Das Unternehmen Bike Citizens verspricht, Städte mit wenig Aufwand fahrradfreundlicher und lebenswerter zu machen – und vielleicht auch das eine oder andere Fahrverbot zu vermeiden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)
„Klar wollen alle Städte mehr Rad- und Fußverkehr. Der Druck von allen Seiten für eine entspannteres Vorwärtskommen, weniger Staus und weniger Umweltverschmutzung steigt“, sagt Adi Hirzer. „Doch für mehr Radverkehr braucht man die richtigen Routen, und um die zu planen, braucht man Daten.“ Daten über die anvisierten Ziele, über die genutzten Wege und über die Zeiten, die auf diesen Wegen gefahren werden. Diese Daten kann Hirzer auf Wunsch liefern. Er ist Produkt-Manager bei Bike Citizens und für den internationalen Markt zuständig. Das Unternehmen machte es sich schon vor zehn Jahren zur Aufgabe, Insiderrouten durch Städte zu finden und sie an Fahrradfahrer weiterzugeben. Der Ex-Fahrradkurier Andreas Stückli gründete Bike Citizens 2010 mit zwei weiteren Fahrradbegeisterten im österreichischen Graz. Dort ist auch heute noch die Zentrale, in der Hirzer sitzt. Gründer Stückli arbeitet mittlerweile mit einigen der heute 22 Mitarbeitern in einem zweiten Stammhaus mitten in Berlin.
Das Handy am Lenker: Für sicheres Navigieren bietet Bike Citizens mit dem Finn einen eigenen, breit einsetzbaren Halter. Und für gute Routen von A nach B die Erfahrung der anderen Radfahrenden.
Smartphone-App statt Straßenkarte
Bike Citizens entwickelte eine App, die es ermöglicht, fahrradfreundliche Wege durch die Stadt weiterzugeben und die Biker so über ruhige Wege, oft auch an Sehenswürdigkeiten vorbei, durch die City zu navigieren. So kann man sich mit jedem üblichen Handy von A nach B führen lassen – und zwar nicht nur auf den fahrradfreundlichsten, sondern sogar auf individuell angepassten Routen: Der User kann beispielsweise eingeben, ob er mit dem Rennrad, einem Mountainbike oder einem Stadtrad unterwegs ist, ob er lieber gemütlich cruisen, mit normaler Geschwindigkeit fahren oder schnell ans Ziel kommen will. Je nach Wahl der Parameter entscheiden Algorithmen darüber, wie groß ein möglicher Umweg zugunsten einer ruhigeren Strecke sein darf und auf welchem Untergrund man sich bewegen wird. „Unser Algorithmus berücksichtigt bis zu 100 Elemente pro Straßenstück“, erklärt Hirzer die Genauigkeit der Routenauswahl über die App.
Komplettausstattung für den Citybiker
Die Kartenanzeige der Radrouten ist für jeden umsonst, die Fahrradnavigation kostet den Nutzer für eine Stadt oder Region je fünf Euro. Man kann sich diesen Service aber auch „erradeln“: Wer innerhalb von einem Monat 100 Kilometer in der Stadt zurücklegt – das sind gerade mal gut drei Kilometer am Tag – bekommt den Service umsonst. Sogar eine gut funktionierende, wenn auch nicht sehr sonor klingende Sprachausgabe gibt es. Kostenlos wird es, wenn die Stadt, in der man sich bewegt, mit Bike Citizens verpartnert ist, also unter anderem die App lizenziert hat.
Die Hände gehören auch beim Radfahren an den Lenker, die Augen nach vorn. Deshalb gibt es von Bike Citizens den Finn – ein einfaches, aber sehr robustes und sicher haltendes Silikonband, das jedes übliche Smartphone am Lenker befestigt und so zuverlässig zum Radnavi macht. „Nach wie vor ein großartiges Giveaway“, sagt Hirzer, denn das Tool lässt sich gut branden – etwa mit dem Logo der Stadt.
„Für mehr Radverkehr braucht man die richtigen Routen, und um die zu planen, braucht man Daten.“
Adi Hirzer
Heatmaps für Nutzer und Planer
Auch Städte und Gemeinden können von Bike Citizens profitieren, indem sie über die genannte Partnerschaft Unterstützung erhalten. Insbesondere in Form von Daten, die Experten als Grundlage für eine planvolle Veränderung der Verkehrswege sehr gut brauchen können. Dabei hilft die Software, indem die Wege, die User mit der Bike-Citizens-App fahren, in sogenannten Heatmaps festgehalten werden. So können sich die App-Nutzer anzeigen lassen, über welche Wege sie in welchen Stadtteil oder zu welchem Ziel gefahren sind, und erkennen außerdem blinde Flecken auf der Karte. Natürlich steht auch ein Netzwerkgedanke dahinter: auf der Bike-Citizens-Seite im Internet kann man die Fahrten mit seinen Freunden oder dem Netzwerk teilen – mit allen positiven Effekten, die sich daraus ergeben: angefangen von der Herausbildung von besseren Radrouten zwischen häufig angewählten Punkten bis hin zur gegenseitig gepushten Motivation zum Radfahren. Aber auch für Planer hält Bike Citizens mit diesem Tracking einen Fundus an Daten bereit, die, ausgewertet und analysiert, enorm wertvoll sind.
Das Radverkehrsnetz – von der Stadt gebrandet
Die Angebotsstruktur von Bike Citizens für Städte ist gestaffelt. Als Basis gibt es die Möglichkeit, das Grundpaket, also die App-Lizenz inklusive der Navigation und Routing-Fähigkeit zu übernehmen. Das bedeutet: Branding der App und ihrer Inhalte sowie des Finn mit der Stadt-Marke und entsprechender Auftritt der Stadt. Erster Vorteil: Die Nutzer identifizieren sich mit der Stadt. Zweiter Vorteil: positive Wahrnehmung der Radverkehrsförderung, denn so schenkt die Stadt ihnen eine Navi-App mit vielen Möglichkeiten. „Natürlich gibt es viele Möglichkeiten, das Angebot zu individualisieren und der Stadt genau anzupassen“, erklärt Hirzer. Das fängt schon bei der Kennzeichnung von Points of Interest an. Standardpakete, quasi die Einsteigerlösung für diese Angebotsstufe, schlagen bei der Stadt mit etwa 10.000 Euro zu Buche. Graz, die Heimatstadt von Bike Citizens, war übrigens der erste Kunde.
Mehr Motivation durch Gamification und Belohnungssystem
Der zweite Schritt zielt vor allem auf die Motivation des Radfahrers: „Mit Gaming-Komponenten und Promotions kann ich alles Mögliche in die App einbauen“, erklärt Hirzer. „Der User kann mit bestimmten Kilometerleistungen Abzeichen jagen. Das läuft vor allem über den Spaßfaktor.“ Hierbei werden also die Nutzer der App angesprochen, noch mehr zu fahren – und können natürlich ihrerseits ihre Community motivieren, Bike Citizens in ihrer Region noch bekannter zu machen.
Zählen heißt noch nicht messen
Im dritten Schritt schließlich geht’s ums Eingemachte. Digitalisiert wird ja schon lange – der Autoverkehr zum Beispiel unter anderem mithilfe von Induktionsschleifen. Jedoch: „Städte haben gemerkt, dass das Erfassen von Radverkehrsdaten nicht einfach ist. Der Radverkehr ist viel heterogener und konfuser als der Autoverkehr. Man braucht hier viel tiefer gehende Daten. Klassische Zählstellen sind da wenig sinnvoll“, weiß Hirzer. Denn ob die Routen, an der sie liegen, gut oder schlecht sind, bleibt hier ebenso unklar wie der Weg, den Nutzer im Weiteren nehmen. Deshalb gehört zum dritten Angebotspaket die gemeinsame Analyse der erstellten Zahlen mit den Planern der Stadt. Schließlich hat man eine Unmenge an Daten. Das betrifft die Einstufung der gewählten Ziele oder Regionen, die Routen zu bestimmten Zielen, die Art und Länge der Umwege, die Radfahrer in Kauf nehmen, um eine bessere Route zu nehmen, die Länge der Wartezeiten an den Ampeln … und noch viel mehr. Die App zeichnet per GPS einen Punkt pro Sekunde auf – das reicht, um sehr genaue Angaben zu erhalten. „Wir können zum Beispiel auch sehr schnell sehen, wo Menschen den kürzesten Weg nicht genommen haben, und können oft per Karte sehr schnell schließen, was zum Umweg führte. Wenn man aber Zählung und unsere Daten kombiniert, lassen sich nochmals neue Zahlen gewinnen.“ Ein Paradies für Mathematiker, Statistiker und eben Planer. „Wenn wir diese Daten haben, dann können wir beispielsweise beleuchten, warum eine Stadt nicht über acht Prozent Radverkehrsanteil kommt.“
Übrigens kann auch der Bike-Citizens-Nutzer zur Verbesserung der Radverkehrswege beitragen: Je nach Art der Stadtpartnerschaft kann der Nutzer mit einem Button am Lenker auf schwierige oder gefährliche Situationen aufmerksam machen.
Die App ist mehr als nur Navigation: Fahrtenaufzeichnung, Heatmap, Cloud, Netzwerk oder für Biker interessante News-Beiträge – selbst verschiedene Möglichkeiten, sich Boni zu erradeln, können mit an Bord sein.
Workshops zur Datenanalyse
Bike Citizens bietet zur Analyse gemeinsame Workshops mit den zuständigen Stellen in den Gemeinden an. Momentan ist Hannover ein Vorzeigepartner des Unternehmens. Seit drei Jahren wird auf verschiedenen Ebenen zusammengearbeitet. Letztes Jahr gab es eine umfangreiche Kooperation mit Hamburg. Insgesamt nutzen derzeit etwa 50 Städte und Gemeinden zumindest die App als Werkzeug für besseren Radverkehr. International sind Nutzer in 750 Regionen und Städten mit der App unterwegs.
Auf Kongressen treffen – oder gleich zu sich einladen
„Wir sind auf fast allen Kongressen und Konferenzen zum Thema unterwegs. Wie zum Beispiel dem NRVK Dresden oder der Polis”, so der Bike-Citizen-Produktmanager Adi Hirzer. „Aber wir besuchen die Städte auf Einladung auch gern und präsentieren unsere Leistungen.“
Mit den persönlichen Daten der derzeit etwa eine Million Nutzer ginge man sehr sorgsam um, wie Hirzer betont: „Das ist alles abgesichert. Wir analysieren schließlich nicht die Menschen, sondern die Stadt.“
Weitere Informationen: www.bikecitizens.net
Smartphone-Halter: getfinn.com
Bilder: Bike Citizens