Eine Schweizer „Klima-Hacker“-Genossenschaft möchte neue Impulse für Mobilität setzen. Inspiriert von Pfadfindern erstellt sie ein simples Modell: Auto weg, alles andere gratis nutzen. Die Stadt Winterthur testete die Kampagne 31Days diesen Sommer. Wie das Modell funktioniert und was die Macher sich versprechen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Die Sache ist leicht erklärt, die Website macht ein einfaches Angebot: „Erlebe für 31 Tage kostenlose Mobilität.“ Was vielen kommunalen Verkehrspolitiker*innen aus dem fantasiebefreiten föderalen Betrieb der Bundesrepublik wie eine Utopie vorkommen muss, ist in der Schweiz bereits Realität geworden. Im zurückliegenden Sommer ließen 1000 Menschen in der Stadt Winterthur ihre Autos stehen, fotografierten den Kilometerstand und durften erst einen Monat danach wieder die Zündung betätigen. Dafür bekamen sie ein komplettes Paket für Fahrten im Nah- und Fernverkehr, sie fuhren mit eigenen Fahrrädern oder mit Leih-E-Bikes, und sie konnten sogar mit einem kleinen Fahrtenguthaben auf die Flotte des Schweizer Carsharing-Anbieters Mobility zurückgreifen. Für diesen Probemonat multimodaler Mobilität zahlten sie nur mit dem Verzicht auf ihr eigenes Auto. 31Days, so der Name dieser Aktion, erlebte eine starke Nachfrage. 3300 Menschen hatten sich laut Organisator für die Aktion registriert. Sie wollten den Gratismonat ohne Auto. Wenn es nach den Initiatoren geht, soll daraus mehr werden. Und die Stadt hofft, dass die Menschen dauerhaft ihr Verkehrsverhalten ändern. „Es ging uns um Sensibilisierung, um die Diskussion und auch darum, Menschen beim Einstieg in langfristig klimafreundliche Lebensweisen zu inspirieren“, erklärt Lukas Schmid, Kommunikationsmitarbeiter im zuständigen Amt der Stadt Winterthur.

Eindeutig lockend: Mit der direkten Ansprache und einem klaren Nutzenversprechen geht das Schweizer Projekt direkt die Menschen an – ungewöhnlich für sonst eher sperrige ÖPNV-Themen.

Hacken für das Klima – eine Schweizer Genossenschaft

Wie kann es gelingen, das Verkehrssystem klimafreundlich umzubauen und dabei relevante Effekte zu erzielen? Mit der Skalierungs- und Disruptions-Logik von Tech-Denkern macht sich die Schweizer Genossenschaft 42hacks genau an diesen Fragenkomplex. Sie ist ein Zusammenschluss von Start-up-Unternehmern und Hacker*innen mit Sitz im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Jessica Schmid ist eine der Mitgründerinnen dieser Genossenschaft, die sich als „Climate Hacker Community“ beschreibt. Neben dem Mobilitätssektor suchen die Hacker auch nach Wegen, um das Klima in den Sektoren Ernährung und Haushalt positiv zu beeinflussen. Sie spricht im Stil echter Tech-Gründer und neigt nicht zu unklaren Worten: „Wir sind extrem selbstkritisch. Wenn wir merken würden, dass das, was wir tun, nicht genug bringt, dann würde ich meine Zeit und meine Energie ganz sicher auf was anderes verwenden“, sagt Schmid. Doch bei 31Days sieht es eben anders aus. Schmid ist sofort gesprächsbereit, als die Interviewanfrage kommt. Derzeit, so schreiben es 42hacks auf ihrer Website, geht es ums Skalieren der Verkehrslösungen. „Ohne die Verkehrsverlagerung kommen wir nicht zu den Klimazielen, die auch der Schweizer Bund ausgegeben hat“, sagt Jessica Schmid. Und das Modell 31Days sei sowohl überzeugender Business- als auch Klima-Case, wenn man es vergrößere.

Was Pfadfinder mit der Verkehrswende zu tun haben

Wie ging das Projekt los? Inspiration für die Veränderung des Modal Splits haben sich die Macher hinter 31Days bei der Jugend geholt, zu deren Wohl ja auch die Verkehrsgewohnheiten in der Gegenwart so schnell wie möglich verändert werden sollten. Dafür reisten Leute vom Team um Jessica Schmid im Sommer 2022 nach Goms im Schweizer Kanton Wallis, wo sich 30.000 Pfadfinder*innen für das so- genannte Bundeslager trafen. Das Team befragte dort junge Scouts: Wie können wir eure Eltern dazu bringen, das Auto weniger zu nutzen? Zurück kam die Einsicht, dass es sich beim Autofahren um eine schlechte Angewohnheit handele, genau wie beim übertriebenen Medien- oder Zuckerkonsum. Nehmt doch einfach für einen Monat den Autoschlüssel weg – und gebt den Eltern dafür Gratis-ÖPNV und -Fahrradmobilität. „Das hat uns wirklich überzeugt, das war die Idee zu 31Days, wir wollten Menschen die Gelegenheit geben, alternative Verkehrsangebote überhaupt zu erleben“, sagt Jessica Schmid.

„Nach 10 kamen 100, nach 100 kamen 1000 Teilnehmer, da ist der nächste Schritt naheliegend.“

Jessica Schmid, 42hacks

Erste Praxistests mit 10 und 100 Personen

Wenige Wochen nach dem Pfadfinderlager startete schon der erste Praxisversuch. In Belp, einer Gemeinde im Kanton Bern, rekrutierte 42hacks zehn Freiwillige, die für 31 Tage ihr Auto stehen lassen würden. Das Projekt war Teil einer größeren Zusammenarbeit zwischen 42hacks und den Mobilitätsunternehmen BLS, SOB, PostAuto und dem Kanton Sankt Gallen, die auf eine Veränderung im Modal Split ausgelegt ist. Kontakte bestanden ohnehin wegen vorheriger Zusammenarbeit zu künstlicher Intelligenz im Verkehrssektor, was auch für die Kooperation bei den Gratistickets hilfreich war. Nach dieser Premiere im Herbst 2022 setzten die Macher 31Days im Sommer 2023 mit dem Faktor zehn um: in Bern gaben 100 Teilnehmer für 31 Tage ihre Autoschlüssel ab und bekamen im Gegenzug freien Zugang zu sämtlichen öffentlichen Verkehrsmitteln der Schweiz sowie zu Mieträdern und auch zur Flotte von Mobility, einem Carsharing-Anbieter. Am 31. Mai 2023 startete dieser Versuch im Kanton Bern. Die Ergebnisse ermutigten die Macher. Man habe die Ziele übertroffen, berichtet Schmid, 27 Prozent der Autos der Teilnehmenden wurden während des Monats oder kurz danach verkauft. In der Nachbefragung gaben 90 Prozent der Teilnehmer an, dass sie ihr Auto weniger und bewusster benutzten. Die Sache erregte schnell Aufmerksamkeit. Der österreichische VCÖ zeichnete 31Days als internationales Vorbildprojekt aus, das Medienecho in der Schweiz war erheblich.

Katrin Cometta, Winterthurer Stadträtin, überreicht am 12. April 2024 gemeinsam mit den Partnern des Projekts einem Teilnehmer der 31-Days-Challenge sein Mobilitätspaket.

Ausgangslage Stadt Winterthur

Im November 2021 beschlossen die Bürgerinnen der Schweizer Stadt Winterthur strenge Klimaziele für ihre Gemeinde. 60 Prozent der Abstimmenden sprachen sich für die Klimaneutralität Winterthurs bis zum Jahr 2040 aus. Nicht nur daraus leitet sich für die Verwaltung der Stadt ein Handlungsbedarf ab. Manuela Fuchs ist Projektleiterin Klima bei der Stadt und berichtet, dass ein Kollege aus ihrer Verwaltung über die Medienberichte auf 31 Days aufmerksam wurde. „Wenn wir Netto-null anstreben und auch eine nachhaltige räumliche Entwicklungsperspektive verfolgen – weg von einem autozentrierten Stadtbild, hin zu mehr öffentlichem Raum für alle –, dann erklärt sich unsere Aufmerksamkeit einfach“, sagt Fuchs. Winterthur verfügt über einen sehr gut ausgebauten öffentlichen Personenverkehr und eine moderne Radinfrastruktur. Aber die Menschen haben ihr Verhalten nur geringfügig verändert. Nach wie vor liegt der Anteil des motorisierten Individualverkehrs am Gesamtaufkommen nach Angaben der Stadt bei rund 40 Prozent. Die Stadt hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Anteil am „Modal Split“ bis 2040 auf 20 Prozent zu halbieren. „31Days legt den Fokus auf die Reduktion von Autofahrten beziehungsweise Autofahrerinnen und passte somit exakt zu den kommunalen Zielen. Diese Chance wollten wir nutzen und konnten uns schnell mit 42hacks auf eine Zusammenarbeit einigen.“ In Winterthur beschloss die Stadtverwaltung, aus dem eigenen Budget 70.000 Franken für einen Teil der Kampagne, nämlich die Finanzierung der Leihräder für die Teilnehmer bei 31Days, bereitzustellen. „Es gibt derzeit viele Projekte und Förderbeiträge für Energie- und Wärmeprojekte, aber kaum Anreize für den Umstieg auf klimafreundliche Mobilität – daher war das für uns ein einfacher logischer Schritt“, erklärt Lukas Schmid, der für die Kommunikation bei Umwelt- und Gesundheitsschutz zuständig ist. Die Stadt Winterthur hat sich darum entschieden, die sogenannten Umsteiger, also jene Teilnehmerinnen, welche während oder nach der Kampagne ihr Auto verkaufen, mit einer Umsteigerprämie aus dem kommunalen Energieförderprogramm zu unterstützen. Das „Kostendach“ beläuft sich auf 250.000 Franken. Umsteigerinnen profitierten von 3000 Franken, wenn ein Haushalt sein einziges Auto verkaufte, oder von 1500 Franken für den Verkauf eines Autos, wenn der Haushalt mehrere besaß. Mit etwa 100 Autoverkäufen rechnete Winterthurs Stadtverwaltung. Die finale Auswertung war bei Redaktionsschluss noch nicht erstellt, eine ursprünglich für November geplante Pressemitteilung wurde auf unbekannten Termin verschoben, da die finalen Zahlen noch nicht vorlagen und man erst auf eine endgültige Evaluation warten wolle. In einer frühen Stellungnahme der Kommune hieß es zudem, dass der CO2-Spareffekt in etwa der Wirkung von Fördermitteln bei Gebäudeisolierung und Photovoltaik entspreche.

Kritik an den Zuschüssen

Diese Incentivierung des Autoverkaufs ist jedoch ein Reizthema im politischen Raum. „Sogar von links kommt Kritik an der Umsteigeprämie der Stadt“, titelte etwa die Lokalzeitung Landbote am 5. September. Beschrieben wird Unmut bei Bürger*innen und in den politischen Parteien, weil die Prämie wiederum nur für Fahrkarten oder Dauerkarten im öffentlichen Verkehrssystem genutzt werden darf. „Verschwendung“ sei das, lässt sich die FDP zitieren, und zwar „ohne nachweisbaren Nutzen“. Die Mitte/EDU spricht sich für mehr E-Auto-Ladestationen und Photovoltaik aus. Bei der SVP heißt es, die gesamte Challenge sei ungerecht gegenüber Leuten, die sonst selten oder nie Auto fahren – und bei der SP findet man gar, dass die Stadt jene Menschen für dumm verkaufe, die ohne eine solche Aktion freiwillig auf den Pkw verzichten. Eine Forderung nach detaillierter Analyse der Kosten pro Einsparung bei CO2 fordert die SVP dem Bericht zufolge. Das ist etwas, dem 31Days-Mitinitiatorin Schmid jedoch offen gegenübersteht. „Es geht ja gerade darum, realistische Preise pro Tonne CO2 zu beziffern und Maßnahmen objektiv vergleichbar zu machen.“ Man müsse jedoch schauen: Wie hoch sind die externen Kosten des Straßenverkehrs wirklich? Wie steht es um die gerechte Verteilung, wenn etwa das Anbringen von Photovoltaikanlagen auf Eigenheimen gefördert werde – der komplette Verzicht auf Pkw allerdings nicht?

Die nächsten Schritte für 31Days

Um die Auswirkungen und Kosten-Nutzen-Rechnung genauer zu erfassen, arbeiten die Projektpartner mit zwei wissenschaftlichen Institutionen zusammen. Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und die Scuola universitaria professionale della Svizzera Italiana (SUPSI) sind mit einer wissenschaftlichen Begleitstudie beauftragt, deren Ergebnisse allerdings erst Ende 2025 vorliegen werden. Schließlich geht es um die dauerhaften Wirkungen des Projekts. Derweil ist Mit-Initiatorin Schmid darauf aus, den nächsten logischen Schritt zu machen. „Wir wollen skalieren. Nach 10 kamen 100, nach 100 kamen 1000 Teilnehmer, da ist der nächste Schritt naheliegend“, sagt sie – jedoch auch ein bisschen humorvoll. Ihr Ziel ist vor allem, das Projekt schneller weiterzuentwickeln und zu verbreiten. „Wir wollen nicht immer ein halbes Jahr verhandeln, um dann ein Jahr arbeiten zu können – deshalb treiben wir das Projekt mit viel Nachdruck voran und stecken auch in Verhandlungen für weitere Auflagen“, erklärt Jessica Schmid. Ein angedachter Start mit einer der größten deutschen Städte sei jedoch wegen des kommunalen Sparkurses nicht zustande gekommen. Schmid jedoch ist vollends überzeugt, dass dieser Ansatz weiter fruchten wird. „Ich habe mit mehr als 400 der Teilnehmer aus Winterthur gesprochen, und was ich gehört habe, lässt keinen Zweifel zu. Da hat sich für viele eine ganz neue Welt aufgetan.“


Bilder: 31 Days, Umwelt- und Gesundheitsschutz Stadt Winterthur

Seit Jahrzehnten wird der Verkehr von Männern für Männer geplant. Dabei würden von einer gendergerechten Verkehrsplanung alle Verkehrsteilnehmer*innen profitieren. Um dies zu erreichen, sind jedoch strukturelle Änderungen notwendig. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Die Mobilitätsmuster von Männern und Frauen unterscheiden sich grundlegend. Während der Großteil der gesunden berufstätigen Männer auf direktem Weg zur Arbeit und zurück pendelt, legen Frauen im Alltag viele kurze Wege zurück – etwa zur Kita, zum Job, zum Supermarkt oder mit den älteren Familienmitgliedern zum Arzt oder in den Park. Die Fachwelt bezeichnet dieses Mobilitätsmuster als Wegekette, die vor allem durch Care-Arbeit entsteht. Damit ist das Kümmern um junge oder ältere Familienmitglieder gemeint. Männer erledigen zwar ebenfalls Care-Arbeit, jedoch investieren Frauen jede Woche 44 Prozent mehr Zeit in diese Aufgaben.
Dass Frauen im Alltag viele kurze Wege zurücklegen, ist bekannt. Bislang können die Planer*innen in den Verwaltungen oder Verkehrsunternehmen jedoch für diese Strecken keine Angebote entwickeln, weil ihnen dafür die Datengrundlage fehlt. Die Care-Arbeit wurde beispielsweise in den verschiedenen Mobilitätserhebungen bisher nicht separat erfasst. „Gender Data Gap” nennt man diese Datenlücke in der Wissenschaft. Nicht nur in den Mobilitätsberufen, sondern auch in der Mobilitätsplanung sei die weibliche Perspektive unterrepräsentiert, heißt es dazu auf der Webseite des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr. Mit der neuen DLR-Studie „Please Mind the Gap“ zeigen die Wissenschaftlerinnen Dr. Laura Gebhardt, Sophie Nägele und Mascha Brost, dass sich dieser Gendergap auch in der Gestaltung der Fahrzeuge fortsetzt.
„Mit Gender ist nicht ausschließlich die Frau gemeint“, sagt Dagmar Köhler, Mobilitätsexpertin beim niederländischen Beratungsunternehmen Mobycon. Gender beziehe sich auf das soziale Geschlecht. Es meine demnach alle, die nicht in die Kategorie „gesunder, weißer, berufstätiger Durchschnittsmann“ passen. Dazu zählen beispielsweise Ältere, Kinder, Menschen anderer Herkunft und all jene, die mit viel Gepäck, Gehhilfen oder Ähnlichem unterwegs seien.
Die Alltagsmobilität gendergerecht zu planen, erfordert ein konsequentes Umdenken in der Verkehrsplanung. „In den Städten sind die Streckennetze oft sternförmig aufgebaut“, sagt Dr. Laura Gebhardt, Mobilitätsforscherin am DLR-Institut für Verkehrsforschung in Berlin. Das komme den Anforderungen von Vollzeit arbeitenden, pendelnden Personen (überwiegend Männer) entgegen. Sie könnten schnell von zu Hause zur Arbeit und zurück gelangen. „Wege für Care-Arbeit sind dagegen häufig kreisförmig organisiert und befinden sich in Wohnortnähe“, sagt die Wissenschaftlerin. Diese für die Care-Arbeit typischen komplexen Wegeketten wurden jedoch bisher nicht ausreichend differenziert erhoben. Planenden und Forschenden fehle deshalb eine gute Datengrundlage, um die Bedürfnisse von Frauen in der Stadt- und Verkehrsplanung besser zu berücksichtigen, stellt Gebhardt fest. Grundsätzlich sei ein Umfeld, in dem Frauen mit Kindern oder Älteren entspannt unterwegs sein können, gut für Care-Arbeit. Dazu gehören Straßen mit Tempo 30, großzügigen Grünanlagen und breiten Fuß- und Radwegen. „Die Fahrradwege sind im Idealfall so breit, dass Frauen dort mit ihren Kindern ausreichend Platz haben und trotzdem von schnellen Radfahrenden bequem überholt werden können“, sagt die Wissenschaftlerin.

„Mit Gender ist nicht ausschließlich die Frau gemeint.“

Dagmar Köhler, Mobycon

Radwege in Kopenhagen: Die Wege sind breit und vom Autoverkehr physisch getrennt. Hier sind die Menschen jeden Alters und Könnens sicher unterwegs und kommen auf direkten Weg ans Ziel.

Die 15-Minuten-Stadt ist gendergerecht

Ein Planungsansatz, der der Alltagsmobilität von Frauen entspricht und diese verbessert, ist laut Laura Gebhardt die 15-Minuten-Stadt. Die Idee ist, dass man dort alles, was man im Alltag benötigt, innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß oder mit dem Fahrrad sicher und bequem erreicht – den Arzt, die Schule, den Supermarkt, Kulturangebote oder den nächsten Park. Die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, setzt dieses Konzept bereits in der französischen Hauptstadt um. Dutzende Kilometer an Radwegen sind in den vergangenen Jahren in den verschiedenen Quartieren entstanden. Viele von ihnen sind mit physischen Barrieren vom Autoverkehr deutlich getrennt.
„Radwege für 8- bis 80-Jährige“, nennt Dagmar Köhler dieses Prinzip. Die Mobilitätsexpertin, die bis Ende 2023 die Fahrradakademie am Deutschen Institut für Urbanistik geleitet hat, erklärt: „Wenn die 8-jährige Tochter oder die 80-jährige Mutter sicher mit dem Rad durch die Stadt fahren können, ist die Radinfrastruktur für Menschen jeden Geschlechts, Alters und Könnens sicher“, sagt sie, „und zwar subjektiv und objektiv.“
In den Niederlanden werde die Radinfrastruktur seit Jahrzehnten nach diesem Grundsatz geplant, sagt die Mobilitätsexpertin. Komfort und subjektive Sicherheit seien dort elementar für die Radverkehrsplanung. „Sie müssen auf der gesamten Radroute vorhanden sein und können nicht wegrationalisiert werden“, sagt sie. Der Begriff „Gender“ werde in den Regelwerken zwar nicht formuliert, aber indirekt bereits umgesetzt.

Wenn die Radwege sicher und komfortabel zum Ziel führen, nutzen Frauen häufig das Fahrrad. In Deutschland lag der Frauenanteil bei der letzten bundesweiten Erhebung 2017 bei 36 Prozent.

Gut fürs Image: Frauen auf Fahrrädern

In Dänemark dagegen beobachtet die Regierung sehr genau, wie viele Frauen Rad fahren. „Dort ist ein hoher Anteil an Rad fahrenden Frauen ein Indikator für Qualität und gelungene Planung“, sagt Dagmar Köhler. Deshalb arbeiten die Kommunen daran, Frauen mit sicheren Radwegen und guten ÖPNV-Angeboten zum Fahrradfahren zu verführen. Das Konzept geht auf. In Dänemark bilden Frauen mit 53 Prozent sogar eine knappe Mehrheit unter den Radfahrenden. In Deutschland sind es laut dem Fahrradmonitor von 2023 nur 36 Prozent.
Die dänischen Planer*innen machen es den Frauen leicht. Die Radinfrastruktur ist beispielsweise in Kopenhagen sicher, selbsterklärend und lückenlos. Auf Radwegen oder Fahrradstraßen werden Frauen dort durch die Quartiere gelotst. Davon profitieren auch die Kinder. 65 Prozent von ihnen fahren in Dänemark mit dem Rad zur Schule, sofern der Schulweg ein bis drei Kilometer vom Wohnort entfernt ist. In Dänemark werden 15 Prozent aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt, bis zu einer Strecke von zehn Kilometern sind es sogar 21 Prozent. Deutschland hinkt dieser Entwicklung hinterher. Laut der jüngsten Verkehrsprognose des Bundesverkehrsministeriums erreicht die Bundesrepublik im Jahr 2040 gerade mal einen Radverkehrsanteil von 11,8 Prozent am Gesamtverkehr. Das entspricht einem Wachstum von 1,5 Prozent innerhalb von 21 Jahren. Dabei hat das Fraunhofer Institut Anfang des Jahres berechnet, dass auch hierzulande ein Radverkehrsanteil von 45 Prozent möglich sei. Die Voraussetzung dafür ist eine Infrastruktur auf hohem Niveau, ähnlich wie in den Niederlanden.

Eine neue Studie des DLR zeigt: Das Unfallrisiko für Frauen, Kinder und Ältere im ÖPNV ist deutlich höher als für einen typischen Mann mittleren Alters.

Sicheres Umsteigen auch nachts

Dazu gehört auch eine gute Verknüpfung mit anderen Verkehrsmitteln. „In Dänemark und den Niederlanden denken die Planer den Rad-, Fuß-, Bus- und Bahnverkehr stets in miteinander verzahnten Netzen“, sagt Dagmar Köhler. Das sei entscheidend, damit die Menschen bequem ihre Ziele erreichen. Verschiedene europäische und nationale Studien zeigen, dass Frauen klimafreundlicher unterwegs sind und häufiger Busse und Bahnen nutzen als Männer. Allerdings müssen sie sich auch sicher fühlen, wenn sie vom Bus oder der Regionalbahn aufs Fahrrad wechseln, insbesondere nachts. Eine Studie des Bundeskriminalamts aus dem Jahr 2022 zeigt: Zwei von drei Frauen (67 Prozent) haben nachts in öffentlichen Verkehrsmitteln Angst. Die staatliche Eisenbahnbehörde (Nederlandse Spoorwegen, NS) lässt eine Vielzahl der Fahrradparkhäuser bewachen, die sie an Bahnhöfen betreibt, um die subjektive und objektive Sicherheit zu erhöhen. Das Personal ist 15 Minuten vor Ankunft des ersten Zuges vor Ort und geht 15 Minuten nach Ankunft des letzten Zuges. Davon profitieren alle Radfahrenden.
„Eine gendergerechte Radverkehrsplanung hat viele Facetten“, sagt Dagmar Köhler. Seit Anfang 2024 setzt sie sich in dem Netzwerk „Women in Cycling Germany“ mit über 300 engagierten Expertinnen aus der Fahrradbranche dafür ein, die Mobilität und Gremien inklusiver zu gestalten. „Um das zu erreichen, müssen sämtliche Gremien vielseitig, mit mehr Perspektiven besetzt sein“, sagt sie.
„Wir brauchen in der Mobilitätsbranche deutlich mehr Frauen, auch in den Entscheidungspositionen“, sagt auch Dr. Laura Gebhardt, Verkehrsforscherin am DLR-Institut in Berlin. Für ihre DLR-Studie „Please mind the Gap“ hat sie mit ihren Kolleginnen verschiedene Verkehrsmittel untersucht. „Aus Studien und Datenanalysen wissen wir, dass Frauen den öffentlichen Verkehr häufiger nutzen und auch eher bereit sind, aufs Autofahren zu verzichten“, sagt Gebhardt. Die Rahmenbedingungen machen es ihnen allerdings schwer. „Denn viele Busse und Bahnen sind gar nicht auf ihre Bedürfnisse ausgelegt“, sagt die Verkehrsforscherin. Wenn Frauen ihre Kinder oder ältere Angehörige begleiten, sind sie oft mit Taschen und Gepäck, Kinderwagen oder Rollatoren unterwegs. In Bussen und Bahnen fehle aber Stauraum, den Frauen gut erreichen können, sagt Gebhardt. Das macht das Bahn- und Busfahren für sie oft unbequem und manchmal sogar unmöglich.
Außerdem ist das Unfallrisiko für Frauen, Kinder und Ältere im ÖPNV deutlich höher als für einen typischen Mann mittleren Alterns. Viele Frauen können aufgrund ihrer Körpergröße die Haltestangen oder Halteschlaufen nicht erreichen, wenn die Sitze belegt sind. „Kommt es zu einem Unfall, ist das Verletzungsrisiko für sie ungleich höher, weil die Innenausstattung der Fahrzeuge für einen typischen 1,80-Meter-Mann ausgelegt ist“, sagt Gebhardt.

„Wir brauchen in der Mobilitätsbranche deutlich mehr Frauen, auch in den Entscheidungspositionen.“

Dr. Laura Gebhardt, DLR-Institut für Verkehrsforschung

Trinken vermeiden in der Bahn

Neben der Sicherheit in öffentlichen Verkehrsmitteln spielt auch die Sauberkeit der Toiletten im Regional- und Fernverkehr eine Rolle. „Aufgrund von Menstruation, Wechseljahren oder Schwangerschaft haben Frauen einen viel höheren Anspruch an die Hygiene von Zugtoiletten als Männer“, sagt Gebhardt. Doch oftmals sind Toiletten in Regional- wie in Fernzügen verdreckt oder gesperrt. Der Bahnbeauftragte der Bundesregierung, Michael Theurer (FDP), hatte im Sommer auf eine Anfrage der Union im Bundestag berichtet, dass im Jahr 2023 jede achte Toilette (12,5 Prozent) in der DB Regio und 3,7 Prozent der WCs in Fernverkehrszügen verschmutzt oder gesperrt waren.
Frauen reagieren auf diese Zustände mit eigenen Strategien. In einer niederländischen Untersuchung erklärten 41 Prozent der befragten Frauen im Jahr 2010, dass sie während der Bahnfahrt gar nichts oder nur wenig trinken, um den Toilettengang im Zug zu vermeiden. „Das ist ungesund und ein Zeichen, dass das aktuelle Angebot nicht zu den Bedürfnissen der Kundinnen passt“, sagt Gebhardt. Neue Ansätze in diesem Bereich könnten dazu beitragen, Kund*innen zu halten und neue zu gewinnen – etwa mit geschlechtergetrennten Toiletten. „Die Damentoilette sollte über mehr Platz verfügen, damit zum Beispiel auch Frauen mit Kleinkindern ausreichend Platz in der Kabine finden“, sagt Gebhardt. Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) hatten 2019 im Zug Giruno getrennte Toiletten eingeführt. Aber laut einer SBB-Sprecherin wird das Konzept aus Platzgründen nicht fortgeführt.

Der Gendergap setzt sich im Fahrzeugdesign von Autos, Bussen und Bahnen fort. Bislang ist der Durchschnittsmann das Maß der Dinge für die Gestaltung der Fahrzeuge.

Crashtest-Dummys sind männlich

Der „Mobility Gender Design Gap“ betrifft jedoch nicht nur öffentliche Fahrzeuge; auch im Privatwagen sind Frauen einem höheren Verletzungsrisiko ausgesetzt. Eine kürzlich veröffentliche Studie der Unfallforscher der Versicherer (UDV) belegt, dass Frauen selbst auf dem Beifahrersitz eineinhalbmal verletzungsgefährdeter sind als Männer, weil für Einstellungen und Test stets ein männlicher Crashtest-Dummy verwendet wird. „Die Ergonomie muss für kleine Personen besser werden, etwa mit individuell einstellbarer Pedalerie oder mehr Beinfreiheit“, mahnte die Leiterin der UDV, Kirstin Zeidler. Das gilt für den Fahrer- und den Beifahrersitz.
Das Wissen dafür ist vorhanden. Bereits 2019 hat Astrid Linder, Professorin für Verkehrssicherheit am Schwedischen Nationalen Straßen- und Verkehrsinstitut, in einem TED-Talk den weiblichen Crashtest-Dummy „Eva“ präsentiert. Eva ist 1,62 Meter groß, wiegt 62 Kilogramm und Brust, Becken und Hüfte sind dem weiblichen Körperbau nachempfunden. Eva könnte für Crashtests mit Autos, Bussen oder Zügen verwendet werden. Aber weder auf EU-Ebene noch bundesweit werden für die Zulassung von Pkw oder in den Vergabeverfahren für Busse oder Schienenfahrzeuge Sicherheitssysteme gefordert, die Genderunterschiede berücksichtigen. Für Frauen ist das Verletzungsrisiko bei einem Unfall mit dem Privatwagen oder in einem öffentlichen Verkehrsmittel deshalb stets höher als bei einem Mann.
Um diesen Gendergap in der Verkehrsplanung und Gestaltung von Fahrzeugen zu beheben, plädiert Laura Gebhardt für umfassendere Datenerhebungen, die unter anderem auch die Care-Arbeit differenziert erfassen. Es sei entscheidend, die Bedürfnisse der verschiedenen Verkehrsteilnehmer*innen zu verstehen und sie in die Gestaltung einzubeziehen, um ein sicheres und komfortables Verkehrssystem für alle Menschen zu schaffen. Laut einem Sprecher des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr wurden für die Studie Mobilität in Deutschland 2023 erstmals auch Wegeketten erfasst. Sie erscheint im kommenden Frühjahr.


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Wie lässt sich von Politik, Verkehrsplanern und Akteuren der Zivilgesellschaft dem Populismus gegensteuern? Wie sichert man Erreichtes für die nachhaltige Mobilitätswende? Perspektivwechsel und Dialog gehören in den Instrumentenkoffer. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Populistische Parteien sitzen jetzt in Ländern und Kommunen. Mittlerweile muss nicht einmal die AfD oder das BSW vorn liegen, um Klimaschutzprojekte infrage zu stellen. Beispiel Eichwalde: Anders als im Landesdurchschnitt siegte bei den Brandenburgwahlen im September die SPD mit 34,3 Prozent der Zweitstimmen vor der AfD (20,7 Prozent). Nur was nutzt vorläufiges Aufatmen engagierter Kommunalpolitiker*innen, wenn etablierte Parteien den Populismus kopieren? Jörg Jenoch, Bürgermeister von Eichwalde (Wähler Initiative Eichenwalde), sagt sogar: „Die wahren Populisten sind nicht die AfD, sondern die CDU und teilweise die SPD, sofern sie deren Art und Weise übernehmen.“ Auch Christoph Kollert, Verbundkoordinator des Nudafa-Reallabors für interkommunale Radverkehrsförderung vor Ort, findet: „Ich glaube, dass jetzt die anderen Parteien merken, damit kann man was machen. Sie kapern das und bringen es immer mehr ein.“ Als die Eichwalder CDU-Fraktion einen Eilantrag auf Aufhebung des Beschlusses für die Klimaschutzhülle einer Grundschule stellte, wurde sie auch von der SPD-Fraktion unterstützt. Da wurde eine Maßnahme, die von der Gemeindevertretung ehemals gemeinsam beschlossen wurde, plötzlich als ideologisches Projekt gehandelt.

Die Kernelemente sozialverträglicher Mobilität. Sie helfen, potenzielle Maßnahmen auf ihre Sozialverträglichkeit hin zu prüfen.

Positive Narrative statt Triggerworte

„Wir haben auch einen Fehler gemacht“, räumt der Bürgermeister ein, „weil wir das Klimaschutzhülle genannt haben. Eigentlich ist das eine Lärmschutzhülle. Sie soll die Schule vor Fluglärm schützen.“ Entsprechend wortsensibel reagiert Christian Klasen von DialogWerke GmbH neuerdings in seiner Kommunikation für Mobilitätsprojekte. Er sagt: „Dass wir mit einer Maßnahme soundso viel Gramm CO2 einsparen, damit kriege ich die Leute nicht. Schließlich ist das persönliche Mobilitätsverhalten das große Einfallstor von Populisten. Die sind da, wenn sie argumentieren können, jemandem wird etwas weggenommen. In den Mobilitätsplänen sprechen wir deshalb nicht mehr von Klimaschutz. Wir sagen, so bekommen wir eine lebenswerte Stadt, Verkehrssicherheit und Gesundheit. Durch diese Maßnahme verbessert sich der Schulweg für die Kinder.“

Zeitnahe Umsetzung schafft Vertrauen

Mit Bezug auf das „Wording“ weist man in Eichwalde allerdings auf eventuelle Finanzierungsabhängigkeiten hin. Zum Beispiel, wenn Kommunen das Klimaschutzziel mal eben streichen wollen, die Projekthilfen jedoch ausdrücklich dafür vorgesehen sind. Gefragt nach seiner Strategie gegen den Populismus, setzt Jörg Jenoch grundsätzlich auf eine Verschlankung von Verwaltungsprozessen. „Wenn Sie bei uns in den Haushalt hineinschauen, sehen Sie eine strukturelle Unterfinanzierung. Dabei geht es uns noch gut. Trotzdem können wir unsere Aufgaben nicht zeitgerecht erfüllen. Wenn man es schaffen würde, dass die Verwaltung Prozesse zügiger umsetzen kann, schafft man Vertrauen, weil dann die Erfolge kommen.“ Umgekehrt gilt: „Je länger es braucht und je weniger Leute nachvollziehen können, dass es etwa noch zwei Jahre länger dauert, verlieren sie auch Vertrauen.“ Wichtig ist dem Bürgermeister daher, dass man konsequent Bürokratie abbaut und den Kommunen die Möglichkeit gibt, ihre Probleme selbst mit ihrer Kompetenz vor Ort zu lösen.

Den Masterplan gegen Populismus gibt es nicht. Je nach Situation und Verantwortungsbereich können unterschiedliche Maßnahmen die Mobilitätswende sichern.

Instrument verkehrsrechtliche Anordnung

Eine Methode, mit dem kontroversen Thema Verkehrsberuhigung umzugehen, nennt Christoph Kollert: „Im Prinzip handelt es sich dabei um eine Populismusvermeidungsstrategie. So wollten wir ursprünglich die Bahnhofstraße zur Fahrradstraße umgestalten. Das kocht immer richtig hoch, besonders wenn es in der Straße schon andere Themen gibt, wie die Stärkung des Einzelhandels. Also haben wir gesagt, machen wir eine Maßnahme, mit der wir das Thema Fahrrad wieder rausnehmen.“ Gibt es in einer Straße zum Beispiel Unfälle, kann die Verwaltung ein Handlungserfordernis feststellen für einen verkehrsberuhigten Bereich. Dazu muss ein Antrag beim Straßenverkehrsamt gestellt werden. In Eichwalde hat die zuständige Behörde das bejaht. Kollert: „Sie hat sogar gesagt, wir wundern uns, wieso ihr das nicht längst gemacht habt. Wir schauen also, was wir verkehrsrechtlich machen können, ohne zu sagen, wir machen jetzt Radverkehrsförderung. Heraus kommt ein verkehrsberuhigter Bereich, der nicht Fahrradstraße heißt.“

„Wir schauen also, was wir verkehrsrechtlich machen können, ohne zu sagen, wir machen jetzt Radverkehrsförderung.“

Christoph Kollert, Verbundkoordinator NUDAFA

Kommunale Aufgaben externalisieren

Weil eine Kommune bei Angriffen auf Verkehrsprojekte regelmäßig im Mittelpunkt steht, kann sie bestimmte Maßnahmen abgeben. An Institutionen wie Schulen oder Vereine, die bei Bürger*innen Glaubwürdigkeit und Vertrauen besitzen. So sagt der Nudafa-Koordinator: „Die Kommunen stehen populistisch in einer besonderen Situation. Andererseits ist es für einen Populisten viel schwieriger, den ADAC Brandenburg dafür zu kritisieren, dass er einen Verkehrsprojekttag an der Grundschule Eichwalde macht.“
Deshalb hält es Kollert für eine weitere Strategie, Aufgaben zu externalisieren. Dazu gehört die Mobilitätsbildung. „Das sollte die Schule machen, der ADFC, ADAC oder VCD.“ Generell hält er es für falsch, zu sagen, allein die Kommunen machen die Verkehrswende. „Wenn wir das mit der Verkehrswende schaffen wollen und gleichzeitig der Populismus zunimmt, brauchen wir die Nichtverwaltungsakteure in der Gesellschaft, die die Dinge tun. Auch der ADFC kann die Landesregierung verklagen, warum es immer noch keine Schulstraßen gibt.“

Sozial verantwortlich planen

Sind Populisten mit den klassischen Sündenböcken wie Migranten oder Armutsbetroffene erfolgreich, werden sie möglicherweise auch aufgrund unausgesprochener Themen gewählt. Unter solch schlichten Nebelkerzen schwelen Krisen, auf denen die Politik bisher keine erfolgreichen Antworten findet: Wohnungsnot, mangelnde Gesundheitsversorgung oder Bildungskrise. Hinzu kommt, dass die eigene, prekäre Lage selbst in Umfragen ungern eingeräumt wird. „Es ist uncool, arm zu sein“, sagt Ragnhild Sørensen. Sie ist Sprecherin des Vereins Changing Cities. „Wer in Teilzeit arbeitet, zahlt genauso viel für die Transportkosten zur Arbeit, wie jemand, der in Vollzeit arbeitet. Dabei verdient er vielleicht nur die Hälfte. Ist das gerecht? Das sind Sachen, die Verkehrspolitiker nicht unbedingt auf den Schirm haben.“ Dabei betrifft Armut nicht nur Lebensstandards, sondern ebenso mangelnde Teilhabe an gesellschaftlichen Bereichen. In einen strategischen Instrumentenkoffer gegen Populismus gehört deshalb der Blick auf alle Gruppen.

Erfolgreiche Bürgerbeteiligung nimmt sich die Zeit, den Diskussionsraum aufzubauen. Dabei ergänzen sich Fach- und Diskurs-Kompetenz.

Rückkehr der runden Tische

Entsprechend bildet eine sozialverträgliche Mobilitätswende eine Säule der Arbeit der DialogWerke. Christian Klasen erklärt: „Populisten sagen, dass sie auf die armen, einfachen Leute achten. In Köln haben wir sehr erfolgreich einen runden Tisch „Mobilität und Gesellschaft“ eingeführt. Die Stadt legt viel Wert auf die soziale Gerechtigkeit. Weil wir alle vorgeschlagenen Maßnahmen auch danach betrachten, ob sie sozialverträglich sind, haben wir dazu ein Modell gebaut.“ Die sieben Kernelemente der Sozialverträglichkeit spiegeln die Themen auf der untersten Ebene: Teilhabe, Barrierefreiheit, Bezahlbarkeit, Erreichbarkeit, Zuverlässigkeit, Sicherheit und Gesundheit. Am runden Tisch sitzen zufällig ausgewählte Bürger und Bürgerinnen aus möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen. Blindenverein, Seniorinnen, Studierende, Kirche, Migrationsrat und Bürgergeldempfängerinnen. „Was unsere Mobilitätsplaner vorlegen, prüfen wir dort. Zu sagen, checkt selber, ob das sozialverträglich ist, wäre daher auch ein Vorbeugen gegen Populisten. Hat man das Siegel von so einem Gremium dran, ist für die schon mal eine Tür weniger offen. Wir haben den Eindruck, dass das gut funktioniert.“

Die eigene Blase verlassen

Selbstkritisch räumt Christoph Kollert ein: „Bei unserem Fahrradparkhaus haben wir den Fehler gemacht, die Gründe voranzustellen, die uns selbst überzeugen und antreiben. Weniger haben wir daran gedacht, wo es zusätzliche Vorteile gibt. Beispielsweise für die Leute, die dann da parken können. Je mehr Fahrräder kommen, desto weniger Leute kommen mit dem Auto. Zu sagen, was unsere Maßnahmen über die eigene Perspektive hinaus leisten. Dafür müssen wir unser Auge schärfen.“
Für den eigenen Perspektivwechsel lohnt es sich, häufiger die eigene Blase zu verlassen. Denn auch von Populisten lässt sich lernen. Was für die Politik gilt, die zu Bürgergesprächen lädt, stimmt ebenso für Akteure der Zivilgesellschaft. Changing Cities erprobt neuerdings die Methode Door-to-door. „Also wirklich an Türen klopfen und statt Ausgrenzung den direkten Dialog suchen“, sagt Ragnhild Sørensen. „Das funktioniert auch ganz gut.“ Manchmal rufen Bürgerinnen bei ihr an, um sich über ihre Initiativen zu beschweren. „Dann nehme ich mir eine Viertelstunde Zeit. Die ersten sieben Minuten sind reine Beschwerde. Später gibt es doch Dialog und Verständnis.“ Zum Beispiel beschwerte sich eine Frau aus Brandenburg, dass ihre Autodurchfahrt zur Stadt in einem Kiezblock unterbunden werden sollte. „Ich habe ihr geantwortet, es ist auch nicht schön für die Anrainer, wenn alle vor ihren Häusern durchfahren. Das hat sie ein Stück weit verstanden. Dann habe ich versucht, ihr zu erklären, dass wir nicht unbedingt wollen, dass sie nicht mehr Autofahren kann. Sondern, dass diejenigen besser durchkommen, die wirklich darauf angewiesen sind.“ Die Frau hat das akzeptiert. Den vielleicht wichtigsten Punkt schob die Brandenburgerin hinterher, als sie sagte: „Das müssen sie aber öfters erzählen, dass es ihr Ziel ist, dass Menschen, die aufs Auto angewiesen sind, Auto fahren können.“ So eine direkte Kommunikation ist zugleich eine Herausforderung für Changing Cities. Denn die Arbeit auch gegen populistische Falschinformationen über geplante Projekte bindet viel Zeit. „Zu den eigentlichen Themen kommt die NGO dann nicht. Zum Teil sind wir deshalb ausgebremst“, sagt Sørensen. Das sei wiederum eine Strategie von Populistinnen, die sich gegen nachhaltige Verkehrsmaßnahmen stemmen.

Mit Diskurskompetenzen ausstatten

Damit das Projekt von den Betroffenen überhaupt verstanden wird, braucht es Diskurskompetenz. „Wir müssen die fachliche Kompetenz darstellen für die Leute, mit denen wir diskutieren“, sagt Christian Klasen. Das Büro DialogWerke hat dafür Anforderungen für eine faktenbasierte Bürgerbeteiligung entwickelt. „Das gilt auch für die Politiker*innen, ob die neu sind oder nicht. Sie müssen fachliches Wissen haben und nicht nur aus ihrem Bauchgefühl heraus handeln. Also fachliche Kompetenz im nötigen Rahmen, damit sie wirklich damit arbeiten können. Die brauchen wir bei den Fachakteuren, aber auch bei den Bürgerinnen und Bürgern.“ Der Dialog soll auf Augenhöhe geführt werden. „Wenn man das hinbekommt, können wir darüber reden, wie wir das machen.“

„Wer in Teilzeit arbeitet, zahlt genauso viel für die Transportkosten zur Arbeit, wie jemand, der in Vollzeit arbeitet.“

Ragnhild Sørensen, Changing Cities

Wirtschaft ist Teil der Verkehrswende

Grundsätzlich ist die Wirtschaft ein wesentlicher Einflussfaktor. Sie besitzt ein hohes Interesse an Regulierung und Kontinuität über Legislaturperioden hinaus. „Die IHK fördert Lastenräder für Kleinunternehmer und Handwerker“, sagt auch Christoph Kollert. „Unternehmen stellen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Fahrräder, Helme, Duschen und Umkleideschränke zur Verfügung. Das ist etwas, das die Kommunen ohnehin nicht leisten können. Bei den Unternehmen sorgt das für Mitarbeiterbindung, sie werden attraktiver. Das gehört zu den Maßnahmen, die wir brauchen, um die Verkehrswende zu schaffen. Die Wirtschaft könnte da noch eine viel größere Rolle übernehmen. Vielleicht müsste sie auch mehr fordern.“

Pflege vorhandener Infrastruktur

Schließlich gerät beim Fokus auf innovative Verkehrsprojekte der Status quo mitunter aus dem Blickfeld. Dabei führt fehlende Instandhaltung der vorhandenen öffentlichen Versorgung zu einem verminderten Vertrauen in demokratische Institutionen. So erkennt die Raumforschung unterschiedlich ausgestattete Infrastrukturen als Einfallstore für Populismus. Als wichtigste Aspekte werden das Stadt-Land-Gefälle, sozioökonomische Unterschiede sowie Zentrum-Peripherie-Gegensätze genannt. Solche infrastrukturellen Lücken werden durch Rechtspopulisten besetzt. Zwar zeigt gerade die Verkehrspolitik die Widersprüche ihrer Positionen. In einer Veröffentlichung der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft heißt es in einem Beitrag zum infrastrukturellen Populismus von Matthias Naumann: „Einerseits plädiert die AfD bundesweit für den motorisierten Individualverkehr und gegen Fahrverbote oder auch gegen Regelungen zur Verminderung von Feinstaub. Andererseits sprachen sich AfD-Abgeordnete im Stuttgarter Gemeinderat für eine Kombination aus öffentlichen und umweltfreundlichen Verkehrsmitteln aus. […] Ebenso steht das Bekenntnis der AfD für den Erhalt von sozialen Infrastrukturen in ländlichen Räumen im Widerspruch zur austeritätspolitischen Ausrichtung der Partei insgesamt.“ Neben dem Ausbau bleibt daher auch die Pflege der Infrastruktur eine gesunde Basis gegen Lückenbesetzungen durch Populist*innen.

Die 7 Kernelemente sozialverträglicher Mobilität


Bilder: René Frampe, DialogWerke, Gemeinde Eichwalde, Changing Cities

Klar, die Niederlande sind ein flaches und dicht besiedeltes Land, in dem Radeln („fietsen“) ohne E-Motor oder hocheffiziente Kugellager, Reifen und Schaltungen einfacher ist, trotz Wind, Regen und Kälte. Natürlich entstand gerade dort ein „Fiets-Paradies“. Doch so einfach ist diese Geschichte nicht. Die niederländische Fahrradkultur fasziniert Menschen weltweit. Doch wie ist sie entstanden und wie funktioniert sie? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Warum setzen viele Niederländerinnen ihre Kinder mit einem zweiten Sattel auf der Stange vorne auf ihr Fahrrad, anstatt hintendrauf? Kinder sollen früh mitbekommen, wie man vernünftig und trotzdem effizient am Straßenverkehr teilnimmt und sich die Weidevögel mitanschauen können. Außerdem bilden Kinder einen guten natürlichen Wind- und Regenschirm. Sie sollen sich an das mitunter raue Wetter gewöhnen. Nicht zuletzt sind sie im Falle eines Sturzes gut gesichert zwischen den Armen der Eltern. Man kann sich zudem auch besser mit den Kleinen unterhalten. Der Wind trägt ihre Stimmen nicht davon. So wurde es zumindest mir selbst erklärt als Teil meiner Erziehung als Niederländer. Zum Kulturbild gehört aber auch, dass ein weitverbreitetes, aber auch sehr unterschiedliches Fahrradverhalten stark durch vorhandene Infrastruktur bedingt ist. Niederländerinnen fietsen nicht unbedingt zum Supermarkt oder zur Arbeit, weil sie niederländisch sind. Menschen aus aller Welt ziehen aus unterschiedlichsten Gründen in die Niederlande und lernen schnell, dass Fietsen nicht nur normal ist, sondern im niederländischen Kontext auch einfach, gesund, nachhaltig, günstig, effizient, herrlich, befreiend, und relativ ungefährlich. Also macht es fast jeder.
Chris Bruntlett ist Manager Internationale Beziehungen bei der Dutch Cycling Embassy und steckt hinter dem Begriff „Fiets-Paradies“. Laut ihm ist Sicherheit ein deutlich gewichtigerer Faktor als Hügel oder das Wetter, der Menschen weltweit davon abhält, auf einen Drahtesel zu steigen.
Wer auf dem Rad im niederländischen Straßennetz aufwächst, der staunt beim Beobachten der Umstände und Einstellungen im Ausland. Wenn sich das Fahrrad im Kopf als Hauptverkehrsmittel etabliert, entstehen andere Selbstverständlichkeiten. Wie oft hatte ich in meiner Kindheit und Jugend einen platten Reifen und bin noch fünf Kilometer nach Hause gelaufen? Meine Eltern hätten mich nicht abgeholt. Das gehört zu der Freiheit, sich selbst zu bewegen. Zu meinen eigenen Erfahrungen als Fietser zählt auch, im Winter über zugefrorene Straßen zur Schule zu schlittern oder die verrücktesten Gegenstände auf Fahrrädern zu transportieren.
Seit etwa einem Jahr fahre ich im Schnitt zwischen 50 und 100 Kilometer pro Woche für Alltagsziele auf deutschen Straßen, über Land und durch die Stadt. In der Zeit wurde ich mindestens eine Handvoll Male von Autofahrenden angeschrien, mehrmals fast angefahren, weil sie beim Abbiegen nicht um sich schauen, und etliche Male von Fremden ungefragt und manchmal inkorrekt auf die Verkehrsregeln hingewiesen. Dergleichen ist mir in den Niederlanden in quasi nie passiert. Inzwischen trage ich hierzulande trotz des Risikos von meinen alten Freund*innen ausgelacht zu werden, immer einen Fahrradhelm. Damit habe ich mich jetzt wohl der deutschen Kultur gefügt. Ein gewissermaßen rebellischer Fahrstil ist mir jedoch geblieben. Die Straße gehört uns allen!

Chris Bruntlett von der Dutch Cycling Embassy hat den Begriff Fiets-Paradies geprägt. Dazu gehören auch die ÖPNV-Fahrräder und Fahrradparkhäuser.

Eine kleine Fiets-Geschichte

Dass Autofahrende im öffentlichen Raum so viel Platz wegnehmen dürfen, obwohl sie heute weiterhin eine Lebensgefahr darstellen, war nicht immer salonfähig. Thalia Verkade, Journalistin für Mobilität bei De Correspondent, und Marco te Brömmelstroet, kritischer Soziologe und bekannt als Fiets-Professor, publizierten dazu das Buch Gesellschaft in Bewegung. Laut diesem Buch starben in den USA, wo das Auto erstmals die Straßen wortwörtlich mit Gewalt eroberte, zwischen 1920 und 1930 etwa 200.000 Menschen im Autoverkehr. Heute werden in Europa ganz selbstverständlich 500 Menschen pro Woche umgebracht im Tausch für komfortable Fahrgeschwindigkeiten für Kfz. Die Niederlande sind hier nur knapp besser als der EU-Durchschnitt. Überall wo im zwanzigsten Jahrhundert das Auto eingeführt wurde, veränderte sich die Straßenkultur auf fundamentale Art, vom Treffpunkt zum Zirkulationsfluss. Nach einigen Jahren gesellschaftlichen Widerstands gegen die Gefahrenursache entstand ein Konsens für mehr Sicherheitsmaßnahmen: Jedes Kind muss heute lernen, im Autoverkehr aufzupassen. Damit normalisierte sich eine nur wenig diskutierte Schuldumdrehung, die im Vergewaltigungskontext vom Feminismus stark kritisiert wird, wie Verkade vergleichend erklärt: „Der Fokus liegt auf der Frage, was verletzliche Opfer anders tun können, um sicherer am Straßenverkehr teilnehmen zu können.“ Derartige Täter-Opfer-Umkehr gibt es auch an anderen Stellen: „Mädchen sollen einfach keine kurzen Röcke tragen.“
Was heute als „richtiges Fahrradland“ oder „Fiets-Paradies“ gilt, ist im historischen Vergleich eher schwach. 1923 waren in den Niederlanden 74 Prozent der Verkehrsteilnehmenden Radfahrerinnen. Ein Rad aus 1920, damals auch schon gebraucht im guten Zustand zu kaufen, würde noch heute am Verkehr teilnehmen können. 1939 gab es 40-mal mehr Fahrräder in den Niederlanden als Autos. 1959 war das letzte Jahr, in dem mehr Kilometer Rad gefahren wurde als Auto: 1500 Kilometer pro Jahr und Person oder etwa vier Kilometer pro Tag. Grob 65 Jahre später schaffen die Niederländerinnen erst seit dem Aufkommen elektrischer Unterstützung wieder rund zwei Drittel dieses Rekordwerts.
Tatsächlich gab es bereits 1901 erstmals öffentliche Gelder für den Bau von Radwegen. Radbesitzende zahlten bis 1941 auch eine Steuer, wie heute für das Auto. Für deutliche Entwicklungsrückschritte sorgte dann der Zweite Weltkrieg. Die Nazis konfiszierten Millionen Räder, der Preis für Ersatzteile explodierte, Vorfahrtsregeln wurden zugunsten motorisierter Fahrzeuge geändert und das Händchenhalten beim Radeln wurde verboten. Starke Einflüsse des US-amerikanischen Marshall-Plans und neue Narrative einer hochtechnologischen Zukunft verliehen dem Auto weiteren Aufwind.

Der Fahrradverband ENFB, die Aktionsgruppe „Stoppt den Kindermord“ und der Verein „Beschützt Fußgänger“ sitzen 1980 bei einer Pressekonferenz zusammen. Sie haben das Fahrradland Niederlande mitgeprägt.

Tiefpunkt in den 70ern

Gute Fahrradinfrastruktur, die nicht nur Platz für Autos auf der Straße schafft, sondern das Radeln wirklich sicher und sinnvoll ermöglicht, wurde auch in den Niederlanden nicht immer selbstverständlich mitgedacht. Die 1970er bilden den historischen Tiefpunkt der niederländischen Fahrradkultur. Etwa 400 Kinder pro Jahr wurden zu der Zeit von Autofahrern im Straßenverkehr umgebracht. Viele Expertinnen machen zivilgesellschaftlichen Widerstand für die Wiederbelebung des Fietses verantwortlich. Der Verein gegen den Kindermord war eine der verkehrsaktivistischen Bewegungen der 70er, die mit ihren vielen Protestaktionen einen demokratischen Prozess in Gang setzten. Und das mit Erfolg: Danach wurden massenweise Radwege gebaut und eine langfristig gedachte Fahrradstrategie in der niederländischen Politik verankert. Der langjährige Ministerpräsident Mark Rutte fuhr bekanntlich mit dem Rad zur Arbeit. International wird diese Selbstdarstellung manchmal missverstanden als „ein gutes Beispiel abgeben“ für nachhaltige und gesunde Mobilität. Dabei wollen sich die Politikerinnen nur als richtige Niederländer*innen präsentieren. Die Menschen fahren Rad, weil es normal ist und nicht, weil sie sich nichts „Besseres“ leisten können. Doch wie sich schon aus dem historischen Vergleich zeigt, ist die Deutung eines Fahrradparadieses ziemlich relativ, und es gibt stark unterschiedliche Perspektiven darauf. Die Dutch Cycling Embassy steht für eine feierliche und optimistische Haltung zum Fiets-Paradies und betont die Vorreiterrolle des Landes. Chris Bruntlett: „Die meisten Städte der Welt sind den Niederlanden 50 Jahre hinterher. Um sichtbar zu verändern, zeigt die Erfahrung, muss die Politik hoch ansetzen.“ Aus internationaler Sicht kann die Infrastruktur für den niederländischen Radverkehr zweifelsfrei schnell beeindrucken. Der Verkehr ist inklusiver für Kinder und Ältere, viele Menschen machen automatisch Sport und die Luft wird weniger verunreinigt. Außerdem werden weniger Rohstoffe und finanzielle Ressourcen für Mobilität ausgegeben, es entsteht mehr öffentlicher Raum für Grün und Spiel und die Leute stehen in der Theorie weniger im Stau.
Der Radverkehr kann sich einer größeren gesellschaftlichen Wertschätzung erfreuen. Radwege werden bei Frost früh gestreut und die Autofahrenden haben gegenüber den Radfahrenden mehr Respekt und sind im Umgang mit ihnen erfahren. International juristisch außergewöhnlich ist zudem, dass Autofahrende in den Niederlanden im Falle eines Unfalls immer für mindestens 50 Prozent der entstandenen Kosten haften, auch wenn sie als unschuldig gelten. Damit spiegeln die Gesetze wider, was auch im Denken verankert ist: Autobesitzende sind kollektiv verantwortlich für eine Gefahr auf der Straße und sollten sich deswegen auch kollektiv gegen den Schaden versichern.
Doch stellen sowohl Thalia Verkade als auch Chris Bruntlett fest, dass dieses Narrativ nicht ohne den Kontext des Autos gedacht und erzählt werden sollte. Dessen Dominanz ist in der Gesamtsicht unausweichlich. Auf 23 Millionen Räder kommen auch in den Niederlanden noch 9 Millionen Pkw und fast die doppelte Menge nur dafür bestimmte Parkplätze. Etwa 92 Prozent dieser Parkplätze können trotz großer Kosten für die Gesellschaft umsonst genutzt werden. Autos sollen vor der Tür parken können, Spielplätze für Kinder dürfen ruhig etwas weiter entfernt liegen. Dass sich diese Realität nicht wirklich verbessert, zeigen Neubauwohnviertel, die weiterhin darauf ausgelegt werden, sogar wenn Bahnhöfe gut erreichbar sind. Es wäre stark übertrieben, zu behaupten, dass infrastrukturelle Kompromisse meistens zugunsten des Rades entschieden werden.

Wem gehört die Straße? Wie sollen Gäste sich benehmen?

Knotenpunkte, wie hier in Utrecht, sind in den Niederlanden oft für Raddurchfluss durchdacht, Autos müssen warten.

Erfolgsfaktoren einer gesellschaftlichen Mobilitätstransformation

Was lässt sich lernen aus der niederländischen Realität und Geschichte? Was können deutsche Städte und Kreise tun, um den Radverkehr zu fördern und zu normalisieren? Sowohl Verkade als auch Bruntlett und die Dutch Cycling Embassy bieten eine ganze Liste wichtiger Punkte. Pragmatisch formuliert ist das Radeln attraktiv zu machen und das Autofahren teuer, langsam und mühsamer. Hilfreich ist es, Straßen so einzurichten, dass Autos, wenn überhaupt, nur als Gäste auf ihnen unterwegs sein dürfen, so gut wie nie Vorfahrt haben, und maximal 30 km/h fahren dürfen. Auch die Haftungsfrage bei Unfällen zugunsten der Fahrradfahrerinnen zu verändern, könnte die Autokultur eindämmen. Die Kosten beim Parken von Autos sollten sich zudem an den realen Kosten orientieren. Durch gute Carsharing-Angebote könnte der Autobesitz drastisch reduziert werden. Bruntlett meint dazu: „Als Radler besitzt man eigentlich nur das ganze Jahr ein Auto, um im Sommer in den Urlaub zu fahren.“ Und weiter: „Politikerinnen brauchen viel Mut, um gegen eine bestehende, manchmal aggressiv verteidigte Autokultur anzugehen. Es gibt aber auch Beispiele von Kommunalpolitik, wo dieser Mut bei der Wiederwahl belohnt wurde.“
Auf dem Weg zu einer Fahrradkultur nach niederländischem Vorbild sind das Modell der 15-Minuten-Stadt, eine bessere Verknüpfung von ÖPNV und Fahrrad und eigene Infrastruktur fürs Fahrrad weitere geeignete Instrumente.
Für große Fortschritte besonders wichtig ist allerdings die dahinter liegende gesellschaftlich Diskussion. Die Zukunft der Straße ist eine politische und soziale und nicht nur eine technische Frage, wie Chris Bruntlett am Beispiel der Wahlfreiheit resümiert: „Bei der typischen Strategie, Wahlfreiheit zwischen Transportmitteln zu behalten und keine Angst zu schüren mit autofreien Städten, lautet die Frage, ob dieser Kompromiss auf lange Sicht ausreicht, um viele Menschen davon zu überzeugen, den privaten Autobesitz aufzugeben.“ Verkade und te Brömmelstroet zeigen einige typische Denkfehler in der Auto-Fahrrad-Diskussion auf, und welche Entscheidungen oft unangefochten oder unsichtbar in einer Mobilitätskultur verankert sind. Ein zentrales Beispiel ist das fragwürdige Kriterium effizienter Mobilität. Historisch führten schnellere Wege nicht zu weniger Reisezeit, sondern zu größeren Wohnungen und größeren Abständen der Reiseziele. Menschen könnten auch wieder näher an ihren Zielen wohnen, auf weniger Fläche, mit weniger Leerstand in Stadtzentren. Die Niederlande als Fahrradparadies zeigen historische Erfolge und beeindrucken weltweit. Als Autoparadies werfen sie mitunter aber die gleichen Fragen auf wie in Deutschland.


Bilder: stock.adobe.com – ChiccoDodiFC, Dutch Cycling Embassy, stock.adobe.com – salarko, stock.adobe.com – creativenature.nl, Fotocollectie Anefo, Stadt Utrecht

Die europäische Lastenradnorm bringt frischen Wind in die städtischen Fuhrparks. Kommunen können nun sicher planen und auch die CO₂-Emissionen im Wirtschaftsverkehr deutlich reduzieren. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Das Lastenrad ist für Privatleute längst ein beliebter Autoersatz. Aber auch Kommunen können mit den Transporträdern die CO₂-Emissionen in den eigenen Flotten und im Wirtschaftsverkehr erheblich reduzieren. Die neue europäische Lastenradnorm (EN 17860) gibt den Kommunen nun erstmals Planungssicherheit, indem sie verbindliche Standards für Lastenräder und Lastenradanhänger festlegt.
Warum diese Norm notwendig ist, zeigten die vergangenen Monate. Im Februar hatte die niederländische Behörde für Lebensmittel- und Verbraucherproduktsicherheit den Rückruf und Verkaufsstopp einiger Lastenradmodelle der Firma Babboe angeordnet. Es hatte vereinzelt Rahmenbrüche gegeben. Im Sommer meldete die Behörde dann weitere Prüfungen bei den Herstellern Vogue, Cangoo und Bakfiets.
Bis dahin waren Rückrufaktionen im Fahrzeugbereich vor allem aus der Automobilindustrie bekannt. Der Zweirad-Industrieverband (ZIV) gibt für Deutschland jedoch Entwarnung. Laut Tim Salatzki, der beim ZIV den Bereich Technik und Normung leitet, sind grundsätzliche Sicherheitsbedenken jedoch unbegründet. Denn die verkauften Lastenräder müssen bestimmte Qualitätsstandards erfüllen. „Dazu gehören die Europäische Norm für Pedelecs und die deutsche Lastenradnorm, die DIN 79010“, sagt Salatzki.
Mit dieser Norm ist Deutschland weltweit Vorreiter. Sie gilt seit 2020 und definiert die Anforderungen und Prüfverfahren für mechanische und elektrische Bauteile am Lastenrad. Dazu gehören Belastungstests für sämtliche Komponenten, vom Rahmen bis zu den Pedalen. „Mit den Prüfungen werden reale Alltagssituationen von Lastenrädern abgeprüft, wie etwa abruptes Bremsen oder das Herunterfahren von Bordsteinen mit dem zugelassenen Höchstgewicht“, erläutert Salatzki.

Transparenz einiger Hersteller in der Kritik

Allerdings hapert es bei einigen deutschen Herstellern an der Transparenz. Beim Premium-Lastenradhersteller Riese & Müller, dessen Lastenräder zwischen 5000 und 10.000 Euro kosten, sucht man vergebens einen Hinweis auf den Test nach DIN 79010. Ein Sprecher des Herstellers erklärt, dass Riese & Müller sämtliche DIN-Prüfungen bei unabhängigen und renommierten Instituten durchführen lässt. Oft gingen die Prüfungen sogar über die Anforderungen der Norm hinaus. Informiert werden Kund*innen jedoch nur im Fachhandel oder vom hauseigenen Customer-Care-Service. Andere Hersteller wie Tern, CaGo, Muli, Radkutsche oder LeichtLast sind transparenter. Sie verweisen auf ihren Webseiten oder in der Betriebsanleitung auf den Test nach DIN 79010.
Für Fachleute, die seit Jahren die Branche begleiten, ist das Fehlen der Prüfplakette auf dem Lastenrad nicht nachvollziehbar. Einer von ihnen ist Marco Knöpfle, Initiator der „Transportrad-Initiative Nachhaltiger Kommunen“ (TINK). Er hat im Rahmen eines Förderprojekts des Bundesverkehrsministeriums 2016 die ersten beiden öffentlichen Lastenrad-Sharing-Systeme nach Norderstedt und Konstanz gebracht und seitdem rund 30 weitere Kommunen beim Aufbau ihrer Lastenradflotte beraten. Mit seinem Team hat er eine Vorlage für öffentliche Ausschreibungen entwickelt, die unter anderem beschreibt, welche Kriterien die Lastenräder in der Flotte erfüllen sollten. Dazu gehört auch die DIN 79010. „Kommunen verzichten teilweise auf diese Vorgabe in der Ausschreibung, weil sie befürchten, dass dadurch die Modellauswahl bei den Angeboten zu stark eingeschränkt wird“, beschreibt Knöpfle seine Erfahrung. Dabei würden die Systeme sicherer, wenn die Räder tatsächlich der Norm entsprechen.

Neben gängigen Aspekten wie der Stabilität beim Fahren prüft die neue Norm unter anderem auch die Parkstabilität am Berg, das Überfahren von Bordsteinen und Kopfsteinpflaster – jeweils leer und beladen.

Einheitliche Standards für Lastenräder

Die Einführung der europäischen Lastenradnorm soll dieses Durcheinander beenden. „Der Hinweis auf die Prüfung nach EN 17860 wird zukünftig direkt am Rahmen angebracht sein, so wie es auch beim E-Bike vorgeschrieben ist“, sagt Dr.-Ing. Eric Groß, der an der Technischen Universität Hamburg (TUHH) als Oberingenieur am Institut für Strukturmechanik im Leichtbau arbeitet. Groß hat mit seinem Team und Studierenden verschiedene Prüfverfahren für die europäische Lastenradnorm erarbeitet und ist außerdem Vorsitzender des Technischen Komitees, das die EN 17860 erstellt.
Die ersten drei Teile dieser Norm sind seit Monaten veröffentlicht, weitere vier Teile liegen als Entwurf vor. Sie legen beispielsweise fest, unter welchen Bedingungen Personen per Lastenrad mitgenommen werden dürfen, und welche Anforderungen die ein- und mehrspurigen Modelle erfüllen müssen. „Mit ihrer Veröffentlichung sind diese Teile der Norm gültig“, sagt Groß. Das bedeutet, Lastenräder, die jetzt in den Verkauf kommen, müssen nach DIN EN 17860 getestet sein. Für die älteren Modelle gilt der Bestandsschutz.
Damit existieren nun europaweit erstmals einheitliche Standards und Richtwerte für Lastenräder, die die Qualität und Stabilität der ein- und mehrspurigen Fahrzeuge auch bei abrupten Manövern, Kurvenfahrten oder hohen Geschwindigkeiten sicherstellen. Um die Transporträder an ihre Belastungsgrenzen zu bringen, hat das Team der TUHH verschiedene Fehlgebrauchs- und Elchtestverfahren entwickelt. Dabei haben sie festgestellt: „Ein Lastenrad kann umfallen, überschlägt sich aber nicht“, sagt Groß. Das Test-Team habe erfolglos alles versucht, um das Überschlagen herbeizuführen. Deshalb sei ein Überrollkäfig für die Transportbox überflüssig, sagt Groß. Dennoch müssen einige Lastenradhersteller ihre Modelle anpassen.

„Eine niedrige Transportbox mit einem Holzbänkchen zum Sitzen wird es nicht mehr geben.“

Dr.-Ing. Eric Groß, Technischen Universität Hamburg

Mehr Sicherheit für Kinder

„Eine niedrige Transportbox mit einem Holzbänkchen zum Sitzen wird es nicht mehr geben“, sagt Groß. Zukünftig soll eine stabile Kabinenwand den Kindern etwa bis zur Schulter reichen, damit ihre Arme während der Fahrt in der Kabine bleiben. Das soll sie im Fall eines Unfalls vor Verletzungen schützen und verhindern, dass sie während der Fahrt in die Speichen greifen. Zum Anschnallen sind Dreipunktgurte mit Druckknopf vorgeschrieben, wie sie von Kindersitzen für Pkw bekannt sind. „Die Zugfestigkeit oder das Ausreißen der Gurte sollten ans Fahrradtempo angepasst sein“, sagt Groß.

Dreirad: langsam in Kurven

Bei der Kippstabilität haben sich die Experten in dem Normausschuss auf die Mindestanforderung geeinigt. „Ein Dreirad hat in den Kurven durchaus leichte Probleme mit der Stabilität, aber die Nutzer sind sich dessen bewusst und passen ihren Fahrstil an“, erklärt Groß. Damit meint er, dass Fahrerinnen von Dreirädern Abbiegemanöver deutlich langsamer ausführen als etwa die Fahrerinnen von einspurigen Lastenrädern wie dem Long John.

Fahrradausflug mit Rollstuhl

Marco Knöpfle kennt die Diskussionen über die Stabilität von Dreirädern. Daher empfiehlt er Kommunen diese Fahrzeuggattung für ihre öffentlichen Sharing-Flotten nur in Ausnahmefällen. „Ein Inklusionsrad für Menschen im Rollstuhl ist im Sharing immer ein Dreirad“, sagt er, nur sie können Rollstühle befördern. Grundsätzlich sollten jedoch nur Dreiräder zum Einsatz kommen, deren Vorderräder unabhängig von der Transportbox gelenkt werden.
Deutlich strengere Kriterien legt der Normausschuss bei den Lastenradanhängern an. Einige Modelle sind für ein Gesamtgewicht von 600 Kilogramm ausgelegt und mit einem eigenen Elektromotor unterwegs. „Für diesen Fahrzeugtyp gab es bislang keine Qualitätsstandards oder Testverfahren“, sagt Groß. Deshalb hat sein Team den Elchtest für den Lastenradanhänger entwickelt. Was lustig klingt, ist ein wichtiges Sicherheitsfeature. „Dieser Test soll verhindern, dass ein 500 Kilogramm schwerer Anhänger in der Kurve umkippt und einen Menschen unter sich begräbt“, erklärt Groß.

Die neue Norm: Ein Meilenstein für die Kommunen

Die europäische Lastenradnorm verschafft den Kommunen nun erstmals Planungssicherheit. Mit einer klaren Strategie können die Kommunen die CO₂-Bilanz ihres eigenen Fuhrparks verbessern und den Wirtschaftsverkehr gezielt steuern.
Für den Technikexperten Eric Groß ist das Potenzial von Lastenrädern für den kommunalen Fuhrpark immens. „Die Lastendreiräder mit Anhänger erleichtern den Arbeitsalltag von Mitarbeitern des Grünflächenamts oder der Stadtreinigung“, sagt Groß. Sie könnten damit in Parks oder Fußgängerzonen kleinere Reinigungsarbeiten erledigen und im Stauraum des Transportrads oder des Anhängers den Müll oder Grünabfall sofort abtransportieren. „Der Vorteil des Dreirads ist, dass es selbstständig steht, kein CO₂ ausstößt und auf Radwegen und in Fußgängerzonen wenig Platz beansprucht“, sagt Groß.

Verkehrswende im kommunalen Fuhrpark

Die verschiedenen Lastenradmodelle sind inzwischen so vielseitig, dass sie sowohl Pkw als auch Transporter im Stadtverkehr ersetzen können. Aber weiterhin dominieren Verbrenner den kommunalen Fuhrpark. „Dabei könnten viele Wege zwischen den Dienststellen der Behörden und der öffentlichen Hand problemlos per Lastenrad erledigt werden“, sagt Dr.-Ing. Tom Assmann, Vorsitzender des Radlogistikverbands Deutschland e.V. ist. Damit Dokumente überhaupt per Lastenrad transportiert werden dürfen, müssen die Fahrzeuge in der Ausschreibung für die Dienstleistung genannt werden. In Hannover und Leipzig ist das erfolgt, dort werden laut Assmann seit Jahren Dokumententransporte von Radlogistikern durchgeführt. Aber das ist die Ausnahme.

Der Personentransport und der Arbeitsschutz spielen auch bei Lastenrädern eine Rolle. Die Norm enthält unter anderem Sitzkomfortmessungen und Grenzen für Schwingungen.

Emissionsfreier Wirtschaftsverkehr

Was für den kommunalen Fuhrpark gilt, lässt sich auch auf den Wirtschaftsverkehr übertragen, der je nach Studienlage 30 Prozent des Stadtverkehrs ausmacht. Lediglich sechs Prozent der Fahrten davon entfallen auf Kurier-, Express- und Paketdienste, der Großteil des Wirtschaftsverkehrs wird von Stückgutlogistik, Handwerkern, Pflegediensten und Dienstwagenfahrten anderer Bereiche verursacht.
Dabei haben die Kommunen laut Assmann ein wirkungsvolles Steuerungselement in der Hand. „Über den Verkehrsentwicklungsplan kann die Kommune festlegen, welche Fahrzeuge der Wirtschaftsverkehr auf ihren Straßen nutzt“, sagt Assmann. Etwa indem sie verkehrsberuhigte Zonen oder Null-Emissions-Zonen einführt.

„Über den Verkehrsentwicklungsplan kann die Kommune festlegen, welche Fahrzeuge der Wirtschaftsverkehr auf ihren Straßen nutzt.“

Dr.-Ing. Tom Assmann, Vorsitzender Radlogistikverband Deutschland e.V.

Niederlande sperren gewerbliche Verbrenner aus

Die Niederlande wollen dieses Instrument ab 2025 nutzen. Rund 30 Städte, darunter Amsterdam oder auch Hilversum (90.000 Einwohner), haben bereits angekündigt, Null-Emissions-Zonen in ihren Innenstädten einzurichten. Gewerbliche Transporter und Lkw, die mit fossilen Brennstoffen betrieben werden, sind dann dort nicht mehr zugelassen. Für die aktuelle Nutzfahrzeugflotte soll bis 2030 eine nationale Übergangsregelung gelten.
Aus Sicht Assmanns könnten viele Handwerker oder auch Pflegedienste vom Umstieg aufs Lastenrad profitieren, weil sie mit dem Rad deutlich schneller im Stadtverkehr unterwegs sind und außerdem direkt vor der Haustür parken können. „Aber der Umstieg vom Auto oder Transporter aufs Lastenrad ist für viele Unternehmer oder Arbeitnehmer ein Kulturwandel“, betont Assmann. Transporträder gebe es zwar bereits seit 100 Jahren, aber die neuen motorisierten Modelle seien eine junge Fahrzeuggattung, deren Potenzial viele Kleinunternehmer und Mittelständler nicht kennen. Deshalb sollten die Kommunen den Kulturwandel im gewerblichen Fuhrpark aktiv fördern.

Der Alleskönner: Dieses Lastenrad ist Transportfahrzeug und Kinderwagen in einem. Es kann nach der Fahrt mit wenigen Handgriffen geteilt werden.

IHK und AGFK als Brückenbauer

Geeignete Partner, um diesen Wandel voranzutreiben, sind für ihn auch die Industrie- und Handelskammern oder die Arbeitsgemeinschaften fahrradfreundlicher Kommunen (AGFK). Über gezielte Informationskampagnen wie etwa einer Cargobike-Roadshow für den Wirtschaftsverkehr könnten die Unternehmer die Vielfalt der Fahrzeuge kennenlernen und vor Ort direkt ausprobieren. Seit Oktober fördert das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle wieder den Kauf von gewerblich genutzten E-Lastenfahrrädern und E-Lastenanhängern mit bis zu 3500 Euro pro Rad.
Von mehr Lastenrädern in den Straßen profitieren sowohl die Kommune als auch die Stadtbewohner*innen. Der Umstieg vom Auto aufs Rad steigert die Verkehrssicherheit, verbessert das Stadtbild und reduziert die Emissionen. „All diese Aspekte sind in den Klimaschutzplänen der Kommunen enthalten“, sagt Assmann. Aber noch fehle den Kommunen der Mut oder das Wissen, um den Umstieg voranzutreiben.

Mehr Lastenräder für Frankreich

Damit Gewerbetreibende vom Verbrenner aufs Lastenrad wechseln, braucht es eine verbindliche Verkehrspolitik pro Mobilitätswende. Sobald Kommunen beginnen, ihre Zentren für den Umweltverbund umzubauen, steigt bei den Lastenradherstellern die Nachfrage. „Wir exportieren mittlerweile fast mehr Fahrzeuge nach Frankreich, als wir in Deutschland verkaufen“, sagt Nico Jungel, Geschäftsführer von Velofracht in Berlin. Seit französische Kommunen wie Paris, Straßburg oder Lyon ihre Innenstädte pro Fahrrad ausbauen und den Autoverkehr gezielt bremsen, steigt bei ihnen die Nachfrage. „Städte in Frankreich, den Niederlanden oder England sind deutlich innovativer und experimentierfreudiger und bauen ihre Städte konsequent klimafreundlich um“, sagt Jungel. Mit seiner Firma Velofracht fertigt er neben den klassischen Lastenrädern für Dienstleister und Handwerker immer wieder auch Sonderanfertigungen an. Dazu gehören Rikschas, die bis zu vier Personen transportieren, oder eine für das britische Gesundheitssystem NHS konzipierte mobile Klinik. Die hochmoderne medizinische Ausrüstung hat das Velofracht-Team auf einem Lastenrad nebst Anhänger untergebracht. Mit der mobilen Klinik sind nun Ärzt*innen in London zu den Menschen unterwegs, die nicht in Krankenhäuser kommen können oder wollen, etwa alte Menschen und Obdachlose. „Unserem Auftraggeber NHS ist eine klimafreundliche Mobilität wichtig“, sagt Jungel. Außerdem sei der praktische Nutzen im Alltag gegenüber einem Lkw in der Londoner Innenstadt höher.

Höhere Standards für gewerbliche Lastenräder

Die deutsche Lastenrad-Branche prägt die Fahrzeugentwicklung international. „Die deutschen Ingenieure sind beim Engineering, also bei der Technik, der Funktionalität und dem Design, führend in Europa“, sagt Assmann. Viele dieser Ingenieurinnen und Designerinnen haben ebenfalls an der neuen europäischen Lastenradnorm mitgearbeitet, die nun für private wie gewerblich genutzte Transporträder gilt. „Für die gewerbliche Nutzung haben wir deutlich höhere Anforderungen definiert“, sagt Eric Groß vom Normenausschuss. Schließlich erreiche ein Lastenrad, das im Wirtschaftsverkehr genutzt werde, schnell eine Laufleistung von 50.000 Kilometern, während privat genutzte Transporträder nach zehn Jahren gerade mal 10.000 Kilometer auf dem Tacho haben.
Bis Mitte 2025 wird laut Groß die gesamte DIN EN 17860 veröffentlicht sein. Harmonisiert ist sie dann noch nicht. „Wir haben sie willentlich nicht harmonisiert, damit die gewerblichen Nutzer sofort Rechtssicherheit haben“, sagt Groß. Die Harmonisierung hätte diesen Prozess um bis zu zwei Jahre verzögern können. „Die Harmonisierung wird aber folgen“, sagt Groß.
Die Voraussetzungen für den Umstieg vom Auto aufs Lastenrad in den Städten sind demnach vorhanden. Es gibt eine Norm und die Fahrzeuge, die vertrauliche Dokumente, Menschen und auch schwere oder voluminöse Lasten sicher von A nach B bringen können. Nun sind die Kommunen am Zug. Sie müssen eine Kultur für mehr Lastenrad- und weniger Autoverkehr im eigenen Haus und im Wirtschaftsverkehr etablieren.


Bilder: CaGo – Tino Pohlmann 2023, Erik Groß, stock.adobe.com – pikselstock, LeichtLast

Die Renaissance der Straßenbahn ist gut für Klima und Umwelt, eine sozial gerechte Mobilität sowie Radfahrende. Teilweise gibt es aber heftigen Gegenwind, wenn sie neu gebaut werden soll. Mit einer guten Kommunikationsstrategie können Städte viel richtig machen bei der Planung.

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)


Von den einen geschätzt, da bewährt, komfortabel und Hoffnungsträger für die Verkehrswende. Von den anderen ängstlich beäugt oder gar verhasst, da sie Städte verändert, Baustellen erfordert und dem Auto den Platz streitig macht: die Straßenbahn. Während in Tübingen 2021 und Regensburg 2024 ihr Bau in Referenden scheiterte, votierten die Erlan-ger*innen 2024 für sie, in Lüneburg fordern manche sie, in Kiel wird sie geplant und in Lübeck oder Osnabrück eine Wiedereinführung diskutiert; in Karlsruhe oder Erfurt fährt sie längst.
Ende des 19. Jahrhunderts gab es weltweit einen Straßenbahnboom. Allein in Deutschland entstanden um die 100 Systeme. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde sie allerdings zunehmend vom Auto verdrängt und viele stillgelegt. Im Zuge des sich zuspitzenden menschengemachten Klimawandels ist die Straßenbahn ein wichtiger Baustein für die immer drängender werdende Verkehrswende – in Deutschland ist der Verkehr für etwa 20 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Es braucht Mobilität, die menschliche Bedürfnisse erfüllt, soziale Gerechtigkeit schafft und ökologische Grenzen wahrt. Dafür müssen wir uns effizienter, anders und weniger fortbewegen. Zentral ist, den motorisierten Individualverkehr zu reduzieren und gleichzeitig den ÖPNV zu stärken. Wie Städte ihre Infrastruktur planen und umsetzen, ist dabei zentral.

In Leipzig wurden gute Kompromisse gefunden: Eine klassische Straßenbahnstadt und neuerdings auch Fahrradstadt. Während in der BRD viele Strecken stillgelegt wurden, wurden sie in der DDR gepflegt.

Straßenbahn vs. Stadtbahn: Straßenbahnen integrieren sich gut in die Stadt, sind kostengünstiger, da sie keine Tunnel, Schotterbetten, Zäune oder Leitplanken brauchen und haben mehr Haltestellen.

Ein bisschen Nostalgie: Im Vintage Style kann man in Lissabon durch die Altstadt fahren.

Vorbild Frankreich: Hier entstanden in den letzten 30 Jahren viele neue moderne Straßenbahnsysteme, die gut in die Stadt integriert wurden und den Straßenraum aufwerteten, wie hier in Toulouse.

Straßenbahn for Future

„In Deutschland sitzen im Auto durchschnittlich 1,4 Menschen. Für je 100 Menschen sind also 71 Autos unterwegs oder eine einzige Straßenbahn“, rechnet Anika Meenken vom ökologischen Verkehrsclub VCD vor. „Straßenbahnen sind also eine effiziente sowie umwelt- und klimafreundliche Alternative zum Auto.“ Auch Verkehrswissenschaftler Heiner Monheim schreibt der Straßenbahn eine „riesengroße“ Relevanz mit Blick auf die Klimakrise zu: „Wir müssen eine ganze Menge Autoverkehr einsparen durch attraktive Angebote im öffentlichen Verkehr. Da ist die Straßenbahn eine ganz wichtige Möglichkeit“.
Punkten kann die Straßenbahn auch beim Sozialen: „Als Teil des ÖPNV steht sie allen Menschen zur Verfügung“ und fördere die Intermodalität. Zudem kann sie barrierearm gebaut werden und ist für Fußgänger*innen und Radfahrende sicherer, da „Hauptunfallgegner“ das Auto sei, erklärt Meenken.
Straßenbahnen lassen sich gut ins Stadtbild integrieren und können den Straßenraum sogar aufwerten. Rasengleise oder Tramalleen sehen nicht nur schön aus und steigern die Aufenthaltsqualität, sondern dämmen auch Fahrgeräusche und entsiegeln die Innenstadt. Das hilft bei Hitze und Starkregen, die durch die Klimakrise wahrscheinlicher werden. Auch kann eine Straßenbahn dazu beitragen, Staus zu verringern sowie Wohnqualität und Einzelhandel zu fördern, so Monheim. Gegenüber Bussen hat sie den Vorteil, mehr Menschen transportieren zu können und komfortabler zu sein, da sie weniger ruckelt. Außerdem wird sie laut Studien besser von Fahrgästen angenommen und übertrifft oft die prognostizierten Fahrgastzahlen. Das habe psychologische Gründe, erklärt Monheim. Durch die Sichtbarkeit und Nachvollziehbarkeit des Netzes entwickle man eine „Mental Map“, eine Karte im Kopf, was die Nutzung erleichtere.

Schienen mit Konfliktpotenzial

Den guten Argumenten zum Trotz stoßen Planungen von Straßenbahnen immer wieder auf Protest. Wie jüngst in Regensburg und Erlangen, wo zeitgleich zur EU-Wahl ein Referendum über eine Straßenbahn anstand. Während die Erlangerinnen für sie stimmten, votierten die Regensburgerinnen mit Nein. 2021 stimmten auch die Tübingerinnen gegen eine Straßenbahn. Bemerkenswert dabei: Parteiübergreifend war der Tübinger Gemeinderat sowie die Stadtverwaltung dafür, ebenso Umwelt- und Klimagruppen sowie die Verkehrsclubs VCD und ADFC. Außerdem gilt Tübingen als grüne Vorzeigestadt mit vielen Studierenden, grünem Bürgermeister, Lastenrädern, die neben Bussen durch die Stadt cruisen. Warum wurde die Straßenbahn dort trotzdem abgelehnt? Gegen den Bau waren wenige, aber gut organisierte Akteure. Schaut man sich ihre Argumente an, wird deutlich, dass sie einen klugen Mix aus NIMBY-Argumenten (Not In My BackYard) und Argumenten aus der anschlussfähigen E-Mobilitätserzählung (s. Kasten) verwendeten. Sie argumentierten etwa, die Bahn sei zu teuer, verschandle die Stadt, verdränge Autos, fuße auf veralteter Technik, sei eine Gefahr fürs Rad, der Bau verursache viele Emissionen oder das Busnetz auszubauen, würde es auch tun. Die Befürworterinnen versäumten einerseits, diese Gegenargumente zu entkräften: Straßenbahnen sind zwar teurer als Busse, aber ein Großteil der Kosten hätte der Bund gezahlt, sie wäre ins Stadtbild integriert worden und hätte für mehr Mobilität gesorgt, es handelt sich um eine bewährte und moderne E-Technik, die Gefahr fürs Rad ist vergleichsweise gering, die Emissionen hätten sich amortisiert und bestehende Busse hätten das Netz sowieso ergänzt. Andererseits entwickelten die Befürworterinnen keine positive Erzählung über ein Tübingen mit Straßenbahn: Eine Stadt mit moderner Mobilität und mehr Lebensqualität für ihre Bewohnerinnen. Zwar waren die guten Argumente da, aber kaum im öffentlichen Diskurs. Stattdessen wurden die Vorteile für das Umland und Einpendelnde fokussiert.
Ein Blick nach Erlangen und Regensburg zeigt, dass dort die Gegenargumente ganz ähnlich wie in Tübingen waren. Es braucht also eine Kommunikationsstrategie, um solchen Konflikten zu begegnen. Wird eine neue Straßenbahn gebaut, wird um knappe Flächen gekämpft: Wie viel Platz bekommen die Straßenbahn, Busse, Räder, Fußgänger*innen, Autos? Es braucht Kompromisse: „Da gibt es innovative Ansätze. Die Fahrspuren für Autos verschmälern oder im Abbiegebereich Kombispuren“, so Monheim. Sprich, den Platz fürs Auto reduzieren und so der „klassischen Überdimensionierung“ für das Auto entgegenwirken. „Die Standardspur ist 3,5 Meter, 2,2 würden auf mehrstreifigen Fahrbahnen und Kreuzungen oft ausreichen“.

Die Verkehrswende erzählen

Die hitzigen Debatten um neue Straßenbahnen zeigen: Städte sind im Spannungsfeld von verkehrs- und klimapolitischen Zielen sowie gesellschaftlicher Akzeptanz gefordert. Der Bau einer Straßenbahn ist nicht nur eine technische Herausforderung, sondern auch eine kommunikative. Dabei gilt es, das transformative Potenzial von Mobilitätserzählungen gezielt einzusetzen. Da eine ernsthafte Verkehrswende den Status quo infrage stellt, muss sensibel vorgegangen werden. Noch unbekanntere beziehungsweise wenig akzeptierte Erzählungen – Reduktion des motorisierten Individualverkehrs – sollten nicht verkürzt werden, sondern deutlich machen, dass eine lebenswertere Stadt hinzugewonnen werden kann.
Die Verkehrswende ist nicht nur gut für Klimaschutz, sondern kann auch positiv für Klimaanpassung sein, für die Gesundheit durch sauberere Luft, das soziale Miteinander, Inklusion durch Barrierearmut, den Wohnungsmarkt und die lokale Wirtschaft. In dieser Erzählung können Straßenbahnen eine wichtige Rolle spielen. Sie können dazu beitragen, Städte zu transformieren, die Stadt zu verknüpfen – auch mit dem Umland, hohe Aufenthaltsqualität zu schaffen durch ansprechendere Straßenraumgestaltung mit weniger Autos. Wichtig ist dabei, lokale Vorteile zu fokussieren und greifbar zu machen. Sprich, eine konkrete Utopie einer grünen, sichereren, gesünderen und sozialeren Stadt zu entwerfen. Gutes Illustrationsmaterial unterstützt dies. Ebenso eine Exkursion in eine Straßenbahnstadt.
Um Ängste früh zu erkennen und Lösungen zu finden, sollte auch die jeweilige Mobilitätskultur einer Stadt beachtet werden. Etwa die Angst von Radfahrenden, zu stürzen. Hilfreich ist, neben Ingenieurinnen auch Sozialwissenschaftlerinnen an Bord zu holen, um zu erfahren, wie die Menschen in der Stadt ticken.

Beim Kreuzen der Schienen ist Vorsicht angesagt, aber Fahrrad und Straßenbahn gehen auch zusammen.

In Amsterdam/Helsinki sind Fahrrad und Straßenbahn gut verzahnt.

Die Weichen drastisch umstellen

Dass die Verkehrswende in Deutschland verschleppt wird, liegt auch an jahrzehntelangen politischen „Fehlsteuerungen“ wie der Fokussierung aufs Auto. Zudem wurden beim Ausbau kommunaler Schienennetze oft teure Tunnelprojekte bevorzugt, so Monheim. Straßenbahnen wurden politisch lange ausgeblendet, obwohl sie eigentlich ein Klassiker der E-Mobilität und damit prädestiniert für die Verkehrswende sind. Es ärgert ihn, dass die deutsche Verkehrspolitik seit 30 Jahren auf E-Mobilität fixiert ist, „damit aber immer nur E-Autos meint“. Dabei gibt es schon lange eine ÖPNV-Förderung, nach der ein Großteil der Kosten für den Straßenbahnbau übernommen werden kann, aber „um tatsächlich sehr schnell aus der fossilen Mobilität aussteigen zu können“, brauche es „einen von Grund auf neuen politischen Ansatz“ und spezielle Straßenbahnförderprogramme. Momentan sei
die Verkehrspolitik „innovationsresistent“ und renne ein paar teuren Großprojekten hinterher. Stattdessen müsse der Fokus auf ehrgeizigen Netzen mit vielen Haltestellen und hoher Gestaltungsqualität der Trassen liegen, mit Rasengleis und Tram-allee. Tunnelprojekte seien viel zu teuer und dauerten zu lange. Dass sie trotzdem oft bevorzugt werden, liege an der Lobbyarbeit der Betonindustrie.
Ganz anders in Frankreich. Hier erlebt die Straßenbahn in den letzten Jahren einen Boom – neue Schienen statt neuer Autospuren. Die „französische Rezeptur“: Die Straßenbahn werde sehr gut und individuell in die jeweilige Stadt integriert und werte die Straßen durch Tramalleen und Rasengleise auf, erklärt Monheim. Es gehe um die gesamte Straßenraumgestaltung mit neuen Radwegen, breiten Gehwegen und einer gut integrierten Tramtrasse. Das sei der entscheidende Unterschied zu Deutschland, wo das Thema noch „sehr ideologisch“ sei und von Ingenieur*innen dominiert werde.
Für eine gelingende Verkehrswende brauchen deutsche Städte also Mut, Schienen zu legen. Benötigt werden mehr Straßenbahnnetze als die, die es noch gibt. Es braucht auch mehr als die 100, die es in Deutschland einst gab. Monheim schätzt, dass etwa 200 Städte Straßenbahnpotenzial haben.
Um die Verkehrswende zu meistern, braucht es Mut zu Debatten über Straßenbahnen, darüber, wie wir Innenstädte gestalten wollen, wie wir in Städten zusammenleben und uns fortbewegen wollen. Um sich mögliche Veränderungen plastisch vorstellen zu können, braucht es gemeinsame Erzählungen, die Utopien erzeugen, die wahr werden können. Vielleicht gleiten in Zukunft in Tübingen oder Regensburg ja doch noch Straßenbahnen auf von Bäumen gesäumten Rasengleisen neben Cafés und Radwegen. So wie es in Bordeaux und vielen anderen Städten längst der Fall ist.

Wie aus Straßenbahn und Rad ein starkes Duo für die Verkehrswende wird

Interview mit Straßenbahnexperte Heiner Monheim, er ist Geograph, Stadtplaner, Verkehrsexperte und war Professor an der Universität Trier, sowie Rechtsexperte Roland Huhn vom ADFC, der schriftlich antwortete.

Die Verkehrswende braucht mehr ÖPNV, aber auch mehr Rad- und Fußverkehr. Wie sicher sind Straßenbahnen für Radfahrerende?
Huhn: Gefährlich sind vor allem Straßenbahnschienen im Fahrbahnbereich. Das gilt besonders dann, wenn in einer schmalen Straße zwischen Schienen und Bordstein nur wenig Platz ist. Manche Verkehrs-planer*innen stellen sich vor, dass Radfahrende zwischen den Straßenbahnschienen fahren sollen. Das ist aber ausgesprochen unangenehm und gefährlich und sollte deshalb unbedingt vermieden werden. Aber Fahrrad und Straßenbahn sind nicht grundsätzlich unvereinbar. Leipzig und Amsterdam sind Straßenbahnstädte mit hohem Radverkehrsanteil.
Monheim: Fährt man im falschen Winkel über eine die Schiene, kann man mit den Reifen hineingeraten und stürzt. In Relation zur Netzlänge und Fahrleistung gibt es aber sehr viel mehr Unfälle zwischen Fahrrädern und Autos oder Fahrrädern und Bussen als mit der Straßenbahn und ihren Schienen. Straßenbahnen sind ein sehr sicheres Verkehrsmittel für andere Verkehrsteilnehmer. Objektiv ist nur die Seilbahn sicherer, da sie sich den Raum nicht mit anderen teilt. Und auch bei der subjektiven Sicherheit schneidet die Straßenbahn besser ab: Sowohl Fußgänger als auch Radfahrer fühlen sich subjektiv einfach stärker bedrängt von einem Bus, der hinter einem fährt als von einer Straßenbahn. Denn Straßenbahnen sind besser kalkulierbar.

Wie können Städte Straßenbahnen sicherer für Radfahrerende machen?
Monheim: Erstens kann man im Zuge der Verkehrserziehung lernen, wie ich über eine Schiene fahre, damit ich auf keinen Fall mit dem Reifen in der Schiene hängen bleibe. Zweitens gibt es Gummielemente, mit denen man Schienen ausstatten kann, sodass man, wenn man in Längsrichtung über die Schiene fährt, nicht zu Fall kommt. Das ist vom Betrieb her teurer, da das Gummi nicht ewig hält. Aber das wäre etwas für Städte, wo lange keine Straßenbahn fuhr und neu eingeführt wird. In klassischen Straßenbahnstädten wie Leipzig oder Erfurt, wo viele Schienen liegen, und es viel Radverkehr gibt, ist das kein großes Problem, weil alle wissen, wie man mit Schienen umgeht.
Huhn: Beide Verkehrsarten sollten möglichst getrennte Wege haben. Eine eigene Trasse z.B. in der Mitte der Straße ist nicht nur sicherer, weil Radfahrende sie leichter im rechten Winkel überqueren können. Sie dient außerdem der Beschleunigung der Bahn, weil sie nicht im Stau des Kfz-Verkehrs warten muss. Die Vorrangregelung an Kreuzungen muss zudem klar kommuniziert sein. Außerdem gibt es aktuell einen Lösungsvorschlag mit Rillen geringerer Tiefe, die zumindest für breite Fahrradreifen eine geringere Sturzgefahr bergen.

Wie können Städte Straßenbahn und Radverkehr verzahnt denken und planen?
Monheim: Straßenbahn und Fahrrad lassen sich gut kombinieren. In guten Straßenbahnsystemen gibt es an den Haltestellen Fahrradabstellplätze oder auch Leihräder. Oder ich kann mein Fahrrad problemlos in die Straßenbahn mitnehmen, wie etwa in Berlin.

Heiner Monheim

Roland Huhn


Bilder: Illustration: Mailänder Consult, stock.adobe.com – Egon Boemsch, scharfsinn86, Beste stock, Markus Mainka, stock.adobe.com – blende11.photo, Roman Sigaev, chrisdorney, Heiner Monheim, ADFC – Deckbar

Das aktuelle Jahr schlägt mit den höchsten bislang gemessenen Durchschnittstemperaturen und anhaltenden Hitzewellen alle Rekorde. Messbar, spürbar und sichtbar schreitet der Klimawandel voran und stellt uns vor ebenso dringende wie vielfältige Herausforderungen – auch mit Blick auf die Mobilität.

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)


Schon vor Jahren haben Expertinnen darauf hingewiesen, dass nicht nur die durchschnittlichen Temperaturen steigen, sondern auch sommerliche Hitzeperioden deutlich öfter eintreten, länger dauern und extremer werden – mit hohen Temperaturen, Dürren und Waldbränden sowie lokalen Unwettern mit Starkregen. Tatsächlich erreichte die gemittelte globale Temperatur ab Juni 2023 jeweils monatliche Höchstwerte: Sie lag mehr als 1,6 Grad Celsius über der vorindustriellen Referenzperiode im Zeitraum zwischen 1850 und 1900 und bis zu 1,4 Grad Celsius über dem globalen Durchschnitt zwischen den Jahren 1901 und 2000. Große Sorgen bereitet Klimaforscherinnen zudem aktuell der weltweit sprunghafte dramatische Anstieg der Meerestemperaturen. Seit März 2023 sind die Weltmeere so warm wie nie, und das mit großem Abstand. „Die Erwärmung der Weltmeere hat direkte Folgen für das Leben an Land“, erläutert der deutsche Meteorologe, Ozeanograf, Klimaforscher und Hochschullehrer Mojib Latif. Denn wärmere Ozeane bedeuten mehr Verdunstung, wodurch mehr Energie ins System kommt. Die Folgen sind häufige Wetterextreme wie Stürme, die Infrastruktur zerstören und Waldbrände anfachen können. Gewitter und Starkregen mit enormen Wassermengen können lokal schnell zu Überschwemmungen und reißenden Flüssen und Bächen mit hoher Zerstörungskraft führen.

Klimaschutzmaßnahmen allein reichen nicht

Vielfach wird in öffentlichen und politischen Diskussionen nicht nur die Dramatik der Veränderungen unterschätzt, sondern auch vergessen, dass der menschengemachte Klimawandel weitergeht, selbst wenn es gelingen sollte, den CO₂-Ausstoß drastisch zu reduzieren. „Die Politik muss den Menschen ehrlich sagen, dass wir den Klimawandel in einem gewissen Grad nicht mehr aufhalten können“, sagte der Mobilitäts- und Zukunftsforscher Prof. Dr. Stephan Rammler bereits 2020 im VELOPLAN-Interview. Selbstverständlich bleibt die Reduzierung trotzdem enorm wichtig, um die Folgen einzuhegen und bislang kaum kalkulierbare Kipppunkte im System zu vermeiden. Dringend notwendig ist es zudem, Städte und Landwirtschaftssysteme widerstandsfähig und resilient umzubauen, damit sie mit Hitzestress und Wasserknappheit ebenso umgehen können wie mit Starkwetterereignissen. Der Pfad zur notwendigen Transformation ist dabei grundsätzlich erkannt. Viele deutsche Städte und Kommunen haben in den vergangenen Jahren beispielsweise intensiv an Maßnahmen zum Hochwasserschutz gearbeitet und Pläne zum Umgang mit Hitzeperioden erstellt. Selbst einfache Maßnahmen, wie die Entsiegelung von Flächen und das Pflanzen von Bäumen stoßen im politischen Alltag allerdings oft auf Widerstände. Denn gleichzeitig geht damit meist die Einschränkung von Bauflächen, Parkplätzen oder neu geplanten Straßen einher.

Die Kerngebiete der Städte entwickeln sich schnell zu Hitzeinseln. Hier liegen die Temperaturen tagsüber und nachts deutlich höher als in der Umgebung.

Anteil versiegelter Flächen weiter gestiegen

„Zu viel Grau, zu wenig Grün“ und einen „dramatischen Zuwachs versiegelter Flächen in deutschen Städten“ konstatierte die Deutschen Umwelthilfe (DUH) Ende Juli dieses Jahres. Der Großteil der Städte in Deutschland schütze die Menschen nicht ausreichend vor den extrem hohen Temperaturen infolge der Klimakrise, so das Ergebnis des ersten „Hitze-Checks“ der Deutschen Umwelthilfe unter den 190 deutschen Städten mit mehr als 50.000 Einwohner*innen, basierend auf neuen Daten der Potsdamer Luftbild Umwelt Planung GmbH im Auftrag der DUH. Aktuell würden in Deutschland täglich über 50 Hektar Fläche für Siedlungen und Verkehr verbraucht, was pro Jahr einer Fläche der Stadt Hannover entspräche. Dazu Barbara Metz, Bundesgeschäftsführerin der DUH: „Wir fordern von der Bundesregierung ein rechtlich verbindliches Ziel, die Flächenversiegelung in Deutschland bis spätestens 2035 zu stoppen. In Zeiten der Klimakrise brauchen unsere Städte unversiegelte Böden zur Versickerung von Wasser und Grünflächen zur Kühlung.“ Der anhaltende Trend zu mehr Beton und weniger Grün sei alarmierend. „Statt zu lebenswerten Orten der Erholung entwickeln sich unsere Städte zu Hitze-Höllen.“ Die Bundesregierung müsse jetzt wirksame Maßnahmen ergreifen und bundesweite Standards vorschreiben.

Stark von Hitze betroffen: Anwohnerinnen, Zufußgehende und Radfahrende Städte entwickeln sich im Sommer schnell zu sogenannten Hitzeinseln. Kritisch sind die hohen Tagestemperaturen, vor allem aber die fehlende Abkühlung in der Nacht mit tropischen Temperaturen von über 24 Grad Celsius. Denn Asphaltflächen, parkende Autos, aber auch Beton-, Glas- und Metalloberflächen heizen sich stark auf und speichern die Wärme. Von Hitzewellen besonders betroffen sind damit vor allem weniger wohlhabende Stadtteilbewohnerinnen überall dort, wo es an Grün- und Wasserflächen mangelt, also zum Beispiel in den Stadtzentren und entlang der Einfallstraßen sowie die dort liegenden Einrichtungen, wie Schulen, Krankenhäuser oder Seniorenheime. Große Probleme gibt es auch bei der Mobilität, vor allem mit Blick auf Zufußgehende, ÖPNV-Nutzer*innen und Radfahrende. Hier hilft auch kein individueller Schutz, denn allein der Asphalt heizt sich durch Sonnenstrahlung zum Beispiel auf über 60 Grad Celsius auf. „Liegen Gehsteige in der prallen Sonne, schränkt das die Mobilität insbesondere von älteren und chronisch kranken Menschen ein“, sagt der österreichische VCÖ – Mobilität mit Zukunft. Kritisch sind hier neben den Bürgersteigen vor allem Kreuzungen oder Haltestellen, die keinen Sonnenschutz bieten, sowie fehlende schattige Sitzgelegenheiten, um eine kurze Pause einzulegen. Auch lange Ampelwartezeiten mit Priorität für den Autoverkehr werden in der prallen Sonne schnell zur Tortur. In Gesprächen mit Betroffenen, die bei Hitze zum Selbstschutz tagsüber kaum das Haus verlassen und nachts keinen Schlaf finden, wird die Dramatik schnell sichtbar.

Zweiräder mit Motor eine echte Alternative bei Hitze

Radfahrende sind bei Hitze in ihrer Mobilität gegenüber Zufußgehenden im Vorteil, weil sie für die gleiche Strecke weniger Zeit benötigen und durch den Fahrtwind gekühlt werden. Gleichzeitig steigt die körperliche Anstrengung bei Hitze jedoch stark an, ebenso wie der Flüssigkeitsbedarf. Ärzte warnen beim Radfahren je nach Streckenprofil und Wind bereits ab 25 Grad Celsius vor einer Überlastung des Organismus. Bei hohen Temperaturen hilft dementsprechend hauptsächlich der Fahrtwind in Kombination mit einer Motorunterstützung. Genau das bieten E-Bikes (Pedelecs und S-Pedelecs), E-Scooter oder die in den südeuropäischen oder asiatischen Staaten seit jeher beliebten Motorroller. Eigentlich ist es zudem eine Binsenweisheit, dass Radfahrende, egal ob mit oder ohne Motor, wesentlich dazu beitragen, die CO₂-Bilanz sowie das Klima in den Städten positiv zu beeinflussen. Wichtig sind dabei neben der Energiebilanz, Wärme- und Schadstoffemissionen auch die benötigten Stellflächen.

Große Bäume sorgen in der Stadt für einen hohen Kühleffekt. Weniger nützlich sind dagegen baumlose Grünflächen, die einen etwa zwei- bis viermal geringeren Kühleffekt als baumbestandene Flächen bieten.

Erhebliche Verbesserungen der Infrastruktur möglich

Mit Blick auf die Infrastruktur lassen sich sowohl für Zufußgehende als auch für Radfahrende oft mit einfachen Mitteln erhebliche Verbesserungen erreichen. Dazu zählen schattige öffentliche Sitzgelegenheiten und Trinkbrunnen ebenso wie die Entwicklung von Alternativrouten durch Grünanlagen und Wälder, beschattete Straßen, Kreuzungen und Haltestellen, kühlere Busse und Bahnen oder optimierte Ampelschaltungen und kürze Wartezeiten für den Fußverkehr. Messungen zeigen dabei beispielsweise, dass die Temperaturen einer baumbestandenen Allee sowohl direkt auf der Straße als auch in den angrenzenden Räumen und an den Fassaden jeweils nur rund halb so hoch sind wie auf einer Straße ohne Baumbestand. Technisch einfach umzusetzen ist auch die Umwidmung von Pkw-Parkflächen, beispielsweise mit mobilen Bäumen und Sitzgelegenheiten, Gastronomieflächen sowie die Entsiegelung. Stadtplanerinnen empfehlen zudem große Alleen, um für eine gute Durchlüftung zu sorgen. All das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein essenzieller Faktor auf dem Weg hin zu hitzeresilienteren Städten wohl unabdingbar die Verringerung der Pkw-Dichte und die Umnutzung von Pkw-Parkflächen und -Verkehrswegen ist. Beispiel Berlin: In der Hauptstadt waren zum Stichtag am 1. Januar 2024 laut Statista insgesamt rund 1,24 Millionen Pkw zugelassen – ein Rekordwert. Die Anzahl der regis-trierten Pkw ist dabei im Verlauf der vergangenen zehn Jahre kontinuierlich angestiegen. Gemäß einer Mitteilung der Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt gibt es innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings 229.680 öffentliche Straßenparkplätze, was einer Gesamtfläche von 2.644.608 Quadratmetern entspricht. Gänzlich anders sieht beispielsweise die Entwicklung in Paris aus: Seit rund zehn Jahren werden hier unter dem zentralen Konzept der „15-Minuten-Stadt“ zahlreiche Projekte umgesetzt, um den Autoverkehr zu reduzieren, Radverkehr und ÖPNV zu steigern, den öffentlichen Raum zu begrünen und die Stadt so lebenswerter, gesünder und klimafreundlicher zu machen. Einer kürzlich veröffentlichten Studie des Stadtplanungsinstituts zufolge legten die Bewohnerinnen der Metropole von Oktober 2022 bis April 2023 die meisten Wege zu Fuß zurück (53,5 Prozent). An zweiter Stelle standen öffentliche Verkehrsmittel (30 Prozent), gefolgt von Radfahrer*innen mit 11,2 Prozent. Lediglich 4,3 Prozent der Wege wurden mit dem Auto zurückgelegt (Berlin ca. 26 Prozent).

Einige Städte haben inzwischen Hitzemodelle entwickelt, um gefährdete Gebiete und Handlungsfelder zu identifizieren.

Unterschätzte Hitzefolgen

Die WHO und Gesundheitsexpert*innen betonen immer wieder den zunehmenden und inzwischen extremen Bewegungsmangel in Deutschland und die Entwicklung hin zu immer mehr übergewichtigen Menschen. Die Lebenserwartung werde dadurch abgesenkt, es gebe eine ständig steigende Krankheitslast und wir müssten für die Zukunft wohl auch mit der finanziellen Überforderung der Sozialversicherungssysteme rechnen, erläutert Prof. Dr. med. Swen Malte John von der Universität Osnabrück. Mit der Zunahme an heißen Tagen wird Bewegung im Sommer nicht nur schwieriger, sondern im Hinblick auf vulnerable Gruppen auch immer gefährlicher. Mehr als 47.000 Menschen starben einer aktuellen Studie zufolge in Europa im Jahr 2023 an Hitzefolgen. Vielfach unterschätzt werden zudem auch die sozialen Folgen. Gerade Älteren fehlen während Hitzeperioden wichtige Kontaktmöglichkeiten. Auch wirtschaftlich macht sich die Hitze in den Städten deutlich bemerkbar – und das nicht nur bei den Energiekosten für Kühl- und Klimaanlagen. An Hitzetagen zum Einkaufen in die Stadt oder ins Restaurant? Viele winken ab. Die Menschen konsumierten in Restaurants tagsüber zurückhaltend oder blieben gleich zu Hause, erklärte kürzlich Mario Pulker, Obmann des österreichischen Gastronomie-Fachverbands. Die Umsätze könnten nicht durch die Abendstunden ausgeglichen werden.

„Mehr als 47.000 Menschen starben einer aktuellen Studie zufolge in Europa im Jahr 2023 an Hitzefolgen.“

Alarmstufe rot – auch für Europa

Weltweit sehen sich Kontinente und Länder einer teils dramatischen Hitzekrise gegenüber. Und sie kommt auch zu uns. Diesen Sommer gilt bereits seit einiger Zeit für Italien und andere südeuropäische Länder und Regionen offiziell Alarmstufe Rot. Temperaturen von bis zu 45 Grad Celsius tagsüber, Nächte mit 30 Grad Celsius und eine Wassertemperatur des Mittelmeeres von ebenfalls bis zu 30 Grad Celsius stellen die hitzegewöhnten Regionen vor enorme Herausforderungen. Klimaexpert*innen zufolge könnten ähnliche Verhältnisse bald auch in deutschen Regionen und Städten herrschen. Man kann sich fragen, ob und wie wir darauf vorbereitet sind, mit Blick auf die Gesundheit, die Alterspyramide, Biodiversität, Dürren und ihre Auswirkungen auf die Landwirtschaft und die Wälder oder auch die Energieversorger, die essenziell auf Kühlwasser für Kraftwerke angewiesen sind. Generell lassen die Aussichten wenig Positives erwarten. „Am stärksten werden durch den Klimawandel die Iberische Halbinsel, Mitteleuropa einschließlich des Alpenraumes, die Ostküste der Adria und Südgriechenland durch extreme Temperaturen beeinflusst“, so das Umweltbundesamt. Bis 2100 könne die Temperaturzunahme in Teilen Frankreichs und der Iberischen Halbinsel sechs Grad Celsius übersteigen. Rückblickend könnte die heißeste Zeit heute also die kühlste der kommenden Jahrzehnte sein. Sich darauf einzurichten, kostet Willen, Überzeugungskraft, Geld und Zeit. Was aller Voraussicht nach nicht hilft, ist Fatalismus.


Bilder: stock.adobe.com – Olga Demina, Saltwire, Greenpeace, Stadt Köln, stock.adobe.com – decorator

Kaum jemand bestreitet, dass Radfahren die umweltverträglichste Mobilitätsform neben Gehen ist. Aber wie sieht es mit Rad und E-Bike selbst aus? CO2-Fußabdruck, Recycling-Praxis seiner Teile, Probleme, die ein Akku für die Umwelt mit sich bringt? Wir haben einen breiten Blick darauf geworfen, wie die Schadstoff- und Umweltbilanz des Verkehrsmittels aussieht – und wie die Industrie sie verbessern will.

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)


Gleich vorweg: Der CO2-„Reifen-abdruck“ des Fahrradfahrens ist so gut wie bei keinem anderen Verkehrsmittel – je nach Berechnung arbeitet man mit etwa 30 Gramm CO2 je Fahrradkilometer. Beim Auto sind es etwa um 100 Gramm pro Kilometer mehr. Vielleicht die wichtigste Umwelt-Bilanz der Verkehrsmittel, aber bei Weitem nicht die einzige. Denn je nach Rahmenmaterial, Qualität und auch infolge der Lebensdauer kommen Energieaufwand bei der Produktion, Montage und Wartung sowie dieselbe Berechnung für die Ersatzteile hinzu. Und im Betrieb stoßen wir nicht nur beim E-Bike mit seinem (wenn auch geringen) Stromverbrauch auf weitere Stolpersteine: Da wäre zum Beispiel der Reifen- und Bremsenabrieb im Verkehr. Reifen – sowohl die am Auto als auch am Fahrrad – sind laut Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) die größte Einzelquelle für Kunststoffabrieb. Feinstaub. Über 100.000 Tonnen im Jahr sollen es laut BUND vom Auto sein. Einen kleinen, aber durchaus relevanten Teil steuern die Fahrradreifen bei – ein Problem, das auch dem Fahrrad wohl in Zukunft kaum zu nehmen ist.

Mit dem Metabolon-Institut entwickelte Reifenhersteller Bohle (Schwalbe Reifen) den Recycling-Reifen. Er spart 80 Prozent CO2.

Vom Löwenzahn zum Reifen

Schauen wir da lieber auf die Möglichkeiten, das Fahrrad umweltfreundlicher zu gestalten. Nachwachsende Rohstoffe – hier kann man beim Reifen bleiben: Continental baut seit einigen Jahren den Taraxagum-Reifen, einen Reifen aus Löwenzahn-Kautschuk. Sein Basismaterial wird nicht aus den Tropenwäldern importiert, was lange Lieferwege impliziert. Der spezielle Löwenzahn wächst zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern. Leider ist die Auswahl an Reifen dieser Produktion heute noch äußerst begrenzt.
Reifen sind die Problemkinder der Fahrradindustrie, was den Umweltschutz angeht. Auch der deutsche Marktführer Schwalbe hat das erkannt. Er baut seit Kurzem seinen Topseller in der „Green“-Version. Der Green Marathon ist laut Hersteller der erste Reifen mit geschlossenem Produktkreislauf: Er wird aus fair angebautem Kautschuk gewonnen (zertifiziertes Anbau- und Erntemanagement) und besteht zu 80 Prozent aus recycelten und erneuerbaren Rohstoffen. So erhält man laut Hersteller Bohle einen um 41 Prozent verringerten CO2-Fußabdruck. 70 Prozent der Pneus des Unternehmens werden heute aus recyceltem Ruß hergestellt. Er kann fossil hergestellten Industrieruß vollwertig ersetzen. Der Ruß kommt dabei von einem Recycling-Unternehmen im Saarland. Im August 2024 konnte Schwalbe bereits den einmillionsten recycelten Reifen feiern. Der Leiter des CSR von Schwalbe, Felix Jahn, erklärt, dass es „keine Kompromisse in Sachen Qualität und Performance der Reifen“ gebe. „Das ist oberste Prämisse beim Einsatz von recycelten Materialien.“ Schläuche werden übrigens bei Schwalbe schon lange recycelt, zu einem sehr hohen Prozentsatz fließen alte, defekte Schläuche wieder in die Produktion ein. Auch andere Hersteller nehmen Kurs auf Recycling-Reifen – oder zumindest Nachhaltigkeit in den Fokus. Beim Autoreifen ist Recycling übrigens lange schon selbstverständlich, wird aber unterschiedlich praktiziert. Sie werden zur Energiegewinnung verbrannt, eine Reifenbasis, von der die Lauffläche genommen wird, wird runderneuert, oder die einzelnen Inhaltsstoffe werden getrennt und zu anderen Produkten verarbeitet.

In der Modellpalette bisher begrenzt, aber vorhanden: Continental-Reifen aus „Löwenzahn-Kautschuk“.

Ich war keine Dose

Aber denken wir weiter, der Reifen ist nur eine Komponente unter vielen am Fahrrad. Wie sieht es mit dem Fahrradrahmen selbst aus?
Seit dem Ende des letzten Jahrhunderts hat sich die Fahrradproduktion auf Aluminium-Rahmen konzentriert. Dieses Material braucht viel Energie zur Herstellung, lässt sich aber relativ leicht recyceln. Es kann gut und, im Gegensatz zu Stahl, auf einem hohen Qualitätsniveau wiederverwendet werden. Entsprechend gibt es immer wieder Projekte – das „Ich war eine Dose!“ ist vielen sicher noch im Gedächtnis –, in denen tatsächlich mit Alu-Schrott hochwertige Aluminium-Produkte wie Fahrradrahmen hergestellt werden. Und natürlich umgekehrt. Zu einem flächenübergreifenden Phänomen ist das bislang nicht geworden. Das liegt weniger an den technischen Möglichkeiten als an dem Fehlen von Unternehmen, die solche Ansätze aufgreifen und eine entsprechende Infrastruktur aufbauen würden.
Die gibt es auch nicht beim Stahlrahmen, aber aus anderen Gründen: Hier wird fast ausschließlich mit Legierungen gearbeitet. Effekt: Das Recycling-Ergebnis ist von deutlich minderer Qualität als der Ausgangsstahl, da diese Legierungen kaum aufzutrennen sind. Der entstehende Stahl ist als einfacher Baustahl verwertbar, Fahrräder oder Fahrzeuge kann man damit nicht produzieren. Stahl ist allerdings nicht besonders recycling-relevant, da heute nur noch einige wenige Liebhaber auf diesen Stoff, meist aus Handarbeit, schwören. Entsprechend hochpreisig sind diese Räder, und werden auch entsprechend gepflegt und lange gefahren. Also: Nachhaltigkeit ist inte-griert, was letztendlich dem Klima nützt.

Von Sportlerinnen geliebt – von der Umwelt nicht Im Trend für den Fahrradrahmen des Sportrads lag die letzten Jahre aber der Verbundstoff Kohlefaser – Carbon. Mit ihm ist es möglich, sehr verwindungssteife und dabei leichte Rahmen herzustellen. Das Wort Verbundstoff sagt es schon: Hier gehen Fasern und der verbindende Stoff, meist Epoxidharz, eine Synthese ein. Die lässt sich zwar durch ein aufwendiges Verfahren auch wieder lösen, allerdings sind die resultierenden Fasern dann nur wenige Millimeter lang. Bedeutet: Der eigentliche Vorteil von Faserverbundstoffen, die hohe Stabilität und Flexibilität bei geringem Gewicht, geht dabei weitgehend verloren. Es wird also downgegradet: Es können relativ stabile, Kunststoffteile aus dem gewonnenen Material hergestellt werden, die – analog zu Baumaterial bei Stahl – deutlich weniger Elastizität bieten können. Ein Cradle to Cradle-Verfahren – also mit Recycling-Materialien auf demselben Niveau wie das Ursprungsmaterial – kann ein solches Produkt also nicht bieten, außerdem wird das abgespaltene Epoxidharz zur Energiegewinnung für den Prozess verwendet, was nicht ganz schadstofffrei ablaufen kann. Allerdings haben sich in den letzten Jahren Unternehmen der Reparatur von Carbon-Rahmen verschrieben. Meist untersuchen sie die Rahmen per Ul-traschall nach Beschädigungen und laminieren gebrochene Stellen neu, schaffen also eine zusätzliche gewickelte Materialhülle an der jeweiligen Schadensstelle. Diese Unternehmen geben meist eine Garantie auf ihre Reparatur. Die Sportlerinnen kaufen also keinen neuen Rahmen beziehungsweise kein neues Fahrrad und belasten die Umwelt dadurch nicht zusätzlich.

„Das Thema zirkuläres Fahrrad gehört in den Fachhandel – und jemand muss das bewerkstelligen.“

Nikolai Mosch, Moschbikes

Eigenes Schaltwerk-Label: Der Recycler Mosch recycelt auch Komponenten am Fahrrad, vom Bremshebel bis zum Schaltwerk.

Auch Plastik kann nachhaltig sein

Umweltfreundlich heißt also nicht allein recyclebar. Zunächst geht es um die Herstellung und den CO2-Äquivalenzwert in der Lebensdauer. Unter anderem die TU Berlin hat errechnet, dass ein Alu-E-Bike um die 200 Kilogramm CO2 verschlingt – in puncto Herstellung und Betriebsleben. Andere Forschungsorganisationen kamen zum in etwa gleichen Wert. Nur am Rande: Das Auto verschlingt rund 10 Tonnen CO2 alleine in der Herstellung.
Aber es gibt viele Möglichkeiten, mehr Nachhaltigkeit aus Produkten zu holen. Eine davon ist, sie gleich aus bereits recycelten Materialien herzustellen. Seit Jahren beharrlich arbeitet der Kunststoffhersteller Igus an einem Fahrrad, das fast ausschließlich aus recycelten Fischernetzen hergestellt wird.
Mittlerweile gibt es die erste Serie. Vor allem Werksflotten hat Igus zunächst damit im Blick, erklärt Sven Ternhardt, Head of Sales and Marketing. „2025 wollen wir bereits 5000 Stück des Rcyl verkaufen“, sagt er. Und es geht sukzessive weiter: „Erfahrungen, die wir mit den ersten Serien gemacht haben, fließen in die weiteren Entwicklungen.“ Für den E-Bike-Hersteller Advanced entwickelt und produziert man außerdem den ersten recycelbaren Kunststoff-Rahmen mit Carbonfasern im Spritzgussverfahren.

Die Bio-Abteilung der Fahrradbranche

Der kleine Trend hin zum Recycling-Produkt Fahrrad ist unübersehbar. Im Kleinen machte das bereits Nikolai Mosch mit dem Unternehmen Moschbikes vor: Er baut Fahrräder aus alten Fahrradrahmen und Komponenten. 2017 fing er an, Fahrräder zu zerlegen und auf vielen Ebenen nachzuforschen: „Wie technisch perfekt kann ein Recycling-Fahrrad werden, wie spielt der Lack mit, was gibt der Markt her, welche Rolle spielt heute schon die Circular Economy?“ Seine Umtriebigkeit und erste Erfolge brachten ihm mehrere Preise ein. Das zirkuläre Fahrrad ist nicht nur der Bauchladen von Herrn Mosch. Er sagt: „Das Thema zirkuläres Fahrrad gehört in den Fachhandel – und jemand muss das bewerkstelligen!“ So will er den Fahrradhändler*innen einen „Bio-Fahrradladen“ im Franchise-System anbieten. Die Partnerschaft kann auf vielen Ebenen erfolgen. Ein möglicher kleiner Einstieg: Die Händler liefern nur defekte Fahrradschläuche, die von Moschbikes repariert und dann im ursprünglichen Laden wieder verkauft werden.
Der Bio-Fahrradladen soll sich dann mit Moschbikes und anderen Eigenmarken vom normalen Handel abheben. So hat Mosch zum Beispiel auch ein eigenes Lenkerband entwickelt, das ohne schädlichen Klebstoff auskommt. Er baut auch Komponenten um. So erhalten beispielsweise Naben Schmiernippel, um sie wartungsfreundlicher und damit langlebiger zu machen.

Schrottfahrräder sind eine Herausforderung im Stadtbild und für die Umwelt. Doch immer mehr private und karitative Institutionen arbeiten am Abbau und Recycling der Räder.

Schrott, der kostet und Platz verbraucht

Damit gehen Mosch und andere auch ein weiteres wachsendes Problem in unseren Städten an: Schrottfahrräder. In deutschen Städten türmen sich Fahrräder, die nicht mehr genutzt und stehen gelassen werden. Laut aktuellen Darstellungen sind das laut Süddeutscher Zeitung beispielsweise in Hamburg pro Jahr 5000 bis 6000 Stück neu hinzugekommene, in Köln (Angaben der Stadt) und München ebenso, und selbst die deutlich kleinere „Fahrradstadt Münster“ kommt auf diese Zahl. Auch wenn sich die Beträge bei den kleineren Städten vermindern, ein Platz-, Umwelt und nicht zuletzt ein städtebauliches Problem sind die Schrotträder auch dort. Mosch und andere Unternehmen, aber auch gemeinnützige Organisationen setzen hier an und sich mit den Städten zusammen, um aus Schrottfahrrädern nutzbare Räder aufzubereiten.
Der Verein Goldnetz in Berlin etwa sammelt vom dortigen Ordnungsamt gekennzeichnete Räder ein und baut – im Projekt Good Bikes – mit verwertbaren Komponenten wieder Bikes daraus. Diese werden dann an gemeinnützige Initiativen und Vereine abgegeben. An der Aufbereitung arbeiten vor allem Langzeitarbeitslose, sodass das Projekt in vielerlei Hinsicht hilft, Probleme zu beseitigen. Immerhin kosten Schrottfahrräder laut einer Berechnung der Verbraucherseite Chip.de den Verbraucher um die 20 Millionen Euro im Jahr. Glücklicherweise gibt es dieses Problem bislang nicht mit E-Bikes: Sie sind wohl für die meisten Nutzer*innen zu wertvoll, um aufgegeben zu werden.

Auch E-Bikes werden mittlerweile refurbished, also von Grund auf überarbeitet. Hier beim Unternehmen Rebike.

Auch bei E-Bikes: nachhaltiger als neu

Seit etwa fünf Jahren steigt die Zahl der Onlineshops für gebrauchte Räder. Buycycle und Rebike sind zwei der größten Player auf dem Markt, der sich nach dem Motto erweitert: Nachhaltigkeit fängt bei der Lebensdauer eines Produkts an. Rebike war einer der ersten Marktteilnehmer, die sich an E-Bikes wagten. Sogenannte Refurbished E-Bikes, die von Grund auf überholt wurden, werden mittlerweile gut angenommen, auch wenn die Verkaufszahlen derzeit noch verschwindend gering sind, verglichen mit den Zahlen von neuen Rädern. Beide Unternehmen sind professionell arbeitende Onlineshops mit Strukturen für den Kauf, wie man sie von klassischen Stores kennt.

E-Bike-Special: Akkurecycling

Auch der Lebenszeitraum von Refurbished E-Bikes geht irgendwann jedoch zu Ende. Wenn dieser Zeitpunkt kommt, ist der Umgang mit den ausgedienten Batterien noch ausbaufähig. Grundsätzlich müssen E-Bike-Battieren seit 2009 nach Ende der Nutzungszeit dem Recycling zugeführt werden. Die Kosten dafür trägt der Hersteller oder Importeur, das ist im Batteriegesetz geregelt. Gesammelt werden die alten Stromspeicher meist von den Händlern. Die Stiftung Gemeinsames Rücknahmesystem Batterien (GRS) und der Zweirad-Industrieverband haben damals eine Branchenlösung ausgearbeitet. Der Handel ist verpflichtet, die Akkus kostenfrei zurückzunehmen. Die GRS kümmert sich darum, die Akkus abzuholen und sie zur Verwertung weiterzutransportieren. Bislang steht die Zahl der zurückgegebenen Akkus allerdings in keinem erhellenden Verhältnis zu den verkauften E-Bikes, was unter anderem daran liegt, dass die GSR eine Batterie-Lebenszeit von im Schnitt acht Jahren erwartet und vor 2016 die Verkaufszahlen von E-Bikes noch weit von den Rekorden der Zwanzigerjahre entfernt lagen. Außerdem dürften viele schwächelnde E-Bikes und deren Akkus zunächst ein Kellerdasein führen, bevor sich Besitzer oder Besitzerin entschließt, den Akku zu erneuern oder das Rad wie auch immer abzugeben. Derzeit sind 155 Hersteller mit der GRS verpartnert.

„Ungenutzte E-Bikes oder gar defekte Akkus bleiben oft jahrelang im Keller liegen. Sie sind ein nicht genutzter Rohstoff für das Recycling und den Einsatz in neuen Batterien.“

Tim Salatzki, Leiter Technik und Normung beim ZIV

Aufbau eines klassischen E-Bike-Akkus. Ein Problem: Zellen altern nicht unbedingt gleichmäßig, ein zuverlässiges Ausleseverfahren fehlt aber noch.

Zellen ersetzen bei Akkus?

„Natürlich gibt es auch gesetzliche Berichts- und Nachweispflichten, die die GRS für die Hersteller übernimmt“, so der Leiter Technik und Normung beim ZIV, Tim Salatzki. Allerdings gibt es für E-Bike-Batterien derzeit keine Mindestrate, wie viele Akkus recycelt werden müssen. „Zukünftig gehören E-Bike-Batterien zur neu geschaffenen Kategorie „Light Means of Transport“-(LMT)-Batterie, für die genaue Sammelziele gelten. Die größte Herausforderung bei diesem System ist die Praxis der Endverbraucher und -verbraucherinnen“, so Salatzki. „Ungenutzte E-Bikes oder gar defekte Akkus bleiben oft jahrelang im Keller liegen. Sie sind ein nicht genutzter Rohstoff für das Recycling und den Einsatz in neuen Batterien.“
Die Alternative für einen Aufschub der Verwertung: Akkus reparieren. Doch das klingt noch nach Zukunftsmusik. Einen Grund nennt E-Bike-Experte Hannes Neupert, Gründer des Vereins Extraenergy, und Mobilitätsberater. Er bedauert, dass es keine sicheren Auslesemethoden über die Qualität von Alt-Akkus gebe. Bedeutet: Batterien, die ja ohnehin als Gefahrengut gelten, können bislang nicht ausreichend seriös und sicher wiederaufbereitet werden. Neupert beklagt hier das mangelnde Interesse der Hersteller an langer Lebensdauer der Akkus und einem florierenden Secondhand-Markt.

Umweltbewusstsein als Radfahr-Argument

Grundsätzlich lässt sich Radfahren schnell mit Umweltbewusstsein in Verbindung bringen. Aber ist dieses Ziel auch eine wesentliche Motivation für die Radfahrenden?
2010 belegte Eva Heinen, heute Professorin an der ETH Zürich und stellvertretende Leiterin des Instituts für Verkehrsplanung und Transportsysteme zusammen mit anderen Forscherinnen, dass der Umweltgedanke durchaus einer der Motivatoren fürs Radfahren ist. Allerdings zähle der positive Effekt des Radfahrens auf die Umwelt nicht zu den wichtigsten Entscheidungsfaktoren fürs Rad. Zunächst werden meist die Unkompliziertheit des Radfahrens angeführt (etwa bei der Parkplatzsuche), der Spaß am Fahren und die Bewegung. Das Ergebnis fällt anders aus, fragt man nach Gründen von Nicht-Radfahrerinnen, die denken, dass sie besser aufs Zweirad umsteigen sollten. Hier steht der Umweltgedanke oft an erster Stelle. Häufig genug bleibt die entsprechende Verhaltensänderung aber aus. Einleuchtend wird das vielleicht, sieht man auf das oft zentrale Argument der Radfahrenden: die Freude am Radfahren. Dieses scheinbar intrinsische Feature des Rads ist offensichtlich ein effizienterer Motivator als alles andere.


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Solarenergie ist auch auf Radinfrastruktur ein relevantes Thema. Ein Überblick über erste Lösungen auf öffentlichen Strecken.

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)


Die Sache mit der Solarenergie auf dem Radweg endete in einem medialen Fiasko. Statt Energie aus erneuerbaren Quellen erntete die Stadt Erftstadt Häme in sozialen Medien, ein NDR-Beitrag mit dem Titel „Realer Irrsinn“ stempelte den Versuch im Ortsteil Liblar zur Lachnummer ab. Was im Jahr 2018 als Vorzeigeprojekt von der damaligen Bundesumweltministerin Svenja Schulze eingeweiht wurde, ist fünfeinhalb Jahre später von der Kommune wieder entfernt worden. 90 Meter Solarradweg, der erste in der Bundesrepublik, sind nun verschwunden. Die Stadt habe „die Notbremse gezogen“, meldete der Kölner Stadt-Anzeiger, Stadtsprecher Christian Kirchharz sagt: „Wir mussten handeln.“

Euphorie beim Start in Erftstadt

Die Hoffnungen, die 2018 ins Pilotprojekt gesetzt wurden, waren erheblich. Der Berliner Ingenieur und Erfinder Donald Müller-Judex hatte mit seinem Unternehmen Solmove an einer Radweg-Oberfläche getüftelt, die in der Lage sein sollte, den Zweiradverkehr ganzjährig sicher zu führen und zugleich Energie aus dem Sonnenlicht in Strom umzuwandeln. Der „Spiegel“ berichtete, so relevant war das Projekt, 16.000 Kilowattstunden würden die 200 mit Solarzellen ausgeschmückten Quadratmeter im Jahr liefern. „Es ist ein bisschen wie ein erster Schritt auf dem Mond“, zitierte das Hamburger Nachrichtenmagazin den Erfinder.
Die 90 Meter sind inzwischen wieder asphaltiert. Der Rückbau kostete die Gemeinde 30.000 Euro. Zuvor hatte sich die Wegstrecke in ein Ärgernis verwandelt. Die Oberfläche war aufgeplatzt, Glas aus den Modulen gebrochen, für Radfahrer war die Zukunftstrasse zum Hindernisparcours geworden. Warum das Projekt zum Fehlschlag wurde, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. Erfinder Müller-Judex spricht bis heute davon, die Stadt habe das Vorhaben „blockiert“, ein Zähler wurde nicht montiert, die Heizfunktion kam nicht in Gang, die Unterhaltung der Flächen jedenfalls missglückte und statt Strom erntete man in Erftstadt Spott.

Erkenntnisse aus dem Misserfolg

Doch muss man diesen Versuch deshalb verurteilen? „Grundsätzlich steht die Stadtverwaltung auch anderen Versuchen und Innovationen offen gegenüber“, sagt Sprecher Kirchharz: „Dass der Solarradweg gescheitert ist, verstehen wir als notwendige Erfahrung, die auch gemacht werden müssen. Ein Erfolg wäre für alle besser gewesen, aber die gewonnenen Erkenntnisse sind ebenfalls wertvoll. Der Solarradweg wurde, neben dem kurzen Stück mit den Solarpaneelen, mit einem vollständig versickerungsfähigen Elastopave-Material (PU-basiertes Oberflächensystem) ausgebaut, womit wir sehr gute Erfahrungen gemacht haben.“ Wer nicht wagt, der nicht gewinnt – wer keine Versuche macht, wird auch keine neuen Erkenntnisse gewinnen. Auch diese Lesart lässt sich beim Erftstädter Versuch vertreten.

Der Freiburger Radweg ist an die Bedenken der Radfahrer angepasst und verfügt über ein modernes LED-Beleuchtungssystem.

Solardach in Freiburg

In Freiburg im Breisgau spricht man weiterhin sehr gern über ein anderes Pilotprojekt, das es ebenfalls in den vergangenen Monaten häufig in die Medien geschafft hat. Dort hat der regionale Energieversorger Badenova nach einem Vorstoß durch die Stadt ebenfalls einen Solarradweg gebaut und in Betrieb genommen. Lars Meyer, zuständiger Projektmanager für erneuerbare Energien, gibt gern Vertretern aus anderen Städten und Gemeinden Einblicke in das Projekt, das vor etwa zehn Jahren mit einem Besuch einer Freiburger Delegation in der südkoreanischen Partnerstadt Suwon seinen Ausgang nahm. Damals sah der Leiter des Umweltschutzamts in Fernost einen solarüberdachten Radweg und gab das Ziel aus, im Einklang mit Freiburgs Klimaschutzprogramm ebenfalls eine solche Lösung für die heimische Stadt zu finden. „Es geht darum, einen Beitrag zur dezentralen Energiewende und zum aktiven Klimaschutz zu leisten“, erklärt Lars Meyer. Es war auch wichtig, etwas zu schaffen, das nicht nur in Freiburg funktioniert. „Es geht darum, eine skalierbare und auch ökonomisch umsetzbare Lösung zu schaffen“, berichtet der Planer. Gerade das Vermarkten von Strom im urbanen Raum sei eine Sonderaufgabe, die bei einem solchen Radweg ansteht.

Energiebilanz erst Ende 2026

Seit dem Herbst 2023 ist die Anlage in Freiburg in Betrieb. Sie liegt direkt bei der Messe, gleich in der Nähe des neuen Stadions des Fußball-Bundesliga-Vereins SC Freiburg. 300 Meter ist die Trasse lang, die Überdachung 2,50 Meter hoch und überzogen mit 912 Glasmodulen, die eine angepeilte Energiemenge von 280 Megawattstunden im Jahr liefern sollen. Da das erste Solarjahr nach Inbetriebnahme noch nicht abgelaufen ist, lässt sich über die Ernte noch keine Aussage treffen. Projektleiter Meyer weist darauf hin, dass aufschlussreiche Erkenntnisse auch erst nach drei Jahren zu gewinnen seien – wenn saisonale Schwankungen ausgeglichen sind.

„Es war wichtig, einen direkten Anlieger zu finden, der den Strom im räumlichen Zusammenhang verwertet.“

Lars Meyer, Badenova

Energieerzeugung im öffentlichen Raum

Für den Ingenieur ist eine solche Anlage nicht trivial: „Wir haben dabei eine besondere Herausforderung. Wir stellen hier eine Energieerzeugungsanlage in den öffentlichen Raum. Jeder kann hingehen, jeder kann sie anfassen. Das bedeutet wesentlich höheren Planungs- und Abstimmungsaufwand als bei herkömmlichen Solaranlagen abseits
öffentlicher Infrastruktur“, erklärt Meyer. Entsprechend müsse man auch die hohe Dynamik mitbedenken, wenn man ein solches Projekt angehe. „Wir haben ein Gefälle erkannt, das wir zunächst gar nicht so relevant eingeschätzt hatten“, sagt Lars Meyer, „es sind neue Verkehrsbeziehungen dazugekommen.“ Etwa für die Menschen, die die Heimspiele des SC Freiburg im neuen Stadion besuchen und sich nicht an die vorgegebenen Wege halten. „Das mussten wir genauso berücksichtigen wie Kabel, die wir plötzlich gefunden haben und auch den Blick auf mögliche Kampfmittel auf dieser Fläche.“ Es sei wichtig, so Mayer, dass man „beinahe wie im agilen Projektmanagement“ einen Partner hat, mit dem man entsprechend reagieren kann, ohne dass dadurch die Kosten in die Höhe schnellen. Mit dem Generalunternehmer MHB Süd sei das gelungen. Die regendichte Verbindung der Solarmodule gelang mit dem Freiburger Unternehmen Clickcon.

Sicherheit für Radler wichtig

Hinzulernen mussten Meyer und seine Energieexpertinnen beim Thema Radverkehr. Als das Projektteam sich beim Solar Award in Berlin bewarb, gab es aus der Jury konkrete Rückmeldungen von Radfahrern zur Planung. Sie hatten Fragen zur Sicherheit der Verkehrsteilnehmerinnen. „Da haben wir als Ingenieure noch mal dazugelernt, dass bei der Projektpräsentation neben den technischen Aspekten der erneuerbaren Stromproduktion auch die sicherheitstechnischen Aspekte mehr in den Vordergrund gestellt werden müssen“, sagt Meyer. Im Vorfeld hatte es bereits intensive Abstimmungen mit der Stadt Freiburg gegeben. „Man darf die Anlage nicht nur als Stromerzeugungsanlage sehen, sondern eben als Verkehrsweg.“ Anforderungen gibt es an das Lichtraumprofil und zur Position der Stützen für das Solardach. „Wir haben zudem auch ein innovatives LED-Beleuchtungssystem eingebaut, das flexibel auf die Bewegungen auf der Fläche reagiert“, erklärt Meyer.

Es fehlen Standardgenehmigungen

Eine Besonderheit des Bauens im öffentlichen Raum: Die Solar-Radwegüberdachung wurde für die Verwendung von Glas-Glas-Modulen konzipiert, die zusammen mit dem Montagesystem ein regendichtes Dach bilden. Es gab zum Projektstart nur einen Partner, dessen Glas-Glas-Solarpaneele für den Einsatz im öffentlichen Raum zertifiziert waren. Nach den statischen Untersuchungen musste Meyers Team zusätzlich eine vorhabenbezogene Bauartgenehmigung von der Landesstelle für Bautechnik des Regierungspräsidiums Tübingen ersuchen, um zu sichern, dass die geplante Anwendung auch genehmigt war. „Das ist ein hoher Aufwand“, sagt Meyer. Zudem wurde ein Bauwerksbuch nach DIN 1076 erstellt, es gibt wiederkehrende Prüfzyklen: alle drei Jahre Sichtkontrollen und alle sechs Jahre große Prüfungen.

Wohin mit dem Strom?

Doch wohin mit dem Strom aus der Trasse? „Es war wichtig, einen direkten Anlieger zu finden, der den Strom im räumlichen Zusammenhang verwertet“, sagt Meyer. Sonst sei ein solches Vorhaben nicht wirtschaftlich, denn die EEG-Vergütung und Netzentgelte und Gebühren verhindern Lukrativität im öffentlichen Stromnetz. „Wir haben aber mit dem Fraunhofer ISE einen perfekten Partner, der den entstehenden Strom über eine direkte Leitung in seinen Laboren nutzt“, sagt Meyer. Der Netzanschluss erfolgte direkt im Gebäude. Zudem besteht die Möglichkeit, die Solar-Radwegüberdachung zur Forschung in unmittelbarer Nähe zu nutzen.
Das Freiburger Projekt kostete etwa 1,1 Millionen Euro für Entwicklung, Planung und die Umsetzung. 390.000 Euro kamen an Fördermitteln aus dem Klimaschutzfonds der Stadt Freiburg. Ein erhebliches Investment, aber es ist eben ein Pilotprojekt. Das ist auch explizit der Ansatz bei Badenova: „Wir geben unsere Erkenntnisse gern weiter, wollen zur Verbreitung solcher Modelle einen Beitrag leisten“, erzählt Meyer. „Wichtig ist: Die Gespräche mit allen Beteiligten sollte man frühzeitig führen, denn je weiter man mit dem Projekt voranschreitet, umso schwieriger wird es mit den Anpassungen.“

Wattway klebt auf vorhandenen Flächen

Das süddeutsche Projekt interessiert auch den französischen Anbieter Colas. Der hat nach Auskunft von Etienne Gaudin eine Datenbank, in der die Erkenntnisse aller Solar-Verkehrswege gesammelt werden. Selbst sieht man sich als erfahrenen Vorreiter im Verbauen von tragfähigen Solarmodulen auf Verkehrswegen an Parkplätzen, Gehwegen oder eben auch Radstrecken. Mehr als 100 Projekte habe man schon realisiert. Mit dem Produkt „Wattway“ habe man, so behauptet es das Unternehmen, die weltweit erste Solar-Straßenoberfläche entwickelt. Seit 2015 gibt es damit Versuche, in Luxemburg setzte man die Technik schon mal in einem kleineren Versuch auf einen Radweg – 2023 verbaute das Unternehmen seine Technik dann aber auf zwei außerstädtischen Radwegen in den Niederlanden. Das wiederum brachte viel Öffentlichkeit. Die beiden neu mit Solarzellen ausgestatteten Radwege sind jeweils 500 Meter lang und zwei Meter breit. Die beiden Strecken entstanden infolge einer niederländischen Ausschreibung, denn die Regierung möchte erörtern, inwiefern sich Solarenergie auf öffentlicher Infrastruktur einbinden lässt. Das Ziel der Ausschreibung: 80 Megawattstunden auf jedem dieser Wege im Jahr erzielen. Colas-Vertreter Gaudin sagt, die anderen Wettbewerber hätten sich aus dem Verfahren zurückgezogen. Seine Firma realisierte die Wege. Wie viel die öffentliche Hand in den Niederlanden dafür überwies, verrät er nicht – aber in der Ausschreibung war ein Maximalbetrag 1,1 Millionen Euro festgelegt. Etienne Gaudin glaubt, dass die Lösung seines Unternehmens für etwa 2,50 Euro pro Watt zu haben ist. Man könne auf diese Weise langfristig Strom erzeugen, den man wiederum selbst in der Nähe verwenden möchte, erklärt Gaudin. Es geht also, je nach Regulierungslage und Land, um die Verwendung der erzeugten Elektrizität ohne Einspeisung ins Gesamtnetz.
„Wir setzen darauf, dass man unsere Lösung auf eine bestehende Infrastruktur auftragen kann“, erklärt Gaudin. Damit die Oberfläche tragfähig ist, setzen die Franzosen nicht auf Glas, sondern auf Verbundmaterial, in dessen Mitte die Solarzellen eingelegt sind. Diese Platten werden auf die jeweiligen Oberflächen aufgeklebt. Colas gibt die Lebensdauer der Platten mit 15 bis 25 Jahren an, was jeweils von der Verkehrslast auf der Fläche abhängt – auf einem Radweg sei eher das Maximum zu erwarten, weil dort keine Last von Autos auf die Fläche drückt.

Das Beleuchtungssystem Solareye berücksichtigt vor allem Belange des Natur- und Emissionsschutzes und macht Wege doch gut erkennbar.

Solarenergie für dunkle Strecken

Einen anderen, deutlich preisgünstigeren Anwendungsfall von Solarenergie bietet der britische Hersteller Solareye. Hier geht es nicht darum, Solarenergie in Netzstrom zu überführen – sondern darum, die Sonnenkraft für die Verkehrssicherheit zu nutzen. Konkret produziert das britische Familienunternehmen Module aus Reflektor, Lampe und Batterie, die sich in einen bestehenden Radweg- oder Gehwegbelag einbauen lassen. „Die meisten Menschen möchten einen beleuchteten Radweg haben“, argumentiert Will Clarke, Vertreter des Unternehmens, „doch offensichtlich gibt es an vielen Stellen Gründe, warum man kein fest verbautes Straßenlicht aufstellen kann, etwa ökologische Argumente und den Schutz gefährdeter Arten.“
Der Ausgangspunkt für das eigene Produkt sei daher ein ökologischer gewesen, sagt Clarke. Anders als solarbetriebene Straßenlaternen lasse sich das in den Weg eingebaute System jedoch auch in nordeuropäischen Winternächten sinnvoll betreiben, denn es ist per se energiesparend. Sparsam ist das System allemal: Clarke rechnet mit Kosten von etwa 6000 Euro pro Kilometer Radweg, wenn alle zehn Meter eine Leuchte im Weg verbaut wird. Solareye hat seine Produkte nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Kontinentaleuropa an Kommunen gebracht. Die Lebensdauer dieser Lösung beziffert Clarke mit acht Jahren, wobei man in der Realität eher von elf Jahren ausgehen könne. Zudem gibt es eine zweijährige Garantie.


Bilder: Oscar Timmers – CAPA Pictures, Raphael Hild, Lindsay Fowke

In der Klimabilanz macht der Verkehrssektor seit Jahrzehnten keine gute Figur. Eine neue Studie zeigt nun: Das Fahrrad kann beim Emissionssparen einen enormen Beitrag leisten.

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)


Mehr Radverkehr ist gut fürs Klima und steigert die Lebensqualität in den Städten – das ist seit Jahrzehnten bekannt. Allerdings wurde der mögliche Beitrag des Radverkehrs zum Klimaschutz deutlich unterschätzt. Eine Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI im Auftrag des Allgemeinen Deutscher Fahrrad-Clubs (ADFC) bescheinigt dem Radverkehr mit Blick auf den Klimaschutz „enormes Potenzial“.
Laut den Forschenden entstehen 45 Prozent der Treibhausgasemissionen 2035 im landgebundenen Personenverkehr auf Strecken bis zu 30 Kilometern Länge. Diese Distanzen können ihren Berechnungen zufolge zukünftig zu einem großen Teil mit dem Rad oder dem E-Bike statt per Auto zurückgelegt werden. „Auf diese Weise könnten jedes Jahr 19 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente (CO₂-Äq) eingespart werden“, sagt Clemens Brauer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer ISI und Mitautor der Studie. Die Voraussetzung dafür ist eine Infrastruktur auf hohem Niveau, ähnlich wie in den Niederlanden.
Die Niederlande sind seit Jahrzehnten Fahrradland. 61 Prozent der Bevölkerung sind dort regelmäßig mit dem Rad unterwegs. Im Durchschnitt legen die Menschen dort täglich 2,6 Kilometer mit dem Fahrrad zurück. In Deutschland schwingen sich mit 34 Prozent gerade mal halb so viele Menschen regelmäßig aufs Fahrrad. Hinzu kommt: Sie sind damit nicht täglich unterwegs, sondern laut der Studie Mobilität in Deutschland, nur an 120 Tagen im Jahr auf einer Strecke von 3,7 Kilometer.
Aus Sicht von Klimaexpertinnen und Verkehrswissenschaftlerinnen können die Deutschen das Rad im Alltag deutlich öfter nutzen. Im Jahr 2022 hat das Umweltbundesamt (UBA) vorgerechnet, dass jeder Berufspendler 350 Kilogramm CO₂ im Jahr einspart, wenn er für einen fünf Kilometer langen Arbeitsweg aufs Rad steigt statt ins Auto. Auch in den Innenstädten kann mehr Radfahren die Klimabilanz schnell verbessern. Dort sind 40 Prozent aller Autofahrten kürzer als fünf Kilometer. Auf diesen Entfernungen lohnt laut UBA-Berechnungen der Umstieg besonders, weil das Fahrrad in der Innenstadt im direkten Tür-zu-Tür-Vergleich mit Bus oder Auto das schnellste Verkehrsmittel ist.
Allerdings punkten Zeitersparnis und Klimaschutz nicht bei Autofahrerinnen. Der Privatwagen ist seit Jahrzehnten das Verkehrsmittel der Wahl in Deutschland. 88 Prozent aller Wege wurden 2021 damit zurück-gelegt und zwei Drittel der Pendlerinnen (68 Prozent) fuhren nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr mit dem Pkw in die Firma oder ins Büro – auch auf kürzeren Strecken. Das hat Folgen: Der Verkehrssektor hat im Jahr 2023 rund 13 Millionen Tonnen mehr CO₂ produziert, als die Klimaziele erlauben.

Mit einer „Weiter-wie-bisher“-Politik wird der Anteil des Radverkehrs bundesweit bis 2035 nur minimal steigen.

Schnell, schneller, Fahrrad: Im Stadtverkehr kommt man mit dem Rad auf einer Strecke von bis zu vier Kilometer Länge am schnellsten ans Ziel.

Wie viel Radverkehr ist möglich?

Aber wie bringt man die Menschen dazu, vom Auto aufs Fahrrad umzusteigen? Um darauf eine Antwort zu finden, hat das Forscherteam vom Fraunhofer-Institut die Perspektive gewechselt. „Unsere Leitfrage war: Wie verhalten sich die Deutschen, wenn sie ähnliche Bedingungen wie in den Niederlanden vorfinden, also wenn die Bedingungen zum Radfahren ideal sind?“, sagt der Wirtschaftsingenieur Clemens Brauer. Mit anderen Worten: Wie viel Radverkehr ist in Deutschland bei niederländischen Standards möglich?

Neues Verkehrsmodell für den Radverkehr

Mit den klassischen Verkehrsmodellen stießen die Forscher bei ihrer Studie schnell an Grenzen. „Diese berechnen anhand von Wegezeiten und Kosten die Verkehrsmittelwahl“, sagt Brauer. Die eigentlichen Treiber des Radverkehrs sind aus Sicht der Forscherinnen jedoch subjektive Faktoren, wie die subjektive und objektive Sicherheit, die die Radinfrastruktur bietet, sowie der Komfort, aber auch das Verkehrsklima. Diese sozialwissenschaftlichen Daten haben die Wissenschaftlerinnen über den Fahrradklimatest des ADFC und das Vorhandensein von Fahrradinfrastruktur in ihre Analyse integriert und damit ein neues Verkehrsmodell für die Radverkehrsforschung entwickelt.
Insgesamt haben die Forscher drei Bausteine identifiziert, die Deutschland zum Fahrradland machen. Dazu gehören eine einladende Infrastruktur mit qualitativ hochwertigen und sicheren Radnetzen in Städten und Regionen, eine bessere Anbindung des Radverkehrs an den ÖPNV und Fernverkehr und der Umbau der Kommunen zur Stadt der kurzen Wege. „Eine Stadt der kurzen Wege beinhaltet auch, dass der Platz in den Zentren für Autos eingeschränkt wird“, erklärt Brauer. Das bedeute, dass Kommunen Fahrspuren und Parkplätze zurückbauen, Tempo 30 vielerorts zur Regelgeschwindigkeit werde und dass die Kommunen dafür sorgen, dass Tempolimits auch eingehalten werden.

Was machen die Menschen, wenn die Radinfrastruktur hierzulande ähnlich hochwertig und attraktiv ist wie in den Niederlanden? Wissenschaftler*innen prognostizieren: Sie fahren Rad, und zwar richtig viel.

Mal eben den Radverkehr verdreifachen?

Würden die drei Bausteine konsequent umgesetzt, wird sich der Radverkehr in Stadt und Land bis zum Jahr 2035 verdreifachen, so die Berechnungen der Forschenden. Konkret sagen sie, dass der Radverkehrsanteil auf allen Wegen in Stadt und Land auf 45 Prozent steigen würde. Die Zahl gilt für Strecken bis zu 30 Kilometer Länge. „Die Verlagerung kommt hauptsächlich vom Auto“, sagt Brauer. Das bedeutet: Die Menge der Wege, die bislang dort mit Pkw zurückgelegt wurden, würde in etwa halbiert. Die Wissenschaftlerinnen gehen davon aus, dass viele Umsteigerinnen für die langen Distanzen aufs E-Bike wechseln würden.

Das E-Bike als Pendlerrad

Die Motorisierung der Fahrräder spielt für die Verkehrswende und den Klimaschutz eine entscheidende Rolle. Bereits 2017 hat die Studie Mobilität in Deutschland (MID) gezeigt, dass Pendlerinnen mit dem E-Bike Strecken bis zu etwa 17 Kilometer zurücklegen. Die Studie PendlerRatD der Professorin Jana Heimel von der Hochschule Heilbronn bestätigte die Ergebnisse 2022. Ihre Ergebnisse zeigen, dass etwa ein Fünftel der Autofahrerinnen aufs Fahrrad umsteigen könnten. Mit dem Boom der E-Bikes wächst die Zahl an potenziellen Umsteiger*innen weiterhin. 2017 lag der Anteil der verkauften E-Bikes laut Zweirad-Industrie-Verband noch bei 19 Prozent. Im vergangenen Jahr wurden erstmals mehr E-Bikes (53 Prozent) verkauft als klassische Fahrräder.

Jetzt gefragt: Geld, Tempo und politischer Wille

Das Wissen für den Umbau zum Fahrradland Deutschland ist laut den Forschenden vorhanden. „Vieles, was wir in den Bausteinen beschreiben, steht seit 2021 im Nationalen Radverkehrsplan 3.0 (NRVP 3.0) der Bundesregierung“, sagt Brauer. Jetzt gehe es darum, dass die Bundesregierung und die Landesregierungen mit Geld und politischem Willen das Tempo beim Ausbau steigern. Zum Vergleich: Die Niederlande, die etwas kleiner sind als Niedersachsen, haben in den 1960er-Jahren mit dem Ausbau ihres Radwegenetzes begonnen und verfügen heute über rund 40.000 Kilometer Radwege. Deutschland hingegen bringt es laut Bundesverkehrsministerium entlang von Bundes-, Landes- und Kreisstraßen auf insgesamt 56.482 Kilometer Radwege, ohne die kommunalen Radwege.
Die Forscher des Fraunhofer ISI sind über die OpenStreetMap-Analyse auf bundesweit 425.000 km Fahrradinfrastruktur gekommen. „Davon dürfte aber nur ein Bruchteil mit niederländischen Qualitätsstandards vergleichbar sein“, sagt Brauer. So sind auch für den Radverkehr freigegebene Fußwege oder Forst- und landwirtschaftliche Wege als Fahrradinfrastruktur ausgewiesen.

In Paris sind mehr Fahrräder als Auto unterwegs

Der Blick ins Ausland zeigt jedoch, dass der Umbau pro Fahrrad nicht immer Jahrzehnte braucht. In Paris hat das Fahrrad das Auto als Fortbewegungsmittel im Zentrum innerhalb weniger Jahre überholt. Nur noch 4,3 Prozent der Wege werden in der Innenstadt der französischen Hauptstadt mit dem Auto zurückgelegt. Das geht aus der Befragung „Enquête Mobilité par GPS“ (EMG) des Stadtplanungsinstituts „Paris Region“ hervor. Das Institut hat zwischen Oktober 2022 und April 2023 per GPS-Tracker die Alltagsmobilität von 3.337 Einwohner*innen der Region Paris im Alter von 16 bis 80 Jahren aufgezeichnet. Demnach kommt das Fahrrad auf 11,2 Prozent. Im Jahr 2021 lag der Anteil des Autos noch bei neun Prozent und der des Fahrrads bei 5,6 Prozent. 2010 wurden sogar nur drei Prozent der Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt.
Um das zu erreichen, hat die Stadt Paris in den vergangenen Jahren im Zuge ihrer Klimapolitik stark in Fahrradwege investiert. Die Radwege im Zentrum wuchsen laut Stadtregierung von keinen Radwegen im Jahr 1980 auf 273 Kilometer im Jahr 2010 und rund 1100 im Jahr 2021. Besonders beliebt sind bei den Radfahrenden die Radrouten, die die Radfahrenden physisch vom Autoverkehr trennen. Dazu gehören der Boulevard de Sébastopol oder auch die Rue de Rivoli. In den Pariser Vorstädten ist das Auto weiterhin das Verkehrsmittel der Wahl. Dort wollen die Behörden das Zug- und Stadtbahnnetz ausbauen, um die Autonutzung zu reduzieren.

„Wer das Radfahren in seiner Stadt fördern will, sollte Radwege und Fahrradstellplätze bauen, die auch Kinder, Frauen und Ältere gerne nutzen, weil sie sich dort sicher fühlen.“

Clemens Brauer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer Institut

Entwicklung einer Fahrradkultur

In Deutschland bauen Städte wie Karlsruhe, Hamburg oder Frankfurt seit einiger Zeit ihre Radinfrastruktur massiv aus. Das allein reicht jedoch nicht, laut den Forscherinnen. „Damit Deutschland Fahrradland wird, sollten Politik und Kommunen bundesweit am Aufbau einer Fahrradkultur mitwirken“, sagt Brauer. Dazu gehöre, ein gesellschaftliches Bewusstsein zu etablieren, dass das Fahrrad ein vollwertiges Verkehrsmittel ist und Fußgängerinnen und Radfahrende im Straßenverkehr besonders geschützt werden müssen.
„Wer das Radfahren in seiner Stadt fördern will, sollte Radwege und Fahrradstellplätze bauen, die auch Kinder, Frauen und Ältere gerne nutzen, weil sie sich dort sicher fühlen“, sagt Brauer. Verschiedene Untersuchungen wie die dänische Studie „Gender & (Smarte) Mobilität“ haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass Frauen einen höheren Anspruch an die Qualität und Sicherheit von Radinfrastruktur haben als Männer. Laut der internationalen Untersuchung sind in der Regel stets deutlich mehr Männer mit dem Rad in Städten unterwegs als Frauen. Anders in Dänemark. Dort bilden Rad fahrende Frauen mit 53 Prozent sogar eine knappe Mehrheit. Der Grund dafür liegt in der Infrastruktur.
In Dänemark werden Radnetze in Städten und Regionen nach einheitlichen Standards angelegt. So werden Autos und Fahrräder an Hauptstraßen konsequent voneinander getrennt. In den Quartieren, in denen Frauen im Alltag oft unterwegs sind und häufig anhalten, sind sie auf Fahrradstraßen unterwegs. Das bedeutet, dass die Autos dort den Radlerinnen folgen, ohne zu drängeln. Manche nennen das Fahrradkultur, andere gelerntes Verhalten. Fest steht für die Forscherinnen: Dieses Verhalten muss gepflegt werden, sowohl durch politische Vorbilder als auch durch eine klare Positionierung der Politik zu einer klimafreundlichen Alltagsmobilität wie dem Fuß- und Radverkehr, und nicht zuletzt durch die Schaffung einer geeigneten Infrastruktur.

Wie geht es weiter?

„Die drei Bausteine, die der Potenzialanalyse zugrunde liegen, stellen keine konkreten politischen Forderungen dar“, sagt Brauer. Allerdings weist er mit seinen Kolleg*innen darauf hin, dass eine „Weiter-wie-Bisher“-Politik den Anteil des Radverkehrs bundesweit bis 2035 nur minimal steigern würde, von aktuell 13 auf 15 Prozent. Mit einem Ausbau des Radverkehrs nach niederländischem Vorbild sind 45 Prozent möglich und damit auch deutlich mehr Lebensqualität in Kommunen und Klimaschutz im Verkehr.
Um den Radverkehr auf diesen Prozentsatz zu steigern, müssten Bund, Länder und Gemeinden jährlich jeweils eine Milliarde Euro in die Fahrradinfrastruktur investieren, sagte Frank Masurat, Bundesvorsitzender des ADFC bei der Vorstellung der Potenzialanalyse. Dann können die CO₂-Emissionen bis 2035 auf 38 Millionen Tonnen sinken. Die Bundesregierung würde das Potenzial des Radverkehrs für den Klimaschutz nutzen. Bei einer „Weiter-wie-bisher“-Politik würde der Wert nur auf 57 Millionen Tonnen sinken.


Bilder: stock.adobe.com – Sergei Malkov
Grafik: Umweltbundesamt
Grafiken: ADFC