Das Fahrrad ist für die Verkehrswende unerlässlich. Und es ist inklusiv: Tatsächlich können auch viele Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten gut fahrradmobil sein. Wir stellen Beispiele und Entwicklungen vor und beleuchten Hintergründe. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Unsicherheit, verlorene Balance-Fähigkeiten oder einfach mehr Komfort-Bedürfnis: Dreiräder sind oft ein Aha-Erlebnis.

Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten und Radfahren: Das ist eine überraschend gut funktionierende Kombi, einfacher, als viele heute noch denken. Grob kann man die technischen Möglichkeiten, die Radfahren zu einem inklusiven Erlebnis machen, zunächst in zwei Kategorien einteilen: Erstens gibt es Fahrräder für zwei Menschen, also verschiedene Arten von Tandems. Hier ist es möglich, dass ein Mensch ohne Einschränkung das Fahrrad steuert und ein Mensch mit Einschränkungen mitfährt. Je nach Fahrradtyp und persönlichen Fähigkeiten ist es dabei möglich, dass beide für den Vortrieb sorgen. Die andere, sehr große Kategorie: Fahrräder mit drei oder vier Rädern, die aufgrund ihrer Bauart durchaus für Menschen mit ganz unterschiedlichen Einschränkungen und Bedürfnissen geeignet sind. Die Bandbreite ist riesig und geht, wie wir noch sehen werden, von Menschen, die einfach einen hohen Komfort- oder Sicherheitsanspruch ans Fahrrad haben, bis hin zu Menschen, die zum Beispiel aufgrund einer Querschnittslähmung ihre Beine nicht mehr bewegen können. Dabei handelt es sich mittlerweile bei diesen Therapie- oder Reha-Rädern meist um Fahrräder mit Motor-Unterstützung bis 25 Stundenkilometer, also Pedelecs. Besser wäre sicher eine allgemeine Bezeichnung wie Sicherheits- und Komforträder, da die Beweggründe, ein Dreirad zu fahren, sehr vielfältig sein können.

„Immer mehr Menschen fahren Fahrrad, und wenn sie das aus irgendwelchen Einschränkungen nicht mehr können oder sich nicht mehr trauen, steigen sie mittlerweile immer mehr aufs Spezialrad um.“

Zusammen unterwegs: Tandems in unterschiedlichsten Variationen sind auch für Menschen mit starken Einschränkungen eine Möglichkeit, zusammen mobil zu sein.

Inklusion on Bike

Das Pino von Hase Bikes ist schon ein moderner Klassiker und das beste Beispiel für die erste Kategorie. Das Rad ist ein sogenanntes Stufentandem. Der Sessel vorne thront über dem kleinen Vorderrad, der Hintermann sitzt aufrecht im Sattel und überblickt seinen Passagier. Er hat Steuer- und Bremshoheit. Der Mensch im Vordersitz kann in seinem eigenen Rhythmus mittreten und erlebt dabei großes Kino – sitzt er doch nicht versteckt hinter einem Rücken wie beim normalen Tandem, sondern im bequemen „Kinosessel“ mit Panoramablick. Dieses Rad gibt es in vielen Variationen und es ist vielfach an spezielle Bedürfnisse anpassbar. Bereits Kinder ab einem Meter Größe können hier mitfahren – und tatsächlich auch mitpedalieren.
„Der Reha-Bereich ist breit“, sagt Dario Valenti, Sprecher des Unternehmens Hase Bikes. „Das geht von Menschen mit Behinderungen bis hin zu solchen, die aus verschiedenen (Alters-)Gründen nicht mehr auf dem Normalrad fahren können oder wollen, aber auf das Radfahren nicht verzichten möchten.“
Wichtig ist immer: Mit Mobilität meint man nicht nur den Sonntagsausflug im Park, sondern auch die Alltagsstrecke. Neben dem Pino für zwei, das zusammengeschoben nur wenig größer als ein Normalrad ist und so auch gut transportiert werden kann, ist Hase Bikes auch Hersteller von Dreirädern mit und ohne Unterstützung, unter anderem von Rädern mit Handantrieb.
Bei Handbikes werden die Pedale durch Handkurbeln ersetzt, an denen wie am normalen Lenker die Brems- und Schaltgriffe montiert sind. Übrigens hat auch hier die elektrische Unterstützung Einzug gehalten, sodass diese Handbikes ohne große Anstrengung gefahren werden können.
Auch vielfältige Anpassungen wie spezielle Kurbeln oder Pedale oder sogar eine Schulterlenkung sind für viele verschiedene Räder von Hase verwendbar. Bei den Dreirädern gilt – nicht nur bei Hase: Die Breite ist mit knapp 80 Zentimetern türentauglich.

Kippsicher für den City-Verkehr

Eine weitere Variante des Dreirads ist in den letzten Jahren immer beliebter geworden: Das Tadpole (englisch für Kaulquappe) mit zwei gelenkten Rädern vorne und einem hinten. Es kommt eigentlich aus dem sportlichen Bereich. Der Liegeradhersteller HP Velotechnik hat mit dem Scorpion eine technische Basis, die er mit vielen Details an die Bedürfnisse des Fahrers oder der Fahrerin anpassen kann. Dieses Rad hat nicht nur in seiner tiefen Grundversion, sondern auch mit höherem Komfortsitz dank breiter Spur gute Kippsicherheit. Aber nicht nur Geometriedetails zählen. „Das Thema Motor ist bei uns ein ganz wichtiges Segment geworden“, sagt Alexander Kraft, Pressesprecher des bei Frankfurt sitzenden Unternehmens. „Beim Delta TX stehen vier unterschiedliche Motorvarianten zur Auswahl“, erklärt er. Sogar solche mit Rückwärtsgang gibt es im Sortiment. Für Menschen mit Einschränkungen ist das einfache Rangieren besonders wichtig – schon beim Abholen aus der Parkanlage. Tatsächlich, so Kraft, sei die Tadpole-Variante des Dreirads – zwei Räder vorn – in der City für viele noch ungewohnt. Neben der aufgeräumteren Optik schätzen viele das einfachere Aufsteigen auf Delta-Dreiräder – seitlich auf den Sessel setzen und sich in Fahrtrichtung drehen. Das Bein wird dabei wie nebenher über den Rahmen gehoben. Das Delta TX kommt übrigens serienmäßig mit Motor. Und gerade diese Dreiräder bieten beste Möglichkeiten zum Gepäcktransport – vom großen Korb hinter dem Sitz über verschiedene Transportboxen und Taschen geht die Range bei den Herstellern. „Damit kommt man in der City genauso zurecht wie auf der Radtour über Land“, sagt Kraft. „Sieht man einmal von der falschen Infrastruktur ab, die dem Radfahrer unter anderem zu wenig Breite gewährt.“

Rotes Dreirad: Tadpole (englisch für Kaulquappe)heißt die Bauart des Dreirads mit zwei gelenkten Vorderrädern. Die Variante ist in den letzten Jahren immer beliebter geworden.

Blaues Dreirad: Sogenannte Delta-Trikes sind nicht nur sehr einfach zu handhaben, sie vermitteln mit Federung und hochwertigen Sitzen auch Komfort, wie man ihn vom Auto kennt. Dabei kann man sie bestens an die Alltagspraxis anpassen.

Trikes sind vielfältig einsetzbar. Sie machen beim gemütlichen Dahinrollen durch die Natur genauso Spaß wie im Alltag in der City – vorausgesetzt, die Infrastruktur lässt das zu.

Dreirädrige Hollandräder

Ein Therapierad ist ein sehr individuelles Produkt, sagt Marnix Kwant, Directeur Business Development beim Hersteller Van Raam. „Wir haben kein einziges Rad fertig auf Lager“, so Kwant. Jedes Fahrrad ist eine Individualisierung. Und das ist wichtig. Verkauft wird – wie bei oben genannten Herstellern auch – grundsätzlich nur über einen Händler.
Das Unternehmen aus dem niederländischen Varssefeld ist nach eigenen Angaben Weltmarktführer im Bereich Therapierad. Gemeint sind auch bei Van Raam für das urbane Segment vor allem Dreiräder – elf verschiedene Typen gibt es hier. Dabei gibt es auch die klassischen Variationen von Rädern, die wie Hollandräder wirken, aber zwei Hinterräder besitzen. Wer sich nicht mehr aufs normale Fahrrad traut, Angst vor Stürzen hat und Ähnliches, orientiert sich an solchen Rädern. Das ist oft der klassische Zugang zum Spezialrad. „Das können sich die Kunden und Kundinnen gut vorstellen, zu fahren“, sagt Kwant. Der Unterschied zum gewohnten, normalen Rad ist optisch gering. Beim ersten Ausprobieren aber merken sie oft, dass dieses Dreirad ganz anders funktioniert und in Kurven langsam gefahren werden muss. „Dann erst entdecken viele den Easy Rider, das Sesseldreirad von Van Raam, für sich. Den Komfort, auf einem Sitz mit Lehne zu sitzen und das trotz ungewohnter Optik einfache Handling. Als reines Stadtfahrzeug führt Van Raam das Modell Easy Rider Compact im Sortiment, das maximale Wendigkeit bieten soll. Spezialteile gibt es auch bei den Niederländern für alle möglichen Arten von Bedürfnissen bis hin zur kompletten Steuerung auf einer Lenkerseite oder Schulterlenker für Menschen ohne Arme. In der Produktion setzt Van Raam auch auf moderne Techniken wie Stahl oder Nylon aus dem 3-D-Drucker, um individuelle Spezialteile herzustellen.
„Der Markt in Deutschland für Spezialräder wächst sehr stark“, sagt Kwant. „Immer mehr Menschen fahren Fahrrad, und wenn sie das wegen irgendwelcher Einschränkungen nicht mehr können oder sich nicht mehr trauen, steigen sie mittlerweile immer mehr aufs Spezialrad um.“ Dabei sind die Bedürfnisse vielfältig: Neben Gleichgewichtsproblemen ist es der Wunsch, langsamer fahren zu können oder mehr Komfort auf dem Rad zu haben. „Was ist Behinderung, was nicht? Das ist egal, es geht um Bedürfnisse der Radfahrenden“, so Kwant.

Vom Behelfsrad zum Luxus-Trike

Die Wahrnehmung ändert sich: Wurden Reha- und Therapieräder noch vor wenigen Jahren als „Behindertenräder“ gebrandmarkt, können sie heute oft technisch wie optisch überzeugen. Der Rahmenbau ist teils dem klassischen Fahrrad sogar voraus, Komfort zeigt sich oft schon durch die Möglichkeit vieler ergonomischer Anpassungen oder in der Auswahl von unterschiedlichen Sitzen. Bei den genannten Herstellern gibt es beispielsweise Sessel mit unterschiedlich starker Polsterung, vielfältiger Einstellbarkeit und speziellen Ausstattungsdetails wie verstellbaren Kopfstützen. Unterstützungsmotoren sind fast immer an Bord. Automatische Getriebe sind stark im Vormarsch und Sicherheitsdetails wie Blinker ziehen gerade in das Segment ein. Alles wie geschaffen für eine neue Mobilität für alle – für die die Infrastruktur jetzt deutlich nachziehen sollte.

Herausforderungen für die

Fahrrad-Infrastruktur

Radwege haben in Deutschland heute eine offizielle „lichte Breite“ von mindestens 1,50 Metern – das ist schon zu wenig, wenn ein einspuriges Rad ein anderes überholen soll. Dreiräder brauchen nochmals deutlich mehr Platz. Schon heute sind also, auch durch den hohen Zuwachs an mehrspurigen Lastenrädern, die Radwege deutlich zu schmal. Zusätzliche Probleme, die nicht nur in der City die inklusive Fahrradmobilität weiter einschränken:

Umlaufgitter, wie sie unter anderem oft an Knotenpunkten von gemeinsamen Fuß- und Radwegen mit anderen Wegen platziert sind. Sie sind für Tandems, aber auch für Drei-räder nur sehr schwer oder gar nicht passierbar.

Dasselbe gilt für manchmal zu eng aufgestellte Sperrpfosten (Poller).

Seitlich schiefe Ebenen: Gerade bei straßenbegleitenden Radwegen auf Gehweg-Niveau gibt es oft ein starkes seitliches Gefälle, das dem Radfahrer, vor allem mit Mehrspurer, das Fahren schwierig macht. Letztere kommen hier stark in Schieflage und müssen sich gegen die Schräge stemmen. Für viele Menschen mit Behinderung nicht nur unbequem, sondern gefährlich.

Lichtsignalanlagen mit Anforderungstaster, sogenannte Bettelampeln, sind ein klares Symbol für die Unterordnung des Rad- und Fußverkehrs gegenüber dem Autoverkehr. Schlimmer noch: Ihre Tasten sind oft, und dann gerade für Menschen auf mehrspurigen Rädern, sehr schwierig zu erreichen.

Schon seit dem Zuwachs von Cargobikes im Gespräch: Abstellanlagen für Räder jenseits der klassischen Zweiradmaße. Therapieräder sind oft zu breit und/oder zu lang für die üblichen Maße, mit denen Anlehnbügel aufgestellt sind.

Die Infrastruktur in Bahnhöfen ist schon für Nutzer und Nutzerinnen normaler Fahr-räder ein Daueraufreger. Mit Blick auf Therapieräder multipliziert sich das: Aufzüge zu Bahn- und U-Bahnsteigen sind oft zu schmal für Mehrspurer und zu kurz für große Räder. Auf Bahnsteigen ist man mit dem Rad oft ein Störfaktor, weil Säulen oder andere Hindernisse gerade unter Zeitdruck umschoben werden müssen. Und auch das Schieben ist ein Problempunkt: Manche Menschen mit Einschränkungen können Fahrrad fahren, aber kaum gehen. Sie können, wenn sie nicht auf dem Bahnsteig in Schrittgeschwindigkeit rollen dürfen, keine kombinierte Nutzung von Bahn und Fahrrad realisieren.


Bilder: Hase Bikes, Van Raam, HP Velotechnik, stock.adobe.com – ARochau – Maryana

Ob sie es selbst nutzen oder sich den Straßenraum mit seinen Nutzer*innen teilen, das Fahrrad spielt in der Mobilität blinder und sehbehinderter Menschen eine große Rolle. Zwischen Interessenkonflikten und fehlender Achtsamkeit finden sich auch Lösungsansätze – und jede Menge Handlungsbedarf. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Blinde und sehbehinderte Menschen können in Deutschland leicht übersehen werden. Das liegt zum einen daran, dass es hierzulande keine Kennzeichnungspflicht für Menschen gibt, die blind oder sehbehindert sind. Sie sind also nicht gezwungen, sich als solche nach außen zu präsentieren. Viele tun es trotzdem, erklärt Eberhard Tölke vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV): „Es ist natürlich vorteilhaft, den weißen Langstock zu nutzen. Weitere anerkannte Verkehrsschutzzeichen sind die gelbe Armbinde und das weiße Führhundgeschirr.“ Auch ein gelber Anstecker mit drei schwarzen Punkten ist üblich. Von hinten erkennbar sind diese Menschen damit aber nicht. Wer also nicht gerade den Langstock benutzt oder wessen Armbinde übersehen wird, kann sich nicht auf eine erhöhte Aufmerksamkeit bei den anderen Verkehrsteilnehmerinnen verlassen. Statistisch ist dieser Teil der Bevölkerung schlecht dokumentiert. Wie viele Leute in Deutschland ohne oder mit eingeschränkter Sehfähigkeit leben, ist schlichtweg nicht bekannt. Der DBSV erklärt auf seiner Website, warum er von rund 559.000 blinden und sehbehinderten Menschen als absolutem Mindestwert ausgeht. Diese Zahl stammt aus der Schwerbehindertenstatistik aus dem Jahr 2021 und lässt sich noch in rund 71.000 blinde Menschen sowie 47.000 hochgradig sehbehinderte und 441.000 sehbehinderte Menschen aufschlüsseln. Enthalten sind in der Summe aber nur jene blinden oder sehbehinderten Menschen, die einen Schwerbehindertenausweis haben. Auf einen erheblichen Teil der Sehbehinderten und selbst einige blinde Menschen trifft das nicht zu. Eine Sehbehinderung unterscheidet sich mitunter stark von der nächsten. Die Krankheit Retinitis Pigmentosa verursacht zum Beispiel ein eingeschränktes Sichtfeld. „Menschen mit einem sogenannten Tunnelblick schauen je nach Schwere der Erkrankung nur durch ein stecknadelgroßes Loch. Rein gesetzlich gelten diese Betroffenen aufgrund dieser starken Orientierungseinschränkung durchaus als blind. Der Betroffene läuft mit einem Langstock, er läuft mit einem Blindenführhund, setzt sich in die Straßenbahn, nimmt die Zeitung heraus und liest. Das ist möglich, weil er auf diesem Punkt gegebenenfalls noch 100 Prozent sehen kann. Das ist für den Sehenden nicht vorstellbar, liegt jedoch im Rahmen des Möglichen. Das führt zu Irritationen“, erklärt Tölke. Ziemlich verbreitet ist auch der Graue Star als Erkrankung. Tölke erläutert: „Den Grauen Star kann man sich vorstellen wie Nebel. Es ist alles eingetrübt und es sind keine scharfen Konturen erkennbar.“ Leicht zu übersehen sind mit Grauem Star vor allem feine Hindernisse wie Masten. Das gilt erst recht, wenn diese grau sind. Als Volkskrankheiten gelten unter den Sehbehinderungen weiterhin die altersabhängige Makula-Degeneration und die diabetische Retinopathie. Wer erfahren will, wie eine Sehbehinderung sich auf das Sichtfeld auswirkt, sollte einmal ein Blindenmuseum besuchen, empfiehlt Margot Daris von der Dutch Cycling Embassy. Das Museum in der niederländischen Stadt Nijmegen zeigt, wie verschieden die Sicht sehbehinderter Menschen untereinander ist. Mal ist sie verschwommen, bei anderen fleckenweise eingeschränkt. Das Museum bietet Führungen an, bei denen die Besucherinnen sich selbst temporär ohne Sehfähigkeit orientieren müssen. Für die Zielgruppe der Blinden und Sehbehinderten wurde Margot Daris von irischem Besuch bei der Dutch Cycling Embassy sensibilisiert. Dir irischen Delegierten diskutierten über die räumliche Aufteilung von Bushaltestellen und Fahrradspuren und deren Einfluss auf Menschen mit schlechter Sehfähigkeit. Gebräuchlich ist es in den Niederlanden, den Radweg zwischen Haltestelle und Straße entlanglaufen zu lassen. Der irische Besuch äußerte Bedenken: „Die wollten eine Ampel für die Fahrradfahrer, sodass die Leute in den Bus steigen können. In den Niederlanden ist das nicht üblich, weil wir das Gefühl haben, dass Gehen, Radfahren und auf den Bus warten jeweils auf menschlicher Interaktion basiert“, erzählt Daris. Diese Sichtweise habe ihr die Augen geöffnet und dazu geführt, dass Daris Vorträge zum Thema „Blinde und sehbehinderte Menschen und Radverkehr“ hält. „Besonders wenn man eine Sehbehinderung hat, ist es wichtig, dass man sich noch immer unabhängig fortbewegen kann und nicht abhängig ist von Partnern, der Familie oder Freunden.“

Sehbehinderungen können sehr unterschiedlich wirken. Die Erkrankung Retinitis Pigmentosa verursacht einen Tunnelblick (Mitte), während der Graue Star die Sicht eher vernebelt (unten).

Auch Blinde fahren Fahrrad

In dieser unabhängigen Fortbewegung haben fast alle blinden und sehbehinderten Menschen in ihrem Alltag Berührungspunkte mit Radfahrerinnen und ihrer Infrastruktur. Darüber hinaus fahren einige von ihnen selbst Fahrrad. Das gilt sogar für Personen, die rechtlich als blind gelten. „Ich möchte darauf hinweisen, dass Blinde durchaus Fahrrad fahren, und zwar mit dem Tandem“, erklärt Eberhard Tölke. „Es gibt sogar Vereine wie „die Weiße Speiche“, die das Tandemfahren zum Gegenstand ihrer Vereinigung haben. Diese Leute sind mit ihren Piloten sehr aktiv und unternehmen auch größere Touren.“ Als sportliche Betätigung wird diese Art des Radfahrens von vielen Blinden geschätzt. In der Alltagsmobilität dürften Tandems aber eine geringere Rolle spielen. Richtig empfehlenswert ist das Radfahren für Menschen, auch mit leichteren Sehbehinderungen nicht, findet Gerald Fröde, der sich ebenfalls beim DBSV engagiert. „Da geht es darum, ob ich mir mit einer vorhandenen Sehbeeinträchtigung noch zutraue, aufs Rad zu steigen. Man kennt es ja aus dem Kraftfahrzeugverkehr, dass viele denken, sie sehen noch gut, obwohl es nicht so ist.“ Dennoch fahren viele Menschen mit leichteren Sehbehinderungen im Alltag sehr erfolgreich Fahrrad. Auch schwerwiegendere Sehbehinderungen entstehen meist in einem Prozess, zu dessen Beginn die Betroffenen das Fahrrad noch nutzen können. Fröde hat persönlich eine ausgeprägte Meinung dazu: „Ich bin selbst früher noch tagsüber gefahren. Ich würde es keinem empfehlen, der ernsthafte Probleme hat.“ Wenn jemand einen Unfall baut und später bekannt wird, dass derjenige eine Sehbehinderung hat, ist das ein Problem. Fröde: „Ich habe mir noch 2017 ein neues Rad gekauft und bin es auch gefahren. Aber das war schon eine Grauzone, sich damit im Straßenverkehr zu bewegen. Meine Krankheitsgeschichte geht aber schon 20 Jahre.“ Eberhard Tölke, der selbst quasi nicht mehr sehvermögend ist, ist zuletzt in seiner Jugend Rad gefahren. Beide Herren kennen die Probleme gut, die blinde und sehbehinderte Menschen mit dem Radverkehr haben, ohne selbst auf dem Rad zu sitzen. Schwierig finden sie etwa die gemeinsame Nutzung von Geh- und Radweg, weil man die Radfahrerin-nen, die sich leise von hinten nähren, nicht gut wahrnehmen kann. Vielen Rädern fehle zudem auch eine Klingel. Fahrrädern spontan auszuweichen ist für blinde Menschen selbst dann schwer, wenn sie eine Klingel hören können oder einen Zuruf bekommen. Tölke erzählt von einer Situation, wo eine Radfahrerin, die er nicht wahrnehmen konnte und die ihn zu spät wahrnahm, auf die Fahrbahn einer viel befahrenen Straße ausweichen musste. Die Situation ging glimpflich aus, blieb ihm aber doch im Gedächtnis. „Ich kann mich nur auf etwas einstellen, wenn ich es wahrnehme“, sagt er. Die Situation zeigt, dass nicht nur blinde und sehbehinderte Personen selbst von den schwierigen Interaktionen gefährdet sind.
Das Problem ist noch größer bei Elektrofahrzeugen und E-Bikes, aufgrund der gestiegenen Geschwindigkeit. „Da ist der Sehbehinderte das schwächere Glied in der Kette“, erläutert Fröde. „Man müsste eigentlich von jedem Verkehrsteilnehmer erwarten können, dass jeder sich in dem ihm zugewiesenen Bereich aufaufhält.“

Kritische Stellen im Gehwegbereich sind mit Bodenindikatoren markiert. Manchmal mangelt es an Bewusstsein dafür, dass diese frei bleiben müssen.

Gehweg und Bodenindikatoren freihalten

Probleme gibt es auch durch im Gehbereich abgestellte Fahrräder. Radfahrbügel seien deshalb unbedingt in den Nebenbereichen anzuordnen. „Der Gehbereich ist unser Heiligtum. Den hätten wir gerne frei“, sagt Fröde. Der Langstock, mit dem viele Blinde den Gehweg fühlen, kann sich auch in den Speichen am Rand abgestellter Räder verfangen, wodurch die Räder im besten Fall zu einem Ärgernis, im schlimmsten zur Stolperfalle werden. E-Scooter sind für die Blinden in den letzten Jahren zur zusätzlichen Herausforderung geworden. Eberhard Tölke: „Die stehen kreuz und quer und können natürlich nicht rechtzeitig und sicher erkannt werden. Wir fordern deswegen, dass wirklich Abstellflächen geschaffen werden, wo diese E-Roller positioniert werden.“
Die besonders kritischen Stellen im Gehwegbereich sind mit flächigen Bodenindikatoren nach der Norm DIN 32984 ausgestattet. Diese Leitstreifen, so weiß auch Margot Daris, werden von vielen Menschen wenig beachtet und sind oft zugestellt. Das Blindenmuseum in Nijmegen hat die Leitstreifen vorm Museumseingang so bemalen lassen, dass diese wie eine Brücke über einen Teich aussehen. „Ich denke, es sollte ein größeres Bewusstsein dafür geben. Mehr Schilder helfen nicht unbedingt. Das Ganze entspricht einer größeren gesellschaftlichen Fragestellung. Wir müssen mehr achtgeben aufeinander“, meint die Niederländerin.
Den Fußweg verstehen Blinde und Sehbehinderte nicht nur dort, wo es Leitstreifen gibt, als ein System mit einer inneren Leitlinie und dem Kant- oder Bordstein als äußerer Leitlinie. Kleinpflaster umsäumt den häufig glatten Gehwegbereich und macht diesen taktil erfahrbar. Die Grenze des Weges lässt sich so mit dem Langstock oder mit den Füßen erfühlen.

„Wenn wir öffentliche Räume gestalten, müssen wir berücksichtigen, dass wir sie für alle Menschen nutzbar machen wollen und nicht bloß für körperlich Leistungsfähige zwischen 15 und 45 Jahren.“

Margot Daris, Dutch Cycling Embassy

Schwer vereinbare Interessen

Der Gehweg und der Bordstein sind also wichtige Orientierungshilfen für jene, die wenig bis gar nichts sehen. Hier unterscheiden sich die Bedürfnisse dieser Gruppe mitunter von denen anderer Behindertengruppen. Rollstuhlfahrer*innen würden von abgesenkten Bordsteinen profitieren. Das ist nicht der einzige Interessenkonflikt, mit dem blinde und sehbehinderte Menschen zu kämpfen haben.
Gerald Fröde verweist auf Pro-bleme mit moderner Fahrradinfrastruktur, etwa Radschnellverbindungen: „Die Bestrebungen, die auch ampellos zu machen und freie Fahrt zu gewähren, sehen wir durchaus kritisch. Am Ende des Tages gibt es gar keine Möglichkeit mehr für Blinde und natürlich auch für andere, gefahrlos über den Radweg rüberzukommen.“ Nicht nur Radschnellverbindungen erschweren die Alltagsmobilität. Das Queren von breiten Radwegen bringt seine eigenen Herausforderungen mit sich, gerade wenn diese nicht in die Ampelschaltung eingegliedert sind. „Das akustische Orientierungssignal hat eine vorgegebene Reichweite von vier bis fünf Metern. Wenn ich neben der Fahrbahn eine Wartefläche mit Lichtsignalanlage habe und dann einen seitlich abgesetzten Radweg, dann ist die Entfernung so groß, dass die Akustik auf dem Gehweg nicht mehr ankommt“, erklärt Tölke. Auch zusätzliche Fußgängerüberwege, die man über die Radwege führen könnte, helfen nur bedingt. „Ich kann zwar mithilfe der Bodenindikatoren die Querungsstelle finden, aber weiß nicht, ob ein Radfahrer kommt. Ich bin auf das Verhalten des Radfahrers angewiesen, dass ich heile da rüber komme.“ Auf die gegenseitige Rücksichtnahme könne er sich leider nicht immer verlassen, weiß Tölke.
Die ideale Lösung für die Blinden und Sehbehinderten wäre, den Radweg wieder an den Fahrbahnrand zu versetzen und ihn in die Lichtsignalanlage einzugliedern. Dass die Situation kompliziert ist, sieht Gerald Fröde natürlich auch: „Das ist verkehrsplanungstechnisch sehr diffizil. Da wird sich zurückgehalten, auch vonseiten derer, die diese Sache fachlich begleiten.“ Er wünscht sich, dass die eigenen Bedürfnisse differenzierter wahrgenommen werden. Zu einem Modellprojekt für eine geschützte Kreuzung nach niederländischem Vorbild hat der DBSV sich positioniert und einen Shitstorm kassiert. Fröde mahnt: „Zum Teil gibt es Stimmen aus den Landesverbänden, die sagen: „Früher haben wir gegen das Auto angekämpft und jetzt eigentlich gegen das Fahrrad.“

Kontrastreiche Farben helfen

Nicht alle stadtgestalterischen Schritte ziehen einen Interessenkonflikt nach sich. Margot Daris erklärt, warum in den Niederlanden fast alle Radwege rot markiert sind: „Das ist sehr hilfreich, wenn man eine Sehbehinderung hat, weil man einschätzen kann, wo man sich im Straßenraum bewegt und ob man auf der richtigen Spur ist.“ Auch Verkehrsteil-nehmer*innen ohne Sehbehinderung profitieren von gut sichtbaren Radwegen.
Für jene mit Sehbehinderung spielt die Farbgebung im öffentlichen Raum eine große Rolle. Die sogenannte Michelson-Formel hilft, den Mindestkontrast zu bestimmen, mit dem Markierungen und Gegenstände gut zu erkennen sind. Blumentöpfe, Baustellen oder Bänke sollten nicht dieselbe Farbe wie der Gehweg haben. Bodenindikatoren sind üblicherweise in Weiß, Markierungen von Stufen in Gelb und Weiß gehalten. Auch Rot gilt als Signalfarbe. Markierungen müssen flächig genug sein, sodass diese auch mit einem verschwommenen Sichtfeld wahrnehmbar sind.
Besonders wichtig sind kontrastreiche Farbunterschiede in der Dunkelheit. „In der dunkeln Jahreszeit sind alle Katzen grau“, scherzt Gerald Fröde. Ein grauer Mast kann dann schnell zum Unfallrisiko werden. Menschen, die schlecht sehen, sind mitunter überfordert, wenn es zu einem abrupten Licht-Dunkel-Wechsel kommt. Eine durchgängig gute Beleuchtung der Rad- und Fußwege ist für diese Personen unabdingbar. In den Niederlanden werden Unterführungen stets mit mittigen Lichtdurchlässen geplant. Das hilft, einen starken Licht-Dunkel-Wechsel zu vermeiden, und trägt zur sozialen Sicherheit bei.

„Alles, was bald mobil auf dem Gehweg ist, muss eigentlich für Blinde hörbar gemacht werden.“

Marc Rummeny, RTB

Ampeln können Nutzer*innen der App Loc.ID detektieren und ihr akustisches Signal lauter stellen. Die App soll zu einem Ökosystem für Blinde werden und ihnen den Alltag erleichtern.

Sprechende Infrastruktur

Lösungsansätze für ihre Probleme erhalten die Blinden und Sehbehinderten aus der Wirtschaft, etwa vom Unternehmen RTB. Die Firma stellt seit über 30 Jahren akustische Signalgeber und Taster für Ampeln her und hat rund um die Anwendung Loc.ID ein Netzwerk mit anderen Unternehmen gegründet. Sie allesamt wollen es blinden Menschen erleichtern, sich im öffentlichen Raum zurechtzufinden. Loc.ID ist eine App, die auf dem Smartphone im Hintergrund laufen kann und die via Bluetooth mit öffentlicher Infrastruktur, im Falle RTBs mit den Ampeln, kommuniziert. Marc Rummeny, Geschäftsführer von RTB erklärt: „Ich habe das Handy in der Hosentasche, Brust- oder Jackentasche, laufe durch die Gegend und werde im Bereich von etwa 15 Metern Entfernung von dem akustischen Signalgeber der Ampel detektiert. Dann hebt die Akustik die Lautstärke an. Wenn ich den Bereich verlasse, wird sie wieder leiser.“
Ampeln sind nur ein Anwendungsfeld von Loc.ID. Wenn es nach RTB geht, kann die Anwendung zukünftig mit diversen Infrastrukturelementen kommunizieren. Außerdem kooperiert RTB mit dem E-Scooter-Anbieter Bolt. Der hat Loc.ID bereits in rund 25.000 E-Scootern installiert. Auch mit anderen E-Scooter-Herstellern führt RTB Gespräche. Lastenräder hat Rummeny für die Anwendung ebenfalls im Visier und geht auf die Fahrradindustrie zu, etwa als Aussteller auf Konferenzen. Zudem finden aktuell Gespräche mit Herstellern von Lieferrobotern statt. „Alles, was bald mobil auf dem Gehweg ist, muss eigentlich für Blinde hörbar gemacht werden.“ Viele Alltagssituationen, so die Vision, sollen so inklusiver für blinde und sehbehinderte Menschen werden.
Beispiele wie diese zeigen, dass es durchaus Lösungsansätze gibt. Die Frage, wie öffentlicher Raum aufzuteilen und zu nutzen ist, gilt es gerade bezüglich der Interessenkonflikte aber noch differenziert auszuhandeln. Eberhard Tölke mahnt davor, was passiert, wenn vor allem ältere Menschen, die einen Großteil der vulnerablen Gruppe stellen, nicht mehr mobil sind. „In der Folge produzieren wir unsere eigenen Pflegefälle.“ Inklusion ist zum einen eine Frage des Aufeinander-Achtgebens. Zum anderen ist sie auch eine Gestaltungsaufgabe für den urbanen Raum. Margot Daris fasst fordernd zusammen: „Wenn wir öffentliche Räume gestalten, müssen wir berücksichtigen, dass wir sie für alle Menschen nutzbar machen wollen und nicht bloß für körperlich Leistungsfähige zwischen 15 und 45 Jahren.“


Bilder: stock.adobe.com – MarkRademaker, Andreas Friese, stock.adobe.com – elypse, RTB

Radfahren gehört in Deutschland zur Alltagskultur. Sportvereine und viele Ehrenamtliche bieten bundesweit Radfahrkurse für Frauen an. Damit helfen sie Frauen aus anderen Kulturkreisen beim Ankommen. Sie werden physisch mobiler, aber auch psychisch. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Bevor es in den Straßenverkehr geht, trainieren die Frauen verschiedene Manöver auf dem Marktplatz im Stadtteil. In den Pausen geht es immer wieder um die Verkehrsregeln. Die Broschüren hat der Landessportbund in verschiedene Sprachen übersetzt.

Canan Şen hat beim Sportverein Radfahren gelernt.
Inzwischen gibt sie dort selbst Fahrradkurse.

Da stand es, ein rotes Tourenrad mit sieben Gängen und Korb. Es war ein Geschenk, eine Überraschung von ihrem Mann. Aber Canan Şen hatte auch eine Überraschung parat. „Ich kann nicht Rad fahren“, erklärte sie ihm. Als Kind hatte sie es in ihrer Heimatstadt Istanbul nie gelernt. Ihrem Mann, einem gebürtigen Oldenburger, war sie erst drei Jahre zuvor in die Fahrradstadt gefolgt. Jetzt wollte die Buchhalterin endlich Radfahren lernen, mit Anfang 40. Ein Jahr musste sie auf einen Platz im Fahrradkurs warten. Aber das Warten hat sich gelohnt. Inzwischen ist Canan Şen Übungsleiterin und unterstützt andere Frauen dabei, Radfahren zu lernen.
Ihren Kurs hat Canan Şen beim TUS Bloherfelde im Westen Oldenburgs gemacht. Es ist einer von vielen Sportvereinen, die über den Landessportbund Niedersachsen (LSB) Fahrradkurse für Migrantinnen, Geflüchtete und sozial Benachteiligte anbieten. Ihr Motto ist: „Radfahren vereint“. 2016 startete der Landessportbund die Kurse. Damals waren über eine halbe Million Menschen vor dem Krieg in Syrien nach Deutschland geflohen. Viele saßen in den Unterkünften fest, fernab der Zentren und ohne Bus- und Bahnverbindung. Um ihnen das Ankommen zu erleichtern und Behördengänge überhaupt möglich zu machen, organisierten Privatleute vielerorts gebrauchte Fahrräder und brachten sie in die Unterkünfte. Schnell weitete sich ihr Engagement aus. Sie sammelten Spendenräder, organisierten Fahrradreparatur-Workshops und unzählige Fahrradkurse für Frauen.
Viele der Ehrenamtlichen wollten damals eigentlich nur kurz helfen, aus einem Impuls heraus. Aber der Bedarf an Rädern und Fahrradkursen für Frauen reißt seitdem nicht ab. Einige Konzepte wurden erst zu Projekten und dann zu Vereinen wie beispielsweise „Bike Bridge“ aus Freiburg und „Westwind“ aus Hamburg oder „Radfahren vereint“ in Niedersachsen. In kleinen Teams machen bezahlte und ehrenamtliche Übungsleiterinnen die Frauen seitdem mobil. Dabei ist ihr Angebot weitaus mehr als der Zugang zu einer eigenständigen Mobilität. Das Radfahren öffnet ihnen die Tür zu einer neuen Gemeinschaft. Durchs Radfahren werden sie Teil der Gesellschaft.
„Oldenburg ist eine Fahrradstadt, hier fahren alle Fahrrad, Alt und Jung“, sagt Canan Şen. Seit sie Rad fahren kann, fühlt sie sich als Teil dieser Gemeinschaft. Sie fährt damit zu Freunden, zum Einkaufen, in die Wälder und Wiesen rund um Oldenburg und zu ihrer Arbeit im Sportverein. Dort leitet sie seit 2021 das Kinderturnen und wenn es wieder wärmer wird, mit weiteren Übungsleiterinnen wie Susanne Möller auch wieder die Fahrradkurse für Frauen.
Canan Şen ist in ihrem Sportverein kein Einzelfall. Wenn die Frauen erst mal Rad fahren können, wollen sie mehr: Schwimmen lernen, Sport treiben. „Das Radfahren stärkt ihr Selbstbewusstsein“, sagt Übungsleiterin Susanne Möller vom TUS Bloherfelde. In ihrem Kurs hat Canan Şen Radfahren gelernt. Als sie ihr in einer Kurspause erzählte, wie sehr sie Kinder mag, bot Susanne Möller der lebendigen und humorvollen Frau an, das Kinderturnen zu übernehmen. Die gelernte Buchhalterin machte eine Fortbildung und leitet inzwischen drei Kurse pro Woche.
Für den TUS Bloherfelde sind Canan Şen und ihre Kollegin Ayşe Karaman ein Glücksgriff. Die beiden Frauen sind Vorbilder. „Sie vermitteln den Teilnehmerinnen das Vertrauen und die Zuversicht: Was sie schaffen, kann ich auch schaffen“, sagt Susanne Möller. Ihr Erfolg motiviert die anderen.
Das hilft den Frauen durchzuhalten. Für sie ist es anstrengend, Radfahren zu lernen. Der Bewegungsablauf ist ungewohnt und muss für die Erwachsenen gut vorbereitet werden. Deshalb starten die Übungsleiterinnen zunächst mit Gleichgewichtsübungen in der Sporthalle an Geräten. Sobald das klappt, wechseln sie auf Erwachsenenroller und spätestens am dritten Übungstag aufs Rad. Zweimal pro Woche trainieren sie. Nach fünf Wochen können die Frauen Rad fahren.

Der Anfang ist schwer: Damit die Frauen sich sicher fühlen, haben die Fahrräder einen extrem tiefen Einstieg. Der Sattel wird tief gestellt, dass die Frauen mit ihren Fußspitzen den Boden berühren.

Bevor es aufs Rad geht, trainieren die Teilnehmerinnen ihre Balance. Die Bewegungen beim Radfahren sind für viele von ihnen neu. Die Übungen geben ihnen Sicherheit.

Fahrradkurse bringen neue Vereinsmitglieder

Die Fahrradkurse verändern auch das Vereinsleben. „Wir erreichen plötzlich eine ganz andere Zielgruppe“, sagt Susanne Möller. Die typischen Mitglieder von Sportvereinen kommen traditionell aus der Mittelschicht. Über die Fahrradkurse lernen die Teilnehmerinnen Canan Şen kennen. Sie vertrauen ihr und bringen ihre Kinder zum Turnen. Inzwischen hat die Geschäftsführung Sportkurse für Frauen so arrangiert, dass in der Zeit keine Männer in den Hallen sind. Das macht die Kurse auch für Frauen muslimischen Glaubens attraktiv und sie beginnen Sport zu treiben.
Im Stadtteil Bloherfelde arbeitet der TUS eng mit der städtischen Gemeinwesenarbeit (GWA) zusammen. Das ist eine soziale Einrichtung, die in vier Nachbarschaftshäusern stadtweit unter anderem Deutschkurse anbietet. Den Teilnehmerinnen wird automatisch ein Fahrradkurs angeboten. Finanziert werden sie vom Landessportbund (LSB). Der bezuschusst auch die Grundausstattung, also die Fahrradflotte und die Tretroller für die Erwachsenen. Die GWA steuert weitere Fahrzeuge bei und hält die Flotte instand. 46 Fahrradkurse für Frauen hat der LSB Niedersachsen 2023 organisiert und landesweit rund 400 Frauen aufs Rad gebracht.

„Sie vermitteln Teilnehmerinnen das Vertrauen und die Zuversicht: Was sie schaffen, kann ich auch schaffen.“

Susanne Möller, TUS Bloherfelde

Freiburg: Begegnung und Bewegung anbieten

Von diesen Rahmenbedingungen konnte Shahrzad Enderle in den Jahren 2015 und 2016 nur träumen. Sie ist eine der drei Gründungsmitglieder von Bike Bridge, einem Verein in Freiburg, der ebenfalls seit 2016 Fahrradkurse für Frauen anbietet. Für die drei Gründerinnen ist das Fahrrad Mittel zum Zweck; es macht die Frauen mobil, bringt sie in Bewegung und ermöglicht Begegnungen mit der lokalen Bevölkerung. Mittlerweile finanzieren Sponsoren und Partner die verschiedenen Bike-Bridge-Angebote. Aber als Shahrzad Enderle 2015 zum ersten Mal eine Unterkunft für Schutzsuchende besuchte, stand sie allein auf dem Hof und hatte eigentlich nur eins mitgebracht: jede Menge Zeit.
Damals war sie noch Doktorandin im Bereich Sportsoziologie. Als sie das Fußballprojekt für Kinder in der Unterkunft besuchte, tobten die Kleinen zwischen den Männern übers Gelände. Frauen sah sie dort keine. Ein Mann aus Afghanistan berichtete ihr, dass seine Frau ihr Zimmer nur selten verlasse, so wie viele andere Frauen. „Viele waren einsam und deprimiert“, erinnert sich Shahrzad Enderle. Die Doktorandin besuchte sie und fand in unzähligen Gesprächen heraus, dass die Frauen sich vor allem eines wünschten: Sie wollten Fahrradfahren lernen. Mit zwei Kommilitoninnen vom Sportinstitut organisierte sie für sie einen Kursus. „Eigentlich war das als einmalige Aktion geplant“, sagt sie. Aber am letzten Tag überreichten die Absolventinnen dem Dreierteam eine lange Liste mit Namen von Frauen, die ebenfalls Radfahren lernen wollten.

Was brauchen Migrantinnen?

Die drei waren gut vorbereitet. In den zurückliegenden Wochen hatten sie ein Konzept entwickelt, wie es weitergehen sollte. Dazu gehörten Kurse für Anfängerinnen und Fortgeschrittene, Radtouren zu zweit oder in Gruppen, Fahrradreparatur-Workshops und vieles mehr. Ihr Konzept hatte auch schon einen Namen: Bike Bridge. Die Idee dahinter war, Bewegung und Begegnung stets zu verbinden. Die Frauen sollten ihre neu gewonnenen Fähigkeiten festigen, weitere erwerben und einander gleichzeitig besser kennenlernen und weitere Kontakte knüpfen. Das hatten sich die Teilnehmerinnen und die Trainerinnen gewünscht.
Die neue Fähigkeit, die Freiheit, im Alltag selbstständig mobil zu sein, hat in Freiburg das Leben vieler geflüchteter Frauen verändert. „Sie haben Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit durchs Radfahren gewonnen“, sagt Shahrzad Enderle. Eine ihrer Teilnehmerinnen habe sich lange nicht getraut, sich zu einem Deutschkurs anzumelden. Als sie jedoch Radfahren konnte, meldete sie sich an. Eine weitere ehemalige Teilnehmerin lebt mittlerweile außerhalb Freiburgs in einem kleinen Dorf. Sie bringt ihre Tochter dort täglich mit dem Rad zur Kita und fährt anschließend direkt weiter zur Arbeit. Ohne Fahrrad sei das unmöglich, weil zu der Zeit keine Busse fahren, sagt Shahrzad Enderle und fügt hinzu: „Das Radfahren ebnet der Frau den Weg in die Arbeitswelt.“

Sharing-Mobility erklären

Shahrzad Enderle kann Dutzende dieser Geschichten erzählen. Aber weiterhin gibt es viele Hürden im Fahrradalltag ihrer Zielgruppe. Dazu gehört auch das Bike-Sharing-Angebote in Freiburg. „Unsere Teilnehmenden kennen die Räder von Nextbike by Tier. Aber sie haben sich nie getraut, das System auszuprobieren“, sagt Shahrzad Enderle. Um das zu ändern, hat Bike Bridge den Workshop „Cycling Mobility“ entwickelt, für Männer und Frauen.
Die erste Herausforderung ist die Sprache. Damit alle Teilnehmerinnen jeden Schritt der Ausleihe verstehen, hat das Team die Anweisungen in verschiedene Sprachen übersetzt und in Abstimmung mit dem Sharing-Anbieter in einer Infobroschüre zusammengefasst. In dem Workshop wird zunächst die App erklärt, dann testen sie gemeinsam die Ausleihe und die Rückgabe der Räder. „Sharing-Angebote sind günstig und praktisch und deshalb für unsere Zielgruppe interessant“, sagt Shahrzad Enderle. Das gilt auch für die vielen freien Lastenräder in der Region. Für viele Workshop-Teil-nehmerinnen sind sie interessant, schließlich können sie damit im Alltag ein Auto ersetzen.
Viele der Angebote wie den neuen Workshop kann das Bike-Bridge- Team umsetzen, weil Privatleute, Sponsoren und Partner den Verein finanziell, aber auch mit Sachspenden unterstützen. Inzwischen gibt es Bike Bridge in den acht Städten Freiburg, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg, Köln, München, Leipzig und Berlin.

„Die brauchen Fahrräder, machen wir mal ein paar fertig.“

Christian Großeholz, Westwind

Zwei Nachmittage pro Woche sind die Freiwilligen in der Werkstatt. 500 Räder setzen sie hier jedes Jahr wieder in Gang. Darunter unzählige Kinderräder.

Hamburg: bezahlbare Räder für alle

Mit ihrer Arbeit erleichtern Bike Bridge und der TUS Bloherfelde neuen Mitbürgerinnen und Mitbürgern das Ankommen und verhelfen ihnen zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe. Die Initiative „Westwind“ im Norden von Hamburg macht das auch. Allerdings ist für das Team um Christian Großeholz, einer der Westwind Gründer, allein die Finanzierung der Miete ihrer Lagerhalle jedes Jahr eine Zitterpartie. 42.000 Euro müssen sie dafür über Spenden zusammenkratzen. Für ihn ist es jedes Jahr aufs Neue ein Kraftaufwand. Großeholz ist kein Zahlenmensch, er ist Praktiker, Fahrradmechaniker. Als 2015 die ersten Kriegsflüchtlinge aus Syrien in abgelegenen Lagerhallen in Hamburgs Norden untergebracht wurden, sagte er zu seiner Freundin: „Die sitzen da fest. Die brauchen Fahrräder, machen wir mal ein paar fertig.“
Daraus ist Westwind entstanden. Eine Initiative, die Fahrradkurse für Frauen anbietet, Radtouren für jugendliche Migrant*innen organisiert, mit ihrer mobilen Fahrradreparatur-Werkstatt in Flüchtlingsunterkünften Räder repariert und einkommensschwachen Familien jeglicher Herkunft zu verkehrstüchtigen Fahrrädern verhilft.
„2015 dachten wir, wir machen 20 Räder für eine Unterkunft fertig und das war‘s“, sagt Großeholz. Aber er irrte sich. Der Bedarf riss nicht ab, also machte er auch weiter. Mit rund einem Dutzend ehrenamtlicher Helfer arbeitet er mittlerweile an zwei Nachmittagen in der Woche gebrauchte gespendete Räder auf. An diesem Nachmittag steht er in der Lagerhalle im Hamburger Norden zwischen Hunderten Kinder- und Erwachsenenrädern. Etwa die Hälfte von ihnen ist bereits fahrbereit. Das Westwind-Team hat die Naben- und Kettenschaltungen sorgsam auseinandergenommen und wieder zum Laufen gebracht, Bremsen erneuert, Nabendynamos eingebaut, Sättel getauscht, Klingeln angeschraubt und vieles mehr. Die Zeit drängt. Der erste Samstag im März ist der erste von fünf Verkaufstagen für Westwind in diesem Jahr. Allein an dem Tag sollen etwa 100 Fahrräder einen neuen Besitzer bekommen.

Fahrradkauf wird zum Erlebnis

Der Verkaufstag bei Westwind ist jedes Mal etwas Besonderes. „Wir wollen den Käufern ein normales Einkaufserlebnis bieten“, sagt Großeholz. Deshalb wird vorher in der Halle Platz gemacht, aufgeräumt und die Lastwagen von den Nachbarn vom Hof gefahren. „Wir reihen die Räder dann auf wie in einem Showroom“, sagt Großeholz. Dann folgen Verkaufsgespräche wie in jedem Fahrradladen: Wofür ist das Rad gedacht? Wird es nur in der Stadt gefahren oder auch im Gelände? Und so weiter.
Wie groß der Bedarf an günstigen Rädern in Hamburg ist, zeigt die Warteschlange. Wenn wir um zehn Uhr zur Halle kommen, stehen dort manchmal bereits 20 Leute und warten“, sagt Großeholz. Dabei beginnt der Verkauf erst eine Stunde später, um 11 Uhr. Sobald einer aus dem Westwind-Team dann das Rolltor hochschiebt, sind sie alle für die kommenden drei Stunden im Dauereinsatz. Sie führen Räder vor, stellen Sattelhöhen ein und lassen Kinder und Erwachsene Probe fahren. Für sie ist es jedes Mal bewegend, wenn die Kinder stolz ihr neues Rad vom Hof schieben oder Erwachsene plötzlich die Leichtigkeit des Radfahrens entdecken, wie kürzlich eine 20-jährige Kurdin mit Downsyndrom. Sie hat bei Westwind ein Dreirad gekauft. „Die junge Frau saß bei uns zum ersten Mal in ihrem Leben auf einem Fahrrad“, sagt Großeholz. Nach ihren ersten Metern auf dem Hof strahlte sie. Es sind diese Erlebnisse, die das ganze Team antreiben, weiterzumachen.
Auch wenn die Räder gespendet wurden, kostenlos sind sie nicht. „Die Kunden müssen eine Sozialgebühr bezahlen“, sagt der Fahrradexperte. Die Kinderräder kosten 15 Euro, Jugendräder 30 Euro und ein Erwachsenenrad 50 Euro. Westwind deckt damit gerade so die Kosten, die ihnen beim Aufarbeiten entstehen. Mehr nehmen wollen sie nicht. „Für einige unserer Kunden sind 50 Euro richtig viel Geld“, sagt Großeholz.
Dafür bekommen sie aber auch etwas: ein Stück Freiheit. „In Hamburg kommen Jugendliche und Erwachsene mit dem Rad überall hin“, sagt der Fahrradmechaniker. Sie brauchten kein Auto, keinen Bus und keine Bahn. Außerdem werden sie mit dem Fahrrad einer von vielen. Radfahren sei in Hamburg Alltagskultur. Mit ihrer Arbeit macht Westwind seine Kunden zum Teil dieser Bewegung. Sie gehören dazu. Egal wo sie herkommen.


Bilder: TUS Bloherfelde, Andrea Reidl

Sie haben das Zeug dazu, Autofahrten zu ersetzen. Aber in Deutschland sind S-Pedelecs für die Bundesstraße zu langsam und für den Radweg zu schnell. Nun testen erste Kommunen, wie sie die Räder in den Alltagsverkehr besser integrieren können. Das Ausland ist da schon weiter. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Mit Tempo 70 und schneller ziehen die Autos auf der Bundesstraße an Anja Herz vorbei. Sie schneiden die Radfahrerin, hupen anhaltend und zeigen wild gestikulierend auf den parallel verlaufenden Radweg. Der ist leer, Anja Herz würde gerne auf ihn ausweichen. Aber das verbietet die Rechtslage, denn Anja Herz fährt ein schnelles Pedelec.
Die schnellen Pedelecs, auch Speed-Pedelec oder S-Pedelec genannt, gelten als Kleinkraftrad, weil sie bis zu 45 Kilometer pro Stunde schnell fahren können. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis sind ihre Fahrerinnen und Fahrer eher mit 30 bis 35 Kilometern pro Stunde unterwegs. Trotzdem gelten für sie die gleichen Regeln wie für Autos: Gefahren werden darf nur auf der Fahrbahn.
In Belgien, der Schweiz oder Dänemark ist es umgekehrt. Dort müssen die schnellen Räder zwingend die Radwege nutzen – auch in den Zentren. Ob diese Regelung sinnvoller ist, bezweifeln viele Radverkehrs-expertinnen. Aber auch sie finden: Die Rechtslage in Deutschland sollte angepasst werden. Umfragen und erste Studien zeigen: S-Pedelecs können Autofahrten ersetzen, wenn ihre Nutzerinnen sicher unterwegs sind. Das 2023 gegründete Bündnis „Allianz Zukunft S-Pedelecs“ will dafür die Rahmenbedingungen schaffen. Seit vergangenem Jahr initiieren seine Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verbänden Studien und organisieren regelmäßige Diskussionsrunden mit Experten. Der Blick in die Nachbarländer zeigt, wie Lösungen aussehen könnten. Aber nicht nur jenseits der Grenzen gibt es Vorbilder, auch in Deutschland gibt es erste Versuche, die Nutzung von S-Pedelecs zu liberalisieren.
Die Unistadt Tübingen in Baden-Württemberg gehört dabei zu den Vorreitern. Dort gibt es seit 2019 das erste und bislang einzige S-Pedelec-Netz bundesweit. Auf einer Strecke von rund 80 Kilometer verbindet es sämtliche Ortsteile mit der Kernstadt. Die Idee für die Planung kam aus der Stadtregierung. „Einige Gemeinderäte und der Oberbürgermeister, Boris Palmer, waren damals bereits mit herkömmlichen, aber auch mit schnellen Pedelecs unterwegs“, sagt Daniel Hammer, Verkehrsplaner und zuständig für den Radverkehr in Tübingen. Die baden-württembergische Landesregierung unterstützte das Vorhaben und führte das Zusatzzeichen „S-Pedelec frei“ ein.
Damit begann die Netzplanung. Der Grundsatz war: Das Fahren mit S-Pedelecs im Stadtgebiet muss einfach und intuitiv sein. „Wir haben keine festen Standards definiert“, sagt Hammer. Stattdessen haben sie vor Ort entschieden, auf welcher In-frastruktur die schnellen Rad-fahrerinnen sicher unterwegs sind. Das können Radwege sein, Radfahrstreifen, Fahrradstraßen, verkehrsberuhigte Zonen und Wirtschaftswege. Der Aufwand war groß. Jeder Teil der Route wurde begutachtet. Insbesondere für kritische Stellen mussten sie Lösungen finden. Dazu gehört beispielsweise eine Unterführung im Zentrum. „10.000 Radfahrende sind dort täglich unterwegs und ebenso viele Fußgänger“, sagt Hammer. Die Unterführung ist sechs Meter breit und hat einen getrennten Fuß- und Radweg. Um die schnellen S-Pedelecs zu bremsen, haben sie dort ein Tempolimit von 20 Kilometern pro Stunde für alle Fahrräder eingeführt. Eine spätere Geschwindigkeitsmessung zeigte, dass Rennräder und Pedelecs dort bergab mit 30 bis 35 Kilometern pro Stunde unterwegs sind – ohne andere zu gefährden. Bislang funktioniert das Miteinander der schnellen und langsamen Radfahrerinnen und Radfahrer recht gut. Laut Hammer gab es weder mehr Unfälle noch sonstige Beschwerden. „Wenn sich das ändert, passen wir die Infrastruktur an“, sagt er. Momentan ist das Tübinger Modell nur eine Insellösung. Spätestens am Ortsschild der Nachbarstädte wie Reutlingen oder Rottenburg endet für die schnellen Pendlerinnen das entspannte Fahren. Der Radverkehrsplaner bedauert, „dass S-Pedelecs generell auf die Straße müssen, auch wenn Tempo 100 gilt“. Das schrecke potenzielle Umsteiger ab. Er plädiert für ein landkreisweites S-Pedelec-Netz auf geeigneten Wegen.

Mit maximal 30 Kilometern pro Stunde dürfen die Radfahrer durch den Tunnel fahren. In den Niederlanden sind Tempolimits auf vielen Radwegen üblich. In Deutschland ist Tübingen damit Vorreiter.

Speed-Pedelecs sind mit einer Tretunterstützung bis 45 km/h und einer Motorleistung bis zu 4 kW rechtlich betrachtet kene Fahrräder, sondern Kleinkrafträder der Klasse L1e. Damit sind bisher nicht nur Radwege tabu, sondern auch Feld- und Waldwege, die mit Verbotschildern für Motorfahrzeuge gekennzeichnet sind.

S-Pedelec-Netze für Landkreise

Diese Idee ist besonders für Radregionen interessant, wie etwa den Bodensee. Viele Berufstätige fahren dort täglich 20 oder auch 30 Kilometer zur Arbeit. Von Singen und Radolfzell etwa nach Konstanz oder auch in die Schweiz. „Das ist eine ideale Distanz für S-Pedelecs“, sagt der Radverkehrsplaner der Stadt Kon-stanz, Georg Gaffga. Bislang müssen die schnellen Radfahrerinnen an einigen Stellen die Bundesstraße nutzen. Die wird gerade auf vier Fahrspuren ausgebaut und führt zudem durch einen Tunnel. „Selbst für versierte Radfahrende kommt ein Fahren dort nicht infrage“, sagt Gaffga. Für diese Streckenabschnitte braucht es Ausweichrouten. Mit seinen Kolleginnen plant Gaffga seit vergangenem Jahr das neue Radwegenetz der Stadt. Die S-Pedelecs haben sie dabei stets im Blick. „Wir suchen auf den Hauptachsen ins Umland die Lücken im Netz“, sagt Gaffga. Wo das Fahren auf den Straßen für die schnellen Radfahrer zu gefährlich ist, sollen sie auf Radwege neben der Fahrbahn ausweichen können. Vorausgesetzt, sie sind breit genug und es sind dort nur wenige Fußgänger und Radfahrende unterwegs.

„Unsere Mobilitätsstrategie ist der autofreie Haushalt“

Georg Gaffga, Stadt Konstanz

S-Pedelec: Ein Baustein zum autofreien Haushalt

Innerorts sieht der Radverkehrsplaner Gaffga nahezu keinen Handlungsbedarf in seiner Stadt. In Konstanz’ Zentrum könnten die schnellen Radler bei Tempo 30 oder 50 auf der Fahrbahn mitrollen. Aber es gibt auch Ausnahmen. Im vergangenen Jahr hat er eine Anliegerstraße, die auch Fahrradstraße ist, für S-Pedelecs freigegeben. „Die Straße hat den Charakter einer Außerortsstraße, sie führt durch ein Waldgebiet geradewegs zum Fähranleger Richtung Meersburg“, sagt er, eine wichtige Pendelroute. Auch dort funktioniert das Miteinander. Bislang gab es keine Beschwerden.
Angesichts der geringen Zahl an S-Pedelecs im Straßenverkehr erscheint der hohe Aufwand, den Gaffga mit seinem Team betreibt, unverhältnismäßig hoch. Insbesondere weil sie kein konkretes S-Pedelec-Netz planen, sondern vorerst nur die Möglichkeiten ausloten, potenzielle Lücken im Netz zu schließen. Gaffga hält dagegen: „Unsere Mobilitätsstrategie ist der autofreie Haushalt“, sagt er. Das S-Pedelec ergänze das aktuelle Angebot an Sharing und öffentlichem Verkehr. Deshalb wollen sie die junge Fahrzeuggattung fördern. Das funktioniere allerdings nur, wenn die Fahrer*innenr sich wohlfühlen und sicher unterwegs sind. Die benachbarte Schweiz zeige zudem, dass bei attraktiven Bedingungen die Verkaufszahlen von S-Pedelecs steigen und ihr Anteil am Gesamtverkehr zunimmt.

S-Pedelecs ersetzen das Auto

Hierzulande ist die Fahrzeuggattung bislang nur eine Randerscheinung. Gerade mal 11.000 Stück wurden im Jahr 2022 verkauft. In Belgien, den Niederlanden oder der Schweiz sind S-Pedelecs deutlich populärer. Allein in der Schweiz mit ihren knapp neun Millionen Einwohnerinnen wurden im Jahr 2022 rund 23.000 der S-Pedelecs aus den Läden geschoben. Expertinnen führen das auf die Rechtslage zurück: Schließlich dürfen sie dort die Radinfrastruktur nutzen. Das hat zur Folge, dass 75 Prozent der Strecken, die dort mit schnellen E-Bikes zurückgelegt wurden, Arbeitswege waren. Im niederländischen Rotterdam waren es 2021 rund 60 Prozent.
Für Anke Schäffner vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) sind die Zahlen ein Indiz für das große Potenzial der S-Pedelecs für die Verkehrswende. Sie hat Ende vergangenen Jahres die ZIV-Studie „Wo fahren S-Pedelecs?“ vorgestellt. Die beschreibt, wie die Nachbarländer die Elektroräder in den Verkehr integrieren und wie sich das unter anderem auf die Verkaufszahlen auswirkt.
In Belgien etwa können die Fahrerinnen zwar innerorts wählen, ob sie die Radinfrastruktur oder die Fahrbahn nutzen, dagegen ist außerorts für sie die Radwegbenutzung ab Tempo 50 Pflicht. Diese Regelung kommt in der Bevölkerung anscheinend gut an. Von 2017 bis 2021 sind die Zulassungszahlen der S-Pedelecs von rund 5.300 auf 51.000 gestiegen. In den Niederlanden gelten für die schnellen Elektroräder die gleichen Bestimmungen wie für Mopeds. Ihre Fahrerinnen dürfen Radwege benutzen, die für Mopeds freigegeben sind. Innerorts ist das fast jeder Radweg in einer Tempo-50-Zone. Allerdings gilt dort für sie ein Tempolimit von 30 Stundenkilometern.

Die Fahrradstraße ist für Radpendler*innen von großer Bedeutung. Sie ist die schnellste Verbindung von Konstanz zum Fähranleger Richtung Meersburg.

Ausnahmegenehmigungen für Radwege

Auch beim S-Pedelec zeigt sich: Die Niederlande sind Fahrradland. Seit Jahren testen die verschiedenen Regionen, wie sie die Räder in den Alltagsverkehr integrieren können. Die Provinz Gelderland hat bereits 2018 im Rahmen einer Studie 16 Radwege im Stadtgebiet erst temporär und dann dauerhaft freigegeben. Andere Provinzen wie Groningen und Overijssel folgten dem Beispiel. In Rotterdam, Amersfoort und Utrecht können S-Pedelec-Fahrerinnen mittlerweile Ausnahmegenehmigungen beantragen, wenn sie die Radwege nutzen möchten. Allein in Rotterdam wurden im Jahr 2020 für die 384 angemeldeten Räder 275 Genehmigungen beantragt. Für Tobias Klein vom Team „Nahmobilität“ beim Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) ist das Vorgehen zeitgemäß. „Die Niederlande und auch Dänemark testen seit Jahren, wie sie die Alternativen zum Autoverkehr in ihre Verkehrsinfrastruktur integrieren können“, sagt er. Vor vielen Jahren bauten sie die ersten Radschnellwege, heute geben sie Radwege frei, damit die S-Pedelec-Nutzerinnen sicher unterwegs sind. „Ihre Lösungen sind nicht sofort perfekt, aber sie entwickeln die Systeme weiter und passen sie an“, sagt er. Deutschland hingegen sei bei Neuerungen im Verkehr eher darauf bedacht, nichts falsch zu machen, und bremse damit neue Entwicklungen. Das gelte für die Radinfrastruktur ebenso wie für die Integration neuer Verkehrsmittel wie S-Pedelecs.
Insbesondere außerorts sieht der Mobilitätsexperte verschiedene Möglichkeiten, Radinfrastruktur wie Wirtschaftswege oder auch Radschnellwege für sie freizugeben. „Die Radschnellverbindungen sind darauf ausgelegt, dass die Menschen dort mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs sein können“, sagt er. Die Freigabe per Zusatzschild sei nie ein Freifahrtschein zum Rasen. Im Gegenteil. „Die S-Pedelec-Fahrer müssen ihre Geschwindigkeit auf den Radschnellwegen anpassen, wenn dort viel Verkehr ist“, sagt er. Der Mobilitätsexperte ist zuversichtlich, dass das funktioniert.

Fahrzeiten: Pedelec versus S-Pedelec

Aber lohnt es sich überhaupt, vom normalen, dem Fahrrad rechtlich gleichgestellten E-Bike auf ein Speed-Pedelec umzusteigen? Das Kuratorium für Verkehrssicherheit (KFV) in Österreich, eine der führenden Institutionen der Unfallprävention, wollte es genau wissen und hat im Jahr 2021 die Studie durchgeführt „Potenzial von S-Pedelecs für den Arbeitsweg“.
Fünf Wochen dauerte der Feldversuch. 98 Berufstätige nahmen teil und zeichneten auf, wie viel Zeit sie für ihren Arbeitsweg mit den verschiedenen Fahrzeugen brauchten. Ab einer Strecke von fünf Kilometern kamen die Speed-Pedelecs stets schneller ans Ziel als ihr langsameres Pendant. Konkret benötigten die Berufstätigen für eine Strecke von 15 bis 20 Kilometer mit dem Auto durchschnittlich etwa 23 Minuten, mit dem S-Pedelec 34 Minuten und mit dem Pedelec rund 45 Minuten. Das herkömmliche Pedelec war demnach fast doppelt so lange unterwegs wie das Auto. Für die Forscherinnen ist dieser Zeitunterschied entscheidend. Eine Verdoppelung der Fahrtzeit zur Arbeit ist aus ihrer Sicht unattraktiv. Das S-Pedelec kann diese Differenz aber auf allen Strecken bis etwa 25 Kilometer in etwa halbieren. Damit ist das S-Pedelec für die Wissenschaftlerinnen eine echte Alternative zum Auto. Insbesondere auf langen kreuzungsfreien Strecken wie Radschnellwegen.
Allerdings wird die Freigabe von Radschnellwegen für S-Pedelecs seit Jahren kontrovers diskutiert. Vornehmlich die Vertreter*innen des ADFC waren strikt dagegen. Inzwischen weichen sie von dieser starren Haltung ein wenig ab. Inzwischen befürwortet der Fahrradclub die Freigabe der Radinfrastruktur in Einzelfällen – etwa außerorts, auf breiten, wenig frequentierten Radwegen. Damit sind viele geplante Radschnellwege bereits aus dem Rennen.

„Nur weil mein S-Pedelec 45 km/h fahren kann, fahre ich die Menschen nicht über den Haufen.“

Anja Herz

Klimafreundliche Fahrzeuge dürfen passieren, dazu gehören Busse, Taxen, Fahrräder und S-Pedelecs.

Zentrale Verbindungen in Tübingen wie diese Fahrradbrücke haben die Verkehrsplaner*innen ebenfalls für die Speed-Pedelec-Fahrer freigemacht.

Geschwindigkeit anpassen möglich?

Für die S-Pedelec-Fahrerin Anja Herz ist die ADFC-Haltung nur schwer nachzuvollziehen. Sie lebt außerhalb Münchens. Das S-Pedelec nutzt sie für fast jede Gelegenheit. Mit einer Freundin hat sie damit die Alpen überquert. 400 Kilometer sind die beiden von Garmisch bis zum Gardasee gefahren, die meiste Zeit auf Radwegen. Probleme mit den anderen Radfahrerinnen gab es aus ihrer Sicht keine. „Ich passe meine Geschwindigkeit immer den Gegebenheiten an“, sagt sie. Auf den Radwegen, aber auch, wenn sie beispielsweise an einer Fahrradsternfahrt teilnehmen. „Nur weil mein S-Pedelec 45 km/h fahren kann, fahre ich die Menschen nicht über den Haufen“, sagt sie. Sie bedauert, dass ausgerechnet der Fahrradverband ihr und vielen anderen S-Pedelec-Fahrerinnen die Bereitschaft und Fähigkeit abspricht, ihr Tempo anzupassen.

„Porschefahrenden traut man zu, in einer Tempo-30-Zone 30 km/h zu fahren, S-Pedelec-Fahrern nicht.“

Martina Lohmeier, Hochschule RheinMain Wiesbaden

Fehlende Erfahrungen schüren Vorurteile

Die Vorurteile gegenüber Pedelec-Fahrern kennt Martina Lohmeier, Professorin an der Wiesbadener Hochschule RheinMain. „Mit S-Pedelecs verbinden viele Menschen Überholvorgänge“, sagt sie. Konventionelle Radfahrende fürchten, von ihnen an den Bordstein gedrängt zu werden oder dass sie sich erschrecken, wenn die schnellen Radler*innen an ihnen vorbeijagen. Eltern sorgen sich zudem um ihre Kinder, wenn Schulstraßen oder Tempo-30-Zonen für S-Pedelecs freigegeben werden.
Die Ursache für all diese Bedenken sind laut der Professorin fehlende Erfahrungen. „S-Pedelecs sind noch eine sehr junge Fahrzeuggattung“, sagt sie und anders als die herkömmlichen Pedelecs sind sie in Deutschland immer noch eine Seltenheit. Allein die mögliche Spitzengeschwindigkeit von 45 km/h schüre Ängste. Sie lacht und sagt: „Es ist paradox, dass man Porschefahrenden zutraut, in einer Tempo-30-Zone 30 km/h zu fahren, S-Pedelec-Fahrern aber nicht.“
Im Rahmen eines Feldversuchs erforscht die Radprofessorin mit Kolleginnen und Kollegen der Hochschule Darmstadt und RheinMain, ob diese Sorgen berechtigt sind. Sie untersuchen, wie schnell die S-Pedelecs tatsächlich unterwegs sind, ob Konflikte auf dem Radweg entstehen und wenn ja, welche. Im Winter 2023 starteten die ersten elf Teilnehmerinnen und Teilnehmer den ersten Testlauf. Der dauert für sie und alle weiteren Gruppen jeweils sechs Wochen. Die Wissenschaftler tracken die GPS-Daten und die gefahrenen Geschwindigkeiten. Nach dem Praxisteil befragen sie die Teilnehmenden dann zum Radwegenetz und zu ihren Erfahrungen mit dem Elektrorad als Pendelfahrzeug.
Die Ergebnisse sollen laut Martina Lohmeier interessierten Kommunen dabei helfen, einen Leitfaden für die Integration von S-Pedelecs in den Alltagsverkehr zu entwickeln. Dazu gehört auch, Kriterien für die Freigabe von Radinfrastruktur für S-Pedelecs zu definieren. Der Leitfaden kommt genau zur richtigen Zeit. Seit vergangenem Sommer dürfen Kommunen in Nordrhein-Westfalen ebenfalls ihre Radinfrastruktur für schnelle Elektroräder freigeben. Das Potenzial ist riesig. Dort wird der Radschnellweg RS1 gebaut. Er soll 100 Kilometer lang werden.


Bilder: www.haibike.de – pd-f, Universitätsstadt Tübingen, www.flyer-bikes.com – pd-f, Stadt Konstanz – Gregor Gaffga

Damit Radwege außerhalb bebauter Gebiete nutzbar sind, spielt Beleuchtung eine große Rolle. Doch wie bringt man Licht auf die Route? Wir haben zwei Unternehmen gefragt und stellen ein prämiertes Beispiel aus Münster vor. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Wer Radmobilität vorantreiben will, muss Fahrradfahren sicherer und komfortabler machen. Vor allem abseits straßenbegleitender Routen heißt das neben der angemessenen Breite, dem leicht laufenden Belag und anderen Faktoren des Weges auch: Beleuchtung. Dabei geht es vor allem um Sicherheit. Radfahrende müssen Hindernisse vor sich früh genug erkennen können. Doch Licht stellt in puncto Umweltschutz eine Herausforderung dar. Beleuchtung ist immer auch eine Bedrohung für die Fauna. Ein Gesichtspunkt: Laternen locken unter anderem Insekten an, die im Licht zur leichten Beute werden und selbst, im Bann des Lichts, keine Nahrung finden. Andererseits meiden Fledermäuse, die sich von Insekten ernähren, meist Kunstlicht und finden so ebenfalls weniger Nahrung. „Doch Flutlicht braucht es für einen Radweg nicht. Das Licht, das eine helle Vollmondnacht bietet, reicht schon fast“, sagt Jörg Blume, technischer Leiter bei Lunux-Lighting. Das Unternehmen, schon 1895 unter dem Namen Hellux in Hannover gegründet, entwickelt und vertreibt unter anderem Beleuchtungssysteme für Straßen und Plätze und arbeitet auch für Großkunden wie die DB. „Zwei bis drei Lux sind für eine Radwegbeleuchtung ausreichend“, so Blume weiter.

Auf den ersten Blick schlichte Laternen. Doch Mastleuchten an einem Radweg, im Bild von Sunleds, können heute viel mehr: Sie tragen zu Sicherheit und Komfort der Radfahrenden bei – und fördern so die Verkehrswende.

Adaptive Beleuchtung mit IR-Sensoren

Der Lichtstrom, die Stromstärke und die verwendete technische Optik werden vom Einsatzbereich definiert. „Unser Fokus dabei liegt auf adaptiver Beleuchtung“, so der technische Leiter. „Meist wird über einen PIR-Sensor-Bewegungsmelder eine Reihe der vor dem Radfahrer liegenden Leuchten hochgedimmt.“ Diese Sensortechnik arbeitet mit Infrarot-Strahlung, die herannahende Menschen durch deren Temperaturstrahlung erkennt. Die vor dem Radfahrenden liegenden Leuchten werden also erst hochgefahren, wenn sich jemand dem Sensor nähert. So spart man einen enormen Teil der Kosten, die Beleuchtung ist nur „auf Abruf“ in Betrieb. Die moderne LED-Technik als besonders stromsparendes und gut dimmbares Leuchtsystem macht es möglich. Denkbar wäre auch eine Steuerung über ein Astro-Dimm-System, also eine autarke Steuerung der Beleuchtung über vorprogrammierte Zeiteingaben. Allerdings wird man dadurch nur der wahrscheinlichen Nutzung eines Radweges zu verschiedenen Zeiten gerecht. Das Licht muss immer gleichmäßig stark gedimmt sein, wenn die Radfahrer*innen die Leuchten passieren, um ihnen möglichst wenig Anpassungsleistung aufzubürden. Das Fahren würde sonst sehr anstrengend werden, und Komfort ist schließlich ein wichtiges Thema, um zum Radfahren zu motivieren.
„Faktoren wie Masthöhe, optisches System der Leuchten, Abstände der Masten, die Radwegbreite und Weiteres müssen bei dem System außerdem aufeinander abgestimmt werden. Deshalb findet die Beratung hierzu und zu allen anderen Punkten des Projekts grundsätzlich bei einer Begehung vor Ort statt“, erklärt Blume. Über sogenannte Zhaga-Schnittstellen kann das System an die Infrastruktur der Kommune angeschlossen werden. Die Kosten: um die 65.000 Euro muss man, ganz grob gerechnet, für einen Kilometer Beleuchtung einplanen.

Die Hella Park Streetline und Twin Streetline von Lunux Lighting können mit adaptiver Beleuchtung ausgestattet werden – Light on demand, sozusagen.

Solarenergie für Radfahrende

Das Unternehmen Sunleds setzt bei der Beleuchtung von Radwegen auf Solarenergie. 2016 gegründet, war es schnell eines von zwei Unternehmen, die sich in diesem Bereich breiter aufstellten. „Adaptive LED-Straßen- und Wegebeleuchtung mit Solarbetrieb ist noch ein Nischenmarkt“, sagt Geschäftsführer Henrik Brockmann. Trotzdem ist es für viele Situationen die einzige Lösung. „Ein wichtiges Einsatzgebiet für solare Leuchten sind entlegene Bushaltestellen, da dorthin oft keine Stromversorgung verlegt wird.“
Das ist für Brockmann auch einer der wesentliche Vorteile des Systems. Man spart Kosten. Zum einen ist das natürlich der Aufwand für die Kabelverlegung und entsprechenden Materialien. Zum anderen sind es die Stromkosten selbst. Diese Mastleuchten stellen die Energie selbst her und halten den Strom im integrierten Akku bereit. „Bis zu drei Nächte Beleuchtung kann eine Solar-Mastleuchte mit einem vollständig aufgeladenen Akku erreichen“, so Brockmann. Das bedeutet, dass man im besten Fall auch sehr trübe Tage im Winter überbrücken kann. Das setzt aber voraus, dass sich die jeweiligen Örtlichkeiten für den Betrieb mit Solarenergie grundsätzlich eignen. „Gibt es dort wo die Solarsysteme aufgestellt werden sollen, zu viel Schattenwurf, dann kann eine ausschließlich mit Solarenergie arbeitende Mastleuchte nicht ohne Beeinträchtigungen funktionieren, was wir unseren Kunden vorab mitteilen.“

„Adaptive LED-Straßen- und Wegebeleuchtung mit Solarbetrieb ist noch ein Nischenmarkt.“

Henrik Brockmann, Sunleds

Integrierte Insektenfreundlichkeit

An die Umwelt muss hier natürlich auch gedacht werden. Der Aufbau der LED-Systeme eliminiert weitgehend Streulicht, der Lichtkegel wird also klar abgegrenzt und das Licht trifft asymmetrisch-breitstrahlend auf den Radweg auf. Man nimmt, beispielsweise im meistverwendeten Modell ESL-18pro ECO, LEDs mit einer warmweißen Farbtemperatur von als „insektenfreundlich“ geltenden 3000 Kelvin. Ausgelöst werden das Aufleuchten und Abdimmen hier über einen aktiven Bewegungsmelder in sogenannter MWS-Technologie. Im Gegensatz zum Infrarot-Sensor, der passiv Wärmebild-Veränderungen wahrnimmt und darauf reagiert, erkennt dieser Mikrowellensensor Bewegungen, indem er selbst Signale aussendet und ihr Echo interpretiert – Radartechnologie also, die derzeit noch etwas hochpreisiger ist als Infrarotsysteme, aber von vielen als noch zuverlässiger eingeschätzt wird. Und die Stromversorgung? „Wo keine entsprechenden Kabel vorhanden sind, kann man mit autarker Beleuchtung durch Solarenergie bis zu zwei Drittel der Kosten einsparen.“ Ist die Stromversorgung über das Ortsnetz vorhanden, ist laut Brockmann eher eine netzgebundene oder kombinierte Lösung aus Solar- und Netzbetrieb angezeigt.
Bis zu zwölf Jahre Lebensdauer sollen die Lithium-Eisenphosphat-Akkus erreichen, bei Schäden oder ladezyklisch bedingtem Erreichen der Lebensdauer können sie getauscht werden. Entwickelt wird hauptsächlich in Deutschland, dazu gibt es sogar ein eigenes Testgelände am Hauptsitz Dresden. Die Kosten für eine Kommune beginnen bei der Nutzung von solaren Mastleuchten bei rund 900 Euro netto pro komplettes System, inklusive Lichtmast. Offiziell gibt es drei Jahre Garantie, erweiterbar auf fünf Jahre. Service-Leistungen erfolgen dazu oft über Kulanz-Regelungen.

Entlang von Straßen muss die Beleuchtung spezielle Vorgaben erfüllen. Schließlich wird den Radfahrenden oft durch entgegenkommende, blendende Autos die Sicht erschwert.

Radwege, die leuchten?

Wo bleiben da die selbstleuchtenden Radwege oder Lichtleisten-Radwegbegrenzungen am Boden? Dazu sind einige Ideen in der Testphase. Grundsätzliche Herausforderungen gibt es dabei allerdings. Gegenstände auf dem Radweg erscheinen weitgehend im Gegenlicht, was wenig hilfreich ist. Auch reicht das emittierende Licht zur Erkennbarkeit des Radwegs, aber je nach Ausführung nicht zur eigentlichen Beleuchtung aus. Gleichzeitig ist ein leuchtender Radweg aber ein Problem in puncto Lichtverschmutzung. Das Bundesnaturschutzgesetz und das Bundesimmisionsschutzgesetz könnten diesen Konzepten auch deshalb einen Riegel vorschieben. Doch es gibt ja, wie gezeigt, sinnvolle andere Lösungen.


Bilder: Sunleds GmbH, Lunux Lighting GmbH

Um Radverkehr übersichtlich auszuschildern, ist viel Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Kommunen und ausführenden Akteuren notwendig. In Hessen sollen eine gemeinsame Katasterdatenbank und öffentlich verfügbare Software die Planung und Kooperation erleichtern. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


„Ein Wegweiser muss ins Auge fallen, die Nutzenden machen sich keinen Kopf darüber, wo der nächste Wegweiser steht“, sagt Wolfgang Schuch. Er arbeitet im Sachgebiet Radwegweisende Beschilderung im Straßen- und Verkehrsmanagement bei Hessen Mobil. Gemeint ist, dass Radfahrerinnen nicht suchen wollen, wo ein weiterer Wegweiser an der Kreuzung steht. Gute Wegweiser sind intuitiv verständlich, einfach aufzufinden und lassen sich schnell überblicken. Auch dass sie weitgehend einheitlich sind, ist laut Schuch entscheidend. Wer Wegweiser plant und montiert, muss auf einige Dinge achten. Wo es einen nicht benutzungspflichtigen Radweg gibt, müssen Schilder auch für Menschen, die auf der Straße fahren, einsehbar sein. Die Mon-teurinnen müssen außerdem genug Abstand zu Bäumen wählen und einkalkulieren, dass verschiedene Arten verschieden schnell an den Pfosten heranwachsen und ihn schließlich überdecken können.

„Jeder einzelne Planende macht alles richtig, aber in der Summe ist es trotzdem falsch.“

Wolfgang Schuch, Hessen Mobil

Stressfaktor Orientierung

Diese Aufgabe ist schon innerhalb einer Kommune nicht trivial. Dort, wo verschiedene Radverkehrsnetze und ihre Beschilderungen aufeinandertreffen, herrscht oft Chaos. Um diesem Problem zu begegnen, leitet Schuch ein Projekt, bei dem Hessen kommunale und regionale Datenbanken zusammenführt. Ob Voll- oder Zwischenwegweiser, dank dieser gemeinsamen Datengrundlage lässt sich einsehen, wie das Radnetz vor Ort aussehen soll und wo bereits welche Schilder stehen. Wenn sich etwas ändert oder das Netz überarbeitet wird, können Planerinnen ermitteln, welche Wegweiser anzupassen sind. Dieses Wissen hört durch Schuchs Projekt nicht mehr an den kommunalen Grenzen auf und ist inzwischen beinahe flächendeckend in Hessen verfügbar. Fehlende Orientierung ist ein wichtiger Stressfaktor im Radverkehr, erzählt Wolfgang Schuch. Daraus leitet er den Handlungsauftrag ab, dass Wegweisung einfach sein muss. „So wie ich mit dem Auto jedes Ziel und jedes Dorf finde, muss es mit dem Fahrrad auch sein.“ Das scheitere aber oft an mangelnder Abstimmung zwischen verschiedenen Kommunen und koste auf Dauer das Vertrauen der Nutzerinnen in die Wegweiser, erklärt Schuch. „Jeder einzelne Planende macht alles richtig, aber in der Summe ist es trotzdem falsch.“

Wie es aussehen sollte (links) und wie es nicht aussehen sollte (rechts): Wegweiser sollten auf einen Blick zu erfassen und intuitiv verständlich sein.

Die hessische All-in-one-Lösung

Vor fünf Jahren fiel die Entscheidung, die Wegweisung in Hessen mit einer gemeinsamen Katasterdatenbank und Software zu fördern. Auch in anderen Bundesländern gab es bereits ähnliche Vorstöße. Nordrhein-Westfalen bietet seinen Kommunen beispielsweise ein gemeinsames Kataster, jedoch keine durchgängige Planung. Die hessische All-in-one-
Lösung ist also durchaus etwas Besonderes. „Wir haben die Daten und Datenbanken ab 2020 zusammengeführt“, erzählt Schuch. Insbesondere an den Grenzen zwischen kommunalen Zuständigkeitsgebieten herrschte vielerorts Durcheinander durch sich doppelnde Wegweiser und unterschiedliche Ziele, die darauf ausgeschildert waren. „Man kann sich vorstellen, dass wir die Probleme, die man an den Knoten vor Ort hatte, auch in den Datenbanken hatten. Wir sind immer noch dabei, das auszubügeln.“
Zu Beginn des Projekts gab es zehn verschiedene Datenbanken. Schuch und sein Team nahmen die größte von ihnen und fingen an, die kleineren Datenbanken in diese zu integrieren. Eine letzte Datenbank befindet sich aktuell noch in diesem Prozess. Wolfgang Schuch: „In Hessen hatten wir das Glück, dass alle Datenbanken die gleiche Software hatten und vom Netz nicht sehr miteinander verschränkt sind außerhalb der Grenzbereiche.“ Die Datenbank erhält bereits knapp 30.000 Kilometer Radverkehrsnetz und wird noch bis auf 40.000 Kilometer anwachsen, auch aufgrund bestehender Neuplanungen, schätzt Schuch. Im ländlichen Raum gibt es im Schnitt rund ein Kilometer Netz pro Quadratkilometer, in den Städten sind es rund drei Kilometer auf derselben Fläche. „Das sind ganz andere Dimensionen, die weit größer und viel dichter sind als bei der Autowegweisung.“ Auf dem Netz, das die Grundlage der Datenbank bildet, sind die Routen und schließlich die einzelnen Ziele für die Wegweiser hinterlegt. Diese lassen sich über sogenannte Zielspinnen planen, also Arme, die zu einem Punkt führen. Schwierig ist der Prozess, die Datenbanken zusammenzufassen auch deshalb, weil Dopplungen und andere Fehler ausgemerzt werden müssen, während laufend neue Infrastruktur entsteht und geplant wird.

„So wie ich mit dem Auto jedes Ziel und jedes Dorf finde, muss es mit dem Fahrrad auch sein.“

Wolfgang Schuch, Hessen Mobil

Kommunikation ist der Schlüssel

Nicht nur im Projektkontext, sondern auch in normalen Planungsverfahren werde oft unterschätzt, wie groß der Bedarf nach Kommunikation eigentlich ist. Es gilt, Nachbarkommunen, Kreise, die Macher*innen des Radnetzes des Landes oder Tourismusorganisationen einzubeziehen. Der Kommunikationsaufwand müsse auch in die Planung einkalkuliert und in Ausschreibungen aufgenommen werden. Der Austausch ist heutzutage, in bestehenden Systemen, noch zentraler als früher. „Man muss sehen, dass da ein Wechsel stattfindet. Die Planungsbüros, die heute Fachplaner für die Wegweisung sind, haben gelernt, auf der grünen Wiese oder dem leeren Blatt zu planen“, erläutert Wolfgang Schuch. Er plädiert für deutlich höhere Budgets, die der Kommunikation zugeordnet sind. Diese seien nämlich schnell aufgebraucht, wodurch sich Absprachen dann auf ein Minimum beschränken. Selbst bei der Standortwahl von Wegweisern wird der Prozess oft mit einer Mail abgeschlossen, in der Hoffnung, dass kein Widerspruch zum vorgeschlagenen Ort aufkommt.

38.000

Kostenlose Software mit vielen Funktionen

Zumindest ein Teil dieses Aufwands kann die Software abfangen, die Hessen Mobil den Gemeinden des Bundeslands, aber auch den Planungsbüros kostenlos zur Verfügung stellt. Diese Anwendung basiert auf der am Markt sehr verbreiteten Software VP-Info, deren Zugriffsrechte sich in dieser Variante zusätzlich noch genauer steuern lassen. Ihre Nutzung ist keine Pflicht, sondern ein Angebot. Auch mit anderen geografischen Informationssystemen ist die Anwendung kompatibel. Das Land stellt gewisse Förderungen allerdings nur unter der Prämisse zur Verfügung, dass die Daten später in die landesweite Datenbank eingepflegt werden.
Die kostenlose Software soll unter den Planungsbüros Gleichberechtigung schaffen, da die Kosten für spezialisierte Software kein Ausschlusskriterium mehr sind. Wer einen Auftrag erhält, kann für einen befristeten Zeitraum nicht nur Informationen einsehen, sondern ist auch berechtigt, sie einzutragen. Ein Nebeneffekt, so erzählt Schuch außerdem, ist, dass die Kosten sich besser abschätzen lassen und die Firmen präziser auf Ausschreibungen reagieren können. Der Grund: Die Planungsbüros können sehen, welche Ausstattung und Daten vor Ort bereits vorhanden sind.
Die Zahlen der Nutzer*innen sind seit Bestehen der Software stark nach oben geschnellt, sagt Schuch. Waren es im Mai 2021 noch 12 Büros und Kommunen, sind es mittlerweile fast 40. Fast 38.000 Pfosten sind in der Datenbank hinterlegt. Sie dient nicht dem Planen von Netzen, sondern der Entwicklung von Wegweisern auf vorhandenen Netzen. Wenn etwa thematische Sonderrouten aufgesetzt werden, können diese auch hinterlegt werden. Die Software fügt das passende Sonderzeichen automatisch bei den jeweiligen Wegweisern ein und errechnet automatisch Kilometrierungen vom Wegweiser zum Ziel, das er ausschildert. Für die Ausschreibungen, die Herstellung und schließlich die Montage vor Ort ist die Software ebenfalls essenziell. Sie ermittelt, welches Material gebraucht wird, und hilft schließlich sogar bei der Abrechnung, gegebenenfalls aufgeteilt auf die verschiedenen Kostenträger. Selbst Fotos von der Situation vor Ort lassen sich hinterlegen. Die Hilfestellung geht so weit, dass die Software sogar warnt, wenn ein geplanter Pfosten mit der Windlast der an ihm geplanten Schilder überlastet sein dürfte.

Die gemeinsame Datenbank für Wegweisung in Hessen erleichtert viele Arbeitsschritte, von der Planung und Ausschreibung bis hin zur Herstellung und Montage. Mittels Software lassen sich Materialbedarfe planen und Kosten aufteilen.

„Wegweisung bleibt nicht für die Ewigkeit“

Bedarf für diese Anwendung gibt es viel. Das liegt mitunter daran, dass sich die Art, wie Wegweiser geplant werden, verändert hat. Wurde vor 15 Jahren die Wegweisung am Fernziel Cölbe ausgerichtet, muss heute das Oberzentrum Marburg gewählt werden, erklärt Schuch exemplarisch. „Wenn alle Fernziele ausgetauscht werden, muss die Wegweisung komplett neu gemacht werden. Das ist komplex, das ist nicht trivial. Mittlerweile gibt es diverse Player, den Kreis, die Gemeinden, die ein eigenes Netz haben, das Landesnetz und so weiter. Und die muss man alle unter einen Hut bekommen.“
Und noch etwas hat sich geändert, erklärt Wolfgang Schuch: „Wenn ich eine Wegweisung aufstelle, bleibt die ja nicht für die Ewigkeit. Einerseits muss ich sie jedes Jahr kontrollieren, am besten zwei Mal im Jahr. Andererseits muss man die Wegweisung nach zehn Jahren komplett neu machen, weil sich der Raum verändert hat.“ Die Herausforderung guter Wegweisung ist also wiederkehrend. Der Aufwand, den Schuch und sein Team für das landesübergreifende Projekt betreiben, dürfte sich deshalb dauerhaft lohnen. Das Problem, dass Beschilderung an Grenzen oft Verwirrung für die Nutzer*innen stiftet, gibt es nicht nur zwischen verschiedenen Kommunen. Hessen Mobil sucht deshalb auch das Gespräch mit anderen Bundesländern, an deren Grenzen sich Datensätze verschränken. Ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, ist wichtig, sagt Schuch. Nur wenn jeder einzelne am selben Strang zieht, ist im Hinblick auf Wegweisung die Summe nicht mehr falsch.


Bilder/Grafiken: Hessen Mobil

Mountainbiken trägt in der norditalienischen Region Garda Trentino stark zum Tourismus bei. Ein neues Beschilderungssystem für die Touren und Trails soll für mehr Übersicht sorgen und das Erlebnis für die Mountainbiker*innen auf ein neues Level heben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Noch vor wenigen Jahren war es alles andere als einfach, sich als Mountainbikerin in der Region Garda Trentino zurechtzufinden. Die Beschilderung war unübersichtlich und teilweise redundant. „Wir hatten unheimlich viele Schilder und Strecken, die sich zum Teil wiederholen. Das hilft unseren Gästen nicht dabei, sich zu orientieren, sondern bewirkt das Gegenteil“, erklärt Stefania Oradini. Sie leitet ein Projekt, mit dem der Tourismusverband der Region die Bewohnerinnen und Gäste so übersichtlich wie nie über die vielen Mountainbike-Strecken informieren will. Diese Aufgabe, so zeigt Oradini, ist nicht trivial. Die Region betreibt den großen Aufwand auch deshalb, weil der Mountainbike-Sport eine große wirtschaftliche Bedeutung für den Tourismus in Garda Trentino hat. 6 von 10 Outdoor-Urlauber kommen wegen des Radfahrens zu Besuch.

Ein übersichtlicher Standard

Bei dem neuen Beschilderungssystem setzen Oradini und ihr Team auf das International Trail Rating System (ITRS). Dabei handelt es sich um einen Beschilderungsstandard des Verbandes International Mountainbike Association (IMBA). Dieser fand in Garda Trentino erstmals von Grund auf Anwendung. Oradini kommentiert: „Das ITRS ist eine Zusammenfassung aller Systeme, die in den Alpen benutzt wurden. In der Schweiz, bei Davos, wurde es schon eingesetzt. Wir sind aber die erste Destination, die dabei ist, ihre Beschilderung mit dem ITRS zu entwickeln. Ende September haben wir einen praktischen Kurs gemacht mit der IMBA, um zu sehen, wie man eine Tour bewertet, um das System noch weiter zu verbessern.“ Dabei sei spürbar, dass das ITRS noch ein Work-in-progress ist. Es sei aber schön, sich daran beteiligen zu können. Mit der Mountainbike-Organisation IMBA pflegt Oradini einen regen Austausch.
Das ITRS basiert auf vier Farbcodes, nach denen vier Routeneigenschaften kategorisiert werden. Grün ist die leichteste Stufe, gefolgt von Blau, Rot und Schwarz. Als Kategorien bewertet die IMBA Strecken gemäß ihrer Ausdauer, Exponiertheit und Wildnis, also wie entlegen eine Route ist. Bei der vierten Kategorie technische Schwierigkeit kommen nicht nur Farben, sondern auch verschiedene Symbole zum Einsatz, die mit diesen korrespondieren. Die leichtesten Trails sind mit grünen Kreisen, schwerere dann mit einem blauen Quadrat, einem roten Dreieck oder einer schwarzen Raute versehen. Nicht nur in dieser Hinsicht läuft die Einteilung bei der technischen Schwierigkeit etwas anders ab. Mit der orangefarbenen Doppelraute gibt es eine fünfte Stufe für technisch besonders extreme Mountainbike-Strecken. Diese Symbolsprache geht auf das US-amerikanische Bewertungssystem für Skipisten zurück und wurde in dieser Form vom Walt-Disney-Konzern entwickelt, als das Unternehmen in den 1960ern Pläne verfolgte, ein Ski-Resort zu eröffnen.

„Wenn ich sehe, dass die Strecke technisch schwarz ist, muss ich vielleicht etwas anderes auswählen, wenn ich kein Profi bin.“

Stefania Oradini, Garda Trentino

Perspektivisch soll das neue Beschilderungssystem in der ganzen Region Garda Trentino zum Einsatz kommen. Die Region arbeitet dafür mit einem Beschilderungsstandard der International Mountainbike Association.

Neues Streckennetz mit mehr Informationen

Oradini stellt dar, wie die Region dabei vorging, das neue System zu implementieren: „Wir haben über die Alpen geschaut und sind bei dieser Firma fündig geworden. Sie hat das Leitsystem nicht nur für Südtirol, sondern auch für andere Regionen wie das Salzburger Land und Tirol erstellt.“ Gemeinsam mit dem österreichischen Unternehmen Max2 GmbH wurde zunächst das Streckennetz systematisch überarbeitet und vereinfacht. Früher doppelten sich verschiedene Routen zum Teil über dieselben Streckenabschnitte, mit kleinen Abweichungen voneinander. Heute sind sie hierarchisch organisiert. Es gibt eine klar benannte Route, die mittels untergeordneter Varianten die Feinheiten in der Streckenführung abbildet. Das Ziel hinter dem neuen Beschilderungssystem ist nicht nur, die Übersicht zu erleichtern, sondern auch mehr Informationen zur Verfügung zu stellen, auch aus Sicherheitsgründen. Während und vor allem nach der Pandemie kamen viele neue Biker*innen in der Region hinzu, die wenig über das Mountainbiken wussten. Daher kam es zu mehr Unfällen. Mit dem Beschilderungssystem will das Team um Oradini diesen Menschen ermöglichen, ihre Touren gemäß ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen auszuwählen. „Wenn ich sehe, dass die Strecke technisch schwarz ist, muss ich vielleicht etwas anderes auswählen, wenn ich kein Profi bin“, erklärt Oradini.
Im Herbst des vergangenen Jahres beschilderte das Team dann mehrere Mountainbike-Strecken und wich dabei vom anfangs ausgewählten Monte Brione auf das Ledrotal aus. Hier gibt es verschiedene Wegtypen und kreuzende Wanderwege, wodurch das Gebiet im Gegensatz zu dem beliebten Monte Brione ideal für einen Test war. Perspektivisch soll das System in der gesamten Region Garda Trentino Verwendung finden. 2024 sollen dafür weitere Gemeinden eingebunden werden. Im Vergleich zur Ausgangssituation sorgt die Beschilderung für eine bessere Übersicht. Auch die Tourennamen wurden zum Teil angepasst, sodass diese jetzt das Ziel der Route im Namen tragen. Zusätzlich sind sie mit einer Nummer gekennzeichnet.
Ein Schild kann mehrere Touren enthalten, wenn diese der gleichen Richtung folgen. Während die alte Beschilderung nur links und rechts ausweisen konnte, enthält das neue System auch Pfeile, die geradeaus weisen. Auf längeren Abschnitten ohne Abzweige erinnert zudem ein kleines Schild daran, dass man auf der richtigen Strecke ist. Es sind also mitunter kleine Änderungen, die das Beschilderungssystem viel nützlicher machen.

„Eine eigene Bewertung für E-Bikes wird es nicht geben, da es E-Bikes in so vielen verschiedenen Leistungsklassen gibt.“

International Mountainbike Association

Genuss-Biker und sportlich ambitionierte Nutzer*innen kommen in Garda Trentino zusammen. Entsprechend unterschiedlich sind die Points of Interest, die das Karten-material enthalten sollte.

Eigene Karten vermeiden Konflikte

Im Zuge der Umgestaltung wurden auch größere Herausforderungen angegangen. So haben Oradini und ihr Team ein Trail-Management-System entwickelt. Wenn an einer Kreuzung ein Schild abhandenkommt, weiß man direkt, welches fehlt, und kann es ersetzen. Genau zu wissen, wo welche Schilder stehen, sei sehr hilfreich, erklärt Oradini. Auch das Kartenmaterial wurde überarbeitet. Jetzt bietet der Tourismusverband eigene Mountainbike-Karten an, die ausschließlich die Mountainbike-Strecken enthalten. Älteres Kartenmaterial, das verschiedene Nutzungstypen miteinander vereinte, führte vor Ort zu Nutzungskonflikten und zu Diskussionen mit dem Alpenverein und Naturschutzverbänden, da die Mountainbikerin-nen diverse Wegtypen in ihre Routenplanung aufnahmen. Durch den Fokus auf die Mountainbike-Zielgruppe mit den neuen Schildern dürften solche Konflikte vermieden werden. Die Mountainbikerinnen werden in ihrer Planung auch abseits der Schilder unterstützt. Über QR-Codes lassen sich detaillierte Beschreibungen der Strecken online abrufen. Auf der Website finden sich dann hilfreiche Informationen, etwa, ob eine besonders schwierige Stelle durch Schieben des Fahrrads umgangen werden kann oder ob an potenziell schwindelerregenden Stellen Alternativen existieren. Eine GPX-Datei der jeweiligen Route steht zum Download bereit.
Wie es in vielen Ski-Gebieten bereits standardmäßig zu sehen ist, bietet Garda Trentino außerdem ein Ampelsystem an, das zeigt, welche Strecken verfügbar sind und welche die Biker*innen nur eingeschränkt oder gar nicht nutzen sollten. „Wir versuchen, das immer up to date zu halten“, sagt Stefania Oradini. Auch teilweise Einschränkungen, zum Beispiel durch auf den Weg gestürzte Bäume, werden angezeigt. „Das ist noch neu, aber wir wissen, dass die Leute es gerne nutzen, vor allem auch unsere Mountainbike-Guides.“

„Wir versuchen, das Ampelsystem immer up to date zu halten.“

Stefania Oradini, Garda Trentino

Ein unfertiger Standard

Teil des Projektvorhabens ist, die Zielgruppe durch Befragungen zu beteiligen. Das Feedback ist wichtig, auch weil die Zielgruppe nicht homogen ist. Es gibt sportlich ambitionierte Nutzerinnen, aber auch jene, die Oradini Genuss-Bikerinnen nennt. Sie halten zum Beispiel auch für ein Glas Wein an und wünschen sich dementsprechend andere Sonderziele, die auf den Schildern vermerkt sind. Der dreisprachige Fragebogen werde gut angenommen, sagt Oradini. Es wird abgefragt, ob die Beschilderung groß und sichtbar genug ist und alle Streckeninfos vorhanden sind. Dabei zeigen sich auch Unterschiede je nach Herkunft der Bikerinnen. Die Strecken etwa als Tour oder Trail zu bezeichnen, werde von den Deutschen positiv wahrgenommen. Für die Italienerinnen sei der Unterschied, dass Trails sportlicher und technisch anspruchsvoller sind, weniger klar.
Beim Bewertungsaspekt Ausdauer, so lässt die IMBA auf Anfrage von Veloplan durchscheinen, soll ein zusätzliches, ebenfalls orange markiertes Level hinzukommen, wie es bei der technischen Schwierigkeit bereits der Fall ist. Außerdem soll im ITRS-Kontext deutlicher kommuniziert werden, dass diese Einteilung für unmotorisierte Fahrräder vorgenommen wurde. Der Verband erklärt: „Eine eigene Bewertung für E-Bikes wird es nicht geben, da es E-Bikes in vielen verschiedenen Leistungsklassen gibt. Es wird jedoch zusätzliche Hinweise für E-Biker geben, wie sie die Endurance-Bewertung nutzen können. Dies geht auf das Feedback aus der Umfrage am Gardasee zurück, in der es Hinweise gab, dass nicht alle E-Biker die Endurance-Bewertung hilfreich fanden.“ Weitere Änderungen, die eher als Feinschliff zu werten sind, wird der Verband Mitte Dezember auf der Website www.itrs.bike veröffentlichen. Die IMBA entwickelt zudem eine App, um die technische Schwierigkeit zu klassifizieren. Wenn eine Tour 20 Kilometer lang leicht ist und dann eine schwere Stelle kommt, welches Level muss sie dann erhalten? Das gilt es zu klären. Wie verbreitet das Beschilderungssystem in ein paar Jahren oder Jahrzehnten sein wird, lässt sich nicht prognostizieren. Garda Trentino dürfte jedoch nicht die letzte Region sein, die das Leitsystem für ihre Mountainbiker*innen mit dem ITRS auf eine neue Stufe heben will.


Bilder/Grafik: Garda Trentino

Wer Verkehrswendeprojekte kommunikativ gestalten will, muss lokale Akteure und ihre Themen kennen. Um Konflikten vorzubeugen, sollten Bürger*innen rechtzeitig beteiligt werden. Die lauten ebenso wie die leisen Stimmen gehören dazu. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Konflikte zwischen Verkehrsplanung und Bürger*innen können laut und spektakulär werden. Mitunter werden Maßnahmen der Politik oder der Verkehrsplanung dann von Gerichten kassiert. So geschehen bei dem bekannten Beispiel Friedrichstraße, wo das Berliner Verwaltungsgericht die Sperrung des Kfz-Verkehrs für rechtswidrig erklärte. Geklagt hatte eine Geschäftsfrau vom Aktionsbündnis „Rettet die Friedrichstraße“. Umgekehrt gelten jene Beteiligungsverfahren als gelungen, von denen man seltener hört. „Die erfolgreichen Projekte sind die leisen“, sagt Christian Klasen von DialogWerke. Das Beratungsbüro konzipiert und moderiert Prozesse um nachhaltige Mobilität. Klasen begleitete erfolgreiche Bürgerbeteiligungen unter anderem in Freiburg, Köln und Dresden.

Am Anfang eines Verfahrens besteht oft geringes Interesse seitens der Bevölkerung, Einfluss zu nehmen. Im Zeitverlauf steigt der Wunsch nach Mitsprache. Zugleich sinkt die Möglichkeit einer wesentlichen Einflussnahme.

Das Beteiligungsparadoxon im Blick

„Die Beteiligung ist eine Art Versicherung“, sagt der Experte. „Macht man sie nicht, kann es richtig laut, teuer, zeitintensiv werden.“ Im Blick haben sollte man das Verhältnis von Interesse zu den Möglichkeiten der Einflussnahme im Zeitverlauf eines Verfahrens. Es wird im Beteiligungsparadoxon ausgedrückt. Demnach ist das Interesse von Bürger*innen am Anfang eines Projekts gering. Die Möglichkeiten auf Planungen Einfluss zu nehmen ist zu diesem Zeitpunkt jedoch hoch. Im Verlauf des Prozesses nimmt das Engagement der Bevölkerung zu. In der Umsetzungsphase erreicht es seinen Höhepunkt. Gleichzeitig nimmt die Möglichkeit der Einflussnahme dann ab. Wenn die Betroffenen das größte Interesse am Beteiligungsverfahren zeigen, besitzen sie nur noch geringe Einflussmöglichkeiten. Klasen: „In einem Koordinatenkreuz dargestellt, treffen sich irgendwann beide Linien. Spätestens dann müssen wir die Leute eingebunden haben.“

Positive Narrative versus Verlustängste

Hinter Protesten gegen Maßnahmen stehen oft Verlustängste bei den betroffenen Anrainerinnen. „Mobilität ist eine Gewohnheitssache“, erklärt Klasen. „Das hat mit Rationalität wenig zu tun. Bei der Mobilitätswende geht es darum, den Raum neu aufzuteilen. Egal in welcher Stadt wir arbeiten: Der meiste Ärger dreht sich um den Platz für den ruhenden und fahrenden Kfz-Verkehr.“ Als Konsequenz müssen die Vorteile einer Veränderung klar kommuniziert werden. So vollzog man in Hamburg eine Wende von der „autofreien“, zur „autoarmen“ Stadt. Darauf wies der ehemalige Projektleiter von „freiRaum Ottensen“ , Bastian Hagmaier Anfang dieses Jahres gegenüber der Tageszeitung taz hin: „Angefangen hat es mit dem Verkehrsversuch Ottensen macht Platz 2019/2020, in dem einzelne Straßenzüge als autofreier Raum erprobt worden sind. Auf Basis dessen hat die Bezirkspolitik im Februar 2020 den Beschluss gefasst, dass es eine Verstetigung geben soll, und auch schon den Terminus des autoarmen Quartiers statt wie im Verkehrsversuch den des autofreien genutzt.“ Als weiteres Beispiel nennt Christian Klasen die Vision des Hannoveraner Bürgermeisters Belit Onay. Der betonte, dass es für Menschen, die auf das Auto angewiesen sind, zukünftig leichter sein wird, ihre Ziele zu erreichen. „Er verpackt das in eine Geschichte und erläutert den Mehrwert. Das ist ein Erfolgsfaktor.“ Das alte Narrativ von der alleinerziehenden Nachtschwester, nach der sich die Regeln für alle übrigen Verkehrsteilnehmerinnen orientieren sollen, wird durch eine neue Story ersetzt. Immerhin gewann Onay mit seiner Vision der Verkehrswende den Wahlkampf.

In Freiburg hatten die Teilnehmenden der Auftaktveranstaltung vor Ort und online die Möglichkeit, sich mit ihren Fragen, Wünschen und Anregungen aktiv in den Klimamobilitätsplan einzubringen.

Von der Vorbereitungsphase bis zum Freiburger Gemeinderatsbeschluss wurden in einem zweijährigen Entstehungsprozess die fachliche Bearbeitung und die Öffentlichkeitsbeteiligung eng miteinander verzahnt.

Freiburger Mobilitätsplan vor Ort und im Livestream

Hilfreich ist eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung der Bürgerinnen. Sie beginnt mit der Kommunikation über eine Projektidee. „Man muss den Leuten sagen: Es ist noch eine Idee und noch nicht geplant. Sonst gibt es sofort Protest“, warnt der DialogWerke-Experte. Dazu gehören ein Ansprechkontakt sowie ein brauchbares Format. Ein gutes Beispiel für solche Formate ist der zweijährige Beteiligungsprozess zum Klimamobilitätsplan (KMP) 2023 in Freiburg. Darin geht es um Maßnahmen mit dem Ziel, mindestens 40 Prozent der Treibhausgase bis zum Jahr 2030 einzusparen. Am Anfang standen Interviews mit der Stadtgesellschaft, vom ADFC über die IHK bis hin zu Fridays for Future. Es folgte eine prominent besetzte Auftaktveranstaltung mit Landesverkehrsminister Winfried Hermann und Oberbürgermeister Martin Horn im Konzerthaus Freiburg. Damals unter Pandemie-Auflagen: „Rund 280 Teilnehmende vor Ort und im Livestream waren dabei“, erinnert sich Klasen. „Weil wir die Aufmerksamkeit hatten, folgte noch eine Online-Beteiligung zum Mobilitätsverhalten mit etwa 800 Leuten.“ Darin priorisierten Teilnehmende den Ausbau des Radnetzes, einen sicheren und umweltverträglichen Ausbau des Straßenverkehrs sowie des ÖV. Es folgten zwei Ein-Tages-Foren, auf denen mit Stakeholdern und zufällig ausgewählten Bürgerinnen über den KMP diskutiert wurde. Klasen findet: „Das war konkreter. Wir konnten verschiedene Maßnahmen nebeneinanderlegen und fragen: Was heißt das eigentlich, wenn wir die Parkpreise vervierfachen?“

„Wollen wir dreihundert Leute haben, schreiben wir drei- bis viertausend an. Die Rücklaufquote beträgt weniger als zehn Prozent.“

Christian Klasen, DialogWerke

Die Arbeit mit ausgewählten Zufallsbürgerinnen

Die Arbeit mit Zufallsbürgerinnen fußt auf einem möglichst heterogenen Auswahlfeld nach Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Einkommen, Wohnort oder Mobilitätsverhalten. Klasen: „Wollen wir dreihundert Leute haben, schreiben wir drei- bis viertausend an. Die Rücklaufquote beträgt weniger als zehn Prozent.“ In Freiburg wurden 550 Personen zufällig aus dem Melderegister gezogen und angeschrieben. Auf Basis der Rückmeldungen wurde eine Gruppe ausgewählt, welche die Breite der Stadtgesellschaft widerspiegelt. Im Alter von 23 bis 80 Jahren mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen und einem diversen Mobilitätsverhalten.
Man muss auch wissen: Je mehr Daten abgefragt werden, desto geringer die Rücklaufquote. Klasen sagt sogar: „Am besten wäre, man würde nur sagen: Es geht um die Gestaltung der Zukunft der Stadt.“ Dahinter steckt die Erfahrung, dass die eine Gruppe zum Thema Mobilität abwinkt und sagt: „Ist doch alles gut, ich will keine Veränderung.“ Die Menschen, die eine Veränderung wollen, neigen eher dazu, sich zu beteiligen. Dann wird es unausgewogen.

Um mit Bürger*innen über Mobilität zu reden, die durch herkömmliche Bewerbung nicht erreicht werden können, braucht es die aufsuchende Beteiligung wie hier in Köln.

Beteiligung braucht die richtigen Orte

Unter der Beteiligung der DialogWerke fanden ähnliche Foren in Dresden und Köln statt. Nach Klasens Erfahrung kann dabei ein besonderer Ort dem Thema Wertschätzung verschaffen. So lud die Kölner Oberbürgermeisterin anlässlich des Mobilitätsforums ins historische Rathaus. „Wer nicht gerade heiratet am Wochenende, kommt da nicht unbedingt rein. Das muss natürlich gut beworben werden.“ Geht es nur um eine Straßenraumgestaltung, reicht auch eine Schule oder Turnhalle. Ein Dialogangebot sollte man den Menschen immer machen und dabei etwas zum Anfassen mitbringen. „Am besten Pläne“, sagt Klasen. „Sich mit den Leuten zusammen darüberbeugen, um konkret zu verstehen, worum es geht.“

Laute Stimmen und andere Überraschungen

Für Verzerrung im Meinungsbild sorgen die lautstarken Stimmen. Auch wenn sie in Minderheit sind, lassen sie sich nicht einfach ignorieren. Sie müssen zu Wort kommen. Klasen rät: „Dazu muss man sagen, dass es sie in beide Richtungen gibt. Den einen gehen Maßnahmen nicht schnell genug. Die anderen sagen, jetzt bricht der ganze Wirtschaftsverkehr zusammen. Wichtig ist, gib ihnen einen klaren Rahmen, in dem sie zu Wort kommen können. Schaue aber auch, dass man die breite Mitte mitbekommt.“
Ein Diskussionspapier des Deutschen Instituts für Urbanistik DIfU („Bürgerinnen und Bürger an der Verkehrswende beteiligen“) empfiehlt, lautstarken Stimmen gegenzusteuern, indem Meinungen „vorab bzw. zu Beginn einer Bürgerversammlung z. B. per Punktabfrage erhoben werden, um unterschiedliche Positionen (Pro und Contra) auch quantitativ sichtbar zu machen.“ Auch „Fokusgruppendiskussionen“, eignen sich, um leise Stimmen zu erfassen.
Schließlich gibt es noch andere Überraschungen. Beispiel Hamburg-Bramfeld: Dort wollte die Stadtverwaltung Radwege ausbauen – und dafür alte Bäume fällen. Plötzlich stellten sich diejenigen Bürger*innen dagegen, die sonst für die Verkehrswende sind. „Wenn wir an ein Projekt rangehen, hängen wir eine Akteurs- und Themenlandkarte an die Wand“, erläutert Klasen. „Deswegen der Hinweis an die Planer: Führt gleich am Anfang ein paar Gespräche. Lernt das Thema und die Akteure kennen.“

„Mobilität ist eine Gewohnheitssache. Das hat mit Rationalität wenig zu tun. Bei der Mobilitätswende geht es darum, den Raum neu aufzuteilen.“

Christian Klasen, DialogWerke

Das Kölner Mobilitätsforum fand im historischen Rathaus in der Altstadt auf Einladung von Oberbürgermeisterin Henriette Reker statt. Ein angemessener Ort kann förderlich sein.

Erfolgreich trotz Push-Maßnahmen

In Freiburg stand am Ende des Beteiligungsprozesses die Verabschiedung des Klimamobilitätsplans. Er enthält 17 Maßnahmen, die sukzessive bis 2030 umgesetzt werden sollen. Darunter der geforderte Ausbau des Radnetzes und des ÖPNV. Aber auch Maßnahmen, die sonst viel Konfliktpotenzial mitbringen: Klasen sagt: „Da sprechen wir nicht nur von Pull-Maßnahmen: Wir machen alles schöner und laden die Leute ein, mehr Fahrrad zu fahren. Sondern über Push-Maßnahmen. Das heißt, wir drücken Fahrzeuge raus aus der Stadt.“ Obwohl der KMP ein massives Verteuern des Parkens, die Reduktion des Parkraums mit Schlüsselvorgaben für neue Siedlungen vorsieht, wurde er zum Erfolg. „Das war ein Prozess, der vom Gemeinderat am Ende über alle Parteigrenzen hinweg stark gelobt wurde,“ sagt Klasen.

Politischer Mut gehört dazu

Für den Experten von DialogWerke gehört politischer Mut zum Erfolg von Maßnahmen. Mit Blick auf Reallabore wie in Hamburg Ottensen sei es empfehlenswert, eine Sache einfach mal zu starten, gemäß dem Tenor „Ich hab euch das erklärt. Wir haben eure Bedenken ernst genommen. Wir machen das aber jetzt mal. In einem halben oder einem Jahr evaluieren wir das Ganze.“ Zwar kann es passieren, dass ein Projekt nicht funktioniert. Oder dass es das so noch nicht war. Was von Versuch und Irrtum übrig bleibt, wäre dennoch ein Lerneffekt. Der Haken daran, das weiß Klasen ebenso: „Politisch zu sagen, vielleicht machen wir auch einen Fehler, funktioniert häufig nicht.“
Mut braucht es auch am Ende eines Verfahrens, etwa bei der Frage, wo Kompromisse im Bürgerdialog eigentlich enden sollten. Klasen: „Viele Städte haben sich das Ziel einer Klimaneutralität bis 2035 gesetzt. Das werden wir allein mit Elektrofahrzeugen nicht schaffen. Also braucht es gewisse Maßnahmen in der Stadt. Da gibt es Modellierungen und Verkehrsmodelle. Am Ende, so sind unsere demokratischen Verhältnisse, entscheidet darüber in der Regel der Stadtrat, der Gemeinderat oder ein Verkehrsausschuss. Da sind dann irgendwo die Grenzen der Beteiligung gesetzt.“


Bilder: Stadt Köln – Thomas Banneyer, Grafik: Velobiz, Stadt Freiburg, Stadt Freiburg – Patrick Seeger, DialogWerke

Das Durcheinander auf der Venloer Straße in Köln war sehr gefährlich. Ein Verkehrsversuch sollte das ändern, schuf Verwirrung und lieferte dann doch „Verzauberung“. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Die Venloer Straße in Köln ist eine Arterie in einem äußerst lebhaften Organismus. Sie durchzieht mittig das boomende Stadtviertel Ehrenfeld, wo sich eine urbane Mischung aus Cafés und Restaurants, Kebab-Läden, Schnäppchen-Shops, Bio-Boutiquen mit einer dichten Wohnbesiedlung mischt. Die Venloer ist Hauptgeschäftsstraße, Pendler-Achse im Kölner Westen und Shopping-Meile, zudem steht hier Kölns wichtigstes islamisches Gotteshaus, die sogenannte Zentralmoschee des türkisch-islamischen Religionsvereins Ditib. Mit gut 10.000 Pkw am Tag war die Venloer seit Langem eine Hauptverkehrsachse, die auch die meistfrequentierte Fahrradstrecke der Millionenstadt ist. Die Dauerzählstelle dort zeigte 2022 5500 Fahrradfahrer*innen am Tag an. Bei diesem Treiben wundert es nicht, dass die Venloer einer der Unfallschwerpunkte Kölns ist – und in einer Analyse der „Allianz Direct“ sogar als einzige Straße in NRW unter den zehn gefährlichsten Straßen des Landes rangierte. „Wir sind da als Kommunalpolitik gefragt, das hat vordergründig auch gar nichts mit Verkehrswende zu tun. Wir mussten das entschärfen“, sagt Volker Spelthann (Bündnis 90/Die Grünen), Bezirksbürgermeister in Ehrenfeld.

Im Laufe des Jahres 2023 machte die Venloer Straße einen oft sehr unsortierten Eindruck, was auch an Baumaßnahmen in anliegenden Straßen lag. In Ehrenfeld war das Durcheinander Dauerthema.

Alles auf sechs Meter gequetscht

Die Problematik ist seit Langem bekannt. Die Venloer war, man kann es so klar sagen, ein Alptraum für alle Verkehrsteilnehmerinnen. Sie führte gleich neben dem Fußgängerweg einen baulich getrennten, schmalen Radweg neben der Fahrbahn, die einspurig in jede Richtung ausgelegt ist. 2009 brachte die Stadtverwaltung Piktogramme für Radfahrerinnen auf dem Asphalt auf, denn der Radweg war inzwischen in einem sehr schlechten Zustand. Ab 2010 dann ließ die Verwaltung die Straße umbauen. Am Rand ist die Straße mit vier Reihen Steinen gepflastert, daneben verläuft ein rot gefärbter Schutzstreifen für die Radlerinnen. Diese Gestaltung führte ein Maximum an Verkehrsteilnehmerinnen auf engen Raum. Über Jahre wuchsen der öffentliche Druck und die Unzufriedenheit mit dieser Lage. Bezirksbürgermeister Spelthann spricht von einer „Lebenslüge“ der vergangenen 15 Jahre. Hier habe die Verwaltung alles auf sechs Meter Breite gequetscht. „Politische Gremien und Verwaltung haben dann immer eine große Lösung aus einem Guss angestrebt, bei der alles passen sollte.“ Deswegen habe sich nichts bewegt in der Politik, und so gelinge auch Verkehrswende nicht.

„Ohne den Verkehrsversuch wären wir erst in fünf Jahren, wo wir sind.“

Volker Spelthann, Bezirksbürgermeister Ehrenfeld

„Realer Irrsinn“ Verkehrsversuch

Am 8. November 2023 traf man den Kommunalpolitiker aber an einem windigen Herbsttag in gelöster Stimmung an. Der Grüne, studierter Wirtschaftsgeogeograf, war Beobachter eines Pressetermins der Stadt Köln. Neben einer Kebab-Bude auf einem Platz neben der Venloer Straße und mitten im Mittagstrubel informierte die Stadtverwaltung über ein Projekt, das hohe Wellen geschlagen hat. Spelthann kam mit einer klaren Meinung: „Ohne den Verkehrsversuch wären wir erst in fünf, sechs Jahren da, wo wir jetzt sind“, sagte der gut gelaunte Bezirksbürgermeister. Und das ist schon erstaunlich, denn die Venloer Straße hatte gerade in den zurückliegenden Monaten noch einmal richtig viel Aufmerksamkeit erregt. Nicht nur die lokalen Medien hatten im Laufe des Jahres 2023 über ein großes Durcheinander berichtet, das hier ausgebrochen war. Im NDR gab es einen Bericht mit dem Titel „Realer Irrsinn“, Kabel 1 zog über „Chaos auf der Straße“ her. Wer die Venloer im Frühling oder Sommer nutzte, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die ohnehin überlastete Verkehrsmeile hatte noch chaotischere Züge angenommen als ohnehin schon. Einen erheblichen Anteil daran hatten die Behörden, die eigentlich für Orientierung sorgen sollten.

Vorstoß aus der Kommunalpolitik

Rückblende ins Jahr 2021. Damals gab es nach vielen Jahren der Auseinandersetzungen einen politischen Vorstoß in der Stadt. Der Verkehrsausschuss und die Bezirksvertretung 4 (Ehrenfeld) beauftragten die Verwaltung mit der Einrichtung eines Verkehrsversuchs. Vorausgegangen war in Ehrenfeld die Arbeit an einem Radverkehrskonzept, im Mai 2021 beschloss die Bezirksvertretung dann das neue Ziel: Die Venloer sollte zur Einbahnstraße werden. Zudem sollte ein „verkehrsberuhigter Geschäftsbereich“ eingerichtet werden, mit Tempo-20-Zone und „Shared Space“ an verschiedenen Schlüsselstellen auf der Straße zwischen Ehrenfeldgürtel und Innerer Kanalstraße. Dieser politischen Forderung lag die Einschätzung eines Gutachters zugrunde. Er hatte vor allem die Einrichtung dieses Tempo-20-Segments für einen großen Wurf gehalten: „Dies hat unter den Einzelmaßnahmen die höchste Entlastungswirkung und weist zudem, anders als bei der reinen Einbahnstraßenführung, weniger negative Auswirkungen in Bezug auf die kleinräumige Verlagerung in die umliegenden Wohnstraßen auf“, so lässt es sich in der Beschlussvorlage des Verkehrsausschusses nachlesen.

Vorschrift ist Vorschrift: Während der ersten Phase des Verkehrsversuchs hob die Verwaltung mit gelber Farbe die Wirkung vorheriger Verkehrszeichen auf. Das führte zu Fehlwahrnehmungen im Alltag.

Gelbe Farbe sollte es richten

Zwei Jahre später lässt sich feststellen, dass die Einschätzung des Gutachters und die Realität des Kölner Straßenverkehrs miteinander kollidiert sind. Der Verkehrsversuch, den die Verwaltung infolge des politischen Beschlusses startete, lieferte Durcheinander auf Stein und Teer. „Im Verfahren gab es auch immer wieder Überraschungen. So scheint es bei vielen Stellen eine ungenügende Kenntnis der Straßenverkehrsordnung gegeben zu haben“, kommentiert Christoph Schmidt, Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs in Köln. Er war es, der den Vorstoß zur Einbahnstraße im Facharbeitskreis des damaligen Radverkehrskonzepts Ehrenfeld ins Rollen brachte. Was sich dann in der Realität zeigte, war allerdings eher ein politischer Kompromiss, der die Menschen in Desorientierung stürzte. Schmidt erklärt, was falsch gedacht war: „Auch in einem verkehrsberuhigten Geschäftsbereich hat man keinen Shared Space, auch wenn das oft anders verstanden wurde.“ So war die Fahrbahn eben weiterhin Fahrbahn, aber viele Menschen verstanden das falsch. Die Tempo-20-Zone ging mit einer Rechts-vor-links-Regelung einher, doch auch das setzte sich nicht durch im Verkehrsgeschehen. Plötzlich rollten also Kraftfahrzeuge und Radler durch einen Verkehrsversuch, auf dem andere Regeln galten als zuvor – bei gleicher Verkehrslast. Es kam hinzu, dass die Straßenverkehrsbehörden der Bezirksregierung und der Stadt eher „konservativ“ (Schmidt) auf die Regeln der Straßenverkehrsordnung und der Verwaltungsverordnungen bestanden. Im Ergebnis waren die weißen Fahrradpiktogramme auf der Straße mit gelber Farbe überstrichen, Ampeln abgeschaltet, Verkehrsteil-nehmer*innen verwirrt. Die Logik dahinter: Gelb sticht Weiß. Was die Verwaltungsexperten dabei nicht im Blick hatten, war die Realität des Straßenraums. Die konkrete Umsetzung des Verkehrsversuchs brachte Hohn und Empörung. „Das hat sicher nicht dazu beigetragen, dass die Lage auf der Straße übersichtlicher wurde“, sagt Schmidt heute.

Mit Schildern, Zeichen und Farbe: Seit 23. Oktober gilt eine neue Einbahnstraßenregelung. Vorher überstrichene Verkehrspiktogramme wurden nun wieder freigelegt.

Zweite Stufe ab 23. Oktober

Inzwischen hat die Stadtverwaltung nachgesteuert. Der Verkehrsversuch, so hat man es aus dem Rathaus stets kommuniziert, ist eine zweistufige Angelegenheit. Stufe eins, so ließ sich schon nach kurzer Zeit feststellen, brachte Desorientierung in den Straßenraum. Der Verkehr blieb, wie er war; die durchgestrichenen Zeichen und die gelbe Farbe auf dem Asphalt verwirrten die Menschen ebenso wie auf der Fahrbahn aufgestellte Hindernisse, mit denen der Verkehrsfluss beruhigt werden sollte. Das Ergebnis war gerade für Radfahrende eine erheblich gefährlichere Lage auf der Straße. Nun aber, mit Stichtag 23. Oktober, hat sich das Bild auf der Venloer Straße vollständig gewandelt. „Das ist eine Verzauberung“, sagt Bezirksbürgermeister Spelthann, „wer die Straße vorher kannte, sieht nicht nur eine Verbesserung, der sieht quasi eine ganz andere Straße.“

Verbesserungen fallen ins Auge

Dem Orientierungsverlust der vergangenen Monate folgt nun eine zweite Versuchsphase, in der noch mal alles neu ist. Für den Kraftverkehr gilt zwischen dem Ehrenfeldgürtel und der Piusstraße seit dem 23. Oktober eine Einbahnstraßenregelung. Radfahrende dürfen weiter in beide Richtungen fahren. Die alten Zeichen gelten wieder, die Straße ist nun auch wieder mit Tempo 30 befahrbar, auch Ampeln sind wieder angeschaltet. Wer die Straße in den Wochen seither beobachtet, erkennt augenscheinlich verbesserte Bedingungen nicht nur für die Fahrradfahrer*innen, sondern auch entspanntere Zustände für die Menschen in Pkw und Lkw. Die Straße ist ruhiger, Hindernisse sind beseitigt, statt durchgestrichener Zeichen gibt es nun vor allem Hinweise auf die Einbahnstraßenregelung. In Aussicht gestellt hat die Stadtverwaltung auch, die Markierungen für den Radverkehr noch einmal zu verbessern – gerade entgegen der Einbahnstraße ist das relevant, um diese Verkehrsteilnehmenden vor dem Kraftverkehr zu schützen. Denn trotz aller Schilder und Öffentlichkeitsarbeit: Man kann nicht davon ausgehen, dass sich die Menschen schlagartig an neue Regelungen halten und sie auch verstehen.

„Wir brauchen Anpassungen, die uns in den Kommunen mehr Möglichkeiten geben.“

Ascan Egerer, Beigeordneter für Mobilität, Stadt Köln

Erste Zwischenbilanz: Im November zog Kölns Mobilitätsbeigeordneter Ascan Egerer (M.) mit Kolleginnen aus der Stadtverwaltung ein erstes positives Fazit der neuen Einbahnregelung. Dabei stellte die Verwaltung auch ihr Partizipationsmodell vor.

Verkehrsversuch in Deutz scheiterte vor Gericht

Zur Präsentation der zweiten Phase dieses Verkehrsversuchs war auch Ascan Egerer anwesend. Für den Mobilitätsdezernenten der Stadt Köln ist das Projekt eine wichtige Angelegenheit. Zwei Wochen nach Start der Einbahnstraßenregelung sah auch er ein deutlich reduziertes Verkehrsgeschehen: „Bei dem Ziel, die Verkehrssicherheit in diesem viel befahrenen Bereich der Stadt zu erhöhen, ist es ein Meilenstein.“ Mit Verkehrsversuchen hat die Stadtverwaltung unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Für viele Autofahrer überraschend hatte sie vor einiger Zeit Poller auf der Zülpicher Straße aufgestellt, um den Durchfahrtsverkehr zu stoppen – die Maßnahme war ein großer Erfolg für den innerstädtischen Verkehr. Im Herbst kassierte Egerers Behörde dann jedoch eine gewaltige Schlappe: Ein autofreier Verkehrsversuch in Köln-Deutz ist verwaltungsgerichtlich gestoppt worden – die Sache brachte der Verwaltung massive Negativschlagzeilen.

Botschaft nach Berlin: Lockerungen im Regelwerk gebraucht

Egerer sieht ein, dass die erste Phase des Verkehrsversuchs problematisch war. „Die Menschen haben manches nicht verstanden. Das hat zu Verwirrung geführt.“ Man habe darum sehr schnell nachgesteuert. Mitnichten gehe es seinen Leuten in der Verwaltung darum, überhaupt erst Verwirrung aufkommen zu lassen, um dann eine einfache Lösung durchzubekommen. Doch Egerer leitet daraus auch ein Problem ab. „Das ist genau der Punkt, den wir auch weitergeben müssen, auch in Richtung Berlin, dass wir da Anpassungen brauchen, die uns in den Kommunen mehr Möglichkeiten geben.“ Es brauche Lockerungen im Regelwerk, weil sonst lokale Verkehrswende-Maßnahmen nicht möglich oder in angestrebten Kombinationen „nicht vorgesehen“ sind. Und wenn die Fachleute aus der Verwaltung an Orientierung denken, sind sie vielleicht oft überrascht darüber, dass die Nutzer*innen der Straßen damit nicht klarkommen. So war es eben auch mit der Regel „rechts vor links“ während Stufe 1 – sie müsste eigentlich jedem bekannt sein, wurde aber nicht praktiziert. Egerer sieht das inzwischen ein. Das Beispiel zeige vielleicht auch, dass es auf der Venloer einfach zu unübersichtlich war. „Es ist ja ein lebhafter Raum hier. Hier ist viel los, hier ist es bunt, hier sind viele Menschen unterwegs. Da muss man genau hingucken, denn wir haben auch jetzt den Raum wirklich sicherer machen wollen.“

Erste Stufe als „politischer Zaubertrick“

Politisch lässt sich allerdings festhalten, dass erst Durcheinander herrschen musste, um zu der neuen Lösung zu gelangen. Die Stufe 1 mit „verkehrsberuhigtem Geschäftsbereich“ war ein bundesweites Kuriosum. Sie war aber, so sagt es Bezirksbürgermeister Spelthann, auch ein „politischer Zaubertrick“. Gern hätte man im grünen Milieu und bei Radfahrer*innen direkt die Einbahnregelung gehabt. Aber dafür hätte es keine Mehrheiten gegeben. Und so machten die Vorkämpfer für eine veränderte Venloer Straße Zugeständnisse, um ans Ziel zu kommen. Diejenigen, die einer Einbahnstraße gegenüber skeptisch waren, konnten mit dem zweistufigen Verfahren leben. Und nun, mit Stufe zwei, entfalte der eigentliche Plan seine Wirkung.

Erweiterte Beteiligung der Öffentlichkeit

Aber was halten die Menschen von diesem Ergebnis politischer Taktik? Die Verwaltung hat das, nach einer eher kritikwürdigen Beteiligung in der ersten Phase, jetzt zum wichtigen Thema gemacht. Das „Meinungs-Mobil“ der Verwaltung ist auf der Venloer anzutreffen, die Mitarbei-terinnen sammeln Rückmeldungen aus der Bevölkerung, auch online kommt Feedback an. Begleitet wird diese Phase von Workshops, in denen Bürgerinnen mitwirken. So soll der Versuch um sich greifen. Christoph Schmidt vom ADFC sieht das mit Genugtuung. „Vor der ersten Phase des Verkehrsversuchs hat man die Öffentlichkeit nicht gut mitgenommen“, sagt er, das habe sich nun wie schon seinerzeit beim Radverkehrskonzept geändert. „Die Verwaltung hat hier alle Akteure eingebunden, spricht die Öffentlichkeit an. Da wurde nichts durchgeboxt, es hat das Potenzial, dass sich so Legitimation erhöht.“ Und das geht natürlich nur, wenn die Leute sich auch auf der Venloer Straße zurechtfinden.


Bilder: stock.adobe.com – tashalex, Tim Farin

Gut gestaltete, schöne Räume beeinflussen das Verhalten der Menschen. Wege und Warteräume für Fußgänger, Radfahrer sowie Bus- und Bahnreisende sind jedoch im besten Fall praktisch. Mehr Schönheit im öffentlichen Raum kann ein Booster sein für den Umweltverbund. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Öffentliche Räume verwandeln: Vor der Gestaltung wurde die Unterführung als öffentliche Toilette missbraucht. Heute lassen sich dort Hochzeitspaare fotografieren.

Lange Zeit wurde die Unterführung des Brooklyn-Queens-Expressway in New York von den Besuchern der umliegenden Bars als öffentliche Toilette missbraucht. Das endete, als die Designer Stefan Sagmeister und Jessica Walsh die Tunnelseiten schick gestalteten, mit dem Schriftzug „Yes“ als Blickfang. Die Gestaltung veränderte die Atmosphäre des Ortes und gab ihm ein komplett neues Image. Die Unterführung ist bei Passanten und Touristen beliebt. Mittlerweile lassen sich sogar Hochzeitspaare vor dem Schriftzug fotografieren. Als Pissoir wird sie nicht mehr genutzt.
„Schönheit kann uns verwandeln. Sie kann verändern, wie wir uns fühlen und wie wir uns benehmen“, erklären Walsh und Sagmeister in ihrem Buch „Beauty“. Aus ihrer Sicht gilt das sowohl für Gegenstände des Alltags als auch für die Stadt- und Verkehrsplanung. In der Forschung, Planung oder dem Design von Mobilität taucht der Begriff „Schönheit“ jedoch praktisch nie auf. Er ist Wissenschaftlern zu unpräzise. Aber auch sie beobachten und erforschen sehr genau, wie Fuß- oder Radwege, Warteräume und auch Stadtmöbel wirken. Der Mensch mit seinen Bedürfnissen und seinen Emotionen rückt zunehmend in den Mittelpunkt, wenn es darum geht, aktive Mobilität zu fördern und zu steigern. Den Experten ist bewusst, dass das Angebot besser werden muss. Und vielleicht auch schöner.
Aber was macht Schönheit oder eine schöne Umgebung überhaupt aus? „Unsere Forschung zeigt, dass Schönheit unseren Blick anzieht und bindet. Unser Blick verweilt bei dem Schönen“, sagt Helmut Leder, Schönheitsforscher und Professor für Psychologie an der Uni Wien. Eine schöne Umwelt erzeuge automatisch eine Sequenz von glücklich machenden Momenten. „Sie wirkt wohltuend, dort bin ich gerne unterwegs, weil ich dort Impulse empfange, die mir guttun“, sagt Leder.
Wissenschaftler wie Helge Hillnhütter verwenden den Begriff der Schönheit nicht. Der Professor und Stadtplaner lehrt an der Norwegischen Universität für Naturwissenschaften und Technik und forscht seit Jahren zum Fußverkehr. Er untersucht, wann Menschen eine Umgebung oder einen Stadtraum als angenehm empfinden. Dazu gehören Aspekte wie: Sicherheit, Grünanlagen, Schaufenster, stimulierende Fassaden, andere Menschen und eine Gestaltung des Stadtraums. „Fußgänger reagieren am meisten auf das, was nicht weiter als fünf bis sechs Meter entfernt ist“, sagt Hillnhütter. Demnach ist ein interessanter Stadtraum nicht zu groß.
„Eine angenehme Stimulanz durch die Umgebung unterstützt positive Emotionen, die das Gehen zu einer angenehmen Erfahrung machen“, sagt Hillnhütter. Wer an großflächigen Fassaden entlanglaufe, empfinde den Weg schnell als langweilig und der Weg erscheint länger. Wenn es obendrein noch dunkel oder laut sei und es übel rieche, summierten sich die negativen Empfindungen. Das führe dazu, dass man beim nächsten Mal vielleicht nicht mehr zu Fuß gehe, sofern andere Optionen bestehen.

„Wir müssen in Netzen denken, die den gesamten Umweltverbund umfassen, aber auch stets ein Nachtnetz mitdenken.“

Katja Striefler, Fachbereich Verkehr, Region Hannover

Die Reisezeit zu Fuß und im ÖPNV sind identisch

Lange Zeit wurde der Fußverkehr von der Verkehrsforschung vernachlässigt. Hillnhütters Studien zeigen: Das ist ein Fehler. „Wir gehen überall und ständig zu Fuß“, sagt der Wissenschaftler. Selbst Autofahrer gehen vom Parkplatz zu einem Geschäft in einem Einkaufszentrum drei bis sechs Minuten zu Fuß. Eklatant sind jedoch die Wege, die Bus-, S- und U-Bahn-Nutzerinnen zurücklegen. Hillnhütter hat alle Wege-, Warte- und Umsteigezeiten addiert und festgestellt: „Die Reisezeit, die wir als Fußgänger zum Gehen, Warten und Umsteigen im öffentlichen Raum verbringen, ist fast genauso lang wie die Zeit als Passagier im Verkehrsmittel.” Für Städte und öffentliche Verkehrsbetriebe ist das eine wichtige Information. „Meistens wissen wir überhaupt nicht, was während des Teils der Reise passiert, der zu Fuß zurückgelegt wird“, sagt der Professor. Dabei ist die Qualität dieser Wege und auch die Wartesituation ausschlaggebend für die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs. Warten an Haltestellen und auf Bahnsteigen ist in Deutschland jedoch oft kein Vergnügen. Professor Peter Eckart und Prof. Dr. Kai Vöckler von der Hochschule für Gestaltung in Offenbach erforschen seit Jahren unter anderem, wie das Design von Bahnhofshallen, Bahnsteigen und Zu- und Ausgängen das Mobilitätsverhalten der Nutzerinnen beeinflusst. „Räume haben neben ihrer praktischen Dimension auch eine psychische Dimension mit symbolischen und ästhetischen Aspekten“, sagt Eckart. Das bedeutet, die Menschen sollen sich intuitiv in einem Bahnhofsgebäude zurechtfinden. Sie sollen sich aber auch willkommen fühlen, sich also wohl- und wertgeschätzt fühlen.

Vor dem Umbau prüfen Eckart und Vöckler ihre Ideen zu Sitz- und Anlehnmöbeln unter VR-Testbedingungen.

Mehr Komfort für Bahn- und S-Bahnnutzer in Hamburg: Im Bahnhof Harburg wurden bereits Holzmöbel installiert, ebenso an der neuen Vorzeigehaltestelle „Elbbrücken“.

Bessere Sitzmöbel für Warteräume

Für Eckart ist das ein wichtiger Aspekt. Er sagt: „Wenn ich als Kunde die U-Bahn oder S-Bahn nutze, möchte ich mit meinen unterschiedlichen Bedürfnissen wahrgenommen und wertgeschätzt werden.“ Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Viele Warteräume oder Zu- und Ausgänge von S- und U-Bahnhöfen sind vor allem praktisch. Das spiegeln die Sitzmöbel aus Gittergeflecht wider. „Das Gittergeflecht soll Obdachlose davon abhalten, sich dort auszuruhen, und ist zudem leicht zu reinigen“, sagt Eckart.
Mittlerweile hat bei der Deutschen Bahn ein Umdenken begonnen. Mit ihrem Projekt „Zukunftsbahnhof“ will das Unternehmen Fahrgästen und Besucherinnen die Zeit am Bahnhof angenehm gestalten. Vöckler und Eckart haben im Rahmen des Projekts „Zukunftsbahnhof Offenbach“ für eine S-Bahnhaltestelle vorgeschlagen, dort Sitzmöbel aus Holz zu installieren. „Der Pflegeaufwand ist zwar höher, aber bereits das hochwertige Material drückt die Wertschätzung gegenüber dem Kunden aus“, sagt der Professor. In einer Studie mit Kognitionspsychologinnen hat er festgestellt, dass Menschen gerne auf Holzmöbeln sitzen und sie sich wohlfühlen. Infolgedessen erscheint ihnen die Wartezeit kürzer. „Was wiederum die Kundenzufriedenheit steigert“, sagt Vöckler.
Dieser Anspruch muss aus ihrer Sicht auf den gesamten Umweltverbund angelegt werden. „Momentan wird er aber gar nicht als System zusammen gedacht“, sagt Eckart. Weder von der Politik noch von den Planern oder auf organisatorischer Ebene. Das sei aber für die Verkehrswende entscheidend. „Das Ziel muss sein, dass die Menschen, wenn sie aus der U- oder S-Bahn aussteigen, intuitiv erfassen, wo der Ausgang ist, und auf dem Weg dorthin erkennen, was sie in 100 bis 200 Metern an Mobilitätsangeboten vorfinden“, sagt Eckart.
Katja Striefler, zuständig für den Fachbereich Verkehr in der Region Hannover, stimmt dem zu: „Wir müssen in Netzen denken, die den gesamten Umweltverbund umfassen, aber auch stets ein Nachtnetz mitdenken“, sagt sie. Nur dann könne sichergestellt werden, dass Menschen jeden Alters und auch Frauen, den Umweltverbund nutzen. Wer bei der Planung dann noch den Schönheitsaspekt einbeziehe, habe eine lebenswerte Stadt, eine lebenswerte Gemeinde oder ein lebenswertes Dorf.

Clock Tower als Wegweiser

Ein Klassiker, der die Aspekte Ästhetik, Wegweisung und Mobilitätsknotenpunkt kombiniert, ist die Turmuhr an englischen Bahnhöfen. „Den Clock Tower findet man an fast jedem Bahnhof in England“, sagt Professor Eckart. Der Wiedererkennungswert sei immens. Jeder in England wisse: Beim Clock Tower ist der Bahnhof. Ein Forschungsprojekt hat laut Eckart gezeigt: Die große Uhr wirkt beruhigend, selbst auf die 18- bis 25-Jährigen. Zudem haben die Reisenden stets die Uhrzeit im Blick. Diesen Aspekt haben die beiden Wissenschaftler auf eine Station am Offenbacher Marktplatz übertragen. Die Ankommenden sehen auf dem digitalen Infowürfel sämtliche Abfahrten von Bus- und S-Bahn nebst Richtungsanzeigen. „Sie wissen sofort, ob sie den Zug noch erreichen oder laufen müssen“, sagt er.
Wie Menschen den dicht bebauten Stadtraum erleben, was ihnen gefällt oder wo ihr Blick hinfällt, wird schon lange untersucht. „Die Technologie ermöglicht uns zu messen, wie der Körper auf die Umgebung reagiert“, sagt Hillnhütter. Demnach brauchen wir eine Umgebung, die uns stimuliert. Eine zentrale Rolle spielt dabei, was wir sehen.
Deshalb sind laut Hillnhütter die Fußgängerzonen in Innenstädten so beliebt. Das bunte Treiben mit Straßenkünstlern, unterschiedlichsten Angeboten von Kunst bis zum Café wirke stimulierend. Wer dort unterwegs ist, schätzt Entfernungen deutlich kürzer ein. Die Distanzempfindung kann laut Hillnhütter in unterschiedlichen Stadträumen variieren und der Unterschied bis zu 30 Prozent betragen.

Vor dem Umbau war die High Line in New York ein vergessener Ort. Heute ist sie eine Oase inmitten der Metropole, die Anwohner und Touristen anzieht.

Ein schöner Verkehr funktioniert besser

Für den Schönheitsforscher Helmut Leder und die Verhaltensbiologin Elisabeth Oberzaucher steht fest: Schönheit und ästhetische Wertigkeit im öffentlichen Raum sind kein „nice to have“. „Mit ihnen funktioniert der Straßenverkehr besser“, sagt Elisabeth Oberzaucher. Ein klassisches Beispiel ist für sie die Mariahilfer Straße in Wien. In der neu geschaffenen Begegnungszone wurde die Fahrbahn mit großzügigen Blumenkübeln und weitläufigen Sitzecken so verjüngt, dass die Autos dort automatisch mit maximal 30 Kilometern pro Stunde oder langsamer unterwegs sind. „Dort funktioniert das Tempolimit über die Gestaltung, man braucht dort keine Schilder“, sagt sie. Die niedrige Geschwindigkeit erzeugt mehr Gleichheit unter den Verkehrsteilnehmern. „Sie begegnen sich eher auf Augenhöhe“, sagt die Wissenschaftlerin. Dieser Respekt setzt sich in der Fußgängerzone fort. Dort sind in den Sommermonaten rund 5000 Radfahrer unterwegs und das Miteinander zwischen Fuß- und Radverkehr funktioniert.
„Diese Begegnung auf Augenhöhe stärkt das individuelle Sicherheitsempfinden, aber erhöht auch die Sicherheit im Allgemeinen“, sagt Elisabeth Oberzaucher. Das sei gut für die Verkehrswende. Denn auf diese Weise entscheiden Menschen über die intuitive Ebene, sich eher aktiv zu bewegen, als ins Auto zu steigen.

„Alles, was uns in urbanen Räumen umgibt, ist mittlerweile von Menschen gestaltet.“

Helmut Leder, Schönheitsforscher und Professor für Psychologie an der Uni Wien

Die Nordbahntrasse ist ein Aushängeschild von Wuppertal. Sie ist Radlerparadies, Veranstaltungsort, Touristenmagnet und kurbelt zudem noch die Wirtschaft an.

Stimulierende Wirkung von Grünanlagen

Eines der bekanntesten Beispiele, wie die Umgestaltung eines Raums sein Umfeld zum Positiven verändern kann, ist die High Line in New York. Die 2,6 Kilometer lange stillgelegte Hochbahntrasse sollte eigentlich abgerissen werden. Seit ihrer letzten Fahrt Ende der 1980er-Jahre verkam die Trasse immer mehr und mit ihr die Viertel entlang der Strecke. Abfallberge, Kriminalität, Drogen und der Straßenstrich prägten die Gegend. Dann gründete sich eine Nachbarschaftsinitiative, die die Trasse begrünen wollte. Die Idee fand Zuspruch. Heute ist die High Line eine Oase am Rand Manhattans für die Anwohner. Zwischen den Grünflächen finden regelmäßig Veranstaltungen statt und es werden wechselnde Kunstobjekte ausgestellt. Mit der High Line veränderte sich auch ihre Umgebung. Die drei Distrikte, die sie quert, sind zu Szenevierteln geworden mit Galerien, Cafés und renovierten Straßenzügen.
Dass diese Erfolgsgeschichte reproduzierbar ist, zeigt die Nordbahntrasse in Wuppertal. Die Bürgerinnen und Bürger der Stadt haben die vergessene und zugewucherte Bahnlinie in den vergangenen 17 Jahren in eine 23 Kilometer lange Flaniermeile für Radfahrerinnen und Fußgängerinnen umgebaut. Heute verbindet der Freizeitweg im Norden der Stadt fünf Bezirke miteinander und beschert Wuppertal einen immensen Image-Wandel: von der Pleitestadt zum Radlerparadies. Seit ihrer Eröffnung haben sich entlang der Trasse Restaurants, Geschäfte und Freizeiteinrichtungen angesiedelt. Wer im Norden der Stadt lebt und arbeitet, nutzt die Flaniermeile zum Pendeln mit dem Fahrrad.
Die High Line und die Nordbahntrasse haben das Leben in den angrenzenden Vierteln verändert. Die Anwohnerinnen haben einen neuen Freiraum in Laufnähe. Menschen jeden Alters sind dort zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs und erleben gleich mehrere schöne Momente: die grüne Umgebung, die Ruhe durch den fehlenden Autoverkehr, den Blick aus der Vogelperspektive auf die umliegenden Stadtteile und immer wieder auch Kunstobjekte auf der Route. „Wenn die Bewegungsumgebung so attraktiv gestaltet ist, dann bedeutet das nicht nur, dass wir sie gerne für aktive Mobilität nutzen, sondern, dass wir uns dort auch lieber aufhalten. Das bedeutet, wir entschleunigen“, sagten Leder und Oberzaucher. Hinzu kommt: Es werden Freizeitfahrten mit dem Auto vermieden. Die Anwohnerinnen kommen zu Fuß oder per Rad zur Nordbahntrasse.
„Alles, was uns in urbanen Räumen umgibt, ist mittlerweile von Menschen gestaltet“, sagt Helmut Leder. Wir können durch eine schöne, ästhetische Gestaltung des öffentlichen Raums das Wohlbefinden der Menschen in der Stadt enorm heben. Er sagt: „Wenn wir es nicht tun, verschenken wir das eigentliche Potenzial unserer engen Städte.“


Bilder: Stefan Sagmeister, Maggie Winters, OIMD, Andrea Reidl, Friends of the High Line – Timothy Schenck, Friends of the High – Line Liz Ligon, Christa Mrozek – Wuppertalbewegung