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Oslo ist kein Vorreiter bei der Fahrradpolitik. Aber eine Stadt mit extrem engagierter Verwaltung – und jeder Menge Geld. Bis 2025 will man den urbanen Nahverkehr umbauen. Das Fahrrad spielt eine Schlüsselrolle. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Es lässt sich nicht behaupten, dass Oslo ein Paradies wäre für Radfahrer, dass es hier besonders viele Menschen auf Velos gäbe oder dass die Stadt Lösungen hätte, die sich sonst noch nirgendwo finden. Dennoch ist die norwegische Hauptstadt aktuell eine der spannendsten Städte Europas, wenn es um die Umgestaltung des urbanen Raums und verbesserte Bedingungen für den Fahrradverkehr geht.
Spricht man mit überzeugten Radlern in der nordischen Metropole, ist die Story stets ähnlich. Noch vor vier, fünf Jahren fühlten sich Radler oft wie „Aussätzige“ im Straßenverkehr. „Damals brauchtest du nur 15 Minuten auf dem Rad durch die Stadt zu fahren, schon warst du Aktivistin“, sagt etwa Kari Anne Solfjeld Eid, überzeugte „E-Assist Mother“ und ehrenamtlich im nationalen Fahrradverband tätig. Inzwischen aber hat sich die Sache geändert: Politik und Verwaltung betonen den Wert des Fahrrads für die Stadtentwicklung, stecken ehrgeizige Ziele und investieren erhebliche Geldsummen ins Radwegenetz. Im Copenhagenize-Index der radfreundlichsten Städte erreichte Oslo zuletzt Platz 7, vor Paris, Wien und mit Abstand auch vor Berlin.

Oslo-Standard: Nicht nur mehr Radinfrastruktur, auch eine höhere Qualität ist entscheidend für eine höhere Akzeptanz.

Kessellage wie in Stuttgart

Relevant ist Oslo vor allem, weil es eine ähnliche Ausgangslage hat wie viele andere Großstädte. Zwar gab es seit 1977 in Norwegen einen nationalen Plan, mit dem ein kohärentes Radwegesystem in den Städten des Königreichs entstehen sollte. Doch faktisch entwickelte sich die Lage anders. In Oslo prägten Autos das Bild, große Straßen von überregionaler Bedeutung führten mitten durch die Stadt, der Anteil der Radfahrer blieb verschwindend gering. Doch die Konsequenzen zeigten sich wie vielerorts: Staus verstopften die Stadt, Emissionen versauten die Luft, 60 Prozent der CO2-Gase in Oslo kommen aus dem Verkehr. Ähnlich wie Stuttgart hat Oslo eine Kessellage – wenn auch mit einer Küste. Ähnlich wie in vielen deutschen Städten kollidierte hier der Wunsch nach lebenswerten urbanen Zentren mit der Realität von Diesel-Abgas und Parkplatzchaos. In Oslo jedoch geht die Administration die Probleme mit Entschlossenheit an – und ist dafür auch bereit, Konflikte auszutragen. „Man kann hier vielleicht mehr lernen als in Amsterdam und Utrecht, weil viele Städte einen ähnlichen Nachholbedarf haben“, sagt der Architekt Christoffer Olavsson Evju von Norconsult, der die Kommune zur Radplanung beraten hat.

Neue Verkehrsstrategie 2015-2025

Seit 2013 bemüht sich die Verwaltung darum, das Fahrrad als Verkehrsmittel nicht nur moralisch zu fördern. Zunächst ließ sie die alte Fahrradstrategie der Stadt von einem Fahrradprojekt auf die Probe stellen – und dann eine neue Strategie ausarbeiten. Es gab Grund zur Unzufriedenheit: Zwischen 2005 und 2015 hatte die Stadt im Schnitt nur 1,5 Kilometer neuer Radinfrastruktur gebaut. Und nur 9 Prozent der Menschen fühlten sich in einer Umfrage als Radfahrer in Oslo sicher. Das galt es zu ändern. Interessanterweise geschah das Umdenken schon unter einer rechten Stadtregierung, die 2015 abgewählt wurde. Inzwischen hat Oslo eine links-links-grüne Regierung – doch die Strategie besteht fort. Auf Basis des politischen Willens soll der Radverkehr nun mit hohem Tempo ausgebaut werden. Etwa 20 Kilometer neuer Radinfrastruktur möchte man 2020 anlegen, 2019 sollten es sogar 25 sein. Doch das Ziel war noch etwas zu hoch gesteckt, etwa 20 waren es am Ende. Die neue Strategie nimmt das Zeitfenster 2015-2025 ins Visier. Der Anteil der Radfahrer am städtischen Verkehr soll von 8 Prozent auf 16 Prozent steigen. Die Stadtregierung fordert nun sogar 25 Prozent. Ausgebaut hat man die zuständige Abteilung in der Verwaltung auf heute 40 Mitarbeiter. Vor fünf Jahren waren es fünf beim externen Fahrradprojekt und zehn in der Verwaltung.

„Früher haben die Planer eher dort angefangen, wo man Projekte leicht umsetzen konnte“

Liv Jorun Andenes, Umwelt- und Verkehrsressort

„Man kann hier vielleicht mehr lernen als in Amsterdam und Utrecht, weil viele Städte einen ähnlichen Nachholbedarf haben.“ Liv Jorun Andenes (links) und Olavsson Evju „leben“ das Radfahren.

Connecting the Dots

Oslo hat sich für einen pragmatischen planerischen Ansatz entschieden. Es gibt im Fahrradnetzwerk der Planer zwei Arten von Straßen: graue und rote. Die roten sind wichtige große Verbindungsstraßen, die erheblichen Planungsbedarf haben. „Die grauen dagegen sind eher ruhigere Straßen, in denen wir mit kleineren Maßnahmen dafür sorgen können, dass sich Radfahrer sicherer fühlen und auch sicherer sind“, sagt Liv Jorun Andenes, die im Umwelt- und Verkehrsressort der Kommune das Fahrradbüro leitet. Genau auf solchen Straßen geht die Verwaltung mit hohem Druck die Umgestaltung des Verkehrsraums an, man möchte möglichst schnell Wegbeziehungen verbessern – „connecting the dots“, sagen die Planer dazu. Die Bedingungen für die Radfahrer sollen sich in kurzer Zeit merklich verbessern. Außerdem geht es darum, die Veränderungen dort zu planen, wo sie am nötigsten sind. Im Zentrum. „Früher haben die Planer eher dort angefangen, wo man Projekte leicht umsetzen konnte“, so Liv Jorun Andenes.

Oslo: Grüne Stadt und schnelle Klimawende

Mit einer Million Einwohnern, davon 680.000 in der Kommune, ist die nor­wegische Hauptstadt Oslo der mit Ab­stand größte Ballungsraum des Lan­des. In der Region leben über 1,5 Millionen Menschen, also fast ein Drittel der gesamten Bevölkerung Norwegens von rund 5,3 Millionen. Gleichzeitig legt die Stadt, die in diesem Jahr zur Green Capital 2019 gewählt wurde, großen Wert auf ein lebenswertes Umfeld und eine Vorreiterrolle in Bezug auf fossile Energien und klimaschädliche Emissionen. So hat sich Oslo das Ziel gesetzt, die Emissionen an fossilen Brennstoffen bis zu zum Jahr 2030 zu halbieren und bis 2050 fossilfrei zu werden. Nach aktuellen Plänen sollen die CO2-Emissionen bis 2020 um 50 Prozent und bis 2030 um 95 Prozent gesenkt werden.
Die „Klima- und Energiestrategie“ betrifft dabei die Energieressourcen, die Energieerzeugung und -verteilung sowie den Energieverbrauch in allen Sektoren. Als größte Herausforderung wurde in Oslo der Verkehr ausgemacht, auf den vor Jahren noch 63 Prozent der Emissionen entfielen. Ziel ist es daher, den Verkehr umweltfreundlich zu gestalten und die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Radfahren und das Zufußgehen deutlich zu steigern.
Ab 2020 sollen alle öffentlichen Busse und alle neuen Taxis und ab 2025 alle in Oslo verkauften Neuwagen fossilfrei oder als Hybrid ausgelegt sein. „Der Übergang von fossilfreien Energie- und Verkehrs­syste­men ist ein Paradigmenwechsel, der große Investitionen und starke Initiativen erfordert, die alle Teile der Gesellschaft und die Stadtentwicklung betreffen werden“, so Linn Helland, Leiter der Energieabteilung der internationalen Ingenieur- und Planungsberatung Rambøll, die zusammen mit Oslo am Umsetzungsplan arbeitet.

Globales Know-how auch für Kommunen Deutschland:

Mit 15.500 Mitarbeitern und Büros in 35 Ländern, davon 12 in Deutschland, kombiniert Rambøll (ramboll.com) lokale Expertise mit globalem Know-how. In Deutschland arbeiten über 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Bereichen Ingenieur-, Planungs- und Managementberatung – u.a. zu neuen Radschnellwegen in Berlin.

Beispiel: City Route 1

Die Stadtverwaltung hat insgesamt acht neue City-Routen geplant, entlang derer das Radfahren deutlich verbessert werden soll – und die sich untereinander kombinieren lassen. Zwischen 2016 und 2020 hat sie das Ziel, entlang all dieser Routen Veränderungen vorzunehmen, um Radfahrern gegenüber Autofahrern bessere Bedingungen einzuräumen. Ein Beispiel dafür, wie das in der Praxis aussieht, ist die City Route 1. Sie führt von Torshov im Norden mitten durch das hippe Viertel Grünerløkka und dann ins Stadtzentrum. „Es ist erstaunlich, wie schnell sich die Bedingungen für Radfahrer verbessert haben und was man hier in nur wenigen Jahren umgesetzt hat“, findet Planungsberater Christoffer Olavsson Evju. Dabei wurde eben nicht alles neu gebaut. Vielmehr hat man in die bestehende Infrastruktur eingegriffen. Ein farbig abgesetzter Radstreifen führt gegen eine Einbahnstraße, es gibt neuen Asphalt mit mehr Komfort, spezielle Ampeln für die Radfahrer und auch eine Passage über einen Fußgängerweg, der Radlern die Durchfahrt ermöglicht – und Autos ausschließt.

Oslos eigener Standard

Wenn heute in Oslo Straßen neu geplant werden – oder wenn die Verwaltung ihre Pläne für einen besseren Radverkehr umsetzt – greift sie auf einen eigenen Standard zurück. 2017 definierte sie diesen „Oslostandarden“, daran wirkte auch Olavsson Evju mit. Die These: Nicht nur mehr Radinfrastruktur, auch eine höhere Qualität ist entscheidend für eine höhere Akzeptanz. Nun gibt es ein Manual, das bei städtischen Straßenbaumaßnahmen herangezogen wird. Spannend ist ein Konflikt, der sich zwischen Zentralstaat und Kommune zeigt. Die norwegische Regierung hat einen eigenen Baustandard für Radinfrastruktur – demnach dürfen Radstreifen maximal 1,80 Meter breit sein – in Oslo ist das die Mindestmarke, man zielt auf deutlich mehr und darf maximal bis 2,50 Meter breite Radstreifen schaffen. Kernelemente sind darüber hinaus die bessere Sichtbarkeit von Radinfrastruktur, neue Kreuzungslösungen und auch Abstellmöglichkeiten, die sowohl für übliche Stadträder als auch für Lastenfahrräder praktisch zu nutzen sind. Da es in Oslo einen sehr gut ausgebauten ÖPNV mit Busverkehr gibt, hat man auch neue Regelungen definiert, damit Radler an Bushaltestellen nicht gefährdet werden.

Zweite Phase: Eine separate Infrastruktur

Während die Stadt mit hoher Geschwindigkeit die niedrigschwelligeren Änderungen umsetzt, beginnt auch die Vorbereitung der zweiten Phase. Hierfür wird es sicher nochmal mehr internationale Beachtung geben. Denn es sollen an viel befahrenen Hauptstraßen möglichst viele erhöhte, separate Radwege entstehen – auf einem Qualitätsniveau wie in Kopenhagen. Einen solchen Weg hat die Stadt im Herbst bereits fertiggestellt: Auf dem Åkebergveien gibt es nun sowohl bergauf als auch bergab eine parallel laufende Radspur. Wichtig: Sie verläuft nicht hinter parkenden PKW, der Radweg ist durch sechs Zentimeter breite Grenzsteine von der Straße und auch vom etwas höher gelegenen Fußgängerweg getrennt.

373 Millionen Kronen Budget

Der Ausbau der Radinfrastruktur erfordert nicht nur politischen Willen, sondern auch und vor allem Geld. Dank der seit den Neunzigerjahren zunehmend erhobenen Maut für Autofahrer in Oslo gibt es relevante Einnahmen. Doch erst seit wenigen Jahren wagt sich die Stadtverwaltung daran, dieses Geld auch anzuzapfen. Die Investitionen in den besseren Radverkehr speisen sich aus diesen Einnahmen. Für 2020 sind 373 Millionen Norwegische Kronen für die Radbaumaßnahmen budgetiert – knapp 40 Millionen Euro. Pro Einwohner gibt Oslo also für den Radverkehr 63 Euro aus. Zum Vergleich: In Deutschland ist Stuttgart mit 5 Euro pro Einwohner Spitzenreiter.

„Wir glauben, dass wir im Laufe der Zeit die positiven Effekte auch bei den Unternehmen sehen werden“

Terje Elvsaas,Car-free Livability

Terje Ehrsaas erläutert das Programm, Menschen Straßen zurückzugeben.

Autos aus der Stadt

Die rot-rot-grüne Stadtregierung ist bereit, für ihre Pläne erhebliche Konflikte einzugehen. Der ehemalige Bürgermeister Fabian Stang kündigte zivilen Ungehorsam an gegen den Plan der Stadtverwaltung, eine neue Radspur im reichen Stadtteil Uranienborg zu bauen.Denn auch dort plant die Stadtverwaltung das Entfernen von Parkplätzen. Liv Jorun Andenes erklärt: „Heute nutzen wir bei den meisten Projekten die vorhandene Straße und verteilen den Raum einfach neu. Meistens bedeutet das: Wir entfernen Autos.“ Oslo, Europas grüne Hauptstadt 2019, hat damit auch im Stadtzentrum ernstgemacht. Das so genannte „Car-free Livability Programme“ soll dazu führen, dass im innersten Stadtring neue Lebensqualität gewonnen wird – indem man Menschen mehr Raum zugesteht. Bis Ende 2019 wurden etwa 760 Parkplätze in einem etwa 1,3 Quadratkilometer großen Areal entfernt. Parkflächen für Lieferanten sind übrigens immer vorgesehen, auch im Oslostandarden wird darauf Bezug genommen. Doch die Verwaltung ist in den Konflikt mit Händlern gegangen, die um Kundschaft fürchten. „Wir glauben, dass wir im Laufe der Zeit die positiven Effekte auch bei den Unternehmen sehen werden“, sagt Terje Elvsaas vom Car-free Livability Program.

Erst am Anfang

Oslo macht viel. Die Entschlossenheit der Maßnahmen ist kaum zu übersehen. Die Politik erklärt den Umbau des innerstädtischen Verkehrs zur Priorität. Der Anteil der PKW ist dabei mit 34 Prozent übrigens nicht höher als in Kopenhagen, dank eines sehr gut ausgebauten ÖPNV. Doch der Radverkehr soll hier den entscheidenden Durchbruch bringen. Es gibt Kampagnen, es gibt in Anbetracht der Winterkapriolen Gratis-Stollenreifen für Studenten und priorisierte Räumdienste auf Radwegen bei Schneefall. Käufer von E-Bikes bekommen von der Kommune finanzielle Unterstützung. Alles Maßnahmen, mit denen der Radverkehr vorangebracht werden soll. Doch um das Ziel zu erreichen und den Anteil am Modal Split zu verdoppeln, ist der Weg noch weit. „Wir müssen eine revolutionäre Veränderung sehen“, sagt Liv Jorun Andenes, „wir sind in den Startblöcken.“

Fahrraddaten: Oslo

Radverkehr mit Wachstumsschub

Top-10: Oslo gehört laut dem Anbieter von Messstellen, Eco Counter, zu den Top-10-Städten mit dem größten Wachstum an Radfahrern zwischen 2017 und 2018

Sicher: In einer Untersuchung von Greenpeace und dem Wuppertal Institut zur nachhaltigen urbanen Mobilität gehört Oslo neben Amsterdam und Kopenhagen zu den Städten mit der geringsten Zahl an Verkehrstoten verglichen mit der Anzahl der Fußgänger und Radfahrer.

530 Kilometer: So umfangreich soll das ausgebaute Radwegenetz langfristig sein. Jährlich schafft die Stadt derzeit ca. 20 Kilometer neuer Radinfrastruktur.

25 Prozent: Diesen Anteil von Fahrradfahrern möchte der Stadtrat bis 2025 im Stadtverkehr erreichen. Derzeit beträgt der Anteil im Jahresmittel nur sieben Prozent, bedingt auch durch den norwegischen Winter mit nur zwei Prozent Radverkehrsanteil. Das norwegische Institut für Verkehrsökonomie hält die Pläne des Stadtrats für unrealistisch und geht eher von 11 bis 14 Prozent als Potenzial für den Radverkehr aus.

29 Jahre: So lange gibt es hier bereits eine Innenstadtmaut. Mit den Einnahmen werden Straßenbaumaßnahmen in Oslo und Umgebung finanziert.



Bilder: Christian Rølla