„Wo ein vernünftiger touristischer Radweg ist, habe ich auch mehr Alltagsradverkehr“
Rüdiger Henze ist Landesvorsitzender des ADFC Niedersachsen. Im Interview mit Veloplan spricht er darüber, was das Bundesland beim Tourismus richtig macht, wie man gegen Elterntaxis vorgehen kann und wie wichtig ihm sein Ehrenamt ist.
(erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2025, März 2025)
In der Vergangenheit wurde in der Radverkehrsplanung oft zwischen Radfahren im Alltag und Radfahren als Sport beziehungsweise in der Freizeit unterschieden. Welche Rolle spielt diese Trennung in Ihren Augen heute noch?
Für den ADFC ist diese Trennung insofern relevant, dass wir sagen: Wir stehen auf zwei Beinen. Das ist einmal das touristische Bein, die Radtouren, die Zertifizierungen der Fernradwege und der Radreiseregionen. Das zweite Bein ist die Radverkehrspolitik. Beide kommen aber nicht ohneeinander aus. Bei den Kommunen und den Touristikern sage ich immer: Es gibt keinen Unterschied zwischen einem Freizeitradweg, einem Alltagsradweg oder einem touristischen Radweg. Die unterscheiden sich immer nur in der Form der Fördertöpfe.
2018 habe ich das bei einer Veranstaltung des ADFC in Marburg gesehen. Da wurde ganz klar gesagt, dass der Lahnradweg – das war der erste zertifizierte Fernradweg – von beiden Gruppen genutzt wird. Dort wo ein vernünftiger touristischer Radweg ist, habe ich auch einen höheren Anteil an Alltagsradverkehr. Umgekehrt fühlen sich Radtouristen auch dort wohl, wo es eine vernünftige Alltagsinfrastruktur gibt. Baumäßig und denkmäßig sollte man von dieser Trennung weggehen. Radweg ist Radweg.
Der ADFC zertifiziert Fernradwege. Welche Qualitätskriterien sind dafür Ihrer Erfahrung nach schwer vermittelbar?
Das sind weniger die Qualitätsanforderungen, sondern ist eher die Frage, ob das lokale Denken der Politik vorhanden ist. Eine unserer Forderungen als Landesverband zur Landtagswahl 2022 in Niedersachsen war, dass wir ein landesweites Radverkehrsnetz haben wollen. Dieses Denken in Netzen muss in die Köpfe der Politiker rein. Wenn ich einen Fernradweg nehme, geht der durch mehrere Landkreise und Kommunen. Ich merke auf dem Radweg dann schon Unterschiede zwischen fahrradfreundlichen Kommunen und solchen, wo es das notwendige Minimum gibt. Die Zusammenarbeit ist das große Problem bei Fernradwegen. Es müssen alle unter einen Hut.

Für Rüdiger Henze ist sein Ehrenamt beim ADFC Niedersachsen fast ein Vollzeit-Job. Aber er hat Spaß an seiner Funktion und genießt es, wichtige Stellschrauben drehen zu können.
Die Leute unter einen Hut zu bringen, ist das eine Kernaufgabe eines ADFC-Landesverbandes?
Wir arbeiten da mit. Wir haben 40 Kreisverbände. Die sind vor Ort die Protagonisten. Ein Beispiel: die Metropolregion Hamburg plant ein Radschnellwegenetz, beispielsweise von Lüneburg nach Hamburg. Wir haben in der Mitte einiger geplanter Strecken den Landkreis Harburg, und der sperrt sich. Obwohl auf den genannten Trassen in Teilen bereits kleinere Baumaßnahmen fertig sind. Da ist jetzt der Kampf, die Politik davon zu überzeugen, dass es notwendig ist. Eines der Gegenargumente ist die Aussage, dass ja niemand mit dem Fahrrad von Lüneburg 60 Kilometer nach Hamburg fährt. Nein. Es fahren aber auch nicht nur Menschen auf der Autobahn, um von Flensburg nach Garmisch-Partenkirchen zu kommen. Die 15 oder 20 Kilometer von Lüneburg nach Winsen fahren die Menschen aber schon. In diesem konkreten Fall sind wir als Landesverband gebeten worden, uns über die Landespolitik einzuschalten.
Durch Niedersachsen führen touristisch bedeutsame Wege wie der Weser-, Ems oder Elberadweg. Welche Rolle spielt das für das Bundesland?
Es ist ein Wirtschaftsfaktor. Der Radtourist von heute ist nicht mehr der Radtourist von vor 40 Jahren. Wer denkt, dass die noch mit der Blechdose mit einer Scheibe Brot drin unterwegs sind, an dem ist die Zeit vorbeigeradelt. Das ist ein Milliardengeschäft, an dem die Kommunen partizipieren. Das tun sie durch touristische Highlights, die sie an den Radwegen natürlich auch bewerben. Wer zum Beispiel den Weserradweg fährt, wird frühzeitig in Richtung Bodenwerder darauf hingewiesen, dass Münchhausen dort zu Hause ist.
Viele Unterkunftsbetriebe werben an diesen Radwegen. Der Tourist von heute hat ja auch nicht mehr das Fahrrad, das 250 Euro kostet, sondern eins, das 4500 Euro kostet. Der hat auch ganz andere Ansprüche an die Unterkunftsbetriebe.
„Wir haben seit Corona ein riesiges Problem, was die Unterkünfte angeht.“
Rüdiger Henze, ADFC Niedersachsen
Niedersachsen liegt in der Radreiseanalyse bei der Rangliste für kurze, mittlere und lange Touren jeweils auf den ersten drei Plätzen. Wie spricht das Bundesland die Menschen an, mal abgesehen vom fahrradfreundlichen Relief, der Küste und den Flussradwegen?
Es sind viele Regionen für den Radurlaub in Niedersachsen wichtig. Es ist nicht nur die Küste alleine. Wir haben den Harz, die Lüneburger Heide, das Elbe-Weser-Dreieck und das Wendland. Jede Region hat ihren Reiz und jede Region ist gleich wichtig und wird auch eigentlich gleichmäßig besucht von den Urlaubern. Ich will es mal an der Lüneburger Heide festmachen. Die war lange mit dem Ruf behaftet, Rentnerurlaubsland zu sein. Mittlerweile boomt es in der Lüneburger Heide mit jährlich steigenden Übernachtungs- und Gästezahlen. Und das Erstaunliche ist, es sind alle Altersgruppen vertreten.
Reize gibt es also einige. Wie sieht es mit Hemmnissen und ungenutztem Potenzial aus?
Wir haben seit Corona ein riesiges Problem, was die Unterkünfte angeht. Viele Unterkünfte gibt es nicht mehr. Gastronomische Betriebe sind zum Teil nicht mehr vorhanden. In einigen Gegenden bekomme ich schon Probleme, mittags irgendwo einzukehren.
Bei unserem Qualitätssiegel Bett+Bike hatten wir bisher das Kriterium, auch in der Hochsaison eine einzelne Übernachtung buchen zu können. Dieses Kriterium konnten wir nicht halten. Zum Teil fordern sie zwei oder drei Nächte Minimum.
Sie haben im vergangenen Herbst einen Antrag an das Land gestellt, um leichter Schulstraßen einzurichten. Welche Gedanken stecken dahinter?
Es geht in erster Linie darum, die Elterntaxis vor Schulen zurückzudrängen. Das ist bisher schwer, Schulstraßen auszuweisen, weil sich die Kommunen oft dagegen sperren. Ich kann heutzutage Schulstraßen einrichten, aber Schilder und Ähnliches werden vielfach von den Eltern ignoriert. Die müssen bis vor die Schule vorfahren und ihre Kinder dürfen sich keinem Verkehr aussetzen. Sie werden aber gefährdet durch die vorfahrenden Eltern. Wir wollen mit dem Antrag erreichen, dass es in Absprache mit den Schulen und den Kommunen möglich ist, temporäre Sperrungen vor den Schulen durchzuführen. Das ist momentan noch nicht möglich.
Welchen Einfluss hat der Schulweg für das Mobilitätsverhalten im Erwachsenenleben?
Einen riesengroßen! Man sieht ja immer öfter, dass Kleinkinder zum Kindergarten und auch größere Kinder in den ersten ein bis zwei Schuljahren mit dem Lastenrad gebracht werden. Die nehmen ihre Umwelt ganz anders wahr und werden ganz anders geprägt für ihr weiteres Leben als Kinder, die bis zum 17. Lebensjahr ihre Umwelt nur aus drei verglasten Quadratmetern wahrnehmen. Ich gebe den Kindern eine ganz andere soziale Komponente mit und fördere Kommunikation, Selbstständigkeit und die Sicherheit im Straßenverkehr.
„Der Radtourist von heute ist nicht mehr der Radtourist von vor 40 Jahren. Wer denkt, dass die noch mit der Blechdose mit einer Scheibe Brot drin unterwegs sind, an dem ist die Zeit
vorbeigeradelt.“Rüdiger Henze, ADFC Niedersachsen
Wie kann man neben Anträgen für Schulstraßen das Fahrrad als Verkehrsmittel für Kinder fördern?
Das geht nur über Appelle an die Eltern. Es geht ja nicht nur um den Schulweg. Ich wohne in einem Dorf mit 1800 Einwohnern. Die nächste Einkaufsmöglichkeit ist 4,5 Kilometer entfernt. Da fahren oftmals die Eltern mit ihren Kindern zusammen mit dem Rad zum Einkaufen. Diese frühkindliche Erziehung, wie man sich im Straßenraum verhält und ob es eine Hemmschwelle ist, dass ich mal drei Kilometer fahren muss, das kommt allein über die Vorbildfunktion der Eltern.
Ich hatte mal so ein Erlebnis an einem ehemaligen Wohnort: Ich kam aus einer Nebenstraße raus und sah einen Acht- oder Neunjährigen, der alleine auf der – wenn auch nicht stark befahrenen – Hauptstraße fuhr, auch wenn er eigentlich auf dem Fußweg hätte fahren müssen/dürfen. Ich hatte den gleichen Weg und bin hinter ihm geblieben, um ihn nach hinten abzusichern. Er drehte sich plötzlich etwas verunsichert um. Ich erklärte ihm, dass ich nur aufpasse, dass ihm nichts passiert. Er sagte dann: „Das macht mir nichts aus, meine Eltern haben mir das so beigebracht“. So soll es eigentlich sein.
Der ADFC Niedersachsen ist der viertgrößte Landesverband im ADFC. Wie entwickelt sich die Mitgliedergewinnung?
Die Mitgliedergewinnung ist eigentlich gut. Wir liegen bei 3,1 Prozent Zuwachs im Durchschnitt der letzten Jahre. Wir haben viele Aktionen, wo wir Mitglieder gewinnen können. Das sind vielfach Infostände auf Wochenmärkten, mehrtägigen Veranstaltungen und Dorffesten. Eine andere Möglichkeit ist die Fahrradcodierung als Diebstahlprävention. Wir finanzieren alles über unsere Mitgliedsbeiträge. Deshalb ist auch der Anteil der Ehrenamtlichkeit recht hoch.
Wie schaffen Sie es denn, aus den passiven Mitgliedern aktive Ehrenamtliche zu machen?
Das ist schwierig: Jemand tritt an eine Ortsgruppe heran und hat Interesse, mal bei einem Infostand zu helfen. Wenn er den kleinen Finger reicht, ist oft die Gefahr, dass der Arm hier oben (greift sich an die Schulter) abgerissen wird. Der Mensch wird überfrachtet mit Forderungen und sagt dann, dass er sich das so nicht vorgestellt hat und das nicht will.
Vielfach besteht unsere Community derzeit auch nicht unbedingt aus jungen Menschen. Wir haben im letzten Jahr die satzungsgemäßen Beschlüsse gefasst, um einen jungen ADFC zu gründen. Der wird im April seine Gründungsversammlung haben. Das ist vergleichbar mit den Jugendorganisationen der Parteien. Bis 27 bist du dann im jungen ADFC. Das ist kein eigenständiger e.V., sondern Teil des ADFC. Davon versprechen wir uns sehr viel, auch dass wir mit Aktionen proaktiv an die Jugend herantreten. Wir haben ein hohes Durchschnittsalter in unserer Mitgliederstatistik. Aber das sind genau die Menschen, die Zeit für das Ehrenamt haben.
Für mich ist es so, dass das Ehrenamt fast ein Fulltime-Job ist. Aber das ist meine Entscheidung, weil ich Spaß dran habe und weil ich Stellschrauben drehen kann, die ich sonst nicht drehen könnte.
Bilder: Christian Link, Rüdiger Henze