VELOPLAN 4/2024 – Editorial
Schwerpunkt: Kultur
Ins Träumen kommen
Das Fahrrad in seiner heutigen Form hat eine lange Evolution hinter sich. 1817 als Laufrad von Karl von Drais in Deutschland erfunden, nahm es noch im 19. Jahrhundert wichtige Entwicklungsschritte. In den 1860er- und 1870er-Jahren erhielt das Zweirad als Tretkurbel-Velociped (durch den Franzosen Pierre Michaux) eine neue Antriebsart und später als Hochrad eine veränderte Sitzposition und ein höheres Geschwindigkeitsvermögen. Schließlich erfand der Brite Henry Lawson das (im Vergleich mit dem Hochrad berechtigterweise so benannte) Sicherheits-Niederrad.
In den darauffolgenden rund 150 Jahren durchlief jedes Fahrradteil seine eigene Evolution und das Angebot differenzierte sich in kleinteilige Fahrradsegmente aus. Trotzdem lässt sich Lawsons Zweirad in den meisten Fahrrädern heute noch wiedererkennen.
Und nun? Wie geht es weiter mit dem Fahrrad? Die gute Nachricht ist, dass die Zukunft grundsätzlich viele Wege offenhält. Mit der Elektrifizierung stecken wir derzeit mittendrin im nächsten großen Entwicklungsschritt für das Fahrrad. Es geht also weiter. Dennoch stellt sich die Frage, ob ein Verkehrsmittel, das in seinen Grundzügen auf einer mehr als 200 Jahre alten Erfindung basiert, dazu taugt, dass die Menschen ins Träumen kommen.
Wovon wir träumen und wie sich einzelne Menschen und die Gesellschaft im Ganzen die Zukunft vorstellen, ist davon geprägt, wer ihnen welche Bilder vermittelt. Medienmacher*innen von Büchern, Filmen und Serien scheinen das besonders gut zu können. Das Genre Science-Fiction beeinflusst maßgeblich, von welchen unerreichten Zuständen die Menschen träumen, und insbesondere, vor welchen sie sich fürchten können. Das wirkt sich auch darauf aus, woran wir als Menschheit forschen und welche Produkte wir entwickeln. Selbstfahrende Autos gab es im Film „Total Recall“ von 1990, künstliche Intelligenz in „2001: Odyssee im Weltraum“ aus dem Jahr 1968 und selbst das Hoverboard aus „Zurück in die Zukunft“ (1989) diente schon als Erfinderinspiration. Das Unbekannte fasziniert viele Menschen im Hinblick auf die Zukunft. Grundsätzlich ist dieser Reiz des Neuen nachvollziehbar.
Ich bin seit einer Weile fasziniert von der Solarpunk-Bewegung, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten sozusagen als Gegenpol zur dystopischen Science-Fiction entwickelt hat. Ihre Vertreter*innen schaffen mediale Bilder und Konzepte von einer progressiven und inklusiven Utopie, in der sich Technik und Menschheit in einem nachhaltigen Einklang befinden. Das Fahrrad passt perfekt zu der Bewegung und findet bei ihren Vertreter*innen dennoch nur am Rande statt. Das könnte daran liegen, dass das Fahrrad seiner Zeit voraus war und sein wahres Potenzial durch schwierige Rahmenbedingungen wohl nie oder zumindest seit Langem nicht mehr entfaltet hat.
Hier kommen die verschiedenen Akteure aus der Verkehrs- und Stadtplanung, aus der Wirtschaft und der Interessensvertretung ins Spiel. Sie sind gefragt, ihrerseits Bilder zu vermitteln und das Fahrrad als selbstverständliches Verkehrsmittel der Gegenwart und Zukunft zu stärken. Fortschritt braucht es heute weniger beim Produkt selbst als bei der Infrastruktur, und vor allem dem Standing und der Wertschätzung des Fahrrads in unserer Kultur. Dafür haben wir für diese VELOPLAN-Ausgabe einige Denkanstöße gesammelt. Wenn das Fahrrad im Stadtbild und in den Köpfen stark ist, kann es sich auch einen Platz in den Zukunftsvisionen sichern und so endlich sein utopisches Potenzial entfalten. Dieser Prozess des Träumens ist ein Kreislauf und Sie können dabei helfen, dass er ins Rollen kommt.
Ihr Sebastian Gengenbach – sg@fwv.de
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