Schon in den 80er-Jahren befand der niederländische Verkehrsplaner Hans Monderman, Straßenverkehre sollten nach dem Vorbild holländischer Eislaufplätze organisiert werden: Alle fahren wie sie wollen – und achten aufeinander. Dieses Konzept der Anarchie im Straßenraum gewinnt als Shared Space immer mehr Befürworter unter Stadtplanern, wie drei Beispiele zeigen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)
In den Niederlanden wird Shared Space oft auch als Verkehrsplanung nach dem anarchischen Vorbild eines Eislaufplatzes beschrieben: Wenn alle fahren wie sie wollen, wird mehr aufeinander geachtet.
In deutschsprachigen Ländern ist häufig auch von Mischflächen oder Begegnungszonen die Rede. Konkrete Designs unterscheiden sich lokal. Denn bei Shared Space handelt es sich weniger um ein Planungsinstrument. Vielmehr geht es um ein ergebnisoffenes Gestaltungsprinzip, das alle Funktionen im öffentlichen Raum (wieder) ins Gleichgewicht bringen soll. Bis heute ist das Verhältnis unter Verkehrsteilnehmern unausgewogen. Dominierte mit dem Paradigma der autogerechten Stadt lange Zeit das Auto, soll es im Shared Space deshalb eher als geduldeter Gast unterwegs sein. Auch von der strikten Separation der Verkehrsteilnehmer in einzelne Fahrspuren wird (mehr oder weniger) abgesehen. Und statt Überregulierung durch Verkehrsschilder setzt Shared Space auf die soziale Verantwortung mündiger Bürgerinnen und Bürger.
Mehr Aufmerksamkeit durch Verunsicherung
Deutschland gilt als das Land mit den weltweit meisten Verkehrsschildern. Etwa 20 Millionen davon regeln, was auf den Straßen erlaubt und verboten ist. Wer als Radfahrerin oder Autofahrerin aus dem gewohnten Schilderwald in ein schilderloses Areal einfährt, ist zunächst irritiert. Gerade dieses Gefühl der Unsicherheit ist im Shared Space jedoch beabsichtigt. Untersuchungen aus Schweden und Holland zeigen, dass Verkehrsteilnehmer*innen in nicht regulierten Situationen eher stimuliert werden, miteinander zu kommunizieren, als wenn Verkehrsschilder und Spuren das Verhalten regeln. Darauf weist auch der Psychologe Pieter de Haan vom Kenniscentrum Shared Space im niederländischen Leeuwarden hin: „Ist ein Schema auf den ersten Blick nicht klar, weil neue und ungewisse Ereignisse eintreten, ist die Person alarmiert. Als Reaktion darauf passt sie ihr Verhalten an. Sie verlangsamt ihre Geschwindigkeit, schaut sich um und beobachtet andere Menschen.“
Dabei bringt Shared Space eigentlich nur zurück, was es schon einmal gab. „Zwar hat man das Konzept als eine neue Idee eingeführt“, erläutert de Haan. „Aber geht man 100 Jahre zurück, gab es überall Shared Space. Ende der 1920er-Jahre, als die ersten Wagen auftauchten, wurden Regeln eingeführt. Es folgten Ampeln und die Trennung der Verkehrsteilnehmer nach Fahrspuren.“ So begann man, mit Verkehrszeichen zu kommunizieren. Die eigene Vorfahrt wurde von Ampeln und Schildern erteilt, anstatt situativ von anderen Verkehrsteilnehmern per Handzeichen oder Blickkontakt. Die Kommunikation wurde monodirektional.
Stures Fahren nach Verkehrszeichen kann dazu führen, dass das eigentliche Verkehrsgeschehen aus dem Blick gerät. Mitunter überfährt ein Rechtsabbieger, dessen Ampel Grün zeigt, einen Fußgänger, der ebenfalls bei Grün die Straße quert. De Haan: „Shared Space reaktiviert die soziale Kommunikation. Schilder sind dann nicht mehr nötig.“
In Deutschland ist Bohmte in Niedersachsen ein Vorreiter bei der Umsetzung von Shared Space – mit deutlichen Effekten für die Verkehrssicherheit.
Probieren geht über Studieren
In Deutschland gehört die Gemeinde Bohmte in Niedersachsen seit 2008 zu den Vorreiterprojekten. Vor der Änderung der konventionellen Infrastruktur stand eine mutige Entscheidung. „Mord und Totschlag“ prophezeiten Hannoveraner Verkehrsplaner dem Vorhaben. „Probieren geht über Studieren“, lautete die Antwort des damaligen Bürgermeisters Klaus Goedejohann. Zehn Jahre später resümierte er in der FAZ (24.07.2018) das Unfallgeschehen: „Im Durchschnitt ein Leichtverletzter im Jahr.“
In Bohmte ging man das Konzept in Form eines großen Kreisverkehrs an. Bahnhofsvorplatz und zentraler Platz wurden im Zuge der Umsetzung als Schwerpunkte definiert. Um eine langsamere und vorsichtigere Fahrweise zu erzwingen, wurde die Fahrbahnbreite dazwischen unter sechs Meter verringert. Straße wie Gehwege wurden auf das gleiche Niveau gesetzt, allerdings farblich markiert. Sämtliche Verkehrsschilder wurden demontiert. Die letzte Tafel vor Einfahrt in den Shared Space verweist auf die Tempo-30-Zone davor. Der Abbau von Schildern und Ampeln entlastete Bohmte übrigens auch finanziell. Den Großteil der 2,1 Millionen Euro für die baulichen Eingriffe steuerte die Gemeinde selbst bei. Eine halbe Million kam aus dem damaligen Infrastrukturprogramm Interreg North Sea Region Programme der EU.
Auf die Verkehrsstärken kommt es an
Das Ergebnis: Nach einer ersten Zufriedenheitsanalyse der Fachhochschule Osnabrück bescheinigten Anwohner wie Gewerbetreibende dem Areal eine neue Aufenthaltsqualität. Klassische Bedenken lokaler Händler über Umsatzeinbußen bestätigten sich nicht. Im Gegenteil wird der Effekt der Außenwirkung von Bohmte als geschäftsfördernd eingeschätzt. So freut sich auch Modehaus-Inhaber Hubertus Brörmann in der FAZ: „Als hier noch eine Ampel stand, … habe man permanent aufheulende Motoren gehört. Nun sei der Lärm gleichmäßiger und insgesamt weniger geworden. […] Dreimal habe es da so richtig gescheppert. Wenn jetzt an anderen Stellen was passiere, dann, weil die regelversessenen Menschen zu wenig mitdenken würden.“
Hinzu kommen ein verbesserter Verkehrsfluss und seltene Staus. Ein Tempo von bis zu 40 km/h wird kaum überschritten. Wenig geändert hat sich an der Zahl von knapp 13.000 Autos, die jeden Tag über die historische Bremer Straße brettern. Sie bildet mit Rathaus, Kirche, Bahnhof und Einzelhandel den Ortskern. Der neue Gemeinderat Lutz Birkemeyer, selbst Radfahrer und Befürworter des Shared Space, benennt die Ursache: „Der überregionale Verkehr angebundener Landesstraßen sorgt dafür, dass das Konzept in Bohmte nicht vollständig zur Geltung kommt.“
Aus demselben Grund hapere es in der Praxis noch an der Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer: Die schiere Übermacht des Autos verdrängt Radfahrende an den Straßenrand. Deshalb hält Birkemeyer das Shared-Space-Konzept an weniger befahrenen Straßen für sinnvoller. Auch unter Expert*innen ist von maximalen Verkehrsstärken die Rede, damit ein Shared Space Sinn ergibt. Die Zahlen schwanken zwischen 8000 bis 25.000 täglichen Durchfahrten. Oder darüber. Das Land Bremen setzt auf ein Mittelmaß und empfiehlt in einem Papier, die Verkehrsstärke von 15.000 Kraftfahrzeugen bei zweistreifigen Straßen nicht zu überschreiten.
„Shared Space reaktiviert die soziale Kommunikation. Schilder sind dann nicht mehr nötig.“
Pieter de Haan, Kenniscentrum Shared Space
Barrierefreiheit und optimale Sichtbeziehungen
Auch der Duisburger Opernplatz ist ein stark frequentiertes Areal. Wo einst eine vierspurige Straße vor dem Theater verlief, befindet sich heute ein Shared Space. Die einheitlich mit Pflaster gestaltete Fläche ist als verkehrsberuhigter Bereich ausgeschildert und sieht Schrittgeschwindigkeit vor. Die dort mündende Mosel- sowie Neckarstraße sind in den Shared Space eingebunden und als Tempo-30-Zone ausgewiesen. Verbleibende Fahrspuren wurden auf eine pro Richtung reduziert und durch einen Mittelstreifen getrennt. Die Ränder mit Flachborden und dunklem Pflaster abgesetzt. Radfahrerinnen können hier überall fahren, Fußgän-gerinnen besitzen Vorrang.
Kerngedanke der Planungsphilosophie im Shared Space ist, dass Fußgängerinnen, Radfahrerinnen und Autofahrer*innen per Blickkontakt interagieren. Sehbehinderte Menschen sind von dieser Möglichkeit jedoch ausgeschlossen. Deshalb sind im Duisburger Shared Space, ähnlich wie in Bohmte, Fahrbahnkanten taktil erfassbar. So können auch sehbehinderte Menschen sie queren. Malte Werning, Pressesprecher der Stadt Duisburg, beobachtet auch eine gesteigerte Solidarität und Rücksichtnahme verschiedener Gruppen untereinander. Zudem haben sich die Kfz-Verkehrsmengen seit dem Umbau um etwa ein Drittel reduziert. Und es gibt weniger Staus als zuvor. Werning sagt: „Erkennbar ist eine merkliche Entschleunigung des Kfz-Verkehrs.“ Er räumt allerdings ein, dass Autofahrer offenbar noch Nachholbedarf haben: „Die Vermeidung von illegalem Parken braucht viel Kontrolle und damit hohen Personaleinsatz.“ Denn Parken ist am Opernplatz nicht mehr gestattet. Das Parkverbot optimiert die Sichtbeziehungen, die für den Shared Space entscheidend sind. Dafür wurden auch störende Barrieren beseitigt und auf feste Einbauten oder eine Bepflanzung verzichtet.
In der Berliner Maaßenstraße werden Verkehrsteilnehmer*innen mit Erklärtafeln begrüßt.
Hohe Aufenthaltsqualität
Der Shared Space in der Berliner Maaßenstraße ist als Begegnungszone ausgewiesen. Zu den angestrebten Zielen gehörten geringere Kfz-Geschwindigkeiten, eine höhere Aufenthaltsqualität und ein rücksichtsvolleres Miteinander aller Verkehrsarten sowie bessere Querungsmöglichkeiten für Fußgängerinnen. Zugleich sollten die Verkehrsabwicklung und die Belieferung von Gewerbebetrieben möglichst beibehalten werden. Im Rahmen der Umgestaltung wurden eine Tempo-20-Zone mit eingeschränktem Halteverbot ausgewiesen. Parkplätze sowie Flächen für den fließenden Kfz-Verkehr wurden reduziert. Hinzu kamen urbane Begegnungsflächen mit Möblierung sowie neu gestaltete Querungsstellen. Ganz ohne weitere Beschilderung kommt man in der Maaßenstraße nicht aus. So werden Verkehrsteil-nehmerinnen an allen Zugängen von Tafeln begrüßt, die entscheidende Spielregeln erläutern: „Die Begegnungszone ist eine Straße für alle. Rücksicht und Achtsamkeit gehen vor – egal ob zu Fuß, mit dem Rad, im Auto oder beim Liefern und Laden. Alle haben Platz – Rad- und Autofahrende auf der Fahrgasse. Parken ist hier nicht erlaubt, Halten nur zum Liefern und Laden.“
Zwar entstand die Begegnungszone in der Maaßenstraße im Rahmen von Modellprojekten mit fußverkehrsfördernden Maßnahmen. Übergeordnetes Ziel ist aber ein Miteinander von Fuß-, Rad- und Autoverkehr im Verkehrsraum. Beim Ortsbesuch erweist sich das Areal als echte Flaniermeile. Geschäfte, Cafés und Restaurants sowie die Aufenthaltsbereiche davor sind gut frequentiert. Radfahrerinnen und Fußgängerinnen trauen sich gleichermaßen auf die Straße. Ein von der Verkehrsverwaltung beauftragter Vorher-Nachher-Bericht macht ebenfalls Mut: Auch im Berliner Beispiel ist die Kfz-Verkehrsmenge um rund ein Drittel gesunken. Bereits die Kurvenführung bei der nördlichen Einfahrt vom Nollendorfplatz her in die Begegnungszone erzwingt eine Verlangsamung des Kfz-Verkehrs. Der Anteil der Fahrzeuge, die mehr als 30 km/h fahren, sank von 47 Prozent auf 9 Prozent. Wurde vor dem Umbau in Fahrtrichtung Nord schneller gefahren als in südlicher Richtung, liegen die Fahrgeschwindigkeiten mittlerweile in beiden Richtungen ähnlich niedrig.
Während die Anzahl der Fußgän-gerinnen nach der Umgestaltung um rund 30 Prozent stieg, ist der Anzahl der Radfahrenden dem Bericht nach weitgehend konstant geblieben. Wegen des Rückbaus früherer Radwege nutzt der überwiegende Teil der Radfahrenden die Fahrgasse anstelle der Gehwege. Diese wurden gegenüber dem Vorher-Zustand deutlich entlastet. Zwar wird gelegentlich auch die Aufenthaltsfläche gequert. In der Regel klappt das aber. Konflikte zwischen Radfahrenden und Fußgängerinnen wurden nicht beobachtet.
„Erkennbar ist eine merkliche Entschleunigung des Kfz-Verkehrs.“
Malte Werning, Stadt Duisburg
Voraussetzung Partizipation
Jeder Shared Space besitzt eigene lokale Herausforderungen. In Berlin stand der Wunsch nach niedrigeren Kfz-Geschwindigkeiten bei der Öffentlichkeitsbeteiligung im Vordergrund. Ähnlich gingen in Bohmte und Duisburg dem konkreten Shared- Space-Projekt Versammlungen, intensive Diskussionen und Workshops voraus. Denn nicht zuletzt gelingt „Shared Space“ nur in Konsens von kommunaler Politik, Anrainern und Gewerbetreibenden. Die Akzeptanz für einen Kulturwandel im Verkehrsraum hängt entscheidend von dieser Partizipation ab.
Pieter de Haan formuliert das so: „Sicherheit ist nicht die erste Idee von Shared Space. Unser Ziel ist es, einen schönen Platz für Menschen zu gestalten. Der Raum ist der Raum der Menschen, wo sie sich aufhalten und in dem sie interagieren: Vielleicht gibt es dort Läden oder Cafés. Wie es am Ende genau aussieht, hängt von dem Kontext und der lokalen Kultur ab. Also versuchen wir auch, das Design der Umgebung gemeinsam mit den Anwohnern an diese Kultur anzupassen. Nur so erhält Shared Space eine Identität.“
Shared Space Basics
Gute Voraussetzungen für Shared Space
- An örtlichen (Haupt-)Geschäftsstraßen, Quartiersstraßen und Plätzen
- Fußgänger- und Radverkehr bestimmen das Straßenbild
- Hoher Querungsbedarf von Fußgängerinnen und Radfahrerinnen
- Die tägliche Kfz-Verkehrsstärke liegt bei max. 15.000 Kfz.
(Je nach Gestaltungselementen und Geschwindigkeitsniveau sind höhere Belastungen denkbar.) - An Straßenabschnitten mit einer Länge von 100 bis 800 m
- Möglichkeit der Anordnung von Grün- und Aufenthaltsbereichen
- Ausweisung als verkehrsberuhigter Bereich
Partizipation
Shared Space immer gemeinsam mit Bürgern, Gewerbetreibenden, Verkehrsplaner und Entscheidungsträger vor Ort konzipieren.
Nivellierung
Shared Space weitgehend höhengleich gestalten. Ggf. den Straßenraum mit Begrünung, Einbauten oder eingesetzten Flachborden gliedern, sofern dadurch Sichtbeziehungen nicht behindert werden. Eine Trennung der Fahrbahn vom Seitenraum oder die Kanalisierung des fließenden Verkehrs kann notwendig sein.
Rückbau von Beschilderung und LSA
Shared Space weitgehend ohne Lichtsignalanlagen, Beschilderung und Markierung gestalten. Als verkehrsberuhigten Bereich ausweisen, um dem Fußgängerverkehr rechtlich Vorrang zu geben, geringe Geschwindigkeiten abzusichern und das Parken zu regeln.
Gute Sichtbeziehung
Die funktionierende Kommunikation der Verkehrsteilnehmer*in-nen untereinander bedingt gute Sichtbeziehungen. Sichtbehindernde Einbauten im Straßenraum entfernen. Dazu gehört die Einschränkung des Parkens.
Barrierefreiheit
Shared-Space-Abschnitte barrierefrei und mit Rücksichtnahme auf die Anforderungen spezieller Gruppen wie Kinder und ältere Menschen gestalten. Die Nivellierung der Fläche im Shared Space ist bereits ein Vorteil für Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung. Hinzu kommen Blindenleitsysteme, z. B. durch den Einbau von Bodenindikatoren zur Querung.
Bilder: Reyer Boxem, Lutz Birkemeyer, Uwe Köppen, Wolfgang Scherreiks