Umgebaute Lastenräder „CreatiVelos“: Nachhaltigkeit ins Rollen bringen
Lastenräder sind für viel Gewicht gemacht. Die Organisation Youth4Planet packt noch eine Ladung Ideen obendrauf. Mit der Macht des Geschichtenerzählens verfolgt sie das Ziel, junge Menschen für eine nachhaltige Zukunft zu inspirieren und so dem Klimawandel und Fake News zu trotzen. Wie funktioniert das? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)
Geht nicht gibt‘s nicht für ein kreatives Lastenrad. Es rollt und rollt und rollt für eine nachhaltige Welt: Das CreatiVelo radelte als mobiler Botschafter für einen positiven Wandel und Medienrad zur Klimakonferenz in Glasgow 2021. Bei der Klimakonferenz in Dubai 2023 war es als Reportagerad und mobiler Kommunikationsort vor Ort. Im Ahrtal ist das Rad der gemeinnützigen Organisation Youth4Planet (Y4P) nun als radelnder Kummerkasten und Mutmacher unterwegs, um die Menschen nach der Flut zu ermutigen. An luxemburgischen Schulen wird es als mobiler Workshop-Ort, fahrende Bühne oder mobiles Studio für Umfragen auf dem Marktplatz eingesetzt. Und auch in Indien wurde nun schon zum zweiten Mal eine CreatiVelo-Challenge durchgeführt. Studierende setzen dabei eigene Forschungs- und Bildungsideen radelnd um, etwa eine umherziehende Gesundheitsberatung.
Körper und Geist in Bewegung bringen
Y4P möchte mit den umgebauten E-Lastenrädern für eine nachhaltige Welt inspirieren und so die nachhaltige Transformation wortwörtlich ins Rollen bringen: „Das Fahrrad ist ja nicht nur das Fahrrad, sondern ein System zur Erkundung der Welt“, sagt Gründer und Vorsitzender Jörg Alte-kruse. Das CreatiVelo könne Ideen sowohl einsammeln als auch verbreiten. Er vergleicht dieses Konzept mit der Renaissance, als italienische Architekten durch Europa zogen und ihre neuen Bau-Ideen bis in die kleinsten Dörfer verbreiteten. Körperliche Bewegung sei zentral für geistige Veränderung. Das CreatiVelo vereine das und helfe so, junge Menschen für die Transformation zu empowern. Zudem schaffe es einen „Third Space“ – einen öffentlichen Raum, an dem Menschen sich treffen und austauschen können, ohne dafür bezahlen zu müssen, erklärt Altekruse. Sprich, ein Stückchen gelebte Transformation.
Das CreatiVelo sei ökologisch sauber, überall einsetzbar, ganz lokal und global vernetzt zugleich. Das bauliche Grundprinzip ist immer gleich: ein E-Lastenrad mit drei Rädern, hinten eine Lastenfläche mit einer Box – 80 cm breit, 120 cm lang, 145 cm hoch. Diese ist abnehmbar und auf Rollen. Mit an Bord ein in die Seitenfläche integrierter 50-Zoll-Monitor mit Klappe gegen Regen oder als Sonnenschutz. Solarpaneele und eine Batterie machen das Rad autark. Auf der Rückseite der Box ist Platz für ein großes Poster. In der Box: Mikrofone, Kamera, Laptop, Mischpult, Lautsprecher, Bühnenpodest, Kuppelzelt, Tisch und Hocker. Das Lastenrad hat Internetverbindung. Über die App EarthBeat sind die Räder auch untereinander verbunden. An den Außenwänden der Box prangen auffordernde Botschaften wie: „Lass uns gemeinsam die Erde retten.“
Das Konzept CreatiVelo funktioniert global, ob in Indien, Glasgow oder Luxemburg.
Nachhaltigkeit als Ziel
Y4P sitzt in Deutschland und Luxemburg und hat eine Niederlassung in den USA. Gründer Altekruse ist Filmemacher für Nachhaltigkeitsthemen. Als er eine 2013 veröffentlichte Fernsehserie über die Kipppunkte des Klimasystems drehte, merkte er, dass der Impact der Filme „gleich null“ war, obwohl sie in mehr als 100 Ländern gezeigt wurden. Die Filme hätten die „Lücke zwischen den Informationen und dem eigenen Standort“ nicht überbrücken können. Das sei der „Augenöffner“ für ihn gewesen, nicht länger nur mit Filmen in die Welt hinauszurufen, sondern etwas anderes zu tun. Als Ergebnis gründete er im Jahr 2015 Y4P. Im selben Jahr fuhr er mit jungen Leuten von verschiedenen Kontinenten nach Grönland, um sie zu Augenzeug*innen von schmelzenden Eismassen durch den Klimawandel zu machen. Die Jugendlichen drehten in Grönland selbst einen Film, traten im Fernsehen auf und berichteten in ihren Schulen von der Reise.
Die Idee von Y4P ist eng mit den UN-Nachhaltigkeitszielen verknüpft, die auch 2015 verabschiedet wurden und etwa Armut abschaffen, Klimawandel stoppen oder Ungerechtigkeiten bekämpfen sollen. Diese Ziele seien machtvoll, weil sie die Vision von 193 Ländern seien, so Altekruse, auch wenn man über Details streiten könne. So teile er das liberale Wirtschaftsverständnis der SDGs nicht, das auf Wirtschaftswachstum setzt. Er sieht die Lösung in einer zirkulären Ökonomie, um wieder innerhalb planetarer Grenzen zu leben.
„Das Fahrrad ist ja nicht nur das Fahrrad, sondern ein System zur Erkundung der Welt.“
Jörg Altekuse, Youth for Planet
Geschichten erzählen mit dem Handy
Das Y4P-Konzept nennt Altekruse „Storytelling for Future“: Y4P führt Storytelling-Workshops an Schulen, Universitäten oder in anderen Organisationen durch. So entstünden immer neue sogenannte Action Teams, die dann gemeinsam „ausschwärmen“ und Projekte umsetzen. In den Workshops lernen die Jugendlichen, wie sie Geschichten erzählen und Kurzfilme drehen – leicht und unkompliziert mit dem Smartphone, das die meisten eh in der Hosentasche haben. Sie sollen das Handy gezielt einsetzen, um die Welt um sie herum wahrzunehmen, festzuhalten und zu dokumentieren. Es gehe in den Workshops neben technischem Know-how vor allem darum, dass junge Menschen Mut für einen Standpunkt entwickeln: „Wenn ich eine Kamera irgendwo hinhalte, dann entscheide ich die Perspektive. Wenn ich eine andere Perspektive einnehmen will, dann muss ich halt weiter weggehen“, macht Altekruse mit dem Handy vor.
Junge Menschen sollen „Fähigkeiten entwickeln, um die Zukunft überhaupt anzupacken und nicht zitternde Knie zu kriegen“, beschreibt er. So sollen sie ermächtigt werden, sich im Raum und in der Welt so aufzustellen, dass sie eine Perspektive für sich und ihre Stimme finden. Eine der ersten Übungen sei deshalb, Handyfotos zu machen und diese auf ihre Geschichten hin zu analysieren. Etwa, welche Emotionen zugeparkte Straßen wachrufen. Durch die genaue Auseinandersetzung mit der Realität entstünden Ideen und Lösungen für eine neue, schönere Welt. So will Altekruse auch die Demokratie stärken: „Wir sind ein Teil des Gegengifts“ gegen die Zukunftsangst und die Unmengen an Falschinformationen, die etwa die AfD, Trump und mancher Milliardär säe. „Dagegen helfen nur starke Personen.“ Seine Vision: durch Y4P „resiliente Gemeinschaften und Individuen zu erzeugen, die sich vernetzen und gemeinsam an den erkannten Zielen arbeiten“.
Auf der Website von Y4P kann man sich durch viele Videos klicken, die vom Mut und der Energie verschiedener Menschen erzählen und Hoffnung machen: Etwa ein Rapsong über Plastik von Hamburger Schülerinnen; ein Video über Fairtrade- Orangensaft von Schülerinnen aus Luxemburg. Oder ein Video, das die Geschichte von Menschen im Togo zeigt, die die Küstenerosion zu bekämpfen versuchen.
CreatiVelos bestehen aus verschiedenen Komponenten – von A wie Antrieb bis Z wie zuklappbarer Monitor. So werden die Lastenräder quasi zur Eier legenden Wollmilchsau.
Lastenräder machen Schule
Inspiriert zu den CreatiVelos wurde Altekruse von der Bäckerei gegenüber seinem Hamburger Büro, die Brot mit einem Lastenrad transportiert. 2021 wurden die ersten Lastenräder umgebaut. Die Kinderkrankheiten seien mittlerweile überwunden: Die ersten Räder seien zu hoch gewesen und auf der Fahrt nach Glasgow zur Klimakonferenz mehrmals umgekippt. Aufgrund der Höhe passten sie auch nicht in Garagen oder durch Schultüren, erzählt Altekruse schmunzelnd.
Da Altekruse durch seine Dreharbeiten gut vernetzt ist, entstehen Projekte an ganz verschiedenen Orten der Welt: In dem kleinen Land Luxemburg arbeitet Y4P mit den 44 weiterführenden Schulen zusammen, führt Workshops und Forschungsprojekte durch und setzt drei CreatiVelos ein, bald sollen es sieben sein.
In Indien wurde nun bereits die zweite Challenge durchgeführt – eine Art mehrwöchige Sommeruniversität mit selbstorganisiertem Lernen: 12 Universitäten, über 30 Teams, über 150 Studierende. Die Studierenden schraubten die CreatiVelos vor Ort selbst zusammen mithilfe eines Startkapitals und dem, was sie auf Schrottplätzen fanden.. Ihre Universitäten unterstützen die Teams materiell und inhaltlich, so Altekruse. Die Teams entwickelten eigene Forschungsideen für die Challenges und schwärmten dann für acht Wochen aus. Adressiert werden dadurch etwa die Nachhaltigkeitsziele Klimaschutz und hochwertige Bildung: Ein CreatiVelo wurde so zur mobilen Gesundheitsberatung, mit der die Studierenden durch Dörfer radelten und über den Monitor Ärztinnen hinzuschalteten. Das sei bei den Menschen vor Ort und den Ärztinnen sehr gut angekommen und habe Mut gemacht, berichtet Altekruse. Ein anderes Team verschrieb sich mit einem Forschungsprojekt der Mädchenbildung und versuchte Diskriminierungen abzubauen. Wieder ein anderes Team habe Schadstoffe im Fluss Brahmaputra gemessen und dann gemeinsam mit NGOs angefangen, ihn zu reinigen. Die Studierenden hätten anschließend von einer Erfahrung fürs Leben geschwärmt und große persönliche Lernerfolge erzielen können, so Altekruse. Die erste Kohorte stand der zweiten als Coach zur Seite. Eine dritte Kohorte solle bald starten. Festgehalten werden diese Geschichten per Handyvideo und Posts auf Social Media oder es werden Vorträge gehalten. Auch die lokale Presse berichte.
44
weiterführende Schulen in Luxemburg
arbeiten bereits mit Youth4Planet zusammen.
Mut nach der Flut
In Deutschland ist ein CreatiVelo im Ahrtal unterwegs. Entstanden sei die Idee gemeinsam mit einer Psychologin, die mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen nach der Flutkatastrophe arbeitete. An einem Gymnasium in Adenau führte Y4P 2022 gemeinsam mit Psychologinnen einen Storytelling-Workshop durch, um sie zu ermutigen. Dabei blieb es nicht. Menschen in Sinzig im Ahrtal hörten vom Workshop und dem CreatiVelo. Mehrere Bildungsinstitute hatten sich nach der Flut zu einer Bildungsregion zusammengeschlossen. Dort ist das CreatiVelo nun als mobiles Event-Studio zum Erkunden von Berufs- und Ausbildungswegen im Einsatz und wird von verschiedenen Schulen bespielt: „Die Idee ist, eine Art Frischzellenkur für das Ahrtal aufzubauen, wo die jungen Leute nicht gehen müssen, sondern lernen, dass Dableiben auch was Gutes für sich hat und sie gestalten können“, erklärt Altekruse. Die Aufbruchshaltung für das Ahrtal nach der Katastrophe werde so durch das CreatiVelo unterstützt. Die Botschaft: „Hey da geht noch mehr. Lasst euch nicht entmutigen“, sagt Altekruse.
Diese Botschaft will er am liebsten überall verbreiten. Seine Vision: Jede deutsche Hochschule und jede Schule hat Action Teams mit CreatiVelos. Leider seien hierzulande die Strukturen sehr „verknöchert“ und es habe einige Rückschläge gegeben. Er sei im Kontakt mit der Initiative „Frei Day“, die sich dafür einsetzen, dass ein Tag die Woche freigeschaufelt wird für Zukunftsthemen. Das CreatiVelo sei wie dafür gemacht, neue Zukunftsformate umzusetzen, findet er. Etwa könnten Schüler*innen die Luftqualität in Stadtteilen messen und den Gemeinderäten vorlegen.
„Wir bauen Denkweisen und Systeme auf, wie zum Beispiel das CreatiVelo-Betriebssystem für ein bewegtes Lernen, was so aufgebaut ist, dass die Beteiligten lernen, wie sie für sich eine positive Zukunftsvision entwickeln“, so Altekruse von Y4P. Er steht vor dem ersten CreatiVelo frisch nach der Auslieferung.
Bildung in Bewegung
Vielleicht kommt bald auch das Bildungssystem in Nigeria ins Rollen. Auf der Klimakonferenz in Dubai baute sich ein Kontakt zum nigerianischen Gouverneur Mohammed Umaru Bago auf. Dieser möchte nun Tausende CreatiVelos mit Y4P für Nigeria organisieren, um sie als mobile Schulen einzusetzen, da in Nigeria aus unterschiedlichen Gründen viele junge Menschen die Schule abbrechen. So könnten junge Menschen direkt bei sich im Ort weiter an Bildung kommen. Die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) sei angefragt für Gelder, so Altekruse. Auch seien bereits die ersten Kontakte zu Edmilson Rodrigues, Bürgermeister von Belem in Brasilien, wo 2025 die Klimakonferenz stattfinden wird, geknüpft. Der Plan: 2025 soll ein Y4P-Action Team mit CreatiVelo vor Ort sein.
Es wird deutlich: Geht nicht gibt‘s weder für ein kreatives Lastenrad noch für Altekruse. Für ihn gelte stets das Prinzip: „Da, wo ich heute stehe, kann ich anfangen loszulegen und neu entwickeln, nicht in die Vergangenheit gucken und sagen ‚Ach Mist‘.“ Er gucke immer nach der nächsten Chance. Die nächste Chance, die ins Rollen kommen kann.
Bilder: Youth4Planet