Neue Zielgruppen mit Crossover-Bikes
Unter sportlichen Radlern sind Gravelbikes längst zu einem Synonym für neue Freiheit und das kleine Abenteuer abseits asphaltierter Pisten geworden. Hat der Fahrradtrend das Zeug dazu, den regionalen Tourismus weiter anzukurbeln? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)
Das Gravelbike (Gravel = englisch für Schotter) ist eines der jüngsten Kinder der derzeit boomenden Fahrradbranche. Optisch ein Rennrad, aber mit deutlich breiteren und mit kleinen Stollen besetzen Reifen. Sie machen den Unterschied, denn damit ist man sowohl auf der Straße als auch auf losem Untergrund ebenso zügig wie sicher unterwegs. Die zweite wichtige Unterscheidung sind die Aufnahme-Ösen für Trinkflaschen, Schutzbleche oder Gepäckträger. Zusammen mit einem reichen Angebot an Zubehör, wie Packtaschen in allen Größen, die teils direkt an den Rahmen gegurtet werden, wird das Gravelbike zum sportlichen Allrounder. Von der Feierabendrunde über die Spritztour am Wochenende bis hin zum Mikro-Abenteuer inklusive Outdoor-Übernachtung ist alles möglich.
Niederschwelliger Zugang für Kurzabenteuer
Carsten Maiwald, Geschäftsführer des Leipziger Fahrradherstellers Veloheld, meint, es ginge heute mehr noch als bisher im Bereich Fahrrad und Tourismus um die Freiheit: „Ich denke, der Wunsch der Menschen, rauszukommen, ist in letzter Zeit immer stärker geworden. Und das macht das Gravelbike sehr leicht.“ Dabei zeigt es sich auch psychologisch für den Nutzer als das Beste aus zwei Welten. So ist es ist optisch, dank Rennlenker, nahe am Sportbereich angesiedelt. Das birgt ein gewisses Verführungselement in sich: „Einmal so ein sportliches Rad fahren.“ Dabei ist die Sitzposition nicht so gestreckt und ungewohnt für Neueinsteiger wie beim Rennrad. Der zweite Punkt: Sein breiter Einsatzbereich und die Transportmöglichkeiten. Sie haben mit dem Gravelbike den Bikepacking-Trend ausgelöst: Mit speziell entwickelten Gepäcktaschen für Touren auf schlechtem Untergrund geht man ins kleine oder auch große Abenteuer in der Natur. Die Taschen werden an den Lenker, die Rahmenrohre oder die Sattelstütze geschnallt. Dort hinein passt weniger als in klassische Gepäcktaschen, sodass der Trend zugleich auch eine Back-to-the-Roots-Entwicklung widerspiegelt: Nur das Wichtigste kommt mit. Die Räder bleiben mit diesen Taschen wendig, das Fahrerlebnis wird authentischer als beim klassischen Tourenrad. Auch deshalb steht dieses flexible Rad viel mehr für Abenteuer.
Ein Trend für jeden, der rauswill
Mit dem Mountainbike-Trend der 80er- und 90er-Jahre ist der Gravel-Trend mengenmäßig aktuell nicht vergleichbar. Aber er verändert das Nutzerverhalten stärker als das Mountainbike. Ende der 1980er-Jahre kauften sich viele Menschen allein wegen des Trends ein Mountainbike, nutzten es dann aber meist nur auf der Straße. Viele stiegen so neu ins Radfahren ein, hörten aber auch bald wieder auf, als sie feststellten, dass das Mountainbike zwar gut aussieht letztendlich aber ein wenig komfortables Sportrad ist und im Alltag weniger Sinn macht als ein Rad für die Stadt.
Das Gravelbike ist in dieser Hinsicht gemäßigt. Es braucht keine feste Routenführung mit der Garantie auf asphaltierte Wege, keine Begrenzung auf minimale Steigung. „Das Ganze wird noch gepusht von den sozialen Medien. Sie tun ihre Sache dazu, damit der Radfahrer wirklich das Gravel-Abenteuer erleben will“, sagt Carsten Maiwald. Mittlerweile sind die Hälfte aller verkauften Räder bei Veloheld Gravelbikes, „und zwar individualisiert“. Das heißt, der Kunde kann sich beim Händler oder auch über den Webshop die Zusammenstellung des Bikes in einem bestimmten Rahmen selbst aussuchen.
Auch beim Kölner Unternehmen Traffic, das unter anderem die amerikanische Fahrradmarke Bombtrack vertreibt, sieht man das Gravelbike jenseits der üblichen Produktstruktur: „Der Einsatzbereich macht es“, sagt Manuel Schürholz, Mitgründer des Unternehmens. Events, wie gemeinsame Bikepacking-Touren, werden oft von Enthusiasten veranstaltet, die kaum kommerzielle Interessen hätten. Das sei für ihn prägend. „Da fährt dann alles mit. 50 Leute, die auf jeden Fall um den Sieg fahren wollen, genauso wie die vielen anderen, denen es nur um das Naturerlebnis geht.“ Auch die Mitarbeiter des Herstellers Bombtrack veranstalten solche Abenteuer-Events. Ihre Argumente fürs Gravel-Bike: „Technisch sind die Vorteile gegenüber dem MTB klar: geringeres Gewicht, Handlichkeit, weniger empfindliche Teile. Und es eröffnet den Horizont mehr als das MTB.“
„Sicher ist der Gravel-Tourismus für uns noch eine Nische, aber sie wird immer breiter.“
Susanne Volkheimer, Leiterin Haßberge Tourismus
Leihen und Kaufen – beides hilft dem Tourismus
Der Fahrradverleih ist für eine Tourismusregion ein guter Einstieg, das Potenzial dieses Fahrrads in Sachen Fremdenverkehrsförderung und Erweiterung der Klientel zu nutzen. Genau da scheint derzeit mit Blick auf den neuen Radtyp einiges zu entstehen. Im österreichischen Fuschl am See bei Salzburg bietet beispielsweise das Hotel Mohrenwirt in Zusammenarbeit mit dem großen deutschen Hersteller Canyon bereits seit zwei Jahren Gravelbikes an. Solche Joint-Ventures können im Tourismus für beide Seiten relativ einfach Win-win-Erfolge bringen. Für die Urlaubsgäste sind die gerade im Gravel-Bereich hochqualitativ orientierten Leihräder verführerisch. Allerdings muss man auch ehrlich sein: Trotz relativ geringer Aufstiegshürde gilt, wer zu Hause selten Rad fährt, dem wird auch ein Hightech-Bike im Urlaub wenig Lust auf Schotter machen. Lutz Klingner, der in Dresden neben seinem Fahrradgeschäft einen Rennrad- und Gravelbike-Verleih betreibt, weiß, „die Schwelle, sich für den Aufenthalt oder eine Tour am Urlaubsort ein Gravelbike zu leihen, ist für Rennradfahrer deutlich niedriger als für Mountain-biker“. Hier kommt der Wunsch der Rennradler zum Tragen, auch mal draufloszufahren und nicht umkehren zu müssen, nur weil die Straße in einen Feldweg übergeht.
Neue Kundenansprache mit neuen Bikes
Nach den Erfahrungen von Lutz Klingner ist der Mountainbiker meist auf Terrains unterwegs, für das ein Gravelbike oft das bessere, weil leichtere und dynamischere Fahrrad wäre. „Das will sich der Mountainbiker aber oft nicht eingestehen“, erklärt Klingner. Das bietet Touristikern und Hoteliers natürlich die Gelegenheit, Gäste direkt anzusprechen, und ihnen die Möglichkeiten mit einem Gravel-Leihrad aufzuzeigen. In der Unterkunft beispielsweise persönlich oder mit Broschüren. Aber es gibt auch die klassischen Donau-Radweg-Tourer, die sonst mit Trekkingbike und Gepäcktaschen unterwegs sind und im Urlaub mal ein trendiges, sportlicheres Rad ausprobieren wollen. „Die, die es gemacht haben, sind meist begeistert“, erklärt der Verleiher Klingner. Mancher Leihkunde käme nach dem Ausprobieren zu ihm in den Laden und kaufe direkt sein erstes Gravelbike. Für die Tourismus-Region ist zwar weitgehend egal, ob man mit dem geliehenen oder dem eigenen Rad die Feldwege entlangrollt. Wichtig ist es hier aber, immer wieder neue Erlebnisse zu schaffen. Dafür bieten die Themen Gravel und das Bikepacking beste Voraussetzungen.
Erfolgreiches Cross-Marketing mit vielen Partnern
Eine gute Möglichkeit, den Tourismus auf Basis des neuen Produkts zu fördern, sah man vor zwei Jahren in der Mittelgebirsregion Haßberge zwischen Bamberg und Schweinfurt. Unter anderem mit dem Partner Sram, einem amerikanischen Fahrradkomponenten-Hersteller mit deutscher Zentrale in Schweinfurt, wurde ein großes Angebot rund um das Gravelbike entwickelt. „Wir haben jetzt eine Auswahl an unterschiedlichen Themenrouten speziell für Graveller in der Region“, sagt Susanne Volkheimer, Leiterin von Haßberge Tourismus. Dazu mussten keine neuen Radwege eingerichtet oder Verbindungswege geschaffen werden. Lediglich die Routen wurden aufgrund der vorhandenen Wander-, Radwander- und Feldwege entwickelt und zusammengestellt. Im Internet und vor Ort werden sie beispielsweise als der „Fluss-Schloss-Fachwerk-Gravel“ oder der „Mainaue-Gravel“ angeboten – mit genauer Tourenbeschreibung, Länge und Schwierigkeitsgrad und mit einem kostenlosen Download, mit dem die Route zum Abfahren auf dem Handy oder Fahrradnavi angezeigt werden kann.
Auch Hotels und Vermieter spezieller Übernachtungsorte wie das „UFO47“, ein exklusives Designer-Holzhaus, sind mit im Boot. Wer dort oder etwa im Brauhaus3 übernachtet, für den ist ein Gravelbike der High-End-Marke Open Cycle inklusive. Aber egal wo man in der Region übernachtet, Gäste können sich stets an das Sram-Gravel-Experience-Testcenter wenden und mit Testrädern die Region erkunden. Der Hersteller gewinnt umgekehrt durch das Feedback zu den Rädern, das er von den Gravel-bikern abfragt. „Wir arbeiten sehr gern mit der Industrie zusammen und verfolgen grundsätzlich mehrere Ansätze im Cross-Marketing-Bereich“, betont die Touristikerin Susanne Volkheimer. Einbezogen werden auch Ausflugslokale wie Craft-Beer-Brauereien oder Winzer, an denen manche Themen-Tour entlangführt. Auf Kommunikationswegen wie Facebook undInstagram wird die Region Gravel-Interessierten nahegebracht. Erfahrungsgemäß ist gerade diese Gruppe besonders affin für Social Media. Die Gravelbike-Angebote fungieren hier als eine von vielen Marketing-Maßnahmen, doch die Möglichkeiten der Partnerschaften sind vielfältig. So gibt es auch mit einer Rennrad-Zeitschrift eine Kooperation. Eine aktuell vom Tourismusverein produzierte Gravel-Reisegeschichte erscheint sowohl in diesem Magazin wie auch in einem Online-Magazin für Gravelbiker.
„Der Wunsch der Menschen, in die Natur zu kommen, ist in letzter Zeit immer stärker geworden. Und das macht das Gravelbike sehr leicht.“
Carsten Maiwald, Geschäftsführer Veloheld
Trend wird breiter und hat Potenzial
Ein schöner Nebeneffekt laut Susanne Volkheimer ist, dass die Räder als Allround-Bikes auch in den Orten genutzt werden, etwa zum Einkaufen oder wenn es zum Essen geht. Das mache weitere Gäste neugierig. „Und natürlich können wir mit dem trendigen Rad langsam auch mehr jüngere Besucher generieren.“ Eine Kooperation mit dem lokalen Verkehrsverbund ermöglicht es zudem, die Startpunkte für die Radtouren per Zug und Bus anzufahren. „Sicher ist der Gravel-Tourismus für uns noch eine Nische“, sagt Volkheimer, „aber sie wird immer breiter.“ Ist das Thema Gravelbike ein neu zu entdeckender Tourismus-Magnet? Grundsätzlich lohnt es sich wohl, Tourismus-Marketing wieder mehr aus einer ökologisch vertretbaren Perspektive und vor allem vernetzter zu denken. Die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Gemeinden, Tourismus-Beauftragen, Planern und anderen zeigt, dass man mit Kreativität viele Synergien schaffen und neue potenzielle Gäste ansprechen kann.
Basiswissen Gravelbike
Das Gravelbike ist die Weiterentwicklung des früheren Querfeldeinrads. Mit den stollenbesetzten Reifen ist es ebenso auf Asphalt wie auch auf schottrigen Feld- oder Waldwegen in seinem Metier. Der Rennlenker sorgt für Abwechslung in der Haltung durch verschiedene Griffmöglichkeiten und, so gewünscht, für eine sportlich-dynamische Sitzposition. Dennoch sitzt man nicht so gestreckt wie mit dem Rennrad – ein wichtiger Faktor für Queraufsteiger, die mit einer allzu sportlichen Sitzposition wenig anfangen können. Mit einer Mountainbike-ähnlichen Übersetzung und Scheibenbremsen fühlt man sich auch im hügeligen Terrain wohl. Unterschiede zum Mountainbike sind neben dem Rennradlenker der Verzicht auf eine Federung sowie die etwas schmaleren Reifen. Dank vieler Aufnahmeösen für Zubehör wird das Bike zum Allrounder und Lastenesel für echte Abenteuer. Inzwischen wächst auch das Angebot an Gravelbikes mit Motorunterstützung. Dabei nimmt der Motor vor allem die Angst vor steilen Passagen, gerade mit Gepäck. Der Einstiegspreis für unmotorisierte Gravelbikes liegt bei unter 1.000 Euro, die Skala nach oben ist fast offen.
Bilder: GRAN-FONDO-Cycling-Magazin/Haßberge Tourismus, Franzi Wernsing, Folker Bergmann, Matteo Dunchi