Projekts betrugen elf Millionen Euro.

Beispiel Houten – Modellstadt statt Utopie

Die Kleinstadt Houten, wenige Kilometer südlich von Utrecht, wird auch „Verkehrskonzept der Zu-kunft“ genannt. Das ursprüngliche 8000-Einwohner-Dorf im Umkreis von Utrecht wurde so umgebaut, dass man von seinem Viertel aus die angrenzenden Wohnviertel zu Fuß oder mit dem Fahrrad direkt erreichen kann; mit dem Auto aber muss man auf eine Umgehungsstraße, der Weg wird ungleich länger und unbequemer. Die direkten Wege sind umgekehrt dadurch ruhig und sicher. Das Rad hat Vorrang vor dem Autoverkehr. Das neue Zentrum von Houten ist fast komplett autofrei, Radverkehrs- und Autostraßen sind praktisch völlig entkoppelt. Die Trennung der Verkehrsspuren hat Erfolg: Seit 30 Jahren soll es in Houten keinen tödlichen Unfall gegeben haben. Die neuen Bereiche der Stadt wurden von Anfang an als Viertel der alternativen Mobilität und der kurzen Wege für Fußgänger und Radfahrer geplant. Die Einkaufsregion im neuen Zentrum rund um den Bahnhof ist – gegen anfängliche Bedenken der Einzelhändler – gut besucht. Die Zufahrt zu den umliegenden günstigen Parkhäusern ist unkompliziert, die Wege sind kurz.

Deutschland als Fahrradland?

Auch wenn Konzepte wie die von Amsterdam, Utrecht oder Houten nicht auf jede Stadt und schon gar nicht für jede Stadtgröße transformierbar sind: Sie zeigen, wie viel Lebensqualität möglich wird, wenn Autos nicht mehr den Verkehrsraum bestimmen. Mobycon-Berater Bernhard Ensink kennt die Entwicklung beider Länder auf dem Verkehrs-sektor und glaubt an Deutschland als potenzielle Fahrradnation: „In Deutschland will man jetzt schneller voran, man spürt es in allen Kontakten bis hin zum Verkehrsminister. Ich glaube fest, dass Deutschland ein Fahrradland werden kann!“


Bilder: Hector Hoogstad Architecten – Petra Appelhof, Georg Bleicher, Fietsersbond

Keine weiteren Lippenbekenntnisse, sondern mehr Raum fürs Rad und zwar sofort fordert Verkehrsforscher Prof. Dr. Andreas Knie. Der Berliner Politologe und Soziologe sieht gute Chancen für eine Rad-Verkehrswende. Die Bevölkerung in den Großstädten sei hier schon viel weiter als die Politik. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Herr Professor Knie, die Länder wollen mehr Radverkehr, die Kommunen wollen es und selbst der Verkehrsminister hat sich kürzlich zum Fahrradminister erklärt. Man fragt sich also, wo gibt es eigentlich ein Problem?
Das Problem ist, dass das alles Lippenbekenntnisse sind. Wenn man mehr Fahrradverkehr haben will, dann muss man dem Rad mehr Raum einräumen. Das heißt schlicht, wenn man den Raum nicht erweitern kann, dann muss man den bestehenden Verkehrsmitteln Raum wegnehmen. Da geht es um das Automobil. Und da traut sich kein Verkehrsminister und kaum ein Bürgermeister in Deutschland ran.

Bevor man nach einer filigranen Lösung sucht, am besten einfach machen.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach grundlegend ändern?
In den letzten Jahrzehnten ist dem Auto immer mehr Platz eingeräumt worden. Und auch der unter anderem durch die StVO gesetzlich definierte Rahmen gibt dem Auto
quasi unbeschränkte Freiheit. Das muss man neu diskutieren, eine klare Position finden und diese auch in den politischen Alltag überführen. Das Fahrrad ist ein ideales Verkehrsmittel. 15 bis 20 Prozent der Wege könnten mit dem Rad oder dem E-Bike zurückgelegt werden.

Die Forderung nach weniger Raum für das Auto hört sich nicht besonders populär an. Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass es hier zu Veränderungen kommt?
Es gibt unseren Erkenntnissen nach die begründete Aussicht, dass der Kampf um mehr Platz fürs Rad aussichtsreich ist und dass er gewonnen werden kann. Wir behaupten, dass zwei Drittel der Menschen in den Großstädten bereit sind, dem Auto Raum zu nehmen und dem Fahrrad mehr Raum zu geben.

Wie kommt es zur wachsenden Bereitschaft für eine Rad-­Verkehrswende?
Es ist eine Entwicklung, die schon sehr lange vor sich hin wuchert. Langsam ist das Bewusstsein immer breiter geworden, dass das Rad gut ist, dass wir mehr Rad brauchen und dass tatsächlich auch immer mehr Menschen Rad fahren. Das Fahrrad ist einfach ein ideales Verkehrsmittel. Seit ein bis zwei Jahren ist den Menschen in der Stadt klar: Die Verkehrswende muss kommen. Das Signal ist so stark, dass das Thema in den letzten Jahren auch politisch diskutiert wird.

Vor welchen Herausforderungen stehen die Verkehrsplaner und die Politik vor Ort konkret?
Zum einen muss man bereit sein, den politischen Kampf zu führen und Menschen zu überzeugen. Denn es müssen Parkplätze weggenommen und Fahrbahnen verengt werden. Im Weiteren geht es darum, Fahrradwege, Fahrradstraßen und Kreuzungen so zu führen und zu gestalten, dass sie sicher sind. Und zum Dritten muss das Problem angegangen werden, dass es auf Planerseite kapazitive Engpässe gibt. Planer und gerade Fahrradplaner sind heute selten.

Man muss bereit sein, den politischen Kampf zu führen und Menschen zu überzeugen.

Prof. Dr. Andreas Knie

Sollten die Verantwortlichen mehr auf Nachbarländer schauen und sich von ausländischen Experten beraten und unterstützen lassen?
Unbedingt! Denn das Gespräch, das wir jetzt führen, haben die Holländer zum Beispiel schon in den 1960er Jahren geführt und seitdem viel Erfahrung darin, wie es geht und was nicht geht. Holland ist das Mutterland des Radverkehrs. Hier kann man sich umschauen und Erfahrung schöpfen.

Wann sind Ihrer Meinung nach Veränderungen nötig?
Sofort! Das Klima duldet keinen Aufschub; die Probleme, die wir in den Städten haben, dulden keinen Aufschub. Es ist dringend nötig, hier sehr schnell zu agieren. Wir müssen jetzt ran an den Speck. Wir haben keine Zeit zu warten, sondern müssen dem Fahrrad jetzt den Raum geben, der diesem Verkehrsmittel auch gebührt.

Das Klima duldet keinen Aufschub; die Probleme, die wir in den Städten haben, dulden keinen Aufschub.

Prof. Dr. Andreas Knie

Verkehrsplanung dauert aber Jahre, oder?
Wir haben keine Zeit zu warten. Wir müssen das Fahrrad deshalb aus dem engen Korsett des Radwegs herausnehmen und auf die Straße stellen. Bevor man nach einer filigranen Lösung sucht, also am besten einfach machen und zum Beispiel eine Fahrspur oder Parkplätze für den Radverkehr umwidmen. Wichtig ist auch Tempo 30 in den Straßen, die keine Ausfallstraßen sind. All das lässt sich sehr schnell umsetzen.

Laut Prof. Knie sollten Kommunen „am besten einfach machen“ und zum Beispiel eine Fahrspur oder Parkplätze für den Radverkehr umwidmen.

Wie sehen Sie das Problem der vielen parkenden Autos in der Stadt?
Es gibt eine klare Flächenkonkurrenz. Dabei muss man sich klarmachen, dass das praktisch kostenlose private Abstellen des Autos im öffentlichen Raum eine politische Entscheidung war, um das Auto zu popularisieren und seine Attraktivität zu fördern. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass man diese Entscheidung jederzeit wieder ändern kann.

Wie sollten Veränderung in den Städten mit Bezug auf das Parken konkret aussehen?
Städte und Kommunen haben die Möglichkeit zu sagen, dass das Abstellen auf öffentlichem Grund nicht mehr erlaubt ist. Parkplätze können so beispielsweise problemlos in Radwege umgewandelt werden. Weitere wichtige Maßnahmen sind auch die flächendeckende Parkraumbewirtschaftung und das deutliche Anheben der Kosten für das Abstellen eines Pkws im öffentlichen Raum.

Im Regelfall ist ein Auto ja nur mit einer Person besetzt, das heißt, es sind noch vier Plätze verfügbar. Jedes private Auto kann so quasi zu einem kollektiven Bus werden.

Prof. Dr. Andreas Knie

Was sagen Sie zu den Menschen, die auf das Auto angewiesen sind? Zum Beispiel auf dem Land?
Viele haben von ihrer Biografie her nur das Auto im Kopf, wenn es um Mobilität geht. Aber auch auf dem Land kann man das Fahrrad oder für längere Strecken das E-Bike als Verkehrsmittel sehr gut nutzen, wenn man die passende Infrastruktur dafür schafft. Auf einer Bundesstraße zu fahren ist natürlich gefährlich, aber ein guter Radweg daneben schafft eine echte Mobilitätsalternative.

Intermodal und in seiner Heimat Berlin viel per „Call a Bike“-Rad unterwegs. Seinen Privat-Pkw hat Prof. Knie längst abgeschafft.

Und wenn man doch ein Auto braucht?
Die digitalen Plattformen bieten heute viele Möglichkeiten, Autos zu kollektivieren. Auch auf dem Land. Im Regelfall ist ein Auto ja nur mit einer Person besetzt, das heißt, es sind noch vier Plätze verfügbar. Jedes private Auto kann so quasi zu einem kollektiven Bus werden. Dazu kommt, dass sich im Zuge von Digitalisierung und Social Media das Verhältnis der Menschen zur Privatsphäre stark verändert hat. Mit Fremden nebeneinander im gleichen Fahrzeug zu sitzen, ist heute kein Problem mehr.

Prof. Dr. phil. Andreas Knie

Der Berliner Politik- und Sozialwissenschaftler zählt hierzulande zu den bekanntesten Verkehrsforschern. Im Jahr 2006 gründete Knie das Innovationszentrums für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) und ist heute unter anderem Leiter der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Professor für Soziologie an der TU Berlin. Bis 2016 verantwortete er als Bereichsleiter Intermodale Angebote und Geschäftsentwicklung der Deutschen Bahn AG zudem die Einführung des DB ­Carsharing und des Radverleihsystems Call a Bike.


Bilder: Reiner Kolberg (Portrait Prof. Andreas Knie) , A. Bueckert/stock.adobe.com