Wohl alle Radfahrenden kennen die unangenehme Situation, wenn ihnen Autos beim Überholen zu nahe kommen. Wo es früher nur Empfehlungen zum Abstand gab, wurden vor zwei Jahren verbindliche Zahlen in der Straßenverkehrsordnung ergänzt. Wird die Regelung auch kontrolliert und durchgesetzt? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022
Bei manchen Radfahrenden löst ein Auto, das ohne Sicherheitsabstand überholt, Wut aus – wilde Gesten und Beschimpfungen folgen. Andere reagieren eher verängstigt und zögern beim nächsten Mal vielleicht, überhaupt aufs Rad zu steigen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Person am Steuer des Autos unachtsam ist oder aus Groll handelt. Denn die gefühlte Bedrohung birgt immer reale Gefahren. Weicht etwa eine Radfahrerin im Moment des Überholvorgangs einem Schlagloch aus, kann es zu einer folgenschweren Kollision kommen, wenn ein Auto zu nahe ist. Seitenwind oder zappelnde Kinder als Passagiere eines Lastenradlers können ein einspuriges Fahrzeug zum Schlingern bringen. Die Unfallgefahr beschränkt sich nicht auf den Stadtverkehr. Auch auf Landstraßen ohne Radweg kommen Autos oder gar Busse Radfahrenden oft gefährlich nah.
Mindestens 1,5 Meter sind vorgeschrieben
Das Gefühl vieler Radfahrender, häufig zu eng überholt zu werden, konnten verschiedene Erhebungen bestätigen. In Berlin hatte der Tagesspiegel in dem Projekt „Radmesser“ bereits 2018 für zwei Monate 100 Radfahrerinnen mit Abstandsensoren ausgestattet. Die Messungen von fast 17.000 Überholvorgängen ergaben, dass mehr als die Hälfte aller Fahrzeugführer ohne ausreichenden Sicherheitsabstand überholten. Im Jahr 2021 führten die Stuttgarter Nachrichten ein ähnliches Projekt durch und konnten dabei sogar in drei Viertel aller Fälle zu geringe Abstände messen. In beiden Studien wurden Überholvorgänge als zu knapp gewertet, wenn der Abstand zwischen Auto und Radfahrerin kleiner als 1,5 Meter ausfiel.
Das ist der Mindestabstand, den die Straßenverkehrsordnung (StVO) seit einer Novellierung im Frühjahr 2020 vorschreibt. In Paragraf 5 heißt es: „Beim Überholen mit Kraftfahrzeugen von […] Rad Fahrenden […] beträgt der ausreichende Seitenabstand innerorts mindestens 1,5 m und außerorts mindestens 2 m.“ Zuvor war nur von „ausreichendem Seitenabstand“ die Rede. Das ist ein sogenannter unbestimmter Rechtsbegriff. Das Problem daran: Um eine Ordnungswidrigkeit zu ahnden, muss das Nichteinhalten des geforderten Mindestabstands nachweisbar sein. Das Bußgeld, das Kraftfahrer*innen droht, wenn sie überführt werden, beträgt 30 Euro.
Die Polizei kontrolliert
Die Herausforderung bei Kontrollen des Überholabstandes ist die Messung. Messtechnik an Fahrrädern, wie sie für die Studien in Stuttgart und Berlin verwendet wurde, kommt aus praktischen Gründen nicht infrage. Aber die Polizei kann stattdessen indirekte Messverfahren anwenden, wie Roland Huhn, Rechtsreferent des ADFC, erklärt: „Rechtssicher lässt sich das Unterschreiten des Mindestabstands bisher so nachweisen, dass man die Straßenbreite zugrunde legt und den Platzbedarf der beteiligten Fahrzeuge.“ Die Polizeidirektion Dresden setzt das bereits mithilfe von Videodokumentation um. Neben der Fahrbahnbreite wird das Bildmaterial auch nach weiteren Bezugsgrößen ausgewertet, wie zum Beispiel der Breite des betreffenden Autos. Die Breiten zugelassener Fahrzeugmodelle sind beim Kraftfahrt-Bundesamt hinreichend genau erfasst. Seit der Novellierung der StVO vor zwei Jahren wurden in Dresden nach Angaben der Stadt 111 Anzeigen bearbeitet.
Dabei sind Schwerpunktkontrollen nicht die einzige Option der Polizei. In München wurden seit Mai 2020 immerhin 58 Vorfälle im Rahmen der allgemeinen Verkehrsüberwachung im Streifendienst angezeigt. Auch die Polizeidienststellen in Berlin und Hamburg gaben auf Nachfrage an, die Abstände überholender Kraftfahrzeuge während des regulären Streifendienstes zu kontrollieren. „Insbesondere unsere Fahrradstaffeln führen regelmäßig zielgerichtete Kontrollen durch. Festgestellte Verstöße werden dabei konsequent geahndet“, so Cindy Schönfelder von der Polizei Hamburg.
Die Polizei in Baden-Baden führte im Mai 2021 eine Stichprobenkon-trolle durch. Dazu wurde auf einem Straßenabschnitt eine gelbe Hilfsmarkierung parallel zum Fahrradschutzstreifen angebracht. Das Ergebnis fiel ernüchternd aus: Über 95 Prozent der Autofahrenden überholten ohne den geforderten Seitenabstand.
An vielen Stellen braucht es keine Hilfsmarkierungen. Denn addiert man zum Sicherheitsabstand von 1,5 Meter noch eine durchschnittliche Fahrradbreite von 0,7 Meter und den empfohlenen Abstand von mindestens 0,8 Meter zum Fahrbahnrand, dann landet man mit 3 Metern oft schon am oder jenseits des Mittelstreifens. Auf mehrspurigen Straßen muss der Autofahrer dann auf die nächste Spur ausweichen und in den meisten Fällen den Gegenverkehr abwarten. Tut er das nicht und überholt innerhalb der ersten Spur, liegt ein Regelverstoß vor. Auf entsprechend schmalen, einspurigen Straßen ergibt sich daraus de facto ein Überholverbot, das sich deutlich einfacher kon-trollieren lässt. Ein Umstand, den sich die Polizei Stuttgart schon mehrfach zunutze gemacht hat. So wurden im März 2021 bei einer Schwerpunktkontrolle auf einem schmalen Straßenabschnitt innerhalb von zwei Stunden 23 Kraftfahrer*innen verwarnt und im März 2022 in anderthalb Stunden am gleichen Ort fünf Anzeigen ausgestellt. Dass bei der zweiten Kontrolle deutlich weniger regelwidrige Überholmanöver festgestellt wurden, dürfte auf ein Überholverbotsschild zurückzuführen sein, das einige Monate zuvor angebracht wurde.
Wie sich zeigt, sind die Ergänzungen in der StVO keine völlig leeren Worte in Gesetzesform. Die Polizei kontrolliert die Einhaltung des Mindestabstandes von 1,5 Meter tatsächlich, bisher allerdings nur in sehr begrenztem Umfang. Den hier genannten Stichproben gegenüber stehen zum Beispiel knapp 2,8 Millionen Geschwindigkeitsverstöße, die laut Kraftfahrt-Bundesamt allein im Jahr 2020 bei Kontrollen erfasst wurden.
Bilder: Martin Dinse