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Tempora mutantur. Die Zeiten ändern sich. Bürgermeister und Kommunen stehen heute überall auf der Welt vor einer zentralen Herausforderung: Wie sollen sie Mobilität erhalten während der öffentliche Verkehr als Leistungsträger, wohl nicht nur kurzfristig, vor schwierigen Zeiten steht? Wir werfen einen Blick auf temporäre Lösungen in Deutschland und Europa. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Gerade ungeübte Radfahrer brauchen die Gewissheit, sicher und bequem ans Ziel zu kommen.

Solange die Pandemie nicht beherrschbar ist, wollen und müssen Städte und Kommunen aktive Mobilität mit ausreichend Abstand sicherstellen. Mit seiner Entscheidung pro Radverkehr hat sich Berlin zu Beginn der Krise mit der kolumbianischen Hauptstadt Bogota an die Spitze einer internationalen Bewegung gestellt. Seitdem wirkt Corona in der Hauptstadt wie ein Beschleunigungsprogramm der ohnehin geplanten Verkehrswende.

Andauernde Pandemie forciert Umbau

Für Radfahrer und Fußgänger läuft es zurzeit gut in Berlin. Allein im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wurden in den vergangenen Wochen rund 20 Kilometer temporäre Radwege mit Baustellenbaken markiert. Für die grüne Umwelt- und Verkehrssenatorin Regine Günther hat die Umverteilung des Raums Priorität. Sie lässt ihre Verwaltung Abschnitte des bereits fertig geplanten Radwegenetzes mit provisorischen Mitteln wie Baustellenbaken umsetzen. Dabei soll es aber nicht bleiben. „Unser Ziel ist es, aus diesen vorgezogenen Maßnahmen möglichst überall dauerhafte Anordnungen zu machen und die provisorische Technik durch dauerhafte zu ersetzen“, betont die Berliner Senatorin.

Pop-up-Lösungen als ideales Tool

Nach wenigen Wochen zeigt sich: Die Pop-up-Lösungen haben für die Planer durchaus Vorteile. Der Praxistest mache Schwächen auf der Strecke oder Sicherheitsrisiken für Radfahrer sichtbar, sagt Felix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes in Friedrichshain-Kreuzberg. Ist das der Fall, kann sein Team schnell und kostengünstig nachjustieren. Bei neu gebauten Radwegen war das bislang nicht möglich. Die Radfahrer in Berlin erhalten demnach eine deutlich alltagstauglichere Radinfrastruktur als ohne Probelauf. Über ein Dutzend Pop-up-Bikelanes gibt es inzwischen in der Hauptstadt, und im Wochenrhythmus kommen neue hinzu. Mal werden Lücken im Netz geschlossen, mal an Hauptstraßen neue, sichere Radwege in Fahrspurbreite markiert, wo es zuvor keine Radanlage gab.

Neue Kundengruppen auf neuen Radwegen

Die neuen Radwege kommen nicht nur gut an in der Bevölkerung, sie gewinnen auch neue „Kundengruppen“. Burkhard Stork, Bundesgeschäftsführer des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs trifft dort Menschen, die er seit Jahren aufs Rad bringen will: Kinder, Erwachsene, die jahrelang nicht im Sattel saßen, und Menschen mit Migrationshintergrund. Er erkennt sie an ihren Rädern, die im Keller Staub angesetzt haben, und ihrem Fahrverhalten. „Sie sind deutlich langsamer unterwegs als der typische Berliner Radfahrer“, sagt Stork. „Wenn wir die Verkehrswende wollen, brauchen wir eine Radinfrastruktur, die Menschen dazu einlädt, aufs Rad zu steigen“, wiederholt der Fahrradlobbyist seit vielen Jahren. Die Pop-up- Bikelanes machen genau das.

Die Broschüre erklärt, wie man Pop-up-Bikelanes einrichtet und in nur zehn Tagen auf die Straße bringt. Download unter mobycon.nl

Gesucht: Beschleuniger im Radwegebau

Ob die Lösung permanent oder temporär ist, ist für Stork momentan zweitrangig. Die Menschen brauchten erst mal die Gewissheit, sicher und bequem ans Ziel kommen. In den Niederlanden und Kopenhagen ist das der Fall. Allerdings benötigten die Planer dort Jahrzehnte, um ihr Radwegenetz entsprechend aufzubauen. Die Zeit hat Deutschland nicht. Zwar hat das Bundesverkehrsministerium für den Ausbau des Radverkehrs 900 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, aber Stork mahnt: „Das Geld muss in den kommenden vier Jahren investiert werden, sonst ist es weg.“ Das schafft aus seiner Sicht aber kaum eine Stadt. In Berlin dauert der Bau eines Radwegs von der Planung bis zur Fertigstellung immer noch vier Jahre – manchmal sogar länger. Deshalb fordert Stork, Radwegenetze zügig zu planen und sie zunächst als Pop-up-Lösungen anzulegen. „Pop-up ist das neue Maß im Radwegebau“, betont der international anerkannte und bestens vernetzte Experte.

Berlin als Modellstadt und zur Nachahmung empfohlen

In Deutschland ist die Hauptstadt Berlin bislang eine Ausnahme. Hier wird sichtbar, wie Corona bestehende Prozesse beschleunigt. Hier ist die Bevölkerung ebenso wie die Politik und die Verwaltung für einen Wechsel bereit. Bereits zuvor hat die Zivilgesellschaft in Berlin das 2018 beschlossene Mobilitätsgesetz durchgesetzt und damit den Bau moderner Radwegenetze mit Protected Bikelanes legitimiert. Der Anklang bei anderen deutschen Städten und Kommunen ist bislang noch sehr verhalten. Echte Nachahmer für die Einrichtung gibt es kaum, obwohl sich immer mehr Initiativen vor Ort für ihre Einrichtung stark machen. So hat Greenpeace Ende Mai in Zusammenarbeit mit anderen Verbänden in 30 deutschen Städten mit Warnstreifen, Pylonen und Piktogrammen auf die Probleme aufmerksam gemacht. Am Geld und am Know-how kann es eigentlich nicht liegen. Felix Weisbrich vom Berliner Straßen- und Grünflächenamt will Kollegen zum Nachahmen animieren. In seinem Auftrag hat das Planungsbüro Mobycon gerade einen Leitfaden zum Bau von Pop-up-Bikelanes erstellt.


Bilder: Peter Broytman, Peter Broytman, Mobycon