Die nahtlose Vernetzung von Fahrzeugen, Infrastruktur und vulnerablen Gruppen, wie Radfahrenden und zu Zufußgehenden wird von vielen Expert*innen als Gamechanger in der Mobilität gesehen. Mit exponentiell wachsenden Technologien gehen die Entwicklungen unter dem Begriff Vehicle-to-everything (V2X) mit großen Schritten voran. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


Die Zeit ist knapp, die Suche nach einem Parkplatz Stress pur und während man in Gedanken die Tür des Autos öffnet, sieht man neben sich gerade noch einen Schatten: ein Radfahrer – völlig übersehen! Gerade noch gut gegangen. Einige Zeit später, wieder im Auto: Die Sonne blendet extrem. Während man noch hektisch die Blende herunterklappt sieht man etwas schemenhaft vor dem Auto. Eine Frau mit Kinderwagen! Vollbremsung. Die Frau schimpft erschrocken, und ja, da war auch ein Zebrastreifen. Puuh …

Kritische Verkehrssituationen könnten künftig durch moderne Systeme entschärft werden.

Gefährliche Situationen und Unfälle lassen sich vermeiden

Der Mensch ist ebenso leistungsfähig wie durch eine Vielzahl von Faktoren fehleranfällig. Verkehrspsychologen weisen immer wieder darauf hin, wie groß der Einfluss von Wahrnehmungsfehlern, falschen Einschätzungen, zu viel Information, Ablenkung oder emotionalen Zuständen im Straßenverkehr ist. Deutlich verschärft werden die Probleme durch das steigende Verkehrsaufkommen und die damit gewachsenen Anforderungen und vor allem auch durch die stark wachsende Anzahl älterer Verkehrsteilnehmer*innen. Denn mit zunehmendem Alter lassen sowohl die korrekte Wahrnehmung von Entfernungen sowie der tatsächlichen Geschwindigkeit als auch die Reaktions- und Bewegungsfähigkeit deutlich nach. Hier können neue technologische Entwicklungen, wie künstliche Intelligenz (KI) in Verbindung mit Sensoren sowie Vehicle-to-X-Sendern und Empfängern, ganz neue Möglichkeiten zur Verbesserung der Sicherheit, aber auch der Effizienz und Nachhaltigkeit des Verkehrs bieten.
Mit Blick auf die oben genannten Beispiele, die wohl fast jeder und jede Verkehrsteilnehmende kennt, besteht die Hoffnung, dass es in einer nahtlos vernetzten Verkehrswelt, in der Fahrzeuge selbstständig miteinander kommunizieren oder in einem erweiterten Szenario auch mit den Smartphones von Radfahrenden und Zufußgehenden, gar nicht zu solchen gefährlichen Situationen kommen würde. Das Fahrzeug würde den Zebrastreifen ebenso „sehen“ wie die Frau, die ihn benutzt, und auch den Radfahrer, der schräg von hinten kommt, während man gerade die Tür öffnet. Zu Warnungen hinzu kämen auch selbstständige Aktionen, wie eine Gefahrenbremsung oder das kurzfristige Blockieren der Fahrzeugtür.

Einsatzmöglichkeiten von V2X

Kollisionsvermeidung (Fahrzeuge sowie vulnerable Gruppen)
Kollisionen u. a. durch Nicht-Wahrnehmen, z. B. Kreuzungs- und Abbiegeunfälle, Auffahren, Spurwechsel, Tür öffnen (Dooring)

Intelligente Ampeln und Kreuzungen
Anpassung von Ampelphasen basierend auf Echtzeitverkehrsdaten und Priorisierung von Rettungsfahrzeugen und ÖPNV.

Stauvermeidung und Verkehrsmanagement
Echtzeitinformationen über Verkehrsbedingungen

Notfallkommunikation
Schnellere und effizientere Notfallreaktionen

Platooning
Synchronisierte Fahrzeugkolonnen zur Kraftstoff- und Emissionsreduktion

Neue Augen – nur eine von vielen Anwendungen von V2X

Grundsätzlich können mit V2X-Technologien Menschen und Fahrzeuge, aber auch andere sendende Objekte, vergleichbar mit einem Radar, rechtzeitig erkannt werden. Dabei berechnet die KI zusätzlich in Echtzeit die eigene Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit und bewertet die zugelieferten Bewegungsdaten des anderen Objekts. Auf Kollisionskurs? Zeit zu handeln! Angesichts der hohen Zahlen an Unfalltoten und Verletzten sowie den vielen Beinahe-Unfälle ist die Vermeidung von Kollisionen mit Blick auf das Ziel Vision Zero, also möglichst keine Unfalltoten oder Schwerverletzten im Straßenverkehr, enorm wichtig. Dies gilt ebenso für die weiterhin dringend notwendige Mobilitätswende, für die sowohl die objektive als auch die subjektive Sicherheit entscheidend sind. Laut einer Studie des Deutschen Verkehrssicherheitsrates haben beispielsweise etwa 45 Prozent der befragten Radfahrenden in Deutschland angegeben, beinahe in einen Dooring-Unfall verwickelt worden zu sein.
Über den Bereich Verkehrssicherheit hinaus gibt es viele weitere Anwendungsmöglichkeiten, bei denen es in erster Linie um mehr Effizienz und weniger Belastungen geht. Von großem Interesse für Städte dürften auch die anonymisierten Daten sein, die hier potenziell mitgenommen und in Realtime in die Computer und Lenkungssysteme eingespeist und mit weiteren Systemen verknüpft werden könnten.

Herausforderungen und Nutzen von V2X

Die bisherigen Entwicklungen, Erfahrungen und Einsatzmöglichkeiten deuten darauf hin, dass V2X künftig eine zentrale Rolle in der Unfallprävention und im Verkehrsmanagement spielen wird. Aber es gibt auch Herausforderungen zu bewältigen:

Interoperabilität:
Es muss sichergestellt werden, dass verschiedene V2X-Systeme nahtlos miteinander kommunizieren können.

Datenschutz:
Da große Mengen sensibler Daten gewonnen und übermittelt werden, ist der Schutz vor Missbrauch und unbefugtem Zugriff von höchster Bedeutung.

Akzeptanz:
Die breite Akzeptanz und Nutzung von V2X-Technologien hängt von der Bereitschaft der Hersteller, Entscheider und Nutzer ab, entsprechende Technologien und Geräte zu installieren und zu verwenden.

Erprobte Technologie und rasante Fortschritte

Was noch für viele Unternehmen, Entscheidernnen und Anwenderin-nen wie Zukunftsmusik klingt, wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten von Regierungsbehörden und privaten Organisationen vor allem in Nordamerika mit dem DSRC-Standard, der ohne Mobilfunktechnik funktioniert, in verschiedenen Szenarien ausführlich getestet. Diese V2X-Technologie sei ausgereift und die Kommunikationsstandards seien klar, so das allgemeine Credo. Die volle Wirkung entfalten kann V2X allerdings wohl erst mit dem technologischen Nachfolger Cellular V2X (C-V2X). Der zellulare, also um Mobilfunktechnik erweiterte Standard ermöglicht grundsätzlich die direkte Kommunikation mit jedem Smartphone selbst über größere Entfernungen. „Schon in wenigen Jahren werden die Fahrzeuge in ständigem Kontakt miteinander und ihrer Umgebung stehen und dann in der Lage sein, Informationen mit den Smartphones von Fußgängern oder mit einer Ampelanlage auszutauschen“, heißt es dazu beispielsweise von Porsche. Die Vehicle-to-X-Kommunikation macht rasante Fortschritte und die Namen der an der Entwicklung beteiligten Unternehmen lesen sich wie ein Who‘s who der Chip-, Telekom- und Automobilindustrie. Zusammen mit den sich exponentiell entwickelnden Basistechnologien und Bandbreiten in der Übertragung könnte V2X tatsächlich bereits in Kürze schrittweise ausgerollt werden.
Bei Audi schätzt man, dass sich allein in den USA mithilfe von C-V2X bis zum Jahr 2025 rund 5,3 Millionen Fahrzeuge, Verkehrsbaustellen, Bahnübergänge, Fahrräder und andere Einrichtungen und Fahrzeuge beziehungsweise Geräte vernetzen lassen. Bis zum Jahr 2030 könnte diese Zahl auf 61 Millionen anwachsen, darunter 20.000 Fußgängerüberwege, 60.000 Schulzonen, 216.000 Schulbusse und 45 Millionen Smartphones. „Die Roadmap zur Rettung von Menschenleben ist klar, und dass sich Audi zum Einsatz von C-V2X-Konnektivität verpflichtet, ist eine Investition in die Zukunft unseres Verkehrs-Ökosystems”, sagt Brad Stertz, Director of Audi Government Affairs.

„Damit V2X beziehungsweise Bicycle-to-X wirksam werden kann, bedarf es des Beitrags sämtlicher relevanter Akteure – nur das Bündeln aller Kompetenzen führt zum Ziel. Daher wollen wir eine breite Basis in Industrie, Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit schaffen, um gemeinsam das Thema voranzutreiben.“

Claus Fleischer, Geschäftsleiter Bosch eBike Systems

Die Kommunikation der verschiedenen Verkehrsteilnehmenden ist sehr komplex. V2X-Systeme sollen in nicht so ferner Zukunft dabei unterstützen.

Fahrradwirtschaft bringt sich aktiv bei V2X ein

Im Herbst letzten Jahres sorgte eine Pressemitteilung für Aufsehen, die die Gründung einer „Coalition for Cyclist Safety“ in Nordamerika thematisierte. 19 führende Unternehmen aus der Automobil-, Fahrrad- und Technologiebranche hatten sich in einer Initiative zusammengeschlossen, um die Sicherheit von Fahrradfahrerin-nen durch die Entwicklung und den Ausbau eines umfassenden V2X-Ökosystems auf C-V2X-Basis zu verbessern und die Zahl der jährlich mehr als 130.000 Verletzungsfälle bei Radfahrenden auf den Straßen der USA zu verringern. Hintergrund ist, dass das US-Verkehrsministerium seit 2022 dabei ist, Strategien zu entwickeln, um ein vernetztes V2X-Ökosystem zum Verbessern der Verkehrssicherheit Wirklichkeit werden zu lassen. Zu den Gründungsmitgliedern gehören aus der Fahrradindustrie die Accell-Gruppe, AT-Zweirad, BMC, Bosch eBike Systems, Koninklijke Gazelle, Shimano sowie Trek Bicycle Corp. Als neues Mitglied dazugekommen ist inzwischen auch Stromer. Auch wenn es bei der Koalition erst einmal „nur“ um die USA geht – die Entwicklung der Technologien und Standards reicht weit über Nordamerika hinaus und bedeutet einen Kick-off für die Player und Stakeholder in Europa. „Wenn wir uns den wachsenden Bereich der Machine-to-Machine- oder Vehicle-to-X-Kommunikation, also den automatisierten Informationsaustausch zwischen Endgeräten sowie Fahrzeugen anschauen, sehen wir sofort den Bedarf, weltweit gültige Standards zu entwickeln, von denen dann alle profitieren, zum Beispiel in der Verkehrssicherheit“, betont Tim Salatzki, Leiter Technik und Normung beim deutschen Verband ZIV – Die Fahrradindustrie. Ganz vorn beim Thema V2X dabei ist auch die Bosch-Gruppe, die als technologischer Schrittmacher fungiert. Viele Hersteller aus der Fahrradbranche, auch die kleineren, haben die Bedeutung der Technologie inzwischen erkannt: „V2X-Technologie ist essenziell für E-Bikes und Fahrräder, besonders um die Sicherheit der Radfahrerinnen zu erhöhen“, heißt es zum Beispiel von AT Zweirad mit der Marke Velo de Ville. „Die Technologie kann in neue E-Bikes direkt integriert oder bei älteren Modellen nachgerüstet werden, um die Kommunikation mit Fahrzeugen zu ermöglichen.“ Franz Raindl, Head of R&D bei Stromer, betont, dass es bei den Produkten des E-Bike- und S-Pedelec-Spezialisten aus der Schweiz stets darum ginge, diese noch sicherer zu machen. Ein Risikofaktor blieben allerdings die anderen Verkehrsteilnehmer. „Es ist daher wichtig, dass Fahrräder vor allem im städtischen Verkehr besser sichtbar und erkennbar sind.“ Die Kommunikation zwischen Fahrrädern, E-Bikes und anderen Fahrzeugen werde immer wichtiger und berge ein großes Potenzial, die Sicherheit durch Früherkennung zu erhöhen. „Wir arbeiten bereits an der V2X-Technologie für unsere Bikes, eine konkrete Aussage zum Timing der Markteinführung ist zum jetzigen Zeitpunkt aber noch nicht möglich.“
„Die technologischen Entwicklungen im Bereich der V2X-Kommunikation sind vielversprechend“, betont auch Claus Fleischer, Geschäftsleiter von Bosch eBike Systems. „Wir sind überzeugt, durch gemeinsame Anstrengungen das Fahrrad und E-Bike als integralen Bestandteil des V2X-Ökosystems etablieren zu können. Schließlich geht es nicht nur um Technologie. Es geht um sichere, effiziente und nachhaltige Mobilitätslösungen, die das Leben der Menschen verbessern. Es geht um die Gestaltung von Städten, in denen Menschen gerne leben und sich bewegen. Und es geht darum, einen Beitrag zur Bewältigung der globalen Herausforderungen unserer Zeit zu leisten.“
Das Bewusstsein und das Engagement für die Weiterentwicklung und breite Einführung von V2X ist also da, auch wenn man den Eindruck gewinnen kann, dass die Kommunikation dazu in Deutschland und Europa noch Luft nach oben hat. Vorbildcharakter könnte die „Coalition for Cyclist Safety“ sein, die sich auf die Vereinigten Staaten und Kanada konzentriert. Davon ausgehend werde sie „nach Wegen suchen, um gemeinsame Industrieansätze auch nach Europa und in andere Regionen der Welt zu bringen“. Damit Europa nicht ins Hintertreffen gerät, ist demnach wohl eine breite europäische Initiative gefragt.


Illustrationen: Volkswagen AG, bosch-ebike-coalition-for-cyclist-safety, Ettifos

Verkehrsknotenpunkte stellen sowohl hinsichtlich der objektiven als auch der gefühlten Sicherheit Radfahrender entscheidende Elemente der Verkehrsinfrastruktur dar. Die gängigen Lösungen greifen häufig zu kurz. Unfallgefahren und Unsicherheitsgefühle bleiben bestehen. Es gibt jedoch auch verschiedene neue Ansätze, die insbesondere an größeren städtischen Kreuzungen die Sicherheitsansprüche Radfahrender besser berücksichtigen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


Verkehrsknotenpunkte sind unfallträchtig. Ampeln, Protektionselemente und Co. können das allerdings beeinflussen.

Verkehrsknotenpunkte sind die unfallträchtigsten Streckenabschnitte für Radfahrende. Eine wesentliche Ursache für die Unfälle mit tödlicher Unfallfolge ist dabei, dass Lkw-Fahrer*innen überfordert sind. Sie müssen bei jedem Abbiegevorgang die direkte Sichtkontrolle durch Blicke nach vorne und zur Seite sowie in meist zwei Außenspiegel und einen Rampenspiegel durchführen – und zwar mehrfach während eines Abbiegevorgangs. In dessen Verlauf ändern sich gerade die Sichtbeziehungen zwischen Lkw-Fahrenden und Radfahrenden permanent.
Auch vor dem Hintergrund der Zielsetzung, den Radverkehrsanteil weiter signifikant zu steigern, ist es wesentlich, diejenigen zu erreichen, die zwar gerne Radfahren würden, sich jedoch mit der bestehenden Radverkehrsinfrastruktur zu unsicher fühlen. Verschiedene Studien zeigen, dass das Sicherheitsgefühl für die Entscheidung zugunsten oder gegen die Fahrradnutzung häufig ausschlaggebend ist. Insbesondere große, unübersichtliche Knotenpunkte, bei denen auf der Fahrbahn gefahren werden muss oder der Kfz-Verkehr die Radinfrastruktur kreuzt, schrecken viele vom Radfahren ab.

Faktoren für die Sicherheit Radfahrender

Fünf Faktoren erscheinen für die Vermeidung von Unfällen mit Beteiligung Radfahrender auf großen Kreuzungen besonders wichtig:

  1. Die uneingeschränkte Sicht
  2. Die Ungleichzeitigkeit von potenziellen Konflikten
  3. Eine geringe Geschwindigkeit, insbesondere beim Befahren von Konfliktflächen
  4. Klar ablesbare Verhaltensanforderungen
  5. Die Akzeptanz der lokalen Verkehrsregeln

Darüber hinaus weisen diverse Analysen zu den Sicherheitsgefühlen Radfahrender darauf hin, dass insbesondere folgende Aspekte den wünschenswerten Eindruck von Sicherheit vermitteln:

  1. Abstand zwischen Kfz- und Radverkehr
  2. Trennung zwischen Kfz- und Radverkehr
  3. Ungleichzeitiges Befahren von gemeinsam genutzten Verkehrsflächen
  4. Wenig kreuzende Verkehrsvorgänge

Verkehrsinseln schützen indirekt links sowie rechts abbiegende Radfahrer*innen.

Protektionselemente bei einer Radverkehrsführung in Mittellage können zu einer Verbessrung der Verkehrssicherhit beitragen.

Geschützte Kreuzung

Eine in letzter Zeit häufig diskutierte Gestaltungsform von Knotenpunkten ist die sogenannte geschützte Kreuzung. Diese zeichnet sich durch weit abgesetzte Furten (ca. 5 m) sowie linsenförmige Einbauten in den Eckbereichen aus. Der Radverkehr wird in der Regel auf Fahrbahnniveau geführt und ist durch einen Bordstein vom Fußverkehr getrennt. Zwischen Fahrbahn und Radverkehrsanlage liegen die Warteflächen für den Fußverkehr.
Der Aufstellbereich des Radverkehrs befindet sich deutlich vor dem gleich gerichteten Kfz-Verkehr, wodurch der Radverkehr in das direkte Sichtfeld des Kfz-Verkehrs rückt. Durch die klare bauliche Trennung mit vergleichsweise großem Abstand zum Kfz-Verkehr bietet die Gestaltungsform insbesondere auch eine als sicher wahrgenommene Radverkehrsführung. Die weit abgesetzten Furten ermöglichen es, dass sich ein Pkw nach dem Abbiegen vor der Radverkehrsfurt aufstellen kann. Der Abbiegevorgang wird somit zeitlich wie räumlich vom Kreuzen der Rad- und Fußverkehrsfurt getrennt. Enge Radien beeinflussen mitunter das Geschwindigkeitsverhalten. Für Radfahrer*innen ergibt sich zudem der Vorteil, dass sie ohne Wartezeiten an der Lichtsignalanlage frei rechts abbiegen können. Die Lage der Fuß- und Radverkehrsfurten führt überdies dazu, dass die Querungsdistanz des Fuß- und Radverkehrs verringert wird. Die geschützte Kreuzung greift damit alle eingangs genannten Faktoren für die Verkehrssicherheit auf.
Knotenpunkte so zu gestalten, hat jedoch insbesondere für den Fußverkehr auch einige Nachteile. Dieser muss die Radinfrastruktur zusätzlich zur Fahrbahn queren und hat zwischen Radweg und Fahrbahn nur einen vergleichsweise kleinen Aufstellbereich. Insbesondere bei größeren Fußverkehrsmengen sind daher mehr Konflikte zwischen Fuß- und Radverkehr zu erwarten. Die notwendige Querung des Radwegs schränkt zudem die Barrierefreiheit ein. Für seheingeschränkte Personen stellt der bevorrechtigte Radverkehr ein Hindernis dar. Auch zwischen dem Radverkehr der unterschiedlichen Richtungen kann es zu Konflikten kommen. Fahrerassistenzsysteme können den parallel fahrenden Radverkehr häufig aufgrund des Abstands zudem nicht mehr erfassen.
Voraussetzung für die Einrichtung einer geschützten Kreuzung ist eine ausreichende Flächenverfügbarkeit, was die möglichen Anwendungsfälle insbesondere im innerstädtischen Bereich einschränkt.
Diese Gestaltungsform empfiehlt sich insbesondere dann, wenn dem Sicherheitsgefühl ein hoher Stellenwert gegeben wird. Hohe Fußverkehrsmengen sprechen gegen die Einrichtung einer geschützten Kreuzung.

Eine Protected Bike Lane kann auch in Seitenlage angeordnet werden.

Fahrbahnführungen mit Protektionselementen

In den letzten Jahren galten Radfahrstreifen in Mittellage als eines der Standardelemente in der Knotenpunktgestaltung. Der geradeaus oder links fahrende Radverkehr wird dabei auf einem Radfahrstreifen zwischen den Fahrstreifen des Kfz-Verkehrs geführt. Der rechts abbiegende Kfz-Verkehr muss den Radfahrstreifen bereits vor dem eigentlichen Abbiegevorgang kreuzen. Diese Führungsform zielt darauf ab, einerseits den Radverkehr möglichst ins direkte Sichtfeld des Kfz-Verkehrs zu rücken und andererseits potenzielle Konflikte zu entzerren. Gegen diese Führungsform sprechen jedoch insbesondere die möglichen höheren Geschwindigkeiten des Kfz-Verkehrs in der Annäherung an den Knotenpunkt und damit potenziell auch beim Kreuzen des Radfahrstreifens sowie die von vielen als sehr unsicher empfundene Führung inmitten des Kfz-Verkehrs. Es ist auch fraglich, ob der Radverkehr gegenüber der Seitenlage tatsächlich besser sichtbar ist. So kam es in den letzten Jahren auch bei Radfahrstreifen in Mittellage zu mehreren tödlichen Unfällen, bei denen Lkw-Fahrende beim Kreuzen des Radfahrstreifens den Radverkehr übersahen. Nach einer Studie der TU Berlin nahm die Anzahl an Unfällen nach der Einrichtung von Radfahrstreifen in Mittellage zwar geringfügig ab, die Anzahl an schweren Unfällen nahm jedoch deutlich zu. Einige Städte (z.B. Hamburg) haben daher beschlossen, auf diese Führungsform zukünftig zu verzichten.
Um den genannten Defiziten entgegenzuwirken, bietet sich hier insbesondere der Einsatz von Protektionselementen an. Auch in Kombination mit Radfahrstreifen in Mittellage lassen sich Protektionselemente einsetzen. Der Vorteil liegt insbesondere in der Verkürzung des Konfliktbereichs, wenn die Protektionen nur einen begrenzten Abschnitt aufweisen, auf dem sich Kfz über den Radfahrstreifen hinweg auf den Rechtsabbiegefahrstreifen einordnen können. So lässt sich unterbinden, dass die Kfz-Fahrerinnen den Radfahrstreifen mit überhöhten Geschwindigkeiten kreuzen. Darüber hinaus trägt die bauliche Trennung zum Kfz-Verkehr auch zu einem verbesserten Sicherheitsgefühl bei. Radfahrstreifen in Mittellage sollten auch mit Protektionselementen eher bei geringen Kfz-Abbiegeverkehrsmengen zum Einsatz kommen. Daneben kommt ebenfalls eine geschützte Radverkehrsführung in Seitenlage in Betracht. Sie wird von der großen Mehrheit als sicherste Lösung empfunden. Der geradeaus gerichtete Radverkehr und der rechts abbiegende Kfz-Verkehr sollten bei dieser Lösung, wenn möglich ungleichzeitig das grüne Lichtsignal bekommen. Sofern diese Möglichkeit sich nicht sinnvoll umsetzen lässt, ist die Haltelinie des Radverkehrs zumindest deutlich vorzuziehen, um den wartenden Radverkehr auch aus einem Lkw deutlich erkennen zu können. Aufstelltaschen, die seitlich durch Einbauten flankiert werden, stellen eine weitere Option dar, tatsächlichen und gefühlten Schutz herzustellen. Dies gilt vor allem für abbiegende Radfahrerinnen. Für die objektive Sicherheit bieten die Einbauten den zusätzlichen Vorteil, dass der Kfz-Verkehr nur mit geringer Geschwindigkeit rechts abbiegen kann. Signalgeber für den Radverkehr können auf einer solchen Insel platziert werden, was zusätzliche signaltechnische Optionen eröffnet.
Eine Fahrbahnführung des Radverkehrs mit Protektionselementen im Kreuzungsbereich hat im Allgemeinen einen vergleichsweise geringeren Flächenbedarf. Konflikte mit dem Fußverkehr können vermieden werden. Insbesondere bei Knotenpunkten mit hohem Fußverkehrsaufkommen scheint sich die Führung des Radverkehrs auf der Fahrbahn mit Protektionselementen als Vorteil zu erweisen.

Durch eine signaltechnische Trennung von Konfliktströmen könnten folgenschwere Unfälle unterbunden oder zumindest wesentlich unwahrscheinlicher werden. Häufig besteht die Befürchtung, dass dabei die Leistungsfähigkeit des Knotenpunkts gemindert und die Wartezeiten sowohl für den Kfz-Verkehr als auch für den Fuß- und Radverkehr erhöht werden. Das dies jedoch nicht der Fall sein muss und mit einer konfliktfreien Signalsteuerung die Leistungsfähigkeit unter Umständen sogar erhöht werden kann, zeigen zahlreiche bereits umgesetzte oder aktuell geplante Beispiele.

Die Umwandlung des Knotenpunktes York-Ring/Grevener Straße in Münster zeigt exemplarisch, dass eine getrennte Signalisierung ohne Ausbau der Verkehrsflächen hergestellt werden kann.

Getrennte Signalisierung

Neben der baulichen Gestaltung eines Knotenpunktes bietet die Signalisierung erhebliche Einflussmöglichkeiten auf die Verkehrssicherheit Radfahrender. Es wird zwischen der bedingt verträglichen und der konfliktfreien beziehungsweise „getrennten“ Signalsteuerung unterschieden. Während bei der bedingt verträglichen Signalsteuerung abbiegende Kfz und geradeaus fahrende Radfahrer*innen gleichzeitig grün haben, sind ihre Abbiegeströme bei der konfliktfreien Signalisierung zeitlich voneinander getrennt. In der Regel ist dabei die Einrichtung eigener Abbiegefahrstreifen für den Kfz-Verkehr nötig.
Immer noch ist die bedingt verträgliche Signalisierung die Standardlösung in Deutschland. Durch eine signaltechnische Trennung von Konfliktströmen könnten aber folgenschwere Unfälle unterbunden oder zumindest wesentlich unwahrscheinlicher werden. Häufig besteht die Befürchtung, dass dabei die Leistungsfähigkeit des Knotenpunkts gemindert und die Wartezeiten sowohl für den Kfz-Verkehr als auch für den Fuß- und Radverkehr erhöht werden. Das dies jedoch nicht der Fall sein muss und mit einer konfliktfreien Signalsteuerung die Leistungsfähigkeit unter Umständen sogar erhöht werden kann, zeigen zahlreiche bereits umgesetzte oder aktuell geplante Beispiele. So kann der Kfz-Verkehr bei hohen Fuß- und Radverkehrsmengen, gleichzeitig hohen Kfz-Abbiegeverkehrsmengen und bedingt verträglicher Signalsteuerung nicht ungestört abfließen. Eine Trennung der Grünphasen beschleunigt dann den Abfluss des Kfz-Verkehrs. Bei Knotenpunkten mit starker Ausprägung in eine Haupt- und eine Nebenrichtung können häufig Freigabezeiten der Nebenrichtung zugunsten einer getrennten Signalisierung umverteilt werden. Bei Knotenpunkten mit bereits getrennter Signalisierung der Linksabbiegeverkehre (Kfz) lassen sich häufig parallel dazu auch konfliktfrei Rechtsabbiegeverkehre freigeben und dafür bei Freigabe des parallelen Fuß- und Radverkehrs sperren.
Die Änderung der Fahrstreifenaufteilung bietet umfassende Möglichkeiten. Ist im Bestand kein Abbiegefahrstreifen vorhanden oder ist ein zusätzlicher Abbiegefahrstreifen erforderlich, so kann häufig durch eine Umverteilung der Fahrstreifen zusätzliche Kapazität für die Abbiegeverkehre geschaffen werden. Im Gegenzug kann eine getrennte Grünphase für den Radverkehr eingerichtet werden.
In den Niederlanden wird in vielen Städten mittlerweile das Signalzeitenprogramm in jeder Sekunde auf Grundlage der aktuell vorliegenden Mengen sämtlicher Verkehrsarten vollständig neu berechnet. Die Verteilung der Freigabezeiten erfolgt auf Grundlage von Gewichtungsfaktoren, wodurch dem Radverkehr eine hohe Priorität eingeräumt werden kann. Insgesamt werden auf diese Weise zeitliche Spielräume geschaffen, um eine Trennung der Verkehrsströme zu ermöglichen. In Deutschland finden diese Steuerungsverfahren bisher kaum Anwendung.

Die Einsatzmöglichkeiten der getrennten Signalisierung sind groß:

  • Hohe querende Fuß- und Radverkehrsmengen
  • Starke Rechtsabbiegeströme
  • Gesicherte Signalisierung von Linksabbiegern bereits vorhanden
  • Große Diskrepanz der Verkehrsmengen der Haupt- und Nebenrichtung
  • Ungleichmäßige Fahrstreifenauslastung
  • Zweirichtungsradwege
  • Hoher Schwerverkehrsanteil

Die getrennte Signalisierung leistet einen großen Beitrag zur Vermeidung folgenschwerer Abbiegeunfälle. Hinsichtlich der Verkehrssicherheit ist die Kombination der getrennten Signalisierung mit den gezeigten Gestaltungsmöglichkeiten als geschützte Kreuzung oder Fahrbahnführung mit Protektionselementen zu bevorzugen. Das Potenzial der getrennten Signalisierung ist sehr viel größer, als es derzeit in der Praxis Anwendung findet und sollte bei Neu- und Umbauten immer geprüft werden. In der Praxis schränken die Platzverhältnisse einerseits und die Straßenraumansprüche der verschiedenen Nutzungen andererseits ideale Lösungen häufig ein. Wenn es beispielsweise nicht möglich ist, eigene Abbiegefahrstreifen zu schaffen, sind Rückfallebenen zu erörtern, wie zum Beispiel auch die sogenannten Kombi-Fahrstreifen, auf denen rechts abbiegender Kfz-Verkehr und geradeaus gerichteter Radverkehr gemeinsam zugelassen werden.


Bilder/Illustration: Argus, mapillary.com – descilla – 2016, mapillary.com – hangy, 2021

Belasten Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung benachbarte Straßennetze? So lautet ein populäres Gegenargument. Langfristige Messungen in europäischen Städten zeigen, dass das so nicht stimmt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


Als der britische Premierminister Rishi Sunak eine Studie seines Verkehrsministeriums über die Low Traffic Neighbourhoods (LTNs) in den Händen hielt, war die Überraschung groß. Monatelang waren er und seine Tory-Regierung populistisch mit dem Verkehrsthema auf Stimmenfang gegangen. In Interviews stellte sich Sunak „an die Seite der Motorisierten“. Wetterte gegen eine weitere Ausweitung der Umweltzone ULEZ auf die Londoner Vororte. Legte sogar einen Plan vor gegen die 15-Minuten-Stadt, Busspuren und – verkehrsberuhigte Viertel. Seine Argumente gegen die LTNs lauteten: Menschen vor Ort würden die Verkehrsberuhigungsmaßnahmen ablehnen. Nachbarbezirke mit mehr Verkehr belastet. Niemand komme mehr mit dem eigenen Auto von A nach B. Feuerwehr und Krankenwagen würden im Einsatz behindert. Die eigens vom Premier in Auftrag gegebene Studie sollte diese Argumente nur noch mit Daten unterfüttern. Möglicherweise, um im nächsten Schritt den Rückbau der LTNs anzugehen. Die britische Tageszeitung „The Guardian“ berichtet, dass der nächste Schritt ein anderer war: das Zurückhalten einer Veröffentlichung der Studienergebnisse – auch wenn die Regierung eine Verzögerung dementiert. Klar ist: Bei der Untersuchung trat gerade das Gegenteil des Gewünschten zutage. Eine Mehrheit der befragten Anrainer*innen befürworten die eingeführten Maßnahmen. Notfalleinsätze in den LTNs hätten sich nach Anfangsschwierigkeiten eingependelt. Eine zusätzliche Belastung der umliegenden Straßennetze wurde nicht beobachtet. Bewahrt vor ihrem tiefen Fall bei den Kommunalwahlen hat der Kulturkampf gegen eine klimafreundliche Verkehrspolitik die Torys auch nicht wenig.

Low Traffic Neighbourhoods sind populär und wirken im erwünschten Sinn. Seit der Implementierung 2021 werden auch im Ortsteil Highbury in London Islington mehr lokale Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad erledigt.

Flächenhafte Verkehrsberuhigung effektive

Was bei der LTN-Studie herauskam, zeigt sich ebenso als Trend in neueren Untersuchungen europäischer Städte. So hat das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) durchgeführte Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung in unterschiedlichen Stadtstrukturen analysiert. Dafür wurden Projekte mit Vorher-Nachher-Erhebungen in flächenhafter und linienhafter Verkehrsberuhigung eingeteilt. Im letzten Fall beschränken sich Maßnahmen auf einzelne Straßen. Zum Beispiel Fahrradstraßen. In Flächenprojekten werden einzelne Viertel oder ganze Innenstädte umgestaltet. Projektleiterin Uta Bauer hält sie für besonders wirkungsvoll: „Bei flächenhafter und konsequenter Gestaltung ist ein Verkehrsraum attraktiver und besser erlebbar, als wenn ich nur ein paar Hundert Straßenmeter umgestalte. Das lässt sich leichter mit dem Auto umfahren. Gestalte ich ein ganzes Areal oder einen Stadtteil, wird die Umgehung schwieriger.“ Als Beispiele nennt das Difu neben anderen die Superblocks in Barcelona oder die Low Traffic Neighbourhoods in London.

Uta Bauer, Difu-Projektleiterin

Verhaltensänderung bewirkt Verpuffung

In den meisten Erhebungen bestätigt sich das Phänomen einer „Traffic Evaporation“. Uta Bauer sagt: „Wird in den Straßenraum eingegriffen, um Verkehre zu reduzieren, gehen viele Prognosen davon aus, dass sich an anderer Stelle genauso viel Verkehr wiederfinden müsste. Was man jedoch in Vorher-Nachher-Messungen sieht: Der motorisierte Individualverkehr verpufft. Er taucht nicht in gleicher Größenordnung woanders auf.“ Die Größenordnung einer solchen Verpuffung liegt laut Difu bei flächenhaften Verkehrsberuhigungsprojekten zwischen 15 und 28 Prozent. Bei gesamten Innenstädten sogar bis 69 Prozent. Im Umfeld einzelner Straßen zwischen 4 und 52 Prozent.
Obgleich die Messungen durchaus Verlagerungseffekte in angrenzende Straßen zeigen, sind sie moderat. Grund dafür ist ein verändertes Verkehrsverhalten. Je attraktiver Fuß- und Radwege sind, umso häufiger beanspruchen die Menschen sie. Uta Bauer: „Gerate ich jeden Morgen in einen Stau, überlege ich mir, ob ich weiter sehenden Auges da hineinfahren will. Verbessert man den Verkehr für Fußgänger und Fahrradfahrer, sagen sich Menschen, ich brauche nicht ins Auto zu steigen. Sind die Wege sicher, schicke ich mein Kind auch alleine los und chauffiere es nicht.“
Umgekehrt ist der Effekt bei einem weiteren Ausbau von Autostraßen. „Die neuen Befunde korrelieren mit Erkenntnissen über Verkehrserzeugung aus den 1960er-Jahren. Infrastruktur, die man fürs Auto baut, wird zum Autofahren genutzt. Bis die neuen Fahrspuren wieder voll sind“, sagt die Projektleiterin. Wird das Fahren mit dem Auto attraktiv, werden weiter entfernte Ziele gewählt. Die tägliche „Unterwegszeit“ verändert sich jedoch kaum. Sie liegt seit Jahrzehnten bei etwa 80 Minuten pro Tag. Die alte Erkenntnis „Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten“, scheint in der Politik noch immer nicht angekommen. So will der Bundesverkehrswegeplan 2030 Verkehrsstaus nach wie vor mit mehr Autobahnkilometern bekämpfen.

Schon seit 2016 setzt Barcelona systematisch Superblocks im gesamten Stadtgebiet um. Mittlerweile sind 13 Superblöcke implementiert oder befinden sich in einer konkreten Planungsphase.

Superblocks sind langfristig erfolgreich

Seit 2016 setzt Barcelona systematisch Superblocks im gesamten Stadtgebiet um. Inzwischen sind 13 Superblöcke implementiert oder befinden sich in der konkreten Planungsphase. Ziele sind die Verbesserung der Lebensqualität in Wohnvierteln, die Stärkung von Einzelhandel und Gas-tronomie sowie die Reduzierung von Lärm- und Luftschadstoffbelastungen. Werden Straßen und Plätze neu aufgeteilt, dürfen neben Rettungs-, Liefer- und Versorgungsfahrzeuge nur noch Anrainer*innen und Lieferverkehr mit 10 km/h die Quartiere durchfahren. Öffentliche Verkehrsmittel, Fahrrad- und Fußgängerwege verleiten Autofahrer dazu, ihr Fahrzeug stehen zu lassen.Xavier Matilla Ayala überwachte das Projekt während seiner Amtszeit. Im Hinblick auf spätere Verlagerungseffekte spricht der Stadtarchitekt von zwei Beobachtungsmomenten. Sechs Jahre nach der Implementierung habe man festgestellt, „dass es einen ersten Moment gibt, in dem Fahrzeuge vor einer Fußgängerzone versuchen, auf umliegende Straßen auszuweichen.“ Diese Beobachtung scheint der klassischen Argumentation gegen Verkehrsberuhigungsmaßnahmen zunächst recht zu geben. „Später gibt es einen zweiten Moment. Das Verkehrsaufkommen in den Nachbarstraßen sinkt und kehrt in den Ausgangszustand zurück.“ So wurde in der Superilla de Sant Antoni die Calle Borrell im Jahr 2018 zur Fußgängerzone erklärt. Ein Jahr später nahm der Autoverkehr in der angrenzenden Straße um 20 Prozent zu. Vier Jahre danach ist er nahezu derselbe wie vor dem Superblock. In Sant Antoni verringerte sich der Kfz-Verkehr in den verkehrsberuhigten Straßen um 82 Prozent. Der Fußverkehr nahm um 28 Prozent zu.

Xavier Matilla Ayala, Stadtarchitekt Barcelona

Untersuchungszeiträume beeinflussen die Ergebnisse

Xavier Matilla weist deshalb auf den entscheidenden Zeitfaktor bei Evaluierungen von Projekten hin: „Man sollte sich bewusst sein, dass diese Maßnahmen Zeit brauchen. Daher sollte man auch geduldig sein.“ Dass unterschiedliche Untersuchungszeiträume zu anderen Ergebnissen über Belastung und Verpuffungseffekte führen, räumt auch Uta Bauer ein: „Dauert die Evaluation nur ein paar Wochen, lassen sich Veränderungseffekte weniger nachweisen als bei einem längeren Zeitraum. In Verkehrsversuchen beobachtet man häufig ein Jahr. Aber die Interventionszeiträume variieren. In Hamburg-Ottensen hat es eine Klage gegeben und der Verkehrsversuch ist vorzeitig abgebrochen worden. Beispiele aus London und Barcelona, wo flächendeckend über Jahre gemessen wird, sind valider für Aussagen über die Wirkung von Maßnahmen.“
Das Difu verweist auch auf eine Studie, die stadtweit für Barcelona öffentliche Verkehrszählungsdaten betrachtet. Diese erweiterte Perspektive scheint für zukünftige Evaluationen interessant. Darin wurden nicht nur Verkehrszählungen im unmittelbaren Projektgebiet ausgewertet. Die Zahlen wurden in Beziehung zur Verkehrsentwicklung von Straßen im weiteren Umkreis sowie im Rest der Stadt gesetzt. Demnach verringerte sich das Verkehrsaufkommen in den Straßen mit Interventionsmaßnahmen um 14,8 Prozent. In der Umgebung ging das Verkehrsaufkommen im Vergleich um knapp ein Prozent zurück. In unmittelbar angrenzenden Parallelstraßen zu den von Maßnahmen betroffenen Straßen wurde ein Anstieg um 0,7 Prozent des Verkehrsaufkommens verzeichnet.

Londons Mini-Hollands gelten als kleine Superblocks. Zu den eingeführten Maßnahmen dort gehören Tempolimits und Kfz-Durchfahrtssperren sowie umgestaltete Straßen und Plätze zu „Pocket Parks“.

Mini-Hollands und Low Traffic Neighbourhoods

Kleine Superblocks am Londoner Stadtrand wie in Waltham Forest heißen „Mini-Hollands.“ Dort wurden Tempolimits und Kfz-Durchfahrtssperren sowie umgestaltete Straßen und Plätze in Form von „Pocket Parks“ eingeführt. Der Kfz-Verkehr nahm um 50 Prozent innerhalb des Areals ab, um 5 Prozent auf unmittelbar anschließenden Hauptstraßen. Ähnliche Effekte gab es in den citynahen Low Traffic Neighbourhoods. Durch die Einrichtung von Einbahnstraßen sowie bauliche und gestalterische Elemente in Form von Pollern oder Blumenkübeln wurde der Durchgangsverkehr unterbunden. Der Umstiegsprozess braucht mitunter ein bis zwei Jahre. Dann gehen auch dort mehr Verkehrsteilnehmerinnen zu Fuß oder fahren mit dem Fahrrad. Eine weitere Studie, die insgesamt 46 LTNs einschließt, belegt die Abnahme des Autoverkehrs um durchschnittlich 47 Prozent innerhalb der LTNs. Der Verkehr an umgebenden Hauptstraßen nahm durchschnittlich um ein Prozent zu. Messungen im Londoner Bezirk Lambeth zeigen, dass Anrainerinnen seit Umsetzung eines LTN etwa 1,3 Kilometer weniger pro Tag mit dem Auto zurücklegen. Ein weiterer Befund, der die Behauptung widerlegt, dass die erzwungenen Umwege automatisch zu mehr gefahrenen Kfz-Kilometern führen.

50 %

In den Mini-Hollands halbierte
sich der Kfz-Verkehr.
Auf anschließenden Hauptstraßen
sank er um fünf Prozent.

Der Transformationsprozess ist nicht aufzuhalten

Restriktive Maßnahmen, die den Autoverkehr in den Städten reduzieren, wirken. Uta Bauer erklärt dazu: „Solange Menschen schneller mit dem Auto von A nach B kommen und umsonst parken können, nutzen sie dieses Angebot. Restriktiv bedeutet, dass das Parken etwas kosten muss. Dass die Wahrscheinlichkeit sinkt, einen Parkplatz zu bekommen. Ich muss dem Autoverkehr etwas an Fläche und Bequemlichkeit wegnehmen. Auf den vielen kurzen Wegen in den Städten ist das durchaus zumutbar. Nur dann werden das Fahrrad, Zufußgehen und der ÖPNV attraktiver.“ Die beschriebenen Effekte sollten bei der Modellierung von Verkehrsberuhigungsmaßnahmen in Kommunalpolitik und Verwaltungen stärker abgebildet werden.
Denn die Erfahrungen europäischer Städte zeigen auch, dass Transformationsprozesse anfangs Widerstand und Gegenwehr auslösen. In der katalanischen Hauptstadt finden verkehrsberuhigte Zonen den Zuspruch der Anwohnerinnen, führten aber auch schon zu Protesten und Klagen. So ordnete ein Verwaltungsgericht wegen planungsrechtlicher Fehler an, die grüne Achse an der Consell-de-Cent-Straße den Autofahrerinnen zurückzugeben. Das Urteil wird nach Meinung von Xavier Matilla die Superblockprojekte nicht aufhalten: „Derzeit sind die meisten Menschen von dem Ergebnis begeistert. Selbst die Kläger sagten nach der Urteilsverkündung, dass sie keinen Aufschub für die Arbeiten fordern würden. Zwar gibt es immer noch einige Autolobbys gegen Superblocks. Ebenso gibt es starke soziale Bewegungen, die mehr fordern und durchsetzen. Ich bin davon überzeugt, dass der Transformationsprozess nicht mehr aufzuhalten sein wird.“ So haben gerade drei weitere Stadtteile ihre Teilnahme am Superblock-Programm beantragt. Und im Difu-Papier heißt es: „Nach einigen Monaten verstummen die meisten Gegenstimmen und der städtische Straßenraum gewinnt an Lebensqualität zurück.“

Weniger Autos, flüssigere Verkehre

Als Ursache für die Klage in Barcelona wird eine fehlende Bürgerbeteiligung genannt. Vorbeugend hilfreich gegen Proteste ist eine entsprechende Kommunikation. So hat Uta Bauer auch eine positive Botschaft für Kfz-Nutzer*innen im Gepäck. Sie hört man bei Ankündigung von Eingriffen in den Verkehr noch zu selten: „Die Zahlen machen deutlich: In Städten wird die Fahrgeschwindigkeit von Autos dort schneller, wo sich ein Teil der Verkehrsteilnehmer anders fortbewegt. Wer auf das Auto angewiesen ist, profitiert also letztendlich. Auch der Lieferverkehr gewinnt, wenn die Masse an Autos, die unterwegs ist, weniger wird. Der Effekt ist, dass die verbleibenden Autofahrer besser und schneller vorankommen. Dieses Positive müsste mehr in den Vordergrund gestellt werden.“


Mehr Informationen:

Difu-Papier:
https://difu.de/sites/default/files/media_files/Verkehrsberuhigung_blo.pdf

Department for Transport (DfT) / Research Report:
https://assets.publishing.service.gov.uk/media/65f400adfa18510011011787/low-traffic-neighbourhoods-research-report.pdf

Bilder: Josep Maria de Llobet, David Ausserhofer – Difu – 2015, TB, Xavier Matilla Ayala, Ayuntamiento de Barcelona, ADFC – Gomez

Die Mitarbeiter in den Verwaltungen gestalten die Straßen der Zukunft. Damit die Planer ihren Job überhaupt machen können, müssen die Abläufe neu strukturiert werden. Ein neues Difu-Projekt zeigt Probleme, Potenziale und Lösungen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


Manchmal braucht es wenig, um Radfahren sicherer zu machen. In Frankfurt waren es neue Markierungen, eine Handvoll Poller, ein Sicherheitsstreifen und ein paar Trennelemente, die rund um die Messe die Radfahrenden vor dem Autoverkehr und Dooring-Unfällen schützen. Der Umbau brauchte gerade mal sechs Monate. Das Radfahrbüro hat ihn geplant und das Amt für Straßenbau und Erschließung alles umgesetzt.
„Bei den bestandsnahen Maßnahmen wie Modalfilter oder Markierungen sind wir sehr schnell“, sagt Stefan Lüdecke, Frankfurts Radverkehrskoordinator. Das liegt an der Struktur in der Verwaltung. Das Radfahrbüro gehört zum Straßenverkehrsamt. Deshalb können seine Kolleginnen und Kollegen die Radinfrastruktur planen und auch selbst anordnen. Seit Januar leitet Lüdecke zudem die neue Stabsstelle Radverkehr in Frankfurt, inklusive Verfügung des Oberbürgermeisters. Damit wird der Ausbau des Radverkehrs in Frankfurt zur Chefsache.
Von so viel Rückenwind für die Verkehrswende träumen viele Radverkehrsplanerinnen. In der Regel wandern ihre Pläne über etliche Schreibtische in unterschiedlichen Ämtern, was Zeit kostet und zu Reibungsverlusten führt. Viele Kommunen wollen deshalb ihre Abläufe umstrukturieren, um den Ausbau des Radverkehrs zu beschleunigen. Hilfestellung bekommen sie dabei vom Deutschen Institut für Urbanistik. Die Mobilitätsexpertinnen aus Berlin haben in den vergangenen drei Jahren mit Kommunen und Kommunikationsexpertinnen bundesweit dazu ein Projekt durchgeführt. Es trägt den sperrigen Titel „Beseitigung von Umsetzungshemmnissen in der kommunalen Radverkehrsplanung – soziotechnische Innovationen und kommunale Steuerungsmöglichkeiten“ (KoRa). In über drei Dutzend Interviews spürten die Mobilitätsexpertinnen Stolpersteine in den Kommunen auf, identifizierten „Good Practices“ und entwickelten in verschiedenen Workshops mit den Mitarbeiter*innen der Kommunen unter anderem passgenaue Organisationsformen für ihre Planungsprozesse.
Für viele Verwaltungen ist das ein Umbruch in der Arbeitsweise. „Traditionell sind Verwaltungen eher hierarchisch organisiert“, sagt Martina Hertel, Mobilitätsexpertin am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu). Mobilität sei aber eine Querschnittsaufgabe, für die Experten verschiedener Fachbereiche und Hierarchieebenen zusammenarbeiten müssen. Diese Zusammenarbeit zu organisieren und zu strukturieren, sei deshalb mancherorts eine Herkulesaufgabe.
Für den Wandel lohnt sich bei einigen Aspekten der Blick in die freie Wirtschaft. „Auf vielen Ebenen funktionieren Verwaltungen wie große Unternehmen etwa beim agilen Management“, sagt Jessica Le Bris vom Beratungsunternehmen „Experience“, die mit ihren Kolleginnen und Kollegen viele der Projekt-Workshops durchgeführt hat.
Der Bau eines Radwegs sei auf verschiedenen Ebenen mit der Herstellung eines Produkts vergleichbar. Um ein neues Produkt zu entwickeln, arbeiten in Unternehmen Experten aus verschiedenen Fachbereichen in wechselnden Teams zusammen – etwa aus der Entwicklung, der Fertigung, der Marktforschung, dem Produktdesign, der Buchhaltung oder dem Verkauf. Dabei folgen alle Beteiligten einem genau strukturierten Prozess und arbeiten klar umrissene Aufgabenpakete ab. Der aktuelle Stand des Projekts und die anstehenden Schritte sind für alle jederzeit digital einsehbar. Jedes Projekt wird von einem Projektmanager betreut.
„Ähnliche Strukturen benötigen die Verwaltungen“, sagt Jessica Le Bris. Die Beteiligten müssen Arbeitsprozesse umstrukturieren und eine neue Teamkultur entwickeln. Momentan entstehen in den Kommunen an vielen Stellen Reibungsverluste, weil etwa Checklisten für die einzelnen Planungsschritte fehlen oder die Fachbereiche nicht ausreichend eingebunden werden. „Immer wieder werden weit fortgeschrittene Radverkehrsplanungen gestoppt, weil der Denkmalschutz, der Naturschutz oder das Amt für Inneres ein Veto einlegen“, sagt Le Bris. Wenn mit Planungsbeginn alle beteiligten Personen einbezogen und integriert werden, kann das verhindert werden.

„Ein gutes Projektmanagement hilft dabei, einen Zuständigkeitsatlas zu etablieren und das Netzwerken der Mitarbeitenden zu fördern“

Jessica Le Bris, Beratungsunternehmen Experience

Alle Experten an Bord?

In Vorreiterstädten wie Hamburg ist das seit Jahren üblich. Als Kirsten Pfaue dort 2015 Radverkehrskoordinatorin wurde, hat sie das Bündnis für den Radverkehr initiiert. Alle, die in der Hansestadt für den Bau von Radinfrastruktur wichtig sind, machen mit: neben verschiedenen Senatsbehörden etwa auch die Bezirksämter, der Landesbetrieb für Straßen, Brücken und Gewässer, die Hamburger Hafenverwaltung und die HafenCity Hamburg GmbH. Mit ihnen hat Kirsten Pfaue damals einen ausführlichen Maßnahmenkatalog erarbeitet, um das Radnetz und die nötige Infrastruktur aufzubauen. In den vergangenen Jahren ist das Bündnis von 19 auf 28 Projektpartner angewachsen.
Das Bündnis schafft die notwendige Struktur, indem es die Fachgebiete mit den jeweiligen Ansprechpartnern definiert. Das ist hilfreich, wenn im Zuge von Politikwechseln die Zuständigkeit umstrukturiert wird. „Ein gutes Projektmanagement hilft dabei, einen Zuständigkeitsatlas zu etablieren und das Netzwerken der Mitarbeitenden zu fördern“, sagt Le Bris.

Effizienz steigern, Ingenieurinnen entlasten Ein Zuständigkeitsatlas kann dabei helfen, die anfallenden Aufgaben bei der Radverkehrsplanung fachspezifisch zu verteilen. Der Bedarf ist da. Eine Analyse der Denkfabrik Agora hat 2023 gezeigt, dass Radver-kehrsplanerinnen gerade mal 25 bis 45 Prozent ihrer Arbeitszeit mit dem Planen von Radinfrastruktur verbringen. In der übrigen Zeit beantworten sie Presseanfragen, Anfragen aus der Politik und der Bürgerschaft oder sie organisieren Bürgerbeteiligungen. „In vielen Kommunen ist es selbstverständlich, dass der Radverkehrsplaner die Räume für Bürgerbeteiligungsverfahren mietet und falls nötig auch das Catering organisiert“, sagt Martina Hertel. In Zeiten von Fachkräftemangel verschwenden die Kommunen auf diese Weise wertvolle Ressourcen. Dabei existieren bereits Lösungen.
„In Heidelberg beispielsweise managt ein Team die Öffentlichkeitsarbeit und organisiert die Bürgerbeteiligungsverfahren für die gesamte Verwaltung“, sagt die Difu-Expertin. Die Teammitglieder beraten die Planerinnen, übernehmen die Kommunikation, die organisatorischen Aufgaben und moderieren gegebenenfalls die Veranstaltung. „Für den Inhalt sind weiterhin die Planer zuständig, alles andere erledigen die Kommunikationsexperten“,sagt Martina Hertel. Das sichert die Qualität der Bürgerbeteiligungsverfahren und verschafft den Ingenieurinnen mehr Zeit zum Planen.

Farbe, Trennelement und Plastikpoller schützen die Radfahrenden in der Osloer Straße nahe der Messe vor dem Autoverkehr.

Stockt der Ausbau, hakt der BWLer nach

Die Hansestadt Hamburg ist bereits eine Stufe weiter. Dort werden die verschiedenen Radverkehrsprojekte per Controlling optimiert. „Betriebswissenschaftler kontrollieren, ob die verschiedenen Projekte umgesetzt und die Zeitpläne eingehalten werden“, sagt Martina Hertel. Verspäte sich ein Ausbauschritt, haken die BWLer nach, informieren die Beteiligten und bringen den Prozess wieder ans Laufen, sagt sie. Die Voraussetzung für diese effiziente Vorgehensweise sei eine gemeinsame Datenbasis und damit die Digitalisierung der Kommune.

„Die Radverkehrsplaner brauchen digital und organisatorisch geeignete Strukturen, um schnell ins Handeln zu kommen“

Martina Hertel, Mobilitätsexpertin am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu)

Digitalisierung wird verzögert

In vielen Verwaltungen ist die Digitalisierung bislang nicht angekommen. Im Gegenteil, vielerorts werden laut Martina Hertel weiterhin PDFs oder Excel-Tabellen in Aktenmappen weitergereicht. „Die Zahlen sind mit dem Ausdruck schon fast wieder veraltet“, sagt sie. In Zeiten von klammen Kassen scheitert die Umstellung jedoch häufig am Geld, am Personal und am Wissen. Manchmal fehle aber auch die grundlegende Erkenntnis, dass die Digitalisierung notwendig sei für eine moderne Verwaltung.
Damit die Verkehrswende in den Kommunen gelingt, müssen die Vorhaben und Maßnahmen deutlich schneller umgesetzt werden als bisher. „Die Radverkehrsplaner brauchen digital und organisatorisch geeignete Strukturen, um schnell ins Handeln zu kommen“, sagt Martina Hertel. Das ist auch relevant, um die Bevölkerung in die Verkehrswende besser einzubinden und Konflikte beim Umbau gegebenenfalls schnell abwenden zu können. Das zeigt ein Beispiel aus Frankfurt.

Oeder Weg in Frankfurt: Weniger Autos, mehr Fahrräder und Fußgänger: Die Umwandlung des Oeder Wegs in Frankfurt zu einer fahrradfreundlichen Straße hat positive Auswirkungen auf die Verkehrsbelastung.

Zunächst sind viele Autofahrer auf Seitenstraßen ausgewichen. Um das zu ändern, wurden sogenannte Diagonalfilter installiert, die nur Fahrradfahrende und Fußgänger*innen durchlassen.

Konflikte schnell lösen können

Dort wurde im Jahr 2021 die Nebenstraße Oeder Weg temporär in eine 1,3 Kilometer lange Fahrradstraße umgebaut. Vor dem Umbau waren dort 9.000 Autos unterwegs. „Mit dem Umbau hat sich die Zahl der Pkw halbiert und die Zahl der Radfahrenden verdoppelt“, sagt Radverkehrskoordinator Stefan Lüdecke. Allerdings sind die Autofahrerinnen nicht auf die Hauptstraßen ausgewichen, sondern in die angrenzenden Nebenstraßen. Die Anwohnerinnen beschwerten sich über Lärm und Verkehr bei den Radverkehrsplanerin-nen. Damit der Konflikt nicht weiter eskaliert, diskutierten Lüdecke und sein Team zeitnah mit dem Ortsbeirat und den Bürgerinnen. „Wir haben angeboten, mit Modalfiltern ein Blockkonzept zu testen“, sagt Lüdecke. Nach einer weiteren Anhörung und der Abstimmung mit der Brandschutzbehörde wurden rund vier Monate später Poller und Schilder installiert. Laut den Wissenschaftlern der Frankfurt University of Applied Sciences, die den Umbau begleiteten, hat sich der Autoverkehr seitdem auf die Hauptstraßen verlagert. Im gesamten Quartier sind nun deutlich weniger Fahrzeuge unterwegs als zuvor und die Zahl der Unfälle hat sich ebenfalls halbiert.
In Frankfurt wurden die wichtigsten Voraussetzungen für den schnellen Ausbau des Radverkehrs in der Verwaltung bereits geschaffen. Aber weiterhin werden die Prozesse stetig angepasst und verbessert. „Der Ausbau des Radverkehrs ist eine Querschnittsaufgabe“, sagt Stefan Lüdecke. Nicht jede Kommune brauche einen Radverkehrskoordinator, aber sie brauche einen Verantwortlichen, einen Kümmerer, der dafür sorgt, dass der Ausbau des Radverkehrs in allen Ämtern gelebt wird. „Die Verkehrswende, der Umbau Frankfurts zur Fahrradstadt, ist politisch beschlossen“, sagt Lüdecke. Demnach müssen alle Ämter das politische Ziel vorantreiben.
Frankfurt gehört zu einem der drei Best-Practice-Beispiele, die das Difu auf seiner KoRa-Webseite in einem Kurzvideo vorstellt. Dort können interessierte Kommunen zudem anhand eines Schnelltests den Ist-Zustand der Radverkehrsplanung in
ihrer Kommune reflektieren und bewerten. Fest steht: Jede Kommune ist anders und muss eine Struktur entwickeln, die zu ihren Bedürfnissen passt. Allerdings gibt es Leitlinien, die die Kommunen dabei unterstützen, ihre Struktur an die neuen Herausforderungen anzupassen. Dazu wird das Difu in den kommenden Monaten einen Leitfaden veröffentlichen.


Bilder: Mobilitätsdezernat der Stadt Frankfurt

Wer Radwege baut, erntet Radfahrer*innen – so weit ist man sich heute in den der Mobilitätswende zugeneigten Gesellschaftsschichten einig. Nach dieser Logik müssten Radwege mit guten Oberflächen sicher noch mehr Radverkehr ernten. Was aber sind gute, moderne Materialien und Beläge für die Radinfrastruktur? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


Asphalt ist, wenn man nicht gerade auf einem Rad mit Stollenreifen sitzt, der mit Abstand beliebteste Bodenbelag zum Radfahren, da ist man sich einig unter Radfahrenden und Verkehrsplanern gleichermaßen. Asphaltradwege sind eben, fugenfrei und, etwas gepflegt, vergleichsweise langlebig.
Im Vergleich dazu schneiden wassergebundene Decken, umgangssprachlich Schotterstraßen genannt, meist schlechter ab: Die oberste Schicht kann bei starkem Regen ungleichmäßig abgetragen werden, wodurch Schlaglöcher und Rillen entstehen können.
Doch Asphalt ist nicht gleich Asphalt (s. auch den Kasten unten), zudem ist es mit der fertigen Asphaltdecke ja manchmal noch nicht getan – gerade in Innenstädten, wo man durch Kennzeichnung Fahrradwege besonders hervorheben will.

Noch mehr „klare Verhältnisse“ schaffen farblich auffällige mechanische Abgrenzungen. Protected Bikelanes können in besonders sicherheitsrelevanten Stellen eingerichtet werden.

Zeigen, wer hier das Sagen hat

Schon vor drei Jahren hatte sich Münster einmal mehr einen Namen als Fahrradhochburg gemacht und einen Preis der Kategorie Infrastruktur eingeheimst, indem eine bereits vorhandene Fahrradstraße nicht nur so benannt und beschildert, sondern die Straße auch noch in voller Breite rot markiert wurde. „Wir wollten ein Zeichen setzen“, erklärte Alexander Buttgereit, damals Abteilungsleiter des Amtes für Mobilität und Tiefbau in Münster. „Das Rot drückt einen ‚Gast-Zustandʻ für den Autofahrer aus, da er die Farbe ja auch von den Radwegen her kennt. Und zugleich ist es der rote Teppich für den Fahrradfahrer.“
Normalerweise wird für den einfachen roten Streifen sogenannte Kaltplastik verwendet, oder, meist weniger dauerhaft, eine strapazierfähige Farbe. Kaltplastik ist ein gut färbbares, flüssiges Kunstharz, das bei Zugabe eines Härters fest wird. „Bei den Münsteraner Fahrradstraßen haben wir dagegen eine Anstreuung“, so Alexander Merkt von Röhrig-Granit, dem Unternehmen, das für den neuen Belag der Fahrradstraße zuständig war. Bedeutet: Rot eingefärbter Granit gibt der Straße die Farbe. Zunächst wird der bereits vorhandene Asphalt kugelgestrahlt, was ihn gleichmäßig eben macht. „Dann wird Epoxidharz aufgegossen und parallel wird unser Granit mit einer Korngröße von 1 bis 2 Millimeter in das Epoxidharz eingestreut.“ Zwischen 5 und 15 Kilogramm Granulat kommen in den Quadratmeter Harz – genauere Zahlen sind Betriebsgeheimnis. „Die Mischung härtet in weniger als einem Tag aus. Der Belag bleibt dann auch bei Nässe rutschfest“, was ein weiterer entscheidender Vorteil gegenüber der Kaltplastik sei.

66 %

der befragten Radfahrenden erklärten,
dass sie sich auf den grünen Radwegen „sicherer“
beziehungsweise „viel sicherer“ fühlten.

Mit hochwertigen Farben, Kaltplastik oder eingefärbtem Asphalt können Radflächen hervorgehoben werden.

Berliner Farbspiele

Auch in Berlin treibt man es schon seit 2018 bunt: Die gemeinnützige GB Infravelo GmbH ist eine Berliner Initiative, gegründet von der Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt mit dem Ziel, Radfahren attraktiver zu machen. Ein Teil der Projekte bezieht sich dabei auf die Farbe von Radweg-Oberflächen. So erhielten Radwegflächen eine grüne Oberfläche, um sie klarer zu kennzeichnen und das Parken oder Halten von Pkw und Auslieferfahrzeugen zu verringern. Gleichzeitig wollte man damit den Radfahrenden mehr Sicherheit geben – nicht nur psychologisch: Deutliche farbliche Kennzeichnung führt dazu, dass Autofahrende Radwege besser als solche erkennen.
2018 bis 2023 gab es eine Begleituntersuchung, die beim Berliner Büro Planungsgemeinschaft Verkehr in Auftrag gegeben wurde. Dabei wurden Nutzer und Nutzerinnen zu den neu angelegten beziehungsweise eingefärbten Radwegen befragt. Der abschließende Schlussbericht dazu ist, so Alexandra Hensel, Kommunikationsleiterin der Infravelo, noch in der Abstimmung. Doch auch der Zwischenbericht von 2022 liefert einige interessante Daten: 66 Prozent der befragten Radfahrenden erklärten, dass sie sich auf den grünen Radwegen „sicherer“ beziehungsweise „viel sicherer“ fühlten. Der Anteil von Menschen, die auf dem Gehweg fuhren, halbierte sich in den Projektgebieten auf knapp sieben Prozent. Auch die Blockade der Wege durch Autos ging um etwa 40 Prozent zurück. Da die Markierung der Wege in deutlichem seitlichem Abstand von parkenden Fahrzeugen aufgebraucht wurde, sank auch die Zahl der Fahrradunfälle in der sogenannten Dooring-Zone im Untersuchungszeitraum drastisch. Für die Farbgebung wurden Kaltplastik und Epoxidharz genutzt.

Auch auf dieser Fahrradstraße in Münster wurde der farbige Belag fast über die ganze Straßenbreite gezogen, ein starkes zusätzliches Erkennungssignal zum Radfahrer-Zeichen.

Glaspartikel für mehr Sichtbarkeit

Jens Weber, Bereichsleiter der Possehl Spezialbau GmbH, sieht Nachholbedarf bei den Radwegen in Deutschland allgemein: „Die bestehenden Systeme, mit denen wir in Deutschland Radwege bauen, weisen viele Mängel auf. Kaltplastik zum Beispiel bietet kaum Griffigkeit, nutzt sich schnell ab und wird bei Regen oder Schnee extrem glatt.“ Das Unternehmen setzt daher auf ein eigenes Produkt. „EP-Grip Velo“ ist eine Mischung aus Gesteinskörnungen und einem Bindemittel auf Epoxidharzbasis sowie wahlweise Glaspartikeln – und die Mischung bietet einige Vorteile. „EP-Grip Velo erreicht eine hohe Griffigkeit, auch bei Nässe“, so Jens Weber. „Außerdem punktet das Mittel durch seine vielen Farbmöglichkeiten, lange Haltbarkeit und Nachhaltigkeit.“ Auch mit diesem Produkt kann man, etwa an Kreuzungspunkten, erhöhte Aufmerksamkeit von Autofahrer*innen durch abgrenzende Farben sehr einfach erreichen. Da die fein eingearbeiteten Glaspartikel das Licht von Scheinwerfer, Fahrradlampe, Straßenlaternen und Co. reflektieren, werden Radfahrende vor allem bei Nacht nochmals besser gesehen. Ein Vorteil ist auch die Einsetzbarkeit auf verschiedenen Untergründen. „Ob auf Asphalt oder Beton, Holz oder Stahl, alles kann der Untergrund für EP-Grip sein“, so Weber, wichtig beispielsweise für Bahnübergänge oder Fußgängerbrücken.Die Kosten des Produkts liegen etwas höher als bei anderen Systemen – unter anderem weil die Verarbeitung komplexer ist und nur von Possehl selbst vorgenommen wird. Doch dafür sparen Städte und Gemeinden langfristig an Wartung und Reparatur. „Die RWTH Aachen hat den Belag geprüft und konnte uns eine etwa fünfmal so lange Haltbarkeit im Vergleich zu Kaltplastik bescheinigen.“ „EP-Grip Velo“ trage somit dazu bei, dass Radfahren in Deutschland sicherer und angenehmer wird. Das Unternehmen sieht seine Lösung dabei auch als Beitrag zur Gestaltung der urbanen Mobilität.

„Wir haben noch zu wenig Erfahrungswert mit dem Radverkehr auf offenporigen Belägen“

Alexander Buttgereit, Jade Hochschule, Oldenburg

Sogenannter Flüsterasphalt kann einerseits eine besonders ebene Oberfläche bilden, Radfahrenden andererseits aber durch schnell ablaufendes Regenwasser mehr Sicherheit und Komfort bieten.

Flüsterleise im Flow bleiben

Wenn es aber keine eigene Farbe braucht, beispielsweise auf ohnehin von Straßen separierten Radwegen außerhalb der Stadt – insbesondere Pendlerrouten – dann gibt es heute auch die Möglichkeit, mit speziellem Asphalt zu arbeiten, der für besondere Effekte sorgen kann. Alexander Buttgereit, heute Professor für Straßenbau an der Jade Hochschule in Oldenburg, arbeitet weiter an der Antwort zur Frage: Wie kann ich den Radverkehr straßenbaulich fördern? Seine Studentin Rebecka Sophie Kriete nahm sich in der Abschlussarbeit des Themas an. Gute Griffigkeit, auch bei Regen, geringes Spritzwasser und natürlich leichter Lauf waren wesentliche Punkte, mit denen man Radwege verbessern und somit Menschen für das Radfahren begeistern könnte. Ein Teil des Weserdeichwegs im Landkreis Diepholz ist Teststrecke geworden. Zur Eröffnung kam schon der NDR, mittlerweile sind Stimmen der Radfahrenden eingeholt und das Team arbeitet an einer optimierten Variante.
Zwei Wesensmerkmale sorgen laut Buttgereit für den perfekten Radwegbelag: „Die verwendete Kon-struktion schafft durch die Walzung einerseits eine sehr ebene Oberfläche. Räder rollen hier sehr leicht. Andererseits haben wir durch den Hohlraumgehalt aber auch einen guten Drainierungsgrad.“ Das bedeutet: Wasser kann schnell durch die Poren des Materials eindringen und versickern. Dadurch kommt es zu weniger Pfützenbildung und zu weniger Spritzwasser – bei Nässe wird man also deutlich weniger von unten nass. „Das erreichen wir durch eine Korngröße von maximal drei Millimetern, das ist kleiner als das kleinste Großkorn der Regelbauweise, sie misst eigentlich 5 Millimeter.
Ähnlich kennt man das von der Autobahn. Hier heißt dieses Konstrukt Flüsterasphalt. Die Pflege des Weges muss noch weiter erprobt werden, er soll sich ähnlich verhalten wie offenporiger Asphalt auf der Autobahn. „Wege, auf denen wenig gefahren wird, neigen allerdings zur Verkrautung“, erklärt Buttgereit, „wir haben aber noch zu wenig Erfahrungswert mit dem Radverkehr auf offenporigen Belägen, um hierzu Genaueres sagen zu können.“ Dass der neue Radwegasphalt dennoch bereits gut ankommt, zeigen auch die Pläne zweier Städte im Ruhrgebiet, die möglichst noch 2024 erste Wege damit bauen wollten, so Buttgereit.
Natürlich gibt es auch Nachteile des Flüsterasphalts, vor allem im städtischen Bereich. Wenn, etwa wegen Reparatur der Versorgungsleitungen, aufgegraben werden muss, wird’s ein eher aufwendiger Flickenteppich. „Kleine Stellen zu reparieren, ist teuer – Kleinmengen kosten deutlich mehr“, so Buttgereit. Bei Erschließung neuer Wege dagegen, wo die Versorgung neu gelegt wird, ist es sinnvoll, sich Gedanken um den Radverkehr fördernden Belag zu machen. Doch egal ob Pflaster, Beton oder Asphalt: „Gegen Baumwurzeln ist kein Kraut gewachsen.“

„Asphalt ist bis zu 100 Prozent wiederverwertbar.“

Andreas Stahl, Sprecher des Deutschen Asphaltverbandes

Nicht alles ist wirklich grün

Farbliche Ausführungen sind übrigens auch bei diesem Flüsterasphalt einfach möglich: Entweder über den Austausch des Granulats – etwa gegen rote Steine – oder per Farbstoffe in den Bindemitteln. Was den Umweltschutz anbelangt, steht hier einerseits die gute Wasserdurchlässigkeit – die Böden werden nicht versiegelt – gegen die reduzierte Wiederverwertbarkeit. „Es gibt hier viel Feinmaterial, das nicht einfach weiterverwendet werden kann“, so Buttgereit, „das stellt eine gewisse Belastung dar. Fünfer-, Achter- und Elfer-Korn könnte man einfacher wiederverwerten. Aber auch hier haben wir noch zu wenig Erfahrung.“ Wird der radfahrfreundliche Asphalt sich durchsetzen? „Das wird der Markt regeln“, so der Experte. Wünschenswert wäre es – vor allem, weil dadurch der Radverkehr weiter angekurbelt wird.

Wie ist ein Asphalt-Radweg aufgebaut?

Zunächst ist da das Erdreich und damit der Untergrund, erklärt Andreas Stahl, Pressesprecher des Deutschen Asphaltverbandes DAV e.V. Darauf kommt ein ungebundener, also „loser“ Unterbau. „Das kann zum Beispiel Schotter sein. Er ist nach offiziellem Regelwerk sieben bis zehn Zentimeter stark.“ Der Oberbau – hier also der Asphalt, besteht im Grunde aus Stein, Bitumen als Bindemittel und Luft. Walzasphalt muss – meist mit Walzen – verdichtet werden und kann damit sehr glatt ausgebaut werden. Die andere Option: Gussasphalt. „Er muss nicht gewalzt werden, hat aber kein abstützendes Korngerüst. Für den Radweg braucht er das auch nicht unbedingt: Der Druck, der beim Radfahren entsteht, ist gering.“ Selbst leichte Autos, die etwa für die Instandhaltung den Fahrweg passieren, sind da kein Problem. Bitumen, das als Bindemittel eingesetzt wird, wird in Erdölraffinerien hergestellt. Die hier entstehenden Lieferketten machen das Material teuer. Fast ausschließlich wird für den Radweg der günstigere Walzasphalt verwendet. „Die Nutzung durch Radfahrer kann den Asphalt kaum beschädigen. Was dem Asphalt zusetzt, ist eher die Wurzelbildung von angrenzenden Bäumen, die zu den bekannten Bodenwellen und Aufbrüchen führt.“ Dazu kommt: Das Bitumen wird spröde. UV-Einstrahlung, Wärme und Luftzufuhr wirken dabei zusammen. „Wenn ich einen frei liegenden Radweg habe, altert dieser viel schneller als in einem Tunnel.“ Schneller ist relativ: nach 30 bis 40 Jahren lässt die Elastizität des Materials deutlich nach.
Auch den Asphalt selbst kann man einfärben: „Zum Beispiel mit eingefärbtem, künstlichem Bindemittel in dünnen Lagen. Das lässt sich nach Wunsch mischen und färben. Außerdem kann ich mit Gesteinskörnungen die Farbe verändern.“ Das ergebe zwar keine kräftigen Farben, sei aber auch eine Stellschraube, um dem Asphalt eine andere Farbe zu geben. Eine Option ist auch die Abstreukörnung – bei Fertigstellung der Fahrbahn wird Gesteinskörnung mit Farbe eingewalzt. Und schließlich besteht auch die Möglichkeit, Glasrundkorn in verschiedenen Farben einzuwalzen – eine sehr dauerhafte Lösung.

Und die Nachhaltigkeit?

„Asphalt ist zu 100 Prozent wiederverwertbar“, erklärt Stahl. „Es gibt ganze Regelwerke dazu, welche Asphalt-Zusammensetzungen wieder und in welchem Ausmaß gemischt werden dürfen.“ Dabei wird der Asphalt in Schollen aufgebrochen oder abgefräst. In der Asphalt-Mischanlage wird die Mischung nach Regelwerk zusammengesetzt.
Allerdings gebe es immer noch Vorbehalte gegen die Wiederverwertung, so Stahl, weil recyceltes Material in manchen Kommunen als minderwertiger Rohstoff angesehen werde. „Die Frage ist für manche, wie definiert man Abfall, wie Sekundärrohstoff?“ Das ist wohl tatsächlich bisher noch nicht wasserdicht festgehalten. Für Wiederverwertung bei angemessener Qualität lässt sich heute aber auch juristisch argumentieren.
Was den Grundstoff des Radwegs angeht, sei mittlerweile das Vorurteil widerlegt, dass Asphaltdecken den Boden im Gegensatz zu wassergebundenen Decken viel stärker versiegeln – unter anderem, weil Wege ohne feste Asphaltschicht per se höher verdichtet werden müssen. So gab es bereits 2012 ein Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, das zeigte, dass Radwegekonstruktionen wie Asphalt oder Pflaster den darunter liegenden Boden sogar schützen können.

Andreas Stahl ist Pressesprecher
des deutschen Asphaltverbandes DAV e.V.


Bilder: Possehl – Stephan Brendgen Fotodesign, Daniel Rudolph – StadtLandMensch-Fotografie, infraVelo – Dominik Butzmann, Buttgereit, Andreas Stahl

Das Fahrrad ist für die Verkehrswende unerlässlich. Und es ist inklusiv: Tatsächlich können auch viele Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten gut fahrradmobil sein. Wir stellen Beispiele und Entwicklungen vor und beleuchten Hintergründe. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Unsicherheit, verlorene Balance-Fähigkeiten oder einfach mehr Komfort-Bedürfnis: Dreiräder sind oft ein Aha-Erlebnis.

Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten und Radfahren: Das ist eine überraschend gut funktionierende Kombi, einfacher, als viele heute noch denken. Grob kann man die technischen Möglichkeiten, die Radfahren zu einem inklusiven Erlebnis machen, zunächst in zwei Kategorien einteilen: Erstens gibt es Fahrräder für zwei Menschen, also verschiedene Arten von Tandems. Hier ist es möglich, dass ein Mensch ohne Einschränkung das Fahrrad steuert und ein Mensch mit Einschränkungen mitfährt. Je nach Fahrradtyp und persönlichen Fähigkeiten ist es dabei möglich, dass beide für den Vortrieb sorgen. Die andere, sehr große Kategorie: Fahrräder mit drei oder vier Rädern, die aufgrund ihrer Bauart durchaus für Menschen mit ganz unterschiedlichen Einschränkungen und Bedürfnissen geeignet sind. Die Bandbreite ist riesig und geht, wie wir noch sehen werden, von Menschen, die einfach einen hohen Komfort- oder Sicherheitsanspruch ans Fahrrad haben, bis hin zu Menschen, die zum Beispiel aufgrund einer Querschnittslähmung ihre Beine nicht mehr bewegen können. Dabei handelt es sich mittlerweile bei diesen Therapie- oder Reha-Rädern meist um Fahrräder mit Motor-Unterstützung bis 25 Stundenkilometer, also Pedelecs. Besser wäre sicher eine allgemeine Bezeichnung wie Sicherheits- und Komforträder, da die Beweggründe, ein Dreirad zu fahren, sehr vielfältig sein können.

„Immer mehr Menschen fahren Fahrrad, und wenn sie das aus irgendwelchen Einschränkungen nicht mehr können oder sich nicht mehr trauen, steigen sie mittlerweile immer mehr aufs Spezialrad um.“

Zusammen unterwegs: Tandems in unterschiedlichsten Variationen sind auch für Menschen mit starken Einschränkungen eine Möglichkeit, zusammen mobil zu sein.

Inklusion on Bike

Das Pino von Hase Bikes ist schon ein moderner Klassiker und das beste Beispiel für die erste Kategorie. Das Rad ist ein sogenanntes Stufentandem. Der Sessel vorne thront über dem kleinen Vorderrad, der Hintermann sitzt aufrecht im Sattel und überblickt seinen Passagier. Er hat Steuer- und Bremshoheit. Der Mensch im Vordersitz kann in seinem eigenen Rhythmus mittreten und erlebt dabei großes Kino – sitzt er doch nicht versteckt hinter einem Rücken wie beim normalen Tandem, sondern im bequemen „Kinosessel“ mit Panoramablick. Dieses Rad gibt es in vielen Variationen und es ist vielfach an spezielle Bedürfnisse anpassbar. Bereits Kinder ab einem Meter Größe können hier mitfahren – und tatsächlich auch mitpedalieren.
„Der Reha-Bereich ist breit“, sagt Dario Valenti, Sprecher des Unternehmens Hase Bikes. „Das geht von Menschen mit Behinderungen bis hin zu solchen, die aus verschiedenen (Alters-)Gründen nicht mehr auf dem Normalrad fahren können oder wollen, aber auf das Radfahren nicht verzichten möchten.“
Wichtig ist immer: Mit Mobilität meint man nicht nur den Sonntagsausflug im Park, sondern auch die Alltagsstrecke. Neben dem Pino für zwei, das zusammengeschoben nur wenig größer als ein Normalrad ist und so auch gut transportiert werden kann, ist Hase Bikes auch Hersteller von Dreirädern mit und ohne Unterstützung, unter anderem von Rädern mit Handantrieb.
Bei Handbikes werden die Pedale durch Handkurbeln ersetzt, an denen wie am normalen Lenker die Brems- und Schaltgriffe montiert sind. Übrigens hat auch hier die elektrische Unterstützung Einzug gehalten, sodass diese Handbikes ohne große Anstrengung gefahren werden können.
Auch vielfältige Anpassungen wie spezielle Kurbeln oder Pedale oder sogar eine Schulterlenkung sind für viele verschiedene Räder von Hase verwendbar. Bei den Dreirädern gilt – nicht nur bei Hase: Die Breite ist mit knapp 80 Zentimetern türentauglich.

Kippsicher für den City-Verkehr

Eine weitere Variante des Dreirads ist in den letzten Jahren immer beliebter geworden: Das Tadpole (englisch für Kaulquappe) mit zwei gelenkten Rädern vorne und einem hinten. Es kommt eigentlich aus dem sportlichen Bereich. Der Liegeradhersteller HP Velotechnik hat mit dem Scorpion eine technische Basis, die er mit vielen Details an die Bedürfnisse des Fahrers oder der Fahrerin anpassen kann. Dieses Rad hat nicht nur in seiner tiefen Grundversion, sondern auch mit höherem Komfortsitz dank breiter Spur gute Kippsicherheit. Aber nicht nur Geometriedetails zählen. „Das Thema Motor ist bei uns ein ganz wichtiges Segment geworden“, sagt Alexander Kraft, Pressesprecher des bei Frankfurt sitzenden Unternehmens. „Beim Delta TX stehen vier unterschiedliche Motorvarianten zur Auswahl“, erklärt er. Sogar solche mit Rückwärtsgang gibt es im Sortiment. Für Menschen mit Einschränkungen ist das einfache Rangieren besonders wichtig – schon beim Abholen aus der Parkanlage. Tatsächlich, so Kraft, sei die Tadpole-Variante des Dreirads – zwei Räder vorn – in der City für viele noch ungewohnt. Neben der aufgeräumteren Optik schätzen viele das einfachere Aufsteigen auf Delta-Dreiräder – seitlich auf den Sessel setzen und sich in Fahrtrichtung drehen. Das Bein wird dabei wie nebenher über den Rahmen gehoben. Das Delta TX kommt übrigens serienmäßig mit Motor. Und gerade diese Dreiräder bieten beste Möglichkeiten zum Gepäcktransport – vom großen Korb hinter dem Sitz über verschiedene Transportboxen und Taschen geht die Range bei den Herstellern. „Damit kommt man in der City genauso zurecht wie auf der Radtour über Land“, sagt Kraft. „Sieht man einmal von der falschen Infrastruktur ab, die dem Radfahrer unter anderem zu wenig Breite gewährt.“

Rotes Dreirad: Tadpole (englisch für Kaulquappe)heißt die Bauart des Dreirads mit zwei gelenkten Vorderrädern. Die Variante ist in den letzten Jahren immer beliebter geworden.

Blaues Dreirad: Sogenannte Delta-Trikes sind nicht nur sehr einfach zu handhaben, sie vermitteln mit Federung und hochwertigen Sitzen auch Komfort, wie man ihn vom Auto kennt. Dabei kann man sie bestens an die Alltagspraxis anpassen.

Trikes sind vielfältig einsetzbar. Sie machen beim gemütlichen Dahinrollen durch die Natur genauso Spaß wie im Alltag in der City – vorausgesetzt, die Infrastruktur lässt das zu.

Dreirädrige Hollandräder

Ein Therapierad ist ein sehr individuelles Produkt, sagt Marnix Kwant, Directeur Business Development beim Hersteller Van Raam. „Wir haben kein einziges Rad fertig auf Lager“, so Kwant. Jedes Fahrrad ist eine Individualisierung. Und das ist wichtig. Verkauft wird – wie bei oben genannten Herstellern auch – grundsätzlich nur über einen Händler.
Das Unternehmen aus dem niederländischen Varssefeld ist nach eigenen Angaben Weltmarktführer im Bereich Therapierad. Gemeint sind auch bei Van Raam für das urbane Segment vor allem Dreiräder – elf verschiedene Typen gibt es hier. Dabei gibt es auch die klassischen Variationen von Rädern, die wie Hollandräder wirken, aber zwei Hinterräder besitzen. Wer sich nicht mehr aufs normale Fahrrad traut, Angst vor Stürzen hat und Ähnliches, orientiert sich an solchen Rädern. Das ist oft der klassische Zugang zum Spezialrad. „Das können sich die Kunden und Kundinnen gut vorstellen, zu fahren“, sagt Kwant. Der Unterschied zum gewohnten, normalen Rad ist optisch gering. Beim ersten Ausprobieren aber merken sie oft, dass dieses Dreirad ganz anders funktioniert und in Kurven langsam gefahren werden muss. „Dann erst entdecken viele den Easy Rider, das Sesseldreirad von Van Raam, für sich. Den Komfort, auf einem Sitz mit Lehne zu sitzen und das trotz ungewohnter Optik einfache Handling. Als reines Stadtfahrzeug führt Van Raam das Modell Easy Rider Compact im Sortiment, das maximale Wendigkeit bieten soll. Spezialteile gibt es auch bei den Niederländern für alle möglichen Arten von Bedürfnissen bis hin zur kompletten Steuerung auf einer Lenkerseite oder Schulterlenker für Menschen ohne Arme. In der Produktion setzt Van Raam auch auf moderne Techniken wie Stahl oder Nylon aus dem 3-D-Drucker, um individuelle Spezialteile herzustellen.
„Der Markt in Deutschland für Spezialräder wächst sehr stark“, sagt Kwant. „Immer mehr Menschen fahren Fahrrad, und wenn sie das wegen irgendwelcher Einschränkungen nicht mehr können oder sich nicht mehr trauen, steigen sie mittlerweile immer mehr aufs Spezialrad um.“ Dabei sind die Bedürfnisse vielfältig: Neben Gleichgewichtsproblemen ist es der Wunsch, langsamer fahren zu können oder mehr Komfort auf dem Rad zu haben. „Was ist Behinderung, was nicht? Das ist egal, es geht um Bedürfnisse der Radfahrenden“, so Kwant.

Vom Behelfsrad zum Luxus-Trike

Die Wahrnehmung ändert sich: Wurden Reha- und Therapieräder noch vor wenigen Jahren als „Behindertenräder“ gebrandmarkt, können sie heute oft technisch wie optisch überzeugen. Der Rahmenbau ist teils dem klassischen Fahrrad sogar voraus, Komfort zeigt sich oft schon durch die Möglichkeit vieler ergonomischer Anpassungen oder in der Auswahl von unterschiedlichen Sitzen. Bei den genannten Herstellern gibt es beispielsweise Sessel mit unterschiedlich starker Polsterung, vielfältiger Einstellbarkeit und speziellen Ausstattungsdetails wie verstellbaren Kopfstützen. Unterstützungsmotoren sind fast immer an Bord. Automatische Getriebe sind stark im Vormarsch und Sicherheitsdetails wie Blinker ziehen gerade in das Segment ein. Alles wie geschaffen für eine neue Mobilität für alle – für die die Infrastruktur jetzt deutlich nachziehen sollte.

Herausforderungen für die

Fahrrad-Infrastruktur

Radwege haben in Deutschland heute eine offizielle „lichte Breite“ von mindestens 1,50 Metern – das ist schon zu wenig, wenn ein einspuriges Rad ein anderes überholen soll. Dreiräder brauchen nochmals deutlich mehr Platz. Schon heute sind also, auch durch den hohen Zuwachs an mehrspurigen Lastenrädern, die Radwege deutlich zu schmal. Zusätzliche Probleme, die nicht nur in der City die inklusive Fahrradmobilität weiter einschränken:

Umlaufgitter, wie sie unter anderem oft an Knotenpunkten von gemeinsamen Fuß- und Radwegen mit anderen Wegen platziert sind. Sie sind für Tandems, aber auch für Drei-räder nur sehr schwer oder gar nicht passierbar.

Dasselbe gilt für manchmal zu eng aufgestellte Sperrpfosten (Poller).

Seitlich schiefe Ebenen: Gerade bei straßenbegleitenden Radwegen auf Gehweg-Niveau gibt es oft ein starkes seitliches Gefälle, das dem Radfahrer, vor allem mit Mehrspurer, das Fahren schwierig macht. Letztere kommen hier stark in Schieflage und müssen sich gegen die Schräge stemmen. Für viele Menschen mit Behinderung nicht nur unbequem, sondern gefährlich.

Lichtsignalanlagen mit Anforderungstaster, sogenannte Bettelampeln, sind ein klares Symbol für die Unterordnung des Rad- und Fußverkehrs gegenüber dem Autoverkehr. Schlimmer noch: Ihre Tasten sind oft, und dann gerade für Menschen auf mehrspurigen Rädern, sehr schwierig zu erreichen.

Schon seit dem Zuwachs von Cargobikes im Gespräch: Abstellanlagen für Räder jenseits der klassischen Zweiradmaße. Therapieräder sind oft zu breit und/oder zu lang für die üblichen Maße, mit denen Anlehnbügel aufgestellt sind.

Die Infrastruktur in Bahnhöfen ist schon für Nutzer und Nutzerinnen normaler Fahr-räder ein Daueraufreger. Mit Blick auf Therapieräder multipliziert sich das: Aufzüge zu Bahn- und U-Bahnsteigen sind oft zu schmal für Mehrspurer und zu kurz für große Räder. Auf Bahnsteigen ist man mit dem Rad oft ein Störfaktor, weil Säulen oder andere Hindernisse gerade unter Zeitdruck umschoben werden müssen. Und auch das Schieben ist ein Problempunkt: Manche Menschen mit Einschränkungen können Fahrrad fahren, aber kaum gehen. Sie können, wenn sie nicht auf dem Bahnsteig in Schrittgeschwindigkeit rollen dürfen, keine kombinierte Nutzung von Bahn und Fahrrad realisieren.


Bilder: Hase Bikes, Van Raam, HP Velotechnik, stock.adobe.com – ARochau – Maryana

Ob sie es selbst nutzen oder sich den Straßenraum mit seinen Nutzer*innen teilen, das Fahrrad spielt in der Mobilität blinder und sehbehinderter Menschen eine große Rolle. Zwischen Interessenkonflikten und fehlender Achtsamkeit finden sich auch Lösungsansätze – und jede Menge Handlungsbedarf. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Blinde und sehbehinderte Menschen können in Deutschland leicht übersehen werden. Das liegt zum einen daran, dass es hierzulande keine Kennzeichnungspflicht für Menschen gibt, die blind oder sehbehindert sind. Sie sind also nicht gezwungen, sich als solche nach außen zu präsentieren. Viele tun es trotzdem, erklärt Eberhard Tölke vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV): „Es ist natürlich vorteilhaft, den weißen Langstock zu nutzen. Weitere anerkannte Verkehrsschutzzeichen sind die gelbe Armbinde und das weiße Führhundgeschirr.“ Auch ein gelber Anstecker mit drei schwarzen Punkten ist üblich. Von hinten erkennbar sind diese Menschen damit aber nicht. Wer also nicht gerade den Langstock benutzt oder wessen Armbinde übersehen wird, kann sich nicht auf eine erhöhte Aufmerksamkeit bei den anderen Verkehrsteilnehmerinnen verlassen. Statistisch ist dieser Teil der Bevölkerung schlecht dokumentiert. Wie viele Leute in Deutschland ohne oder mit eingeschränkter Sehfähigkeit leben, ist schlichtweg nicht bekannt. Der DBSV erklärt auf seiner Website, warum er von rund 559.000 blinden und sehbehinderten Menschen als absolutem Mindestwert ausgeht. Diese Zahl stammt aus der Schwerbehindertenstatistik aus dem Jahr 2021 und lässt sich noch in rund 71.000 blinde Menschen sowie 47.000 hochgradig sehbehinderte und 441.000 sehbehinderte Menschen aufschlüsseln. Enthalten sind in der Summe aber nur jene blinden oder sehbehinderten Menschen, die einen Schwerbehindertenausweis haben. Auf einen erheblichen Teil der Sehbehinderten und selbst einige blinde Menschen trifft das nicht zu. Eine Sehbehinderung unterscheidet sich mitunter stark von der nächsten. Die Krankheit Retinitis Pigmentosa verursacht zum Beispiel ein eingeschränktes Sichtfeld. „Menschen mit einem sogenannten Tunnelblick schauen je nach Schwere der Erkrankung nur durch ein stecknadelgroßes Loch. Rein gesetzlich gelten diese Betroffenen aufgrund dieser starken Orientierungseinschränkung durchaus als blind. Der Betroffene läuft mit einem Langstock, er läuft mit einem Blindenführhund, setzt sich in die Straßenbahn, nimmt die Zeitung heraus und liest. Das ist möglich, weil er auf diesem Punkt gegebenenfalls noch 100 Prozent sehen kann. Das ist für den Sehenden nicht vorstellbar, liegt jedoch im Rahmen des Möglichen. Das führt zu Irritationen“, erklärt Tölke. Ziemlich verbreitet ist auch der Graue Star als Erkrankung. Tölke erläutert: „Den Grauen Star kann man sich vorstellen wie Nebel. Es ist alles eingetrübt und es sind keine scharfen Konturen erkennbar.“ Leicht zu übersehen sind mit Grauem Star vor allem feine Hindernisse wie Masten. Das gilt erst recht, wenn diese grau sind. Als Volkskrankheiten gelten unter den Sehbehinderungen weiterhin die altersabhängige Makula-Degeneration und die diabetische Retinopathie. Wer erfahren will, wie eine Sehbehinderung sich auf das Sichtfeld auswirkt, sollte einmal ein Blindenmuseum besuchen, empfiehlt Margot Daris von der Dutch Cycling Embassy. Das Museum in der niederländischen Stadt Nijmegen zeigt, wie verschieden die Sicht sehbehinderter Menschen untereinander ist. Mal ist sie verschwommen, bei anderen fleckenweise eingeschränkt. Das Museum bietet Führungen an, bei denen die Besucherinnen sich selbst temporär ohne Sehfähigkeit orientieren müssen. Für die Zielgruppe der Blinden und Sehbehinderten wurde Margot Daris von irischem Besuch bei der Dutch Cycling Embassy sensibilisiert. Dir irischen Delegierten diskutierten über die räumliche Aufteilung von Bushaltestellen und Fahrradspuren und deren Einfluss auf Menschen mit schlechter Sehfähigkeit. Gebräuchlich ist es in den Niederlanden, den Radweg zwischen Haltestelle und Straße entlanglaufen zu lassen. Der irische Besuch äußerte Bedenken: „Die wollten eine Ampel für die Fahrradfahrer, sodass die Leute in den Bus steigen können. In den Niederlanden ist das nicht üblich, weil wir das Gefühl haben, dass Gehen, Radfahren und auf den Bus warten jeweils auf menschlicher Interaktion basiert“, erzählt Daris. Diese Sichtweise habe ihr die Augen geöffnet und dazu geführt, dass Daris Vorträge zum Thema „Blinde und sehbehinderte Menschen und Radverkehr“ hält. „Besonders wenn man eine Sehbehinderung hat, ist es wichtig, dass man sich noch immer unabhängig fortbewegen kann und nicht abhängig ist von Partnern, der Familie oder Freunden.“

Sehbehinderungen können sehr unterschiedlich wirken. Die Erkrankung Retinitis Pigmentosa verursacht einen Tunnelblick (Mitte), während der Graue Star die Sicht eher vernebelt (unten).

Auch Blinde fahren Fahrrad

In dieser unabhängigen Fortbewegung haben fast alle blinden und sehbehinderten Menschen in ihrem Alltag Berührungspunkte mit Radfahrerinnen und ihrer Infrastruktur. Darüber hinaus fahren einige von ihnen selbst Fahrrad. Das gilt sogar für Personen, die rechtlich als blind gelten. „Ich möchte darauf hinweisen, dass Blinde durchaus Fahrrad fahren, und zwar mit dem Tandem“, erklärt Eberhard Tölke. „Es gibt sogar Vereine wie „die Weiße Speiche“, die das Tandemfahren zum Gegenstand ihrer Vereinigung haben. Diese Leute sind mit ihren Piloten sehr aktiv und unternehmen auch größere Touren.“ Als sportliche Betätigung wird diese Art des Radfahrens von vielen Blinden geschätzt. In der Alltagsmobilität dürften Tandems aber eine geringere Rolle spielen. Richtig empfehlenswert ist das Radfahren für Menschen, auch mit leichteren Sehbehinderungen nicht, findet Gerald Fröde, der sich ebenfalls beim DBSV engagiert. „Da geht es darum, ob ich mir mit einer vorhandenen Sehbeeinträchtigung noch zutraue, aufs Rad zu steigen. Man kennt es ja aus dem Kraftfahrzeugverkehr, dass viele denken, sie sehen noch gut, obwohl es nicht so ist.“ Dennoch fahren viele Menschen mit leichteren Sehbehinderungen im Alltag sehr erfolgreich Fahrrad. Auch schwerwiegendere Sehbehinderungen entstehen meist in einem Prozess, zu dessen Beginn die Betroffenen das Fahrrad noch nutzen können. Fröde hat persönlich eine ausgeprägte Meinung dazu: „Ich bin selbst früher noch tagsüber gefahren. Ich würde es keinem empfehlen, der ernsthafte Probleme hat.“ Wenn jemand einen Unfall baut und später bekannt wird, dass derjenige eine Sehbehinderung hat, ist das ein Problem. Fröde: „Ich habe mir noch 2017 ein neues Rad gekauft und bin es auch gefahren. Aber das war schon eine Grauzone, sich damit im Straßenverkehr zu bewegen. Meine Krankheitsgeschichte geht aber schon 20 Jahre.“ Eberhard Tölke, der selbst quasi nicht mehr sehvermögend ist, ist zuletzt in seiner Jugend Rad gefahren. Beide Herren kennen die Probleme gut, die blinde und sehbehinderte Menschen mit dem Radverkehr haben, ohne selbst auf dem Rad zu sitzen. Schwierig finden sie etwa die gemeinsame Nutzung von Geh- und Radweg, weil man die Radfahrerin-nen, die sich leise von hinten nähren, nicht gut wahrnehmen kann. Vielen Rädern fehle zudem auch eine Klingel. Fahrrädern spontan auszuweichen ist für blinde Menschen selbst dann schwer, wenn sie eine Klingel hören können oder einen Zuruf bekommen. Tölke erzählt von einer Situation, wo eine Radfahrerin, die er nicht wahrnehmen konnte und die ihn zu spät wahrnahm, auf die Fahrbahn einer viel befahrenen Straße ausweichen musste. Die Situation ging glimpflich aus, blieb ihm aber doch im Gedächtnis. „Ich kann mich nur auf etwas einstellen, wenn ich es wahrnehme“, sagt er. Die Situation zeigt, dass nicht nur blinde und sehbehinderte Personen selbst von den schwierigen Interaktionen gefährdet sind.
Das Problem ist noch größer bei Elektrofahrzeugen und E-Bikes, aufgrund der gestiegenen Geschwindigkeit. „Da ist der Sehbehinderte das schwächere Glied in der Kette“, erläutert Fröde. „Man müsste eigentlich von jedem Verkehrsteilnehmer erwarten können, dass jeder sich in dem ihm zugewiesenen Bereich aufaufhält.“

Kritische Stellen im Gehwegbereich sind mit Bodenindikatoren markiert. Manchmal mangelt es an Bewusstsein dafür, dass diese frei bleiben müssen.

Gehweg und Bodenindikatoren freihalten

Probleme gibt es auch durch im Gehbereich abgestellte Fahrräder. Radfahrbügel seien deshalb unbedingt in den Nebenbereichen anzuordnen. „Der Gehbereich ist unser Heiligtum. Den hätten wir gerne frei“, sagt Fröde. Der Langstock, mit dem viele Blinde den Gehweg fühlen, kann sich auch in den Speichen am Rand abgestellter Räder verfangen, wodurch die Räder im besten Fall zu einem Ärgernis, im schlimmsten zur Stolperfalle werden. E-Scooter sind für die Blinden in den letzten Jahren zur zusätzlichen Herausforderung geworden. Eberhard Tölke: „Die stehen kreuz und quer und können natürlich nicht rechtzeitig und sicher erkannt werden. Wir fordern deswegen, dass wirklich Abstellflächen geschaffen werden, wo diese E-Roller positioniert werden.“
Die besonders kritischen Stellen im Gehwegbereich sind mit flächigen Bodenindikatoren nach der Norm DIN 32984 ausgestattet. Diese Leitstreifen, so weiß auch Margot Daris, werden von vielen Menschen wenig beachtet und sind oft zugestellt. Das Blindenmuseum in Nijmegen hat die Leitstreifen vorm Museumseingang so bemalen lassen, dass diese wie eine Brücke über einen Teich aussehen. „Ich denke, es sollte ein größeres Bewusstsein dafür geben. Mehr Schilder helfen nicht unbedingt. Das Ganze entspricht einer größeren gesellschaftlichen Fragestellung. Wir müssen mehr achtgeben aufeinander“, meint die Niederländerin.
Den Fußweg verstehen Blinde und Sehbehinderte nicht nur dort, wo es Leitstreifen gibt, als ein System mit einer inneren Leitlinie und dem Kant- oder Bordstein als äußerer Leitlinie. Kleinpflaster umsäumt den häufig glatten Gehwegbereich und macht diesen taktil erfahrbar. Die Grenze des Weges lässt sich so mit dem Langstock oder mit den Füßen erfühlen.

„Wenn wir öffentliche Räume gestalten, müssen wir berücksichtigen, dass wir sie für alle Menschen nutzbar machen wollen und nicht bloß für körperlich Leistungsfähige zwischen 15 und 45 Jahren.“

Margot Daris, Dutch Cycling Embassy

Schwer vereinbare Interessen

Der Gehweg und der Bordstein sind also wichtige Orientierungshilfen für jene, die wenig bis gar nichts sehen. Hier unterscheiden sich die Bedürfnisse dieser Gruppe mitunter von denen anderer Behindertengruppen. Rollstuhlfahrer*innen würden von abgesenkten Bordsteinen profitieren. Das ist nicht der einzige Interessenkonflikt, mit dem blinde und sehbehinderte Menschen zu kämpfen haben.
Gerald Fröde verweist auf Pro-bleme mit moderner Fahrradinfrastruktur, etwa Radschnellverbindungen: „Die Bestrebungen, die auch ampellos zu machen und freie Fahrt zu gewähren, sehen wir durchaus kritisch. Am Ende des Tages gibt es gar keine Möglichkeit mehr für Blinde und natürlich auch für andere, gefahrlos über den Radweg rüberzukommen.“ Nicht nur Radschnellverbindungen erschweren die Alltagsmobilität. Das Queren von breiten Radwegen bringt seine eigenen Herausforderungen mit sich, gerade wenn diese nicht in die Ampelschaltung eingegliedert sind. „Das akustische Orientierungssignal hat eine vorgegebene Reichweite von vier bis fünf Metern. Wenn ich neben der Fahrbahn eine Wartefläche mit Lichtsignalanlage habe und dann einen seitlich abgesetzten Radweg, dann ist die Entfernung so groß, dass die Akustik auf dem Gehweg nicht mehr ankommt“, erklärt Tölke. Auch zusätzliche Fußgängerüberwege, die man über die Radwege führen könnte, helfen nur bedingt. „Ich kann zwar mithilfe der Bodenindikatoren die Querungsstelle finden, aber weiß nicht, ob ein Radfahrer kommt. Ich bin auf das Verhalten des Radfahrers angewiesen, dass ich heile da rüber komme.“ Auf die gegenseitige Rücksichtnahme könne er sich leider nicht immer verlassen, weiß Tölke.
Die ideale Lösung für die Blinden und Sehbehinderten wäre, den Radweg wieder an den Fahrbahnrand zu versetzen und ihn in die Lichtsignalanlage einzugliedern. Dass die Situation kompliziert ist, sieht Gerald Fröde natürlich auch: „Das ist verkehrsplanungstechnisch sehr diffizil. Da wird sich zurückgehalten, auch vonseiten derer, die diese Sache fachlich begleiten.“ Er wünscht sich, dass die eigenen Bedürfnisse differenzierter wahrgenommen werden. Zu einem Modellprojekt für eine geschützte Kreuzung nach niederländischem Vorbild hat der DBSV sich positioniert und einen Shitstorm kassiert. Fröde mahnt: „Zum Teil gibt es Stimmen aus den Landesverbänden, die sagen: „Früher haben wir gegen das Auto angekämpft und jetzt eigentlich gegen das Fahrrad.“

Kontrastreiche Farben helfen

Nicht alle stadtgestalterischen Schritte ziehen einen Interessenkonflikt nach sich. Margot Daris erklärt, warum in den Niederlanden fast alle Radwege rot markiert sind: „Das ist sehr hilfreich, wenn man eine Sehbehinderung hat, weil man einschätzen kann, wo man sich im Straßenraum bewegt und ob man auf der richtigen Spur ist.“ Auch Verkehrsteil-nehmer*innen ohne Sehbehinderung profitieren von gut sichtbaren Radwegen.
Für jene mit Sehbehinderung spielt die Farbgebung im öffentlichen Raum eine große Rolle. Die sogenannte Michelson-Formel hilft, den Mindestkontrast zu bestimmen, mit dem Markierungen und Gegenstände gut zu erkennen sind. Blumentöpfe, Baustellen oder Bänke sollten nicht dieselbe Farbe wie der Gehweg haben. Bodenindikatoren sind üblicherweise in Weiß, Markierungen von Stufen in Gelb und Weiß gehalten. Auch Rot gilt als Signalfarbe. Markierungen müssen flächig genug sein, sodass diese auch mit einem verschwommenen Sichtfeld wahrnehmbar sind.
Besonders wichtig sind kontrastreiche Farbunterschiede in der Dunkelheit. „In der dunkeln Jahreszeit sind alle Katzen grau“, scherzt Gerald Fröde. Ein grauer Mast kann dann schnell zum Unfallrisiko werden. Menschen, die schlecht sehen, sind mitunter überfordert, wenn es zu einem abrupten Licht-Dunkel-Wechsel kommt. Eine durchgängig gute Beleuchtung der Rad- und Fußwege ist für diese Personen unabdingbar. In den Niederlanden werden Unterführungen stets mit mittigen Lichtdurchlässen geplant. Das hilft, einen starken Licht-Dunkel-Wechsel zu vermeiden, und trägt zur sozialen Sicherheit bei.

„Alles, was bald mobil auf dem Gehweg ist, muss eigentlich für Blinde hörbar gemacht werden.“

Marc Rummeny, RTB

Ampeln können Nutzer*innen der App Loc.ID detektieren und ihr akustisches Signal lauter stellen. Die App soll zu einem Ökosystem für Blinde werden und ihnen den Alltag erleichtern.

Sprechende Infrastruktur

Lösungsansätze für ihre Probleme erhalten die Blinden und Sehbehinderten aus der Wirtschaft, etwa vom Unternehmen RTB. Die Firma stellt seit über 30 Jahren akustische Signalgeber und Taster für Ampeln her und hat rund um die Anwendung Loc.ID ein Netzwerk mit anderen Unternehmen gegründet. Sie allesamt wollen es blinden Menschen erleichtern, sich im öffentlichen Raum zurechtzufinden. Loc.ID ist eine App, die auf dem Smartphone im Hintergrund laufen kann und die via Bluetooth mit öffentlicher Infrastruktur, im Falle RTBs mit den Ampeln, kommuniziert. Marc Rummeny, Geschäftsführer von RTB erklärt: „Ich habe das Handy in der Hosentasche, Brust- oder Jackentasche, laufe durch die Gegend und werde im Bereich von etwa 15 Metern Entfernung von dem akustischen Signalgeber der Ampel detektiert. Dann hebt die Akustik die Lautstärke an. Wenn ich den Bereich verlasse, wird sie wieder leiser.“
Ampeln sind nur ein Anwendungsfeld von Loc.ID. Wenn es nach RTB geht, kann die Anwendung zukünftig mit diversen Infrastrukturelementen kommunizieren. Außerdem kooperiert RTB mit dem E-Scooter-Anbieter Bolt. Der hat Loc.ID bereits in rund 25.000 E-Scootern installiert. Auch mit anderen E-Scooter-Herstellern führt RTB Gespräche. Lastenräder hat Rummeny für die Anwendung ebenfalls im Visier und geht auf die Fahrradindustrie zu, etwa als Aussteller auf Konferenzen. Zudem finden aktuell Gespräche mit Herstellern von Lieferrobotern statt. „Alles, was bald mobil auf dem Gehweg ist, muss eigentlich für Blinde hörbar gemacht werden.“ Viele Alltagssituationen, so die Vision, sollen so inklusiver für blinde und sehbehinderte Menschen werden.
Beispiele wie diese zeigen, dass es durchaus Lösungsansätze gibt. Die Frage, wie öffentlicher Raum aufzuteilen und zu nutzen ist, gilt es gerade bezüglich der Interessenkonflikte aber noch differenziert auszuhandeln. Eberhard Tölke mahnt davor, was passiert, wenn vor allem ältere Menschen, die einen Großteil der vulnerablen Gruppe stellen, nicht mehr mobil sind. „In der Folge produzieren wir unsere eigenen Pflegefälle.“ Inklusion ist zum einen eine Frage des Aufeinander-Achtgebens. Zum anderen ist sie auch eine Gestaltungsaufgabe für den urbanen Raum. Margot Daris fasst fordernd zusammen: „Wenn wir öffentliche Räume gestalten, müssen wir berücksichtigen, dass wir sie für alle Menschen nutzbar machen wollen und nicht bloß für körperlich Leistungsfähige zwischen 15 und 45 Jahren.“


Bilder: stock.adobe.com – MarkRademaker, Andreas Friese, stock.adobe.com – elypse, RTB

Radfahren gehört in Deutschland zur Alltagskultur. Sportvereine und viele Ehrenamtliche bieten bundesweit Radfahrkurse für Frauen an. Damit helfen sie Frauen aus anderen Kulturkreisen beim Ankommen. Sie werden physisch mobiler, aber auch psychisch. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Bevor es in den Straßenverkehr geht, trainieren die Frauen verschiedene Manöver auf dem Marktplatz im Stadtteil. In den Pausen geht es immer wieder um die Verkehrsregeln. Die Broschüren hat der Landessportbund in verschiedene Sprachen übersetzt.

Canan Şen hat beim Sportverein Radfahren gelernt.
Inzwischen gibt sie dort selbst Fahrradkurse.

Da stand es, ein rotes Tourenrad mit sieben Gängen und Korb. Es war ein Geschenk, eine Überraschung von ihrem Mann. Aber Canan Şen hatte auch eine Überraschung parat. „Ich kann nicht Rad fahren“, erklärte sie ihm. Als Kind hatte sie es in ihrer Heimatstadt Istanbul nie gelernt. Ihrem Mann, einem gebürtigen Oldenburger, war sie erst drei Jahre zuvor in die Fahrradstadt gefolgt. Jetzt wollte die Buchhalterin endlich Radfahren lernen, mit Anfang 40. Ein Jahr musste sie auf einen Platz im Fahrradkurs warten. Aber das Warten hat sich gelohnt. Inzwischen ist Canan Şen Übungsleiterin und unterstützt andere Frauen dabei, Radfahren zu lernen.
Ihren Kurs hat Canan Şen beim TUS Bloherfelde im Westen Oldenburgs gemacht. Es ist einer von vielen Sportvereinen, die über den Landessportbund Niedersachsen (LSB) Fahrradkurse für Migrantinnen, Geflüchtete und sozial Benachteiligte anbieten. Ihr Motto ist: „Radfahren vereint“. 2016 startete der Landessportbund die Kurse. Damals waren über eine halbe Million Menschen vor dem Krieg in Syrien nach Deutschland geflohen. Viele saßen in den Unterkünften fest, fernab der Zentren und ohne Bus- und Bahnverbindung. Um ihnen das Ankommen zu erleichtern und Behördengänge überhaupt möglich zu machen, organisierten Privatleute vielerorts gebrauchte Fahrräder und brachten sie in die Unterkünfte. Schnell weitete sich ihr Engagement aus. Sie sammelten Spendenräder, organisierten Fahrradreparatur-Workshops und unzählige Fahrradkurse für Frauen.
Viele der Ehrenamtlichen wollten damals eigentlich nur kurz helfen, aus einem Impuls heraus. Aber der Bedarf an Rädern und Fahrradkursen für Frauen reißt seitdem nicht ab. Einige Konzepte wurden erst zu Projekten und dann zu Vereinen wie beispielsweise „Bike Bridge“ aus Freiburg und „Westwind“ aus Hamburg oder „Radfahren vereint“ in Niedersachsen. In kleinen Teams machen bezahlte und ehrenamtliche Übungsleiterinnen die Frauen seitdem mobil. Dabei ist ihr Angebot weitaus mehr als der Zugang zu einer eigenständigen Mobilität. Das Radfahren öffnet ihnen die Tür zu einer neuen Gemeinschaft. Durchs Radfahren werden sie Teil der Gesellschaft.
„Oldenburg ist eine Fahrradstadt, hier fahren alle Fahrrad, Alt und Jung“, sagt Canan Şen. Seit sie Rad fahren kann, fühlt sie sich als Teil dieser Gemeinschaft. Sie fährt damit zu Freunden, zum Einkaufen, in die Wälder und Wiesen rund um Oldenburg und zu ihrer Arbeit im Sportverein. Dort leitet sie seit 2021 das Kinderturnen und wenn es wieder wärmer wird, mit weiteren Übungsleiterinnen wie Susanne Möller auch wieder die Fahrradkurse für Frauen.
Canan Şen ist in ihrem Sportverein kein Einzelfall. Wenn die Frauen erst mal Rad fahren können, wollen sie mehr: Schwimmen lernen, Sport treiben. „Das Radfahren stärkt ihr Selbstbewusstsein“, sagt Übungsleiterin Susanne Möller vom TUS Bloherfelde. In ihrem Kurs hat Canan Şen Radfahren gelernt. Als sie ihr in einer Kurspause erzählte, wie sehr sie Kinder mag, bot Susanne Möller der lebendigen und humorvollen Frau an, das Kinderturnen zu übernehmen. Die gelernte Buchhalterin machte eine Fortbildung und leitet inzwischen drei Kurse pro Woche.
Für den TUS Bloherfelde sind Canan Şen und ihre Kollegin Ayşe Karaman ein Glücksgriff. Die beiden Frauen sind Vorbilder. „Sie vermitteln den Teilnehmerinnen das Vertrauen und die Zuversicht: Was sie schaffen, kann ich auch schaffen“, sagt Susanne Möller. Ihr Erfolg motiviert die anderen.
Das hilft den Frauen durchzuhalten. Für sie ist es anstrengend, Radfahren zu lernen. Der Bewegungsablauf ist ungewohnt und muss für die Erwachsenen gut vorbereitet werden. Deshalb starten die Übungsleiterinnen zunächst mit Gleichgewichtsübungen in der Sporthalle an Geräten. Sobald das klappt, wechseln sie auf Erwachsenenroller und spätestens am dritten Übungstag aufs Rad. Zweimal pro Woche trainieren sie. Nach fünf Wochen können die Frauen Rad fahren.

Der Anfang ist schwer: Damit die Frauen sich sicher fühlen, haben die Fahrräder einen extrem tiefen Einstieg. Der Sattel wird tief gestellt, dass die Frauen mit ihren Fußspitzen den Boden berühren.

Bevor es aufs Rad geht, trainieren die Teilnehmerinnen ihre Balance. Die Bewegungen beim Radfahren sind für viele von ihnen neu. Die Übungen geben ihnen Sicherheit.

Fahrradkurse bringen neue Vereinsmitglieder

Die Fahrradkurse verändern auch das Vereinsleben. „Wir erreichen plötzlich eine ganz andere Zielgruppe“, sagt Susanne Möller. Die typischen Mitglieder von Sportvereinen kommen traditionell aus der Mittelschicht. Über die Fahrradkurse lernen die Teilnehmerinnen Canan Şen kennen. Sie vertrauen ihr und bringen ihre Kinder zum Turnen. Inzwischen hat die Geschäftsführung Sportkurse für Frauen so arrangiert, dass in der Zeit keine Männer in den Hallen sind. Das macht die Kurse auch für Frauen muslimischen Glaubens attraktiv und sie beginnen Sport zu treiben.
Im Stadtteil Bloherfelde arbeitet der TUS eng mit der städtischen Gemeinwesenarbeit (GWA) zusammen. Das ist eine soziale Einrichtung, die in vier Nachbarschaftshäusern stadtweit unter anderem Deutschkurse anbietet. Den Teilnehmerinnen wird automatisch ein Fahrradkurs angeboten. Finanziert werden sie vom Landessportbund (LSB). Der bezuschusst auch die Grundausstattung, also die Fahrradflotte und die Tretroller für die Erwachsenen. Die GWA steuert weitere Fahrzeuge bei und hält die Flotte instand. 46 Fahrradkurse für Frauen hat der LSB Niedersachsen 2023 organisiert und landesweit rund 400 Frauen aufs Rad gebracht.

„Sie vermitteln Teilnehmerinnen das Vertrauen und die Zuversicht: Was sie schaffen, kann ich auch schaffen.“

Susanne Möller, TUS Bloherfelde

Freiburg: Begegnung und Bewegung anbieten

Von diesen Rahmenbedingungen konnte Shahrzad Enderle in den Jahren 2015 und 2016 nur träumen. Sie ist eine der drei Gründungsmitglieder von Bike Bridge, einem Verein in Freiburg, der ebenfalls seit 2016 Fahrradkurse für Frauen anbietet. Für die drei Gründerinnen ist das Fahrrad Mittel zum Zweck; es macht die Frauen mobil, bringt sie in Bewegung und ermöglicht Begegnungen mit der lokalen Bevölkerung. Mittlerweile finanzieren Sponsoren und Partner die verschiedenen Bike-Bridge-Angebote. Aber als Shahrzad Enderle 2015 zum ersten Mal eine Unterkunft für Schutzsuchende besuchte, stand sie allein auf dem Hof und hatte eigentlich nur eins mitgebracht: jede Menge Zeit.
Damals war sie noch Doktorandin im Bereich Sportsoziologie. Als sie das Fußballprojekt für Kinder in der Unterkunft besuchte, tobten die Kleinen zwischen den Männern übers Gelände. Frauen sah sie dort keine. Ein Mann aus Afghanistan berichtete ihr, dass seine Frau ihr Zimmer nur selten verlasse, so wie viele andere Frauen. „Viele waren einsam und deprimiert“, erinnert sich Shahrzad Enderle. Die Doktorandin besuchte sie und fand in unzähligen Gesprächen heraus, dass die Frauen sich vor allem eines wünschten: Sie wollten Fahrradfahren lernen. Mit zwei Kommilitoninnen vom Sportinstitut organisierte sie für sie einen Kursus. „Eigentlich war das als einmalige Aktion geplant“, sagt sie. Aber am letzten Tag überreichten die Absolventinnen dem Dreierteam eine lange Liste mit Namen von Frauen, die ebenfalls Radfahren lernen wollten.

Was brauchen Migrantinnen?

Die drei waren gut vorbereitet. In den zurückliegenden Wochen hatten sie ein Konzept entwickelt, wie es weitergehen sollte. Dazu gehörten Kurse für Anfängerinnen und Fortgeschrittene, Radtouren zu zweit oder in Gruppen, Fahrradreparatur-Workshops und vieles mehr. Ihr Konzept hatte auch schon einen Namen: Bike Bridge. Die Idee dahinter war, Bewegung und Begegnung stets zu verbinden. Die Frauen sollten ihre neu gewonnenen Fähigkeiten festigen, weitere erwerben und einander gleichzeitig besser kennenlernen und weitere Kontakte knüpfen. Das hatten sich die Teilnehmerinnen und die Trainerinnen gewünscht.
Die neue Fähigkeit, die Freiheit, im Alltag selbstständig mobil zu sein, hat in Freiburg das Leben vieler geflüchteter Frauen verändert. „Sie haben Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit durchs Radfahren gewonnen“, sagt Shahrzad Enderle. Eine ihrer Teilnehmerinnen habe sich lange nicht getraut, sich zu einem Deutschkurs anzumelden. Als sie jedoch Radfahren konnte, meldete sie sich an. Eine weitere ehemalige Teilnehmerin lebt mittlerweile außerhalb Freiburgs in einem kleinen Dorf. Sie bringt ihre Tochter dort täglich mit dem Rad zur Kita und fährt anschließend direkt weiter zur Arbeit. Ohne Fahrrad sei das unmöglich, weil zu der Zeit keine Busse fahren, sagt Shahrzad Enderle und fügt hinzu: „Das Radfahren ebnet der Frau den Weg in die Arbeitswelt.“

Sharing-Mobility erklären

Shahrzad Enderle kann Dutzende dieser Geschichten erzählen. Aber weiterhin gibt es viele Hürden im Fahrradalltag ihrer Zielgruppe. Dazu gehört auch das Bike-Sharing-Angebote in Freiburg. „Unsere Teilnehmenden kennen die Räder von Nextbike by Tier. Aber sie haben sich nie getraut, das System auszuprobieren“, sagt Shahrzad Enderle. Um das zu ändern, hat Bike Bridge den Workshop „Cycling Mobility“ entwickelt, für Männer und Frauen.
Die erste Herausforderung ist die Sprache. Damit alle Teilnehmerinnen jeden Schritt der Ausleihe verstehen, hat das Team die Anweisungen in verschiedene Sprachen übersetzt und in Abstimmung mit dem Sharing-Anbieter in einer Infobroschüre zusammengefasst. In dem Workshop wird zunächst die App erklärt, dann testen sie gemeinsam die Ausleihe und die Rückgabe der Räder. „Sharing-Angebote sind günstig und praktisch und deshalb für unsere Zielgruppe interessant“, sagt Shahrzad Enderle. Das gilt auch für die vielen freien Lastenräder in der Region. Für viele Workshop-Teil-nehmerinnen sind sie interessant, schließlich können sie damit im Alltag ein Auto ersetzen.
Viele der Angebote wie den neuen Workshop kann das Bike-Bridge- Team umsetzen, weil Privatleute, Sponsoren und Partner den Verein finanziell, aber auch mit Sachspenden unterstützen. Inzwischen gibt es Bike Bridge in den acht Städten Freiburg, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg, Köln, München, Leipzig und Berlin.

„Die brauchen Fahrräder, machen wir mal ein paar fertig.“

Christian Großeholz, Westwind

Zwei Nachmittage pro Woche sind die Freiwilligen in der Werkstatt. 500 Räder setzen sie hier jedes Jahr wieder in Gang. Darunter unzählige Kinderräder.

Hamburg: bezahlbare Räder für alle

Mit ihrer Arbeit erleichtern Bike Bridge und der TUS Bloherfelde neuen Mitbürgerinnen und Mitbürgern das Ankommen und verhelfen ihnen zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe. Die Initiative „Westwind“ im Norden von Hamburg macht das auch. Allerdings ist für das Team um Christian Großeholz, einer der Westwind Gründer, allein die Finanzierung der Miete ihrer Lagerhalle jedes Jahr eine Zitterpartie. 42.000 Euro müssen sie dafür über Spenden zusammenkratzen. Für ihn ist es jedes Jahr aufs Neue ein Kraftaufwand. Großeholz ist kein Zahlenmensch, er ist Praktiker, Fahrradmechaniker. Als 2015 die ersten Kriegsflüchtlinge aus Syrien in abgelegenen Lagerhallen in Hamburgs Norden untergebracht wurden, sagte er zu seiner Freundin: „Die sitzen da fest. Die brauchen Fahrräder, machen wir mal ein paar fertig.“
Daraus ist Westwind entstanden. Eine Initiative, die Fahrradkurse für Frauen anbietet, Radtouren für jugendliche Migrant*innen organisiert, mit ihrer mobilen Fahrradreparatur-Werkstatt in Flüchtlingsunterkünften Räder repariert und einkommensschwachen Familien jeglicher Herkunft zu verkehrstüchtigen Fahrrädern verhilft.
„2015 dachten wir, wir machen 20 Räder für eine Unterkunft fertig und das war‘s“, sagt Großeholz. Aber er irrte sich. Der Bedarf riss nicht ab, also machte er auch weiter. Mit rund einem Dutzend ehrenamtlicher Helfer arbeitet er mittlerweile an zwei Nachmittagen in der Woche gebrauchte gespendete Räder auf. An diesem Nachmittag steht er in der Lagerhalle im Hamburger Norden zwischen Hunderten Kinder- und Erwachsenenrädern. Etwa die Hälfte von ihnen ist bereits fahrbereit. Das Westwind-Team hat die Naben- und Kettenschaltungen sorgsam auseinandergenommen und wieder zum Laufen gebracht, Bremsen erneuert, Nabendynamos eingebaut, Sättel getauscht, Klingeln angeschraubt und vieles mehr. Die Zeit drängt. Der erste Samstag im März ist der erste von fünf Verkaufstagen für Westwind in diesem Jahr. Allein an dem Tag sollen etwa 100 Fahrräder einen neuen Besitzer bekommen.

Fahrradkauf wird zum Erlebnis

Der Verkaufstag bei Westwind ist jedes Mal etwas Besonderes. „Wir wollen den Käufern ein normales Einkaufserlebnis bieten“, sagt Großeholz. Deshalb wird vorher in der Halle Platz gemacht, aufgeräumt und die Lastwagen von den Nachbarn vom Hof gefahren. „Wir reihen die Räder dann auf wie in einem Showroom“, sagt Großeholz. Dann folgen Verkaufsgespräche wie in jedem Fahrradladen: Wofür ist das Rad gedacht? Wird es nur in der Stadt gefahren oder auch im Gelände? Und so weiter.
Wie groß der Bedarf an günstigen Rädern in Hamburg ist, zeigt die Warteschlange. Wenn wir um zehn Uhr zur Halle kommen, stehen dort manchmal bereits 20 Leute und warten“, sagt Großeholz. Dabei beginnt der Verkauf erst eine Stunde später, um 11 Uhr. Sobald einer aus dem Westwind-Team dann das Rolltor hochschiebt, sind sie alle für die kommenden drei Stunden im Dauereinsatz. Sie führen Räder vor, stellen Sattelhöhen ein und lassen Kinder und Erwachsene Probe fahren. Für sie ist es jedes Mal bewegend, wenn die Kinder stolz ihr neues Rad vom Hof schieben oder Erwachsene plötzlich die Leichtigkeit des Radfahrens entdecken, wie kürzlich eine 20-jährige Kurdin mit Downsyndrom. Sie hat bei Westwind ein Dreirad gekauft. „Die junge Frau saß bei uns zum ersten Mal in ihrem Leben auf einem Fahrrad“, sagt Großeholz. Nach ihren ersten Metern auf dem Hof strahlte sie. Es sind diese Erlebnisse, die das ganze Team antreiben, weiterzumachen.
Auch wenn die Räder gespendet wurden, kostenlos sind sie nicht. „Die Kunden müssen eine Sozialgebühr bezahlen“, sagt der Fahrradexperte. Die Kinderräder kosten 15 Euro, Jugendräder 30 Euro und ein Erwachsenenrad 50 Euro. Westwind deckt damit gerade so die Kosten, die ihnen beim Aufarbeiten entstehen. Mehr nehmen wollen sie nicht. „Für einige unserer Kunden sind 50 Euro richtig viel Geld“, sagt Großeholz.
Dafür bekommen sie aber auch etwas: ein Stück Freiheit. „In Hamburg kommen Jugendliche und Erwachsene mit dem Rad überall hin“, sagt der Fahrradmechaniker. Sie brauchten kein Auto, keinen Bus und keine Bahn. Außerdem werden sie mit dem Fahrrad einer von vielen. Radfahren sei in Hamburg Alltagskultur. Mit ihrer Arbeit macht Westwind seine Kunden zum Teil dieser Bewegung. Sie gehören dazu. Egal wo sie herkommen.


Bilder: TUS Bloherfelde, Andrea Reidl

Sie haben das Zeug dazu, Autofahrten zu ersetzen. Aber in Deutschland sind S-Pedelecs für die Bundesstraße zu langsam und für den Radweg zu schnell. Nun testen erste Kommunen, wie sie die Räder in den Alltagsverkehr besser integrieren können. Das Ausland ist da schon weiter. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Mit Tempo 70 und schneller ziehen die Autos auf der Bundesstraße an Anja Herz vorbei. Sie schneiden die Radfahrerin, hupen anhaltend und zeigen wild gestikulierend auf den parallel verlaufenden Radweg. Der ist leer, Anja Herz würde gerne auf ihn ausweichen. Aber das verbietet die Rechtslage, denn Anja Herz fährt ein schnelles Pedelec.
Die schnellen Pedelecs, auch Speed-Pedelec oder S-Pedelec genannt, gelten als Kleinkraftrad, weil sie bis zu 45 Kilometer pro Stunde schnell fahren können. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis sind ihre Fahrerinnen und Fahrer eher mit 30 bis 35 Kilometern pro Stunde unterwegs. Trotzdem gelten für sie die gleichen Regeln wie für Autos: Gefahren werden darf nur auf der Fahrbahn.
In Belgien, der Schweiz oder Dänemark ist es umgekehrt. Dort müssen die schnellen Räder zwingend die Radwege nutzen – auch in den Zentren. Ob diese Regelung sinnvoller ist, bezweifeln viele Radverkehrs-expertinnen. Aber auch sie finden: Die Rechtslage in Deutschland sollte angepasst werden. Umfragen und erste Studien zeigen: S-Pedelecs können Autofahrten ersetzen, wenn ihre Nutzerinnen sicher unterwegs sind. Das 2023 gegründete Bündnis „Allianz Zukunft S-Pedelecs“ will dafür die Rahmenbedingungen schaffen. Seit vergangenem Jahr initiieren seine Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verbänden Studien und organisieren regelmäßige Diskussionsrunden mit Experten. Der Blick in die Nachbarländer zeigt, wie Lösungen aussehen könnten. Aber nicht nur jenseits der Grenzen gibt es Vorbilder, auch in Deutschland gibt es erste Versuche, die Nutzung von S-Pedelecs zu liberalisieren.
Die Unistadt Tübingen in Baden-Württemberg gehört dabei zu den Vorreitern. Dort gibt es seit 2019 das erste und bislang einzige S-Pedelec-Netz bundesweit. Auf einer Strecke von rund 80 Kilometer verbindet es sämtliche Ortsteile mit der Kernstadt. Die Idee für die Planung kam aus der Stadtregierung. „Einige Gemeinderäte und der Oberbürgermeister, Boris Palmer, waren damals bereits mit herkömmlichen, aber auch mit schnellen Pedelecs unterwegs“, sagt Daniel Hammer, Verkehrsplaner und zuständig für den Radverkehr in Tübingen. Die baden-württembergische Landesregierung unterstützte das Vorhaben und führte das Zusatzzeichen „S-Pedelec frei“ ein.
Damit begann die Netzplanung. Der Grundsatz war: Das Fahren mit S-Pedelecs im Stadtgebiet muss einfach und intuitiv sein. „Wir haben keine festen Standards definiert“, sagt Hammer. Stattdessen haben sie vor Ort entschieden, auf welcher In-frastruktur die schnellen Rad-fahrerinnen sicher unterwegs sind. Das können Radwege sein, Radfahrstreifen, Fahrradstraßen, verkehrsberuhigte Zonen und Wirtschaftswege. Der Aufwand war groß. Jeder Teil der Route wurde begutachtet. Insbesondere für kritische Stellen mussten sie Lösungen finden. Dazu gehört beispielsweise eine Unterführung im Zentrum. „10.000 Radfahrende sind dort täglich unterwegs und ebenso viele Fußgänger“, sagt Hammer. Die Unterführung ist sechs Meter breit und hat einen getrennten Fuß- und Radweg. Um die schnellen S-Pedelecs zu bremsen, haben sie dort ein Tempolimit von 20 Kilometern pro Stunde für alle Fahrräder eingeführt. Eine spätere Geschwindigkeitsmessung zeigte, dass Rennräder und Pedelecs dort bergab mit 30 bis 35 Kilometern pro Stunde unterwegs sind – ohne andere zu gefährden. Bislang funktioniert das Miteinander der schnellen und langsamen Radfahrerinnen und Radfahrer recht gut. Laut Hammer gab es weder mehr Unfälle noch sonstige Beschwerden. „Wenn sich das ändert, passen wir die Infrastruktur an“, sagt er. Momentan ist das Tübinger Modell nur eine Insellösung. Spätestens am Ortsschild der Nachbarstädte wie Reutlingen oder Rottenburg endet für die schnellen Pendlerinnen das entspannte Fahren. Der Radverkehrsplaner bedauert, „dass S-Pedelecs generell auf die Straße müssen, auch wenn Tempo 100 gilt“. Das schrecke potenzielle Umsteiger ab. Er plädiert für ein landkreisweites S-Pedelec-Netz auf geeigneten Wegen.

Mit maximal 30 Kilometern pro Stunde dürfen die Radfahrer durch den Tunnel fahren. In den Niederlanden sind Tempolimits auf vielen Radwegen üblich. In Deutschland ist Tübingen damit Vorreiter.

Speed-Pedelecs sind mit einer Tretunterstützung bis 45 km/h und einer Motorleistung bis zu 4 kW rechtlich betrachtet kene Fahrräder, sondern Kleinkrafträder der Klasse L1e. Damit sind bisher nicht nur Radwege tabu, sondern auch Feld- und Waldwege, die mit Verbotschildern für Motorfahrzeuge gekennzeichnet sind.

S-Pedelec-Netze für Landkreise

Diese Idee ist besonders für Radregionen interessant, wie etwa den Bodensee. Viele Berufstätige fahren dort täglich 20 oder auch 30 Kilometer zur Arbeit. Von Singen und Radolfzell etwa nach Konstanz oder auch in die Schweiz. „Das ist eine ideale Distanz für S-Pedelecs“, sagt der Radverkehrsplaner der Stadt Kon-stanz, Georg Gaffga. Bislang müssen die schnellen Radfahrerinnen an einigen Stellen die Bundesstraße nutzen. Die wird gerade auf vier Fahrspuren ausgebaut und führt zudem durch einen Tunnel. „Selbst für versierte Radfahrende kommt ein Fahren dort nicht infrage“, sagt Gaffga. Für diese Streckenabschnitte braucht es Ausweichrouten. Mit seinen Kolleginnen plant Gaffga seit vergangenem Jahr das neue Radwegenetz der Stadt. Die S-Pedelecs haben sie dabei stets im Blick. „Wir suchen auf den Hauptachsen ins Umland die Lücken im Netz“, sagt Gaffga. Wo das Fahren auf den Straßen für die schnellen Radfahrer zu gefährlich ist, sollen sie auf Radwege neben der Fahrbahn ausweichen können. Vorausgesetzt, sie sind breit genug und es sind dort nur wenige Fußgänger und Radfahrende unterwegs.

„Unsere Mobilitätsstrategie ist der autofreie Haushalt“

Georg Gaffga, Stadt Konstanz

S-Pedelec: Ein Baustein zum autofreien Haushalt

Innerorts sieht der Radverkehrsplaner Gaffga nahezu keinen Handlungsbedarf in seiner Stadt. In Konstanz’ Zentrum könnten die schnellen Radler bei Tempo 30 oder 50 auf der Fahrbahn mitrollen. Aber es gibt auch Ausnahmen. Im vergangenen Jahr hat er eine Anliegerstraße, die auch Fahrradstraße ist, für S-Pedelecs freigegeben. „Die Straße hat den Charakter einer Außerortsstraße, sie führt durch ein Waldgebiet geradewegs zum Fähranleger Richtung Meersburg“, sagt er, eine wichtige Pendelroute. Auch dort funktioniert das Miteinander. Bislang gab es keine Beschwerden.
Angesichts der geringen Zahl an S-Pedelecs im Straßenverkehr erscheint der hohe Aufwand, den Gaffga mit seinem Team betreibt, unverhältnismäßig hoch. Insbesondere weil sie kein konkretes S-Pedelec-Netz planen, sondern vorerst nur die Möglichkeiten ausloten, potenzielle Lücken im Netz zu schließen. Gaffga hält dagegen: „Unsere Mobilitätsstrategie ist der autofreie Haushalt“, sagt er. Das S-Pedelec ergänze das aktuelle Angebot an Sharing und öffentlichem Verkehr. Deshalb wollen sie die junge Fahrzeuggattung fördern. Das funktioniere allerdings nur, wenn die Fahrer*innenr sich wohlfühlen und sicher unterwegs sind. Die benachbarte Schweiz zeige zudem, dass bei attraktiven Bedingungen die Verkaufszahlen von S-Pedelecs steigen und ihr Anteil am Gesamtverkehr zunimmt.

S-Pedelecs ersetzen das Auto

Hierzulande ist die Fahrzeuggattung bislang nur eine Randerscheinung. Gerade mal 11.000 Stück wurden im Jahr 2022 verkauft. In Belgien, den Niederlanden oder der Schweiz sind S-Pedelecs deutlich populärer. Allein in der Schweiz mit ihren knapp neun Millionen Einwohnerinnen wurden im Jahr 2022 rund 23.000 der S-Pedelecs aus den Läden geschoben. Expertinnen führen das auf die Rechtslage zurück: Schließlich dürfen sie dort die Radinfrastruktur nutzen. Das hat zur Folge, dass 75 Prozent der Strecken, die dort mit schnellen E-Bikes zurückgelegt wurden, Arbeitswege waren. Im niederländischen Rotterdam waren es 2021 rund 60 Prozent.
Für Anke Schäffner vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) sind die Zahlen ein Indiz für das große Potenzial der S-Pedelecs für die Verkehrswende. Sie hat Ende vergangenen Jahres die ZIV-Studie „Wo fahren S-Pedelecs?“ vorgestellt. Die beschreibt, wie die Nachbarländer die Elektroräder in den Verkehr integrieren und wie sich das unter anderem auf die Verkaufszahlen auswirkt.
In Belgien etwa können die Fahrerinnen zwar innerorts wählen, ob sie die Radinfrastruktur oder die Fahrbahn nutzen, dagegen ist außerorts für sie die Radwegbenutzung ab Tempo 50 Pflicht. Diese Regelung kommt in der Bevölkerung anscheinend gut an. Von 2017 bis 2021 sind die Zulassungszahlen der S-Pedelecs von rund 5.300 auf 51.000 gestiegen. In den Niederlanden gelten für die schnellen Elektroräder die gleichen Bestimmungen wie für Mopeds. Ihre Fahrerinnen dürfen Radwege benutzen, die für Mopeds freigegeben sind. Innerorts ist das fast jeder Radweg in einer Tempo-50-Zone. Allerdings gilt dort für sie ein Tempolimit von 30 Stundenkilometern.

Die Fahrradstraße ist für Radpendler*innen von großer Bedeutung. Sie ist die schnellste Verbindung von Konstanz zum Fähranleger Richtung Meersburg.

Ausnahmegenehmigungen für Radwege

Auch beim S-Pedelec zeigt sich: Die Niederlande sind Fahrradland. Seit Jahren testen die verschiedenen Regionen, wie sie die Räder in den Alltagsverkehr integrieren können. Die Provinz Gelderland hat bereits 2018 im Rahmen einer Studie 16 Radwege im Stadtgebiet erst temporär und dann dauerhaft freigegeben. Andere Provinzen wie Groningen und Overijssel folgten dem Beispiel. In Rotterdam, Amersfoort und Utrecht können S-Pedelec-Fahrerinnen mittlerweile Ausnahmegenehmigungen beantragen, wenn sie die Radwege nutzen möchten. Allein in Rotterdam wurden im Jahr 2020 für die 384 angemeldeten Räder 275 Genehmigungen beantragt. Für Tobias Klein vom Team „Nahmobilität“ beim Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) ist das Vorgehen zeitgemäß. „Die Niederlande und auch Dänemark testen seit Jahren, wie sie die Alternativen zum Autoverkehr in ihre Verkehrsinfrastruktur integrieren können“, sagt er. Vor vielen Jahren bauten sie die ersten Radschnellwege, heute geben sie Radwege frei, damit die S-Pedelec-Nutzerinnen sicher unterwegs sind. „Ihre Lösungen sind nicht sofort perfekt, aber sie entwickeln die Systeme weiter und passen sie an“, sagt er. Deutschland hingegen sei bei Neuerungen im Verkehr eher darauf bedacht, nichts falsch zu machen, und bremse damit neue Entwicklungen. Das gelte für die Radinfrastruktur ebenso wie für die Integration neuer Verkehrsmittel wie S-Pedelecs.
Insbesondere außerorts sieht der Mobilitätsexperte verschiedene Möglichkeiten, Radinfrastruktur wie Wirtschaftswege oder auch Radschnellwege für sie freizugeben. „Die Radschnellverbindungen sind darauf ausgelegt, dass die Menschen dort mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs sein können“, sagt er. Die Freigabe per Zusatzschild sei nie ein Freifahrtschein zum Rasen. Im Gegenteil. „Die S-Pedelec-Fahrer müssen ihre Geschwindigkeit auf den Radschnellwegen anpassen, wenn dort viel Verkehr ist“, sagt er. Der Mobilitätsexperte ist zuversichtlich, dass das funktioniert.

Fahrzeiten: Pedelec versus S-Pedelec

Aber lohnt es sich überhaupt, vom normalen, dem Fahrrad rechtlich gleichgestellten E-Bike auf ein Speed-Pedelec umzusteigen? Das Kuratorium für Verkehrssicherheit (KFV) in Österreich, eine der führenden Institutionen der Unfallprävention, wollte es genau wissen und hat im Jahr 2021 die Studie durchgeführt „Potenzial von S-Pedelecs für den Arbeitsweg“.
Fünf Wochen dauerte der Feldversuch. 98 Berufstätige nahmen teil und zeichneten auf, wie viel Zeit sie für ihren Arbeitsweg mit den verschiedenen Fahrzeugen brauchten. Ab einer Strecke von fünf Kilometern kamen die Speed-Pedelecs stets schneller ans Ziel als ihr langsameres Pendant. Konkret benötigten die Berufstätigen für eine Strecke von 15 bis 20 Kilometer mit dem Auto durchschnittlich etwa 23 Minuten, mit dem S-Pedelec 34 Minuten und mit dem Pedelec rund 45 Minuten. Das herkömmliche Pedelec war demnach fast doppelt so lange unterwegs wie das Auto. Für die Forscherinnen ist dieser Zeitunterschied entscheidend. Eine Verdoppelung der Fahrtzeit zur Arbeit ist aus ihrer Sicht unattraktiv. Das S-Pedelec kann diese Differenz aber auf allen Strecken bis etwa 25 Kilometer in etwa halbieren. Damit ist das S-Pedelec für die Wissenschaftlerinnen eine echte Alternative zum Auto. Insbesondere auf langen kreuzungsfreien Strecken wie Radschnellwegen.
Allerdings wird die Freigabe von Radschnellwegen für S-Pedelecs seit Jahren kontrovers diskutiert. Vornehmlich die Vertreter*innen des ADFC waren strikt dagegen. Inzwischen weichen sie von dieser starren Haltung ein wenig ab. Inzwischen befürwortet der Fahrradclub die Freigabe der Radinfrastruktur in Einzelfällen – etwa außerorts, auf breiten, wenig frequentierten Radwegen. Damit sind viele geplante Radschnellwege bereits aus dem Rennen.

„Nur weil mein S-Pedelec 45 km/h fahren kann, fahre ich die Menschen nicht über den Haufen.“

Anja Herz

Klimafreundliche Fahrzeuge dürfen passieren, dazu gehören Busse, Taxen, Fahrräder und S-Pedelecs.

Zentrale Verbindungen in Tübingen wie diese Fahrradbrücke haben die Verkehrsplaner*innen ebenfalls für die Speed-Pedelec-Fahrer freigemacht.

Geschwindigkeit anpassen möglich?

Für die S-Pedelec-Fahrerin Anja Herz ist die ADFC-Haltung nur schwer nachzuvollziehen. Sie lebt außerhalb Münchens. Das S-Pedelec nutzt sie für fast jede Gelegenheit. Mit einer Freundin hat sie damit die Alpen überquert. 400 Kilometer sind die beiden von Garmisch bis zum Gardasee gefahren, die meiste Zeit auf Radwegen. Probleme mit den anderen Radfahrerinnen gab es aus ihrer Sicht keine. „Ich passe meine Geschwindigkeit immer den Gegebenheiten an“, sagt sie. Auf den Radwegen, aber auch, wenn sie beispielsweise an einer Fahrradsternfahrt teilnehmen. „Nur weil mein S-Pedelec 45 km/h fahren kann, fahre ich die Menschen nicht über den Haufen“, sagt sie. Sie bedauert, dass ausgerechnet der Fahrradverband ihr und vielen anderen S-Pedelec-Fahrerinnen die Bereitschaft und Fähigkeit abspricht, ihr Tempo anzupassen.

„Porschefahrenden traut man zu, in einer Tempo-30-Zone 30 km/h zu fahren, S-Pedelec-Fahrern nicht.“

Martina Lohmeier, Hochschule RheinMain Wiesbaden

Fehlende Erfahrungen schüren Vorurteile

Die Vorurteile gegenüber Pedelec-Fahrern kennt Martina Lohmeier, Professorin an der Wiesbadener Hochschule RheinMain. „Mit S-Pedelecs verbinden viele Menschen Überholvorgänge“, sagt sie. Konventionelle Radfahrende fürchten, von ihnen an den Bordstein gedrängt zu werden oder dass sie sich erschrecken, wenn die schnellen Radler*innen an ihnen vorbeijagen. Eltern sorgen sich zudem um ihre Kinder, wenn Schulstraßen oder Tempo-30-Zonen für S-Pedelecs freigegeben werden.
Die Ursache für all diese Bedenken sind laut der Professorin fehlende Erfahrungen. „S-Pedelecs sind noch eine sehr junge Fahrzeuggattung“, sagt sie und anders als die herkömmlichen Pedelecs sind sie in Deutschland immer noch eine Seltenheit. Allein die mögliche Spitzengeschwindigkeit von 45 km/h schüre Ängste. Sie lacht und sagt: „Es ist paradox, dass man Porschefahrenden zutraut, in einer Tempo-30-Zone 30 km/h zu fahren, S-Pedelec-Fahrern aber nicht.“
Im Rahmen eines Feldversuchs erforscht die Radprofessorin mit Kolleginnen und Kollegen der Hochschule Darmstadt und RheinMain, ob diese Sorgen berechtigt sind. Sie untersuchen, wie schnell die S-Pedelecs tatsächlich unterwegs sind, ob Konflikte auf dem Radweg entstehen und wenn ja, welche. Im Winter 2023 starteten die ersten elf Teilnehmerinnen und Teilnehmer den ersten Testlauf. Der dauert für sie und alle weiteren Gruppen jeweils sechs Wochen. Die Wissenschaftler tracken die GPS-Daten und die gefahrenen Geschwindigkeiten. Nach dem Praxisteil befragen sie die Teilnehmenden dann zum Radwegenetz und zu ihren Erfahrungen mit dem Elektrorad als Pendelfahrzeug.
Die Ergebnisse sollen laut Martina Lohmeier interessierten Kommunen dabei helfen, einen Leitfaden für die Integration von S-Pedelecs in den Alltagsverkehr zu entwickeln. Dazu gehört auch, Kriterien für die Freigabe von Radinfrastruktur für S-Pedelecs zu definieren. Der Leitfaden kommt genau zur richtigen Zeit. Seit vergangenem Sommer dürfen Kommunen in Nordrhein-Westfalen ebenfalls ihre Radinfrastruktur für schnelle Elektroräder freigeben. Das Potenzial ist riesig. Dort wird der Radschnellweg RS1 gebaut. Er soll 100 Kilometer lang werden.


Bilder: www.haibike.de – pd-f, Universitätsstadt Tübingen, www.flyer-bikes.com – pd-f, Stadt Konstanz – Gregor Gaffga

Damit Radwege außerhalb bebauter Gebiete nutzbar sind, spielt Beleuchtung eine große Rolle. Doch wie bringt man Licht auf die Route? Wir haben zwei Unternehmen gefragt und stellen ein prämiertes Beispiel aus Münster vor. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Wer Radmobilität vorantreiben will, muss Fahrradfahren sicherer und komfortabler machen. Vor allem abseits straßenbegleitender Routen heißt das neben der angemessenen Breite, dem leicht laufenden Belag und anderen Faktoren des Weges auch: Beleuchtung. Dabei geht es vor allem um Sicherheit. Radfahrende müssen Hindernisse vor sich früh genug erkennen können. Doch Licht stellt in puncto Umweltschutz eine Herausforderung dar. Beleuchtung ist immer auch eine Bedrohung für die Fauna. Ein Gesichtspunkt: Laternen locken unter anderem Insekten an, die im Licht zur leichten Beute werden und selbst, im Bann des Lichts, keine Nahrung finden. Andererseits meiden Fledermäuse, die sich von Insekten ernähren, meist Kunstlicht und finden so ebenfalls weniger Nahrung. „Doch Flutlicht braucht es für einen Radweg nicht. Das Licht, das eine helle Vollmondnacht bietet, reicht schon fast“, sagt Jörg Blume, technischer Leiter bei Lunux-Lighting. Das Unternehmen, schon 1895 unter dem Namen Hellux in Hannover gegründet, entwickelt und vertreibt unter anderem Beleuchtungssysteme für Straßen und Plätze und arbeitet auch für Großkunden wie die DB. „Zwei bis drei Lux sind für eine Radwegbeleuchtung ausreichend“, so Blume weiter.

Auf den ersten Blick schlichte Laternen. Doch Mastleuchten an einem Radweg, im Bild von Sunleds, können heute viel mehr: Sie tragen zu Sicherheit und Komfort der Radfahrenden bei – und fördern so die Verkehrswende.

Adaptive Beleuchtung mit IR-Sensoren

Der Lichtstrom, die Stromstärke und die verwendete technische Optik werden vom Einsatzbereich definiert. „Unser Fokus dabei liegt auf adaptiver Beleuchtung“, so der technische Leiter. „Meist wird über einen PIR-Sensor-Bewegungsmelder eine Reihe der vor dem Radfahrer liegenden Leuchten hochgedimmt.“ Diese Sensortechnik arbeitet mit Infrarot-Strahlung, die herannahende Menschen durch deren Temperaturstrahlung erkennt. Die vor dem Radfahrenden liegenden Leuchten werden also erst hochgefahren, wenn sich jemand dem Sensor nähert. So spart man einen enormen Teil der Kosten, die Beleuchtung ist nur „auf Abruf“ in Betrieb. Die moderne LED-Technik als besonders stromsparendes und gut dimmbares Leuchtsystem macht es möglich. Denkbar wäre auch eine Steuerung über ein Astro-Dimm-System, also eine autarke Steuerung der Beleuchtung über vorprogrammierte Zeiteingaben. Allerdings wird man dadurch nur der wahrscheinlichen Nutzung eines Radweges zu verschiedenen Zeiten gerecht. Das Licht muss immer gleichmäßig stark gedimmt sein, wenn die Radfahrer*innen die Leuchten passieren, um ihnen möglichst wenig Anpassungsleistung aufzubürden. Das Fahren würde sonst sehr anstrengend werden, und Komfort ist schließlich ein wichtiges Thema, um zum Radfahren zu motivieren.
„Faktoren wie Masthöhe, optisches System der Leuchten, Abstände der Masten, die Radwegbreite und Weiteres müssen bei dem System außerdem aufeinander abgestimmt werden. Deshalb findet die Beratung hierzu und zu allen anderen Punkten des Projekts grundsätzlich bei einer Begehung vor Ort statt“, erklärt Blume. Über sogenannte Zhaga-Schnittstellen kann das System an die Infrastruktur der Kommune angeschlossen werden. Die Kosten: um die 65.000 Euro muss man, ganz grob gerechnet, für einen Kilometer Beleuchtung einplanen.

Die Hella Park Streetline und Twin Streetline von Lunux Lighting können mit adaptiver Beleuchtung ausgestattet werden – Light on demand, sozusagen.

Solarenergie für Radfahrende

Das Unternehmen Sunleds setzt bei der Beleuchtung von Radwegen auf Solarenergie. 2016 gegründet, war es schnell eines von zwei Unternehmen, die sich in diesem Bereich breiter aufstellten. „Adaptive LED-Straßen- und Wegebeleuchtung mit Solarbetrieb ist noch ein Nischenmarkt“, sagt Geschäftsführer Henrik Brockmann. Trotzdem ist es für viele Situationen die einzige Lösung. „Ein wichtiges Einsatzgebiet für solare Leuchten sind entlegene Bushaltestellen, da dorthin oft keine Stromversorgung verlegt wird.“
Das ist für Brockmann auch einer der wesentliche Vorteile des Systems. Man spart Kosten. Zum einen ist das natürlich der Aufwand für die Kabelverlegung und entsprechenden Materialien. Zum anderen sind es die Stromkosten selbst. Diese Mastleuchten stellen die Energie selbst her und halten den Strom im integrierten Akku bereit. „Bis zu drei Nächte Beleuchtung kann eine Solar-Mastleuchte mit einem vollständig aufgeladenen Akku erreichen“, so Brockmann. Das bedeutet, dass man im besten Fall auch sehr trübe Tage im Winter überbrücken kann. Das setzt aber voraus, dass sich die jeweiligen Örtlichkeiten für den Betrieb mit Solarenergie grundsätzlich eignen. „Gibt es dort wo die Solarsysteme aufgestellt werden sollen, zu viel Schattenwurf, dann kann eine ausschließlich mit Solarenergie arbeitende Mastleuchte nicht ohne Beeinträchtigungen funktionieren, was wir unseren Kunden vorab mitteilen.“

„Adaptive LED-Straßen- und Wegebeleuchtung mit Solarbetrieb ist noch ein Nischenmarkt.“

Henrik Brockmann, Sunleds

Integrierte Insektenfreundlichkeit

An die Umwelt muss hier natürlich auch gedacht werden. Der Aufbau der LED-Systeme eliminiert weitgehend Streulicht, der Lichtkegel wird also klar abgegrenzt und das Licht trifft asymmetrisch-breitstrahlend auf den Radweg auf. Man nimmt, beispielsweise im meistverwendeten Modell ESL-18pro ECO, LEDs mit einer warmweißen Farbtemperatur von als „insektenfreundlich“ geltenden 3000 Kelvin. Ausgelöst werden das Aufleuchten und Abdimmen hier über einen aktiven Bewegungsmelder in sogenannter MWS-Technologie. Im Gegensatz zum Infrarot-Sensor, der passiv Wärmebild-Veränderungen wahrnimmt und darauf reagiert, erkennt dieser Mikrowellensensor Bewegungen, indem er selbst Signale aussendet und ihr Echo interpretiert – Radartechnologie also, die derzeit noch etwas hochpreisiger ist als Infrarotsysteme, aber von vielen als noch zuverlässiger eingeschätzt wird. Und die Stromversorgung? „Wo keine entsprechenden Kabel vorhanden sind, kann man mit autarker Beleuchtung durch Solarenergie bis zu zwei Drittel der Kosten einsparen.“ Ist die Stromversorgung über das Ortsnetz vorhanden, ist laut Brockmann eher eine netzgebundene oder kombinierte Lösung aus Solar- und Netzbetrieb angezeigt.
Bis zu zwölf Jahre Lebensdauer sollen die Lithium-Eisenphosphat-Akkus erreichen, bei Schäden oder ladezyklisch bedingtem Erreichen der Lebensdauer können sie getauscht werden. Entwickelt wird hauptsächlich in Deutschland, dazu gibt es sogar ein eigenes Testgelände am Hauptsitz Dresden. Die Kosten für eine Kommune beginnen bei der Nutzung von solaren Mastleuchten bei rund 900 Euro netto pro komplettes System, inklusive Lichtmast. Offiziell gibt es drei Jahre Garantie, erweiterbar auf fünf Jahre. Service-Leistungen erfolgen dazu oft über Kulanz-Regelungen.

Entlang von Straßen muss die Beleuchtung spezielle Vorgaben erfüllen. Schließlich wird den Radfahrenden oft durch entgegenkommende, blendende Autos die Sicht erschwert.

Radwege, die leuchten?

Wo bleiben da die selbstleuchtenden Radwege oder Lichtleisten-Radwegbegrenzungen am Boden? Dazu sind einige Ideen in der Testphase. Grundsätzliche Herausforderungen gibt es dabei allerdings. Gegenstände auf dem Radweg erscheinen weitgehend im Gegenlicht, was wenig hilfreich ist. Auch reicht das emittierende Licht zur Erkennbarkeit des Radwegs, aber je nach Ausführung nicht zur eigentlichen Beleuchtung aus. Gleichzeitig ist ein leuchtender Radweg aber ein Problem in puncto Lichtverschmutzung. Das Bundesnaturschutzgesetz und das Bundesimmisionsschutzgesetz könnten diesen Konzepten auch deshalb einen Riegel vorschieben. Doch es gibt ja, wie gezeigt, sinnvolle andere Lösungen.


Bilder: Sunleds GmbH, Lunux Lighting GmbH