Unter sportlichen Radlern sind Gravelbikes längst zu einem Synonym für neue Freiheit und das kleine Abenteuer abseits asphaltierter Pisten geworden. Hat der Fahrradtrend das Zeug dazu, den regionalen Tourismus weiter anzukurbeln? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Das Gravelbike (Gravel = englisch für Schotter) ist eines der jüngsten Kinder der derzeit boomenden Fahrradbranche. Optisch ein Rennrad, aber mit deutlich breiteren und mit kleinen Stollen besetzen Reifen. Sie machen den Unterschied, denn damit ist man sowohl auf der Straße als auch auf losem Untergrund ebenso zügig wie sicher unterwegs. Die zweite wichtige Unterscheidung sind die Aufnahme-Ösen für Trinkflaschen, Schutzbleche oder Gepäckträger. Zusammen mit einem reichen Angebot an Zubehör, wie Packtaschen in allen Größen, die teils direkt an den Rahmen gegurtet werden, wird das Gravelbike zum sportlichen Allrounder. Von der Feierabendrunde über die Spritztour am Wochenende bis hin zum Mikro-Abenteuer inklusive Outdoor-Übernachtung ist alles möglich.

Niederschwelliger Zugang für Kurzabenteuer

Carsten Maiwald, Geschäftsführer des Leipziger Fahrradherstellers Veloheld, meint, es ginge heute mehr noch als bisher im Bereich Fahrrad und Tourismus um die Freiheit: „Ich denke, der Wunsch der Menschen, rauszukommen, ist in letzter Zeit immer stärker geworden. Und das macht das Gravelbike sehr leicht.“ Dabei zeigt es sich auch psychologisch für den Nutzer als das Beste aus zwei Welten. So ist es ist optisch, dank Rennlenker, nahe am Sportbereich angesiedelt. Das birgt ein gewisses Verführungselement in sich: „Einmal so ein sportliches Rad fahren.“ Dabei ist die Sitzposition nicht so gestreckt und ungewohnt für Neueinsteiger wie beim Rennrad. Der zweite Punkt: Sein breiter Einsatzbereich und die Transportmöglichkeiten. Sie haben mit dem Gravelbike den Bikepacking-Trend ausgelöst: Mit speziell entwickelten Gepäcktaschen für Touren auf schlechtem Untergrund geht man ins kleine oder auch große Abenteuer in der Natur. Die Taschen werden an den Lenker, die Rahmenrohre oder die Sattelstütze geschnallt. Dort hinein passt weniger als in klassische Gepäcktaschen, sodass der Trend zugleich auch eine Back-to-the-Roots-Entwicklung widerspiegelt: Nur das Wichtigste kommt mit. Die Räder bleiben mit diesen Taschen wendig, das Fahrerlebnis wird authentischer als beim klassischen Tourenrad. Auch deshalb steht dieses flexible Rad viel mehr für Abenteuer.

Ein Trend für jeden, der rauswill

Mit dem Mountainbike-Trend der 80er- und 90er-Jahre ist der Gravel-Trend mengenmäßig aktuell nicht vergleichbar. Aber er verändert das Nutzerverhalten stärker als das Mountainbike. Ende der 1980er-Jahre kauften sich viele Menschen allein wegen des Trends ein Mountainbike, nutzten es dann aber meist nur auf der Straße. Viele stiegen so neu ins Radfahren ein, hörten aber auch bald wieder auf, als sie feststellten, dass das Mountainbike zwar gut aussieht letztendlich aber ein wenig komfortables Sportrad ist und im Alltag weniger Sinn macht als ein Rad für die Stadt.
Das Gravelbike ist in dieser Hinsicht gemäßigt. Es braucht keine feste Routenführung mit der Garantie auf asphaltierte Wege, keine Begrenzung auf minimale Steigung. „Das Ganze wird noch gepusht von den sozialen Medien. Sie tun ihre Sache dazu, damit der Radfahrer wirklich das Gravel-Abenteuer erleben will“, sagt Carsten Maiwald. Mittlerweile sind die Hälfte aller verkauften Räder bei Veloheld Gravelbikes, „und zwar individualisiert“. Das heißt, der Kunde kann sich beim Händler oder auch über den Webshop die Zusammenstellung des Bikes in einem bestimmten Rahmen selbst aussuchen.
Auch beim Kölner Unternehmen Traffic, das unter anderem die amerikanische Fahrradmarke Bombtrack vertreibt, sieht man das Gravelbike jenseits der üblichen Produktstruktur: „Der Einsatzbereich macht es“, sagt Manuel Schürholz, Mitgründer des Unternehmens. Events, wie gemeinsame Bikepacking-Touren, werden oft von Enthusiasten veranstaltet, die kaum kommerzielle Interessen hätten. Das sei für ihn prägend. „Da fährt dann alles mit. 50 Leute, die auf jeden Fall um den Sieg fahren wollen, genauso wie die vielen anderen, denen es nur um das Naturerlebnis geht.“ Auch die Mitarbeiter des Herstellers Bombtrack veranstalten solche Abenteuer-Events. Ihre Argumente fürs Gravel-Bike: „Technisch sind die Vorteile gegenüber dem MTB klar: geringeres Gewicht, Handlichkeit, weniger empfindliche Teile. Und es eröffnet den Horizont mehr als das MTB.“

„Sicher ist der Gravel-Tourismus für uns noch eine Nische, aber sie wird immer breiter.“

Susanne Volkheimer, Leiterin Haßberge Tourismus

Leihen und Kaufen – beides hilft dem Tourismus

Der Fahrradverleih ist für eine Tourismusregion ein guter Einstieg, das Potenzial dieses Fahrrads in Sachen Fremdenverkehrsförderung und Erweiterung der Klientel zu nutzen. Genau da scheint derzeit mit Blick auf den neuen Radtyp einiges zu entstehen. Im österreichischen Fuschl am See bei Salzburg bietet beispielsweise das Hotel Mohrenwirt in Zusammenarbeit mit dem großen deutschen Hersteller Canyon bereits seit zwei Jahren Gravelbikes an. Solche Joint-Ventures können im Tourismus für beide Seiten relativ einfach Win-win-Erfolge bringen. Für die Urlaubsgäste sind die gerade im Gravel-Bereich hochqualitativ orientierten Leihräder verführerisch. Allerdings muss man auch ehrlich sein: Trotz relativ geringer Aufstiegshürde gilt, wer zu Hause selten Rad fährt, dem wird auch ein Hightech-Bike im Urlaub wenig Lust auf Schotter machen. Lutz Klingner, der in Dresden neben seinem Fahrradgeschäft einen Rennrad- und Gravelbike-Verleih betreibt, weiß, „die Schwelle, sich für den Aufenthalt oder eine Tour am Urlaubsort ein Gravelbike zu leihen, ist für Rennradfahrer deutlich niedriger als für Mountain-biker“. Hier kommt der Wunsch der Rennradler zum Tragen, auch mal draufloszufahren und nicht umkehren zu müssen, nur weil die Straße in einen Feldweg übergeht.

Neue Kundenansprache mit neuen Bikes

Nach den Erfahrungen von Lutz Klingner ist der Mountainbiker meist auf Terrains unterwegs, für das ein Gravelbike oft das bessere, weil leichtere und dynamischere Fahrrad wäre. „Das will sich der Mountainbiker aber oft nicht eingestehen“, erklärt Klingner. Das bietet Touristikern und Hoteliers natürlich die Gelegenheit, Gäste direkt anzusprechen, und ihnen die Möglichkeiten mit einem Gravel-Leihrad aufzuzeigen. In der Unterkunft beispielsweise persönlich oder mit Broschüren. Aber es gibt auch die klassischen Donau-Radweg-Tourer, die sonst mit Trekkingbike und Gepäcktaschen unterwegs sind und im Urlaub mal ein trendiges, sportlicheres Rad ausprobieren wollen. „Die, die es gemacht haben, sind meist begeistert“, erklärt der Verleiher Klingner. Mancher Leihkunde käme nach dem Ausprobieren zu ihm in den Laden und kaufe direkt sein erstes Gravelbike. Für die Tourismus-Region ist zwar weitgehend egal, ob man mit dem geliehenen oder dem eigenen Rad die Feldwege entlangrollt. Wichtig ist es hier aber, immer wieder neue Erlebnisse zu schaffen. Dafür bieten die Themen Gravel und das Bikepacking beste Voraussetzungen.

Für touristische Regionen ist es relativ einfach, mit Routen und vielleicht auch kleinen Social Events ihr Klientel auszubauen.

Erfolgreiches Cross-Marketing mit vielen Partnern

Eine gute Möglichkeit, den Tourismus auf Basis des neuen Produkts zu fördern, sah man vor zwei Jahren in der Mittelgebirsregion Haßberge zwischen Bamberg und Schweinfurt. Unter anderem mit dem Partner Sram, einem amerikanischen Fahrradkomponenten-Hersteller mit deutscher Zentrale in Schweinfurt, wurde ein großes Angebot rund um das Gravelbike entwickelt. „Wir haben jetzt eine Auswahl an unterschiedlichen Themenrouten speziell für Graveller in der Region“, sagt Susanne Volkheimer, Leiterin von Haßberge Tourismus. Dazu mussten keine neuen Radwege eingerichtet oder Verbindungswege geschaffen werden. Lediglich die Routen wurden aufgrund der vorhandenen Wander-, Radwander- und Feldwege entwickelt und zusammengestellt. Im Internet und vor Ort werden sie beispielsweise als der „Fluss-Schloss-Fachwerk-Gravel“ oder der „Mainaue-Gravel“ angeboten – mit genauer Tourenbeschreibung, Länge und Schwierigkeitsgrad und mit einem kostenlosen Download, mit dem die Route zum Abfahren auf dem Handy oder Fahrradnavi angezeigt werden kann.
Auch Hotels und Vermieter spezieller Übernachtungsorte wie das „UFO47“, ein exklusives Designer-Holzhaus, sind mit im Boot. Wer dort oder etwa im Brauhaus3 übernachtet, für den ist ein Gravelbike der High-End-Marke Open Cycle inklusive. Aber egal wo man in der Region übernachtet, Gäste können sich stets an das Sram-Gravel-Experience-Testcenter wenden und mit Testrädern die Region erkunden. Der Hersteller gewinnt umgekehrt durch das Feedback zu den Rädern, das er von den Gravel-bikern abfragt. „Wir arbeiten sehr gern mit der Industrie zusammen und verfolgen grundsätzlich mehrere Ansätze im Cross-Marketing-Bereich“, betont die Touristikerin Susanne Volkheimer. Einbezogen werden auch Ausflugslokale wie Craft-Beer-Brauereien oder Winzer, an denen manche Themen-Tour entlangführt. Auf Kommunikationswegen wie Facebook undInstagram wird die Region Gravel-Interessierten nahegebracht. Erfahrungsgemäß ist gerade diese Gruppe besonders affin für Social Media. Die Gravelbike-Angebote fungieren hier als eine von vielen Marketing-Maßnahmen, doch die Möglichkeiten der Partnerschaften sind vielfältig. So gibt es auch mit einer Rennrad-Zeitschrift eine Kooperation. Eine aktuell vom Tourismusverein produzierte Gravel-Reisegeschichte erscheint sowohl in diesem Magazin wie auch in einem Online-Magazin für Gravelbiker.

„Der Wunsch der Menschen, in die Natur zu kommen, ist in letzter Zeit immer stärker geworden. Und das macht das Gravelbike sehr leicht.“

Carsten Maiwald, Geschäftsführer Veloheld

Trend wird breiter und hat Potenzial

Ein schöner Nebeneffekt laut Susanne Volkheimer ist, dass die Räder als Allround-Bikes auch in den Orten genutzt werden, etwa zum Einkaufen oder wenn es zum Essen geht. Das mache weitere Gäste neugierig. „Und natürlich können wir mit dem trendigen Rad langsam auch mehr jüngere Besucher generieren.“ Eine Kooperation mit dem lokalen Verkehrsverbund ermöglicht es zudem, die Startpunkte für die Radtouren per Zug und Bus anzufahren. „Sicher ist der Gravel-Tourismus für uns noch eine Nische“, sagt Volkheimer, „aber sie wird immer breiter.“ Ist das Thema Gravelbike ein neu zu entdeckender Tourismus-Magnet? Grundsätzlich lohnt es sich wohl, Tourismus-Marketing wieder mehr aus einer ökologisch vertretbaren Perspektive und vor allem vernetzter zu denken. Die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Gemeinden, Tourismus-Beauftragen, Planern und anderen zeigt, dass man mit Kreativität viele Synergien schaffen und neue potenzielle Gäste ansprechen kann.

Basiswissen Gravelbike

Das Gravelbike ist die Weiterentwicklung des früheren Querfeldeinrads. Mit den stollenbesetzten Reifen ist es ebenso auf Asphalt wie auch auf schottrigen Feld- oder Waldwegen in seinem Metier. Der Rennlenker sorgt für Abwechslung in der Haltung durch verschiedene Griffmöglichkeiten und, so gewünscht, für eine sportlich-dynamische Sitzposition. Dennoch sitzt man nicht so gestreckt wie mit dem Rennrad – ein wichtiger Faktor für Queraufsteiger, die mit einer allzu sportlichen Sitzposition wenig anfangen können. Mit einer Mountainbike-ähnlichen Übersetzung und Scheibenbremsen fühlt man sich auch im hügeligen Terrain wohl. Unterschiede zum Mountainbike sind neben dem Rennradlenker der Verzicht auf eine Federung sowie die etwas schmaleren Reifen. Dank vieler Aufnahmeösen für Zubehör wird das Bike zum Allrounder und Lastenesel für echte Abenteuer. Inzwischen wächst auch das Angebot an Gravelbikes mit Motorunterstützung. Dabei nimmt der Motor vor allem die Angst vor steilen Passagen, gerade mit Gepäck. Der Einstiegspreis für unmotorisierte Gravelbikes liegt bei unter 1.000 Euro, die Skala nach oben ist fast offen.


Bilder: GRAN-FONDO-Cycling-Magazin/Haßberge Tourismus, Franzi Wernsing, Folker Bergmann, Matteo Dunchi

Alles für Microadventure und Bikepacking

von Gunnar Fehlau

Ein Abenteuer muss nicht groß sein – und schon gar nicht teuer, weiß Gunnar Fehlau aus vielfältiger eigener Erfahrung. Der Gründer vom Pressedienst-Fahrrad lebt das mit dem Rad und teilt in der handlichen Fibel sein Wissen und seine Begeisterung. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


„Abenteuer erlebt, wer sich auf sie einlässt“, schreibt der als Komiker bekannte Rad- und Outdoor-Enthusiast Wigald Boning im Vorwort und empfiehlt, die Freizeit nicht vor Bildschirmen, sondern „im wahren Leben“ zu verbringen. Damit trifft er ein allgemeines Lebensgefühl in unserem allzu durchorganisierten, serviceverwöhnten und wohltemperierten Umfeld. Aber wie und womit anfangen?
Gunnar Fehlau kennt als begeisterter Querfeldeinradler und Outdoor-Overnighter die Glücksgefühle aus der Praxis, genauso aber auch die inneren und äußeren Hemmschuhe, technische Tücken und sonstige Fallstricke. Sein Tipp: „Raus aus dem Büro, rauf aufs Rad und für die Nacht oder ein Wochenende in die Natur. Das Erlebnis beginnt direkt vor der eigenen Haustür.“ Damit nicht jeder die gleiche, oftmals anstrengende Lernkurve wie er selbst machen muss, hat er das handliche Buch geschrieben, in dem wirklich alles behandelt wird. Von der Vorbereitung und Eigenmotivation „Jetzt! Gegen alle Widerstände“ über Anfängerfehler „Niemals ohne …“ bis hin zu Tipps für Outdoor-Routiniers „Die Sache mit dem Schmerz“. Weitere Themen im Überblick: alles Wissenswerte zum richtigen Material und zur richtigen Ausrüstung; Survival-Know-how und Wissenswertes zu Übernachtungen in der Natur; Tipps zur Tour-Planung.
Angesichts der Aussicht wie einfach und schön das Leben eigentlich sein kann, und des Frusts, der sich schnell einstellt, sobald man merkt, dass man eine eiserne Kalorienration, eine Notfalldecke oder Kabelbinder doch sehr gut hätte brauchen können, eine sehr gute Investition. Unser Tipp: Beschenken Sie sich selbst, Freunde oder ihre Familie mit dem Buch – und einer gemeinsamen Tour.

Auszug Klappentext

Man braucht nicht viel für eine Kurzreise mit dem Fahrrad inklusive Übernachtung. Was man benötigt, lässt sich leicht am Rad unterbringen – und schon kann das „Feierabenteuer“ beginnen. Eine Radtour, ein Lagerfeuer, eine Übernachtung unterm Himmelszelt.


Rad und Raus: Alles für Microadventure und Bikepacking | von Gunnar Fehlau | Verlag Delius Klasing | 2. Auflage 2018 | 160 Seiten | Taschenformat 12,7 × 18,6 cm | ISBN 978-3-667-10929-3 | 16,90 Euro


Bilder: Verlag Delius Klasing, Gunnar Fehlau

Mit der technischen Revolution beim Fahrrad und E-Bike und Veränderungen im Tourismus rückt die Frage nach den eigentlichen Bedürfnissen der Menschen und neuen Zielgruppen in den Vordergrund. Design-Thinking-Ansätze und der Blick aus weiblicher Perspektiven zeigen enorme, bislang noch vielfach ungenutzte Potenziale. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Nicht jeder beschäftigt sich im Tourismus gleichermaßen intensiv mit dem Thema Fahrrad und ist mit den rasanten Veränderungen vertraut. Aus fachlicher Sicht fällt das am ehesten auf, wenn in Pressemitteilungen und auf Websites allzu schablonenhafte Bilder benutzt, E-Bikes pauschal dem Thema Genussradfahren zugeordnet werden oder im Sprachgebrauch immer mal wieder vom Urlaub auf dem „Drahtesel“ die Rede ist.

Revolution durchs E-Bike

„E-Mobilität bietet neue Möglichkeiten und vollkommen neue Erlebnisse: lautlose, selbstfahrende Autos. Bikes, mit denen man mühelos Berge erklimmen kann. Es ist die Faszination einer neuen Technologie, die unsere bekannte Welt auf den Kopf stellt“, schreibt Robin Schmitt, Chefredakteur des Magazins E-Mountainbike und mit 30 Jahren Vertreter einer neuen Generation. Zusammen mit seinem Bruder Max-Phillip hat er zu Beginn der E-Bike-Revolution ein urbanes Lifestyle- und E-Bike-Magazin gegründet. Heute hat sich das von der Oma gestiftete Kapital für das Verlags-Startup ausgezahlt und Vater Manfred begleitet seine Söhne nicht nur bei ihren Touren, sondern auch im Geschäft. Die Mehrgenerationen-Geschichte ist ein Beispiel dafür, wie sehr das E-Bike Menschen und Familien zusammenbringen und auch das Wertegerüst mit neuen Koordinaten versehen kann. „Sind Statussymbole überhaupt noch zeitgemäß?“, fragt Robin Schmitt und setzt Freiheit, Entdeckergeist und die neue Möglichkeit, mehr Qualitätszeit mit Menschen zu verbringen, dagegen. „Stell dir vor, du könntest frei entscheiden, mit wem du wohin und wie intensiv fahren möchtest – ungeachtet der körperlichen Fitness und des Alters. Auf einmal musst du nicht mehr mit gleichstarken Schicksalsgefährten fahren, sondern kannst mit deinen Allerliebsten den Gipfel stürmen.“ Das, was er zusammen mit Vater, Bruder, Partnerin, Freunden, Hund und weiteren Weggefährten erlebt, können auch viele andere nachvollziehen. Für sie erschließen sich dank neuer Produkte und Angebote völlig neue Möglichkeiten.

„E-Mountainbiken bringt Generationen zusammen, eröffnet neue Perspektiven und kann vor allem eins: glücklich machen!“

Robin Schmitt, E-Mountainbike Magazin

Fundamental verändert: Bedürfnisse und Zielgruppen

E-Mountainbikes geben nach Robin Schmitt die Möglichkeit und die Kraft, sich dem stressigen Alltag für kurze Zeit zu entziehen. „Sie führen uns raus in die Natur, fördern unseren Spieltrieb und Entdeckergeist und ermöglichen zusammen mit anderen echte Glücksmomente.“ Mit den tieferen menschlichen Bedürfnissen und neuen Konzepten für die Bike-, Outdoor- und Tourismusbranche beschäftigt sich Anna Weiß in der Beratung. Der Design-Thinking-Ansatz, der den Menschen in den Mittelpunkt stellt, ist für die Mitgründerin eines Special-Interest-Verlags, Co-Founderin des Frauen-Netzwerks Bloomers Outdoors und Gründerin des European Womenʹs Outdoor Summit Basishandwerk. Aus der Beschäftigung mit dem Schwerpunktthema Frauen wuchs die nähere Analyse der spezifischen Bedürfnisse und den sich verändernden Zielgruppen. „Zahlen sind immer wichtig für Entscheidungen. Genauso wichtig sind aber auch Beobachtungen der Gesellschaft. Was passiert hier gerade und wo geht es hin?“ Wichtig sind für sie mit Blick auf den Einzelnen vor allem die unterschiedlichen und gleichzeitigen Rollen, die sich zudem stetig veränderten. Zum Beispiel in der Familie, als Partner oder Elternteil, durch den Beruf und auch die jeweilige Lebenssituation, etwa wenn die Kinder selbstständig werden, oder als Single.

Beobachtung und Evaluation

Auf diesen Erkenntnissen aufbauend könne man dann spezifische Angebote und Produkte entwickeln und in der Kommunikation vor allem über Social Media gezielt platzieren und für eine qualitative Verbreitung sorgen. Die meisten Regionen hätten bislang noch gar nicht auf dem Schirm, welche unterschiedlichen Nutzergruppen es eigentlich gibt. Beispiele für neue Nischen und die gezielte Kundenansprache fänden sich aktuell beispielsweise bei Trekking-Zeltplätzen im Wald, die vor allem von Vätern mit ihren Söhnen schier überrannt würden, oder auch Jungesellen- und Junggesellinnen-Abschiede, bei denen es nicht um Party ginge, sondern um das gemeinsame Erlebnis in der Natur. „Was nicht passiert, ist der Transfer“, meint Anna Weiß. „Wichtig ist es nicht nur, Daten zu sammeln und zu evaluieren, sondern immer auch zu überlegen, welche Angebote und Pakete kann ich entwickeln.“

Schnelle Veränderungen und starke Differenzierung

Nach den Erfahrungen von Anna Weiß sind die Regionen auf die rasanten Veränderungen im Radtourismus sehr unterschiedlich eingestellt. „Meist geht der Blick auf die Zahlen. Aber die sagen nichts über Bedürfnisse aus und sind immer ein Blick in die Vergangenheit und nie in die Zukunft.“ Entscheidend sei auch die Aufgeschlossenheit der Verantwortlichen, sich intensiver mit den Themen zu befassen. Hier hapere es oft. So würden E-Bikes zwar überall in den Blick genommen, allerdings nach wie vor meist in Verbindung mit Trekkingbikes, Genusstouren und der Zielgruppe Ü50. Die Realität sieht allerdings ganz anders aus. Auch die über 50-Jährigen werden laut Anna Weiß vielfach gänzlich falsch eingeschätzt. „Gerade in dieser Generation finden wir oft die Zähen und Sportlichen. Dazu kommt, dass diese Gruppe mit Blick auf die Ressourcen Zeit und Geld von allen die potenteste ist.“ Sie seien auch nicht ständig mit einem Partner oder einer Partnerin unterwegs, sondern würden sich oft gerne Gruppen anschließen. Die wachsende Gruppe der Singles sei beispielsweise sehr offen für Kurse oder geführte Touren, wo sie mit anderen mit einem ähnlichen Mindset in der Gruppe zusammenkämen. Auch das Alter spiele dabei eine eher untergeordnete Rolle: „Ein 50-Jähriger kann hier einer Mitte 20-Jährigen sehr ähnlich sein.“

Passive Frauen? Alte Bilder bestehen fort

Statt einer differenzierten Betrachtung begegnen Anna Weiß oft längst überholte Schablonen – vor allem in Bezug auf Frauen: „Das Bild der Frau im Radtourismus ist vielfach haarsträubend“, so die bestens vernetzte Expertin. Oft würden sie in Analysen „ganz am Schluss, nach der Ausdifferenzierung der Zielgruppen pauschal als homogene Nutzergruppe in einen Topf geworfen. Dabei seien die Aktivitäten von Frauen extrem vielfältig und Frauen für den Tourismus insgesamt hochattraktiv. Studien zufolge seien Frauen neben Senioren die Haupttreiber der Entwicklung, dass immer mehr Sport gemacht wird. „Sie finden sich überall und sind übrigens die am schnellsten wachsende Gruppe in den Alpenvereinen im DACH-Raum.“

„In den Städten und Kommunen sollten überall Pumptracks und kleinere Dirtparks entstehen, um die Jugendlichen nach draußen und zum Sport zu ziehen.“

Janet Weick, mythos-ebike.de

„Mythos E-Bike“

Kaum eine Frau hat sich in den letzten Jahren so intensiv mit dem Thema E-Mountainbike in der Praxis beschäftigt wie Janet Weick aus Backnang bei Stuttgart mit ihrem Blog „Mythos E-Bike“. Ein Hauptauslöser für den Blog war für die junge, sportlich durchtrainierte und Mountainbike-begeisterte Mutter eine ihrer ersten E-MTB Ausfahrten Ende 2016. „Mir wurde hinterhergerufen weshalb ich jetzt mit dem E-Bike bescheißen würde, ich sei doch noch nicht alt und fett.“ In ihrem vielfach prämierten Blog setzt sich die berufstätige Mutter, die in ihrer Freizeit zusammen mit ihrem Mann und dem inzwischen ebenfalls Mountainbike- und naturbegeisterten Sohn Nino in unterschiedlichsten Destinationen unterwegs ist, kritisch mit Vorurteilen auseinander. Neben dem Ziel, die Akzeptanz zu erhöhen, ging es ihr aber auch immer um den Selbsttest: Wie kann man auf dem Bike als Familie mit einem kleinen Kind in der Natur unterwegs sein? Wie mit einem älteren? Wie lernen Kinder begeistert und spielerisch, mit dem Sportgerät umzugehen? Welche Destinationen sind nicht nur Mountainbike-freundlich, sondern bieten auch Angebote und die nötige Infrastruktur für Familien und Kinder? „Die Vorurteile haben sich seit dem Beginn meines Blogs Ende 2016 Gott sei Dank immer mehr gewandelt“, sagt Janet Weick. Es gäbe aber weiterhin einen riesigen Informationsbedarf und große Potenziale. „In meinem Umfeld, auf unseren Touren und über meinen Blog werde ich immer wieder auf das Thema Biken mit Kindern angesprochen. Und das Interesse wächst.“

Mehr Gemeinsamkeit, mehr Naturverbindung

Die Motorunterstützung hat auch ihr und ihrer Familie ganz neue Perspektiven eröffnet: „Gerade für mich als Frau kann das E-Bike super die Leistungsunterschiede ausgleichen, die von Natur aus gegeben sind, sodass ich gesünder trainieren kann und oben am Berg eben nicht mit knallrotem Kopf fast vom Bike falle, nur weil ich versuche, mit einer starken Männergruppe mitzuhalten.“ Ideal ist das E-Bike auch als Zugmaschine für Kinder im Anhänger, mit sogenannten Nachläufern oder auch für die Kinder selbst. Die Industrie bietet inzwischen nicht nur hochwertige und besonders leichte Mountainbikes für Kinder, sondern rüstet sie auch mit leichten Motoren und Akkus aus. Damit werden die Potenziale auf ein neues Level gehoben. Als Motiv steht für Janet Weick und ihre Familie neben der sportlichen Aktivität vor allem die Verbundenheit mit der Natur im Vordergrund. „Wir schärfen mit unserem Sohn Nino unterwegs den Blick für Pflanzen am Wegrand, Tiere, die Schönheit der Natur und erinnern ihn an die Vergänglichkeit der Gletscher, wenn wir bei Touren daran vorbeiradeln. Und ich nehme sehr positiv wahr, dass das den meisten Bike-Familien genauso geht.“

Politik und Verwaltung gefordert

Für die Zukunft wünscht sich Janet Weick die schnelle Abschaffung des Mountainbike-Verbots auf Wegen unter zwei Metern in ihrer Heimat Baden-Württemberg, die sie immer wieder mit der Familie zu längeren Fahrten mit dem Auto in andere Regionen zwingt, die Integration von Mountainbiken in den Schulsport und vor allem mehr Angebote vor Ort für Kinder. „In den Städten und Kommunen sollten zur Schulung von Koordination, Balance und Beweglichkeit überall Pumptracks und kleinere Dirtparks entstehen, um die Jugendlichen nach draußen zu ziehen und den Fokus auf den Sport zu lenken – weg von der Spielekonsole und dem Smart-phone.“

Top-Empfehlungen für E-Mountainbike-Familien

von Janet Weick, mythos-ebike.de

Arosa Lenzerheide
Kanton Graubünden, Schweiz

Engadin
Kanton Graubünden, Schweiz

Saalbach-Hinterglemm
Salzbuger Land, Österreich

Sölden
Tirol, Österreich


Bilder: Andreas Meyer, Janet Weick – privat

Zwischen Sightseeing und Lifestyle: Radtouren in der Stadt sind eine Nische – aber mit viel Potenzial. In Zeiten von Corona könnte daraus ein neuer Markt entstehen. Eine Tour durch Hamburg und Erfahrungen aus Bremen und Berlin machen Lust auf mehr. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Sightseeing per Fahrrad: Entspannter kann man eine Stadt kaum erkunden. Die Guides präsentieren die Sehenswürdigkeiten oft aus ungewöhnlichen Perspektiven.

Volle Strände, leere Innenstädte: Corona trifft vor allem die Städte schwer, die sonst von Tourismus, Messen und Veranstaltungen profitieren. Die Tourismusbranche muss insgesamt umdenken und neue attraktive Angebote suchen. Experten sehen den Radtourismus hier als weiteres Standbein. Das Segment boomt zwar seit Jahren, allerdings vor allem im Bereich der Radreisen. City-Sightseeing per Fahrrad für Urlauber und Thementouren für Einheimische könnten gezielt weiterentwickelt und vermarktet werden. Und auch das Label „Fahrradstadt“ wirkt auf viele Reisende anziehend.

Entspannt die Stadt kennenlernen

Die Wetter-App hat für den Tag eine Mischung aus Wolken und Sonne versprochen. Perfekte Bedingungen für eine Sightseeing-Tour per Fahrrad. Vier Deutsche und drei Niederländer warten an diesem Juli-Morgen vor der Tür des Tourenanbieters „Hamburg City Cycles“ auf ihre Leihräder. Seit 2009 bietet Lars Michaelsen Sightseeing-Touren per Rad in der Hafenstadt an. Als er startete, war sein Angebot noch ein Novum. „Die ersten drei Jahre mussten wir immer wieder erklären, dass wir keine Sportreisen veranstalten. Die Leute kannten das Produkt nicht“, sagt er. Stramme Waden brauchen die Teilnehmer nicht, um mit den Guides mitzuhalten. In dreieinhalb Stunden legen die Gäste nur rund 13 Kilometer zurück. „Das würde man auch zu Fuß schaffen“, sagt Michaelsen. Mit dem Rad ist es allerdings deutlich entspannter.
Unser erster Stopp an diesem Tag liegt 20 Meter oberhalb der berühmten Hafenstraße und des Alten Elbtunnels. Das Gebäude mit dem riesigen Kuppeldach und den imposanten Steinportalen markiert den Eingang zu dem 420 Meter langen Tunnel. Er wurde 1911 für die Hafenarbeiter eröffnet. Sie sollten bei jedem Wetter und zu jeder Tages- und Nachtzeit sicher die Elbe queren können. Im Sommer 2019 wurde er für Autos gesperrt. Seitdem haben Fußgänger und Radfahrer den Zubringer von der einen Elbseite zur anderen komplett für sich. Das kommt gut an. Nun sind dort doppelt so viele Menschen unterwegs wie zuvor.

Sicher unterwegs trotz fehlender Routen

Auf Schleichwegen lotst uns Tourenleiterin Emilie zur Elbphilharmonie. So entspannt sind Radfahrer selten in der Hafenstadt unterwegs. Hamburg will zwar Fahrradstadt werden, aber von dem Ziel sind die Planer noch weit entfernt. Viele Pendler meiden mit dem Rad das Zentrum, weil sie das Fahren auf den schmalen Radstreifen im Berufsverkehr abschreckt. Die Guides umfahren diese Strecken. „Wir fahren lieber 200 Meter mehr und eine weitere Kurve als auf den Radstreifen“, sagt Michaelsen. Schließlich sollen sich auch ungeübte Radfahrer während der Tour sicher fühlen.

77 %

der Radreisenden wollen nicht nur abseits der Zentren
unterwegs sein, sondern Kultur und Bewegung verbinden,
wie die ADFC-Radreiseanalyse 2020 zeigt.


Mittendrin statt nur Zuschauer

An diesem Morgen ist wenig los auf den Straßen. Die Touristenströme sind noch nicht zurück in der Hafenstadt. Selbst der Kai ist leer. Wir stoppen an der Elbphilharmonie, in der neuen Hafen City und am Rand der Speicherstadt, dem größten zusammenhängenden Lagerhauskomplex der Welt. Der Duft von gerösteten Kaffeebohnen weht herüber, eine Barkasse fährt laut dröhnend durch den schmalen Zollkanal und die Möwen ziehen kreischend ihre Kreise. Das ist Hamburg – hautnah. Michaelsen ist überzeugt: „Wer einmal mit dem Rad eine Stadt erkundet hat, setzt sich anschließend nicht mehr in einen Bus“. Denn beim Radfahren bekomme man mehr von der Atmosphäre einer Stadt mit. „Man erfasst die Stadt mit allen Sinnen“, sagt er. Außerdem ist man flexibler. Auf zwei Rädern schafft man zwar weniger Sehenswürdigkeiten, dafür sieht man nicht nur seine Seite der Busreihe, sondern das komplette Stadtbild. Mehr noch: Man wird ein Teil von ihr. Für eine kurze Zeit ist man mittendrin und schwimmt im Strom der Gruppe mit. Will man sich im Vorbeifahren etwas genauer ansehen, reduziert man das Tempo oder hält spontan an.

Entdeckerreise auf verwinkelten Pfaden

Ein weiterer Vorteil: Man kann per Rad durch kleine Gassen fahren, die für den Autoverkehr gesperrt sind. Die Deichstraße ist so eine. Hier soll 1842 der „Große Brand“ ausgebrochen sein, der weite Teile der Altstadt und das alte Rathaus zerstört hat. Dort machen wir Kaffeepause. Im „Café am Fleet“, einem Mix aus Café und Museum für außergewöhnliche Blechdosen und Reklameschilder. „Urig, wie ein Kolonialwarenhändler aus meiner Kindheit“, sagt eine Tour-Teilnehmerin aus Karlsruhe. Sie ist mit einer Freundin für drei Tage in Hamburg. Zuvor waren sie auf Rügen. „Eigentlich hatten wir zu dritt Spanien gebucht“, sagt sie. Aufgrund von Corona wurde die Reise storniert und sie mussten kurzfristig umplanen. Ein Reisebüro hat ihnen die Fahrt auf die Ostseeinsel und nach Hamburg organisiert – ebenso die Stadtrundfahrt per Rad.

„Alles, was mit Fahrrad fahren zu tun hat, ist angesagt, und das nicht erst seit Corona.“

Christian Tänzler, Pressesprecher VisitBerlin

Wachstum in der Nische

„Die Hälfe der Kunden bucht im Voraus, die anderen kommen spontan“, sagt Michaelsen. Die Kompakt-Tour startet jeden Morgen um 10.30 Uhr. Zwar hat Michaelsen auch eine englische Variante im Programm, aber „Tourismus in Hamburg ist zu 75 Prozent deutschsprachig.“ Viele Gäste kämen aus dem Münsterland und Sauerland. Und es werden immer mehr. Der Städtetourismus in Hamburg ist in den vergangenen fünf Jahren jedes Jahr um fünf Prozent gewachsen. Das spürt auch Michaelsen. Sein Geschäft lief gut vor Corona. Neben den Touristen buchten viele Vereine, Firmen oder Schulklassen bei ihm Führungen für Wandertage oder Betriebsausflüge. Hinzu kamen Gruppen, die Geburtstage feierten, oder Junggesellenabschiede. Sie machen im Regelbetrieb die Hälfte seines Umsatzes aus. Obwohl sein Geschäft stetig wächst, sagt er: „Sightseeing mit dem Fahrrad ist immer noch eine Nische.“ Das Segment ist klein, aber ausbaufähig und bietet gerade in der aktuellen Zeit eine gute Alternative.

Städte müssen schnell umdenken

„In vielen Städten findet jetzt in der Branche das große Umdenken statt, um die deutschen Touristen anzusprechen“, sagt Iris Hegemann vom Deutschen Tourismusverband (DTV). Die internationalen Besucher aus England, Italien oder Spanien dürfen oder können dieses Jahr nicht in die Städte reisen. Hamburg fehlen die Besucher der vielen Musicals, Festivals und Messen. Sie machen etwa zwei Drittel aller Übernachtungsgäste aus. Anfang Juli lag die durchschnittliche Auslastung der Hotels in der Hansestadt bei 20 Prozent. In anderen Städten wie Berlin sieht es nicht besser aus. Diese großen Zahlen können natürlich nie durch Radtouristen ersetzt werden. Aber seit Jahren zeigt sich: Der Radtourismus liegt im Trend. „Er ist ein flächendeckendes Thema und wächst in allen Regionen. Die Städte werden sich dem Thema mehr widmen müssen“, sagt die Expertin. 77 Prozent der Radreisenden wollen nicht nur abseits der Zentren unterwegs sein, sondern Kultur und Bewegung verbinden, wie die ADFC-Radreiseanalyse 2020 zeigt. Aber bevor für sie ein Abstecher in die Städte attraktiv ist, müssen diese laut Hegemann noch viel Basisarbeit leisten.

Bremen lockt mit App

Zur Basis für attraktive Touren gehört neben einer sicheren und selbsterklärenden Infrastruktur für Radfahrer auch ein digitales Routenangebot. „Radtouristen sind oftmals Individualisten“, weiß die DTV-Expertin. Sie seien gerne auf eigene Faust unterwegs. Bremen hat das bereits vor Jahren erkannt und reagiert. Die Wirtschaftsförderung hat mit „Bike it“ eine Fahrradnavigations-App für die Region bei Bike Citizens aus Graz in Auftrag gegeben, die sich jeder Radler kostenlos herunterladen kann. Neben der Navigation und einer Radroutenplanung gibt es dort bereits 15 Thementouren. Die richten sich nicht nur an Städtetouristen auf Sightseeing-Tour oder Reiseradler, die die Stadt erkunden wollen: „Bike it“ ist vor allem auch für Neubürger interessant, die ihre Stadt entdecken wollen, oder Einheimische, die nach neuen Wegen vor der eigenen Haustür suchen.

„Fahrradstadt“ als langfristiger Publikumsmagnet

In Berlin gibt es sowohl Online-Angebote als auch geführte Touren. 163 km umfassen die Themenrouten für Radfahrer laut Christian Tänzler, Pressesprecher von VisitBerlin. Manche der Wege seien gut ausgebaut, manche müssten saniert werden. Für ihn hat Radtourismus aber zukünftig noch eine andere Facette. „Alles, was mit Fahrrad fahren zu tun hat, ist angesagt“, sagt er, „und das nicht erst seit Corona.“ Deshalb ist für ihn das Label „Fahrradstadt“ langfristig ein Markenzeichen für grüne, lebenswerte urbane Zentren. Berlin arbeitete bereits seit Jahren mit zunehmendem Erfolg daran, dieses Image zu erreichen. „Radfahren ist hier Teil des Lifestyles geworden“, der Anteil der Radfahrer wachse seit Jahren. Die vergangenen Monate haben dieses Bild international noch einmal verstärkt. Die Bilder der Pop-up-Bike-Lanes gingen um die Welt. Berlin wurde zum Vorreiter für eine krisensichere Radinfrastruktur. „Die Menschen sehen: In Berlin fahren alle Fahrrad“, sagt Tänzler. Das wollten Touristen während ihres Aufenthalts ebenfalls erleben, zum Teil des Lebensstils zu werden und auf Rädern durch die Kieze zu cruisen. Auf den Pop-up-Bike-Lanes sei das noch einfacher und bequemer als zuvor. Von diesen Gästen will er künftig noch mehr in die Stadt locken. Die Reiseradler seien bereits da. „Ich habe noch nie so viele Langstreckenradler in der Stadt gesehen wie in den vergangenen Wochen.“ Sie blieben ein bis zwei Nächte und radelten dann weiter, oftmals in Richtung Norden in die nächste Fahrradstadt: Kopenhagen.


Bilder: Thomas Kakareko, Andrea Reidl,

Mecklenburg-Vorpommern war jahrelang eine der führenden Radreisedestinationen Deutschlands. Allerdings haben das Land und die Kommunen die Pflege der Radfernwege vernachlässigt. Sie müssen saniert werden. Das ist kostspielig, birgt aber große Chancen für die Tourismusförderung und den Alltagsradverkehr. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Die Ostseeküste ist eigentlich eine Traumdestination, und das nicht nur in Zeiten von Corona. Wer im Sommer von Travemünde Richtung Rügen radelt, behält die Badehose auf dem Rad am besten gleich an. Auf diesem Teil des Ostseeküsten-Radwegs ist das Meer meist in Sichtweite. Besonders stilvoll baden können Radfahrer auf diesem Streckenabschnitt des Ostseeküsten-Radwegs vor der Kulisse des ältesten Seebads der Region in Kühlungsborn. Nostalgiker nennen das Ensemble aus klassizistischen Villen und dem imposanten Grand Hotel „die weiße Stadt“. Weniger mondän, dafür bizarr und spooky ist wenige Kilometer weiter der Gespensterwald bei Nienhagen. Dort hat der starke Seewind das Geäst der Eichen, Eschen und Buchen so verformt, dass sie ohne Laub an greifende Klauen von Geisterwesen erinnern.

Ostsee beliebt bei Radausflüglern

Laut ADFC-Radreiseanalyse 2020 finden die meisten Radausflüge im Urlaub an der Ostsee statt. Im Ranking der beliebtesten Radrouten in Deutschland findet sich auch der Ostseeküsten-Radweg regelmäßig unter den Top 10. Allerdings gibt es noch deutlich Luft nach oben: In der aktuellen ADFC-Befragung zeigt sich die Route nur als halb so beliebt wie der Spitzenreiter Weser-Radweg, der vom Kreis Göttingen bis nach Cuxhaven führt.

Marode Radinfrastruktur bremst die Begeisterung

Landschaftlich schöner und abwechslungsreicher kann man wohl kaum an einer deutschen Küste entlang radeln. Allerdings geht es deutlich komfortabler. Das einstige Aushängeschild Mecklenburg-Vorpommerns ist mit vielen anderen Radrouten in der Region in Verruf geraten. Land, Kreise und Kommunen haben die Radwanderwege lange Zeit sich selbst überlassen. Das rächt sich heute: Eine Vielzahl der Streckenabschnitte ist verrottet, Asphalt durch Wurzeln aufgebrochen, zu Sand- und Schlammpisten mutiert und in Küstennähe teilweise sogar komplett weggebrochen. Verkehrsexperten und Radtouristen geben der Region deshalb seit ein paar Jahren schlechte Noten.

Region droht langfristiger Imageverlust

Diesen Imageverlust kann sich die Radreisedestination eigentlich nicht leisten. Der Tourismus bringt jedes Jahr ebenso viel Geld ins Land wie die Landesregierung in zwölf Monaten ausgibt. Jeder dritte Urlauber reist zum Radfahren an und schlechte Bewertungen schrecken Gäste schnell ab. Der Tourismusverband Rügen hat bereits eine Vielzahl verärgerte Rückmeldungen von Urlaubern erhalten. „Wir sind froh, gesund und ohne Unfall nach Hause gekommen zu sein, obwohl wir uns jeden Tag mindestens einmal in Lebensgefahr gefühlt haben“, schrieb eine Familie. Andere erklärten: „So eine schlechte Infrastruktur für Radfahrer haben wir noch nicht erlebt. Wenn Sie keine Lust auf Radtouristen haben, schreiben Sie es doch in Ihre Prospekte.“ Reinhard Wulfhorst, Referatsleiter für Verkehrspolitik der Landesregierung in Schwerin, findet ähnliche Beschwerden immer wieder in seiner Post. „Das sind keine Wutbürger, sondern verärgerte Urlauber, die ihre Erlebnisse schildern“, sagt er. Er ist selbst häufig mit dem Rad in Mecklenburg-Vorpommern unterwegs und weiß: „Es gibt lange Strecken, die sind vorzüglich, aber es gibt auch Strecken, für die man sich einfach schämen muss.“ Eine Einschätzung, der erfahrene Radler kaum widersprechen werden.

Radfernwege sind nur so gut wie die schlechtesten Streckenabschnitte: An Betonplatten und Sperrungen erinnern sich Reiseradler, berichten anderen und geben der Region schlechte Noten.

Gutachten zeigen immensen Sanierungsbedarf

Die Landesregierung hat inzwischen auf die Kritik reagiert. Im letzten Jahr beauftragte sie ein Planungsbüro, um die Qualität des 2500 Kilometer langen Radfernwegenetzes zu bewerten. Die Experten konnten nicht das komplette Netz abfahren. Stattdessen haben sie jeden Meter des 78 Kilometer langen Radfernweges auf Usedom untersucht. Die Insel wurde ausgewählt, weil ihre Topografie und die Wegeführung exemplarisch sind für Mecklenburg-Vorpommern. Das Gutachten bestätigte die Kritik der Radfahrer. Der Sanierungsbedarf ist riesig. Nur etwas mehr als die Hälfte der Wege sind in gutem Zustand oder benötigen nur kleinere Reparaturen. 28 Prozent dagegen brauchen eine neue Asphaltschicht und 19 Prozent der Wege müssen komplett saniert werden. Auf Usedom zeigte sich außerdem: Der Handlungsdruck ist bei den kommunalen Straßen am größten. Zwar wissen Auftraggeber und Radexperten, dass die Ergebnisse der Bestandsaufnahme nicht eins zu eins übertragbar sind, aber sie zeigen dennoch: Der Sanierungsbedarf ist immens. Um die Schäden im ganzen Bundesland auf den Fahrbahnen, Radwegen sowie Wald- und Forstwegen zu beseitigen, müssten laut Gutachter etwa 348 Millionen Euro investiert werden.

AGFK MV wird zum landesweiten Verein

Im Herbst geht es los. Dann wird die seit 2017 bestehende Arbeitsgemeinschaft für fahrrad- und fußgängerfreundliche Kommunen Mecklenburg-Vorpommern (AGFK MV) zu einem eingetragenen Verein. Aktuell ist sie ein Projekt der Hansestadt Rostock und wird finanziert vom Ministerium für Energie, Infrastruktur und Digitalisierung sowie über kommunale Mitgliedsbeiträge. Ab Oktober gehören neben Rostock auch Stralsund, die Landeshauptstadt Schwerin, Greifswald, Wismar, Neustrelitz und Anklam sowie die Gemeinde Heringsdorf zur AGFK MV. Sie alle wollen mehr für Verkehrsteilnehmer tun, die nicht motorisiert unterwegs sind. Das BMVI fördert über das Sonderprogramm „Stadt und Land“ in Kürze erstmals die Planung und den Bau von qualitativ hochwertigen Radverkehrsanlagen mit Fördergeldern in Millionenhöhe. Die AGFK MV soll ihre Mitglieder unter anderem dabei unterstützen, diese Mittel zu beantragen und bei der Umsetzung der Projekte helfen. Rückenwind bekommt die neue AGFK auch durch den Städte- und Gemeindetag M-V, der die Entwicklung seit dem Projektstart unterstützt und die Mitgliedschaft per Vorstandsbeschluss empfiehlt.

Nachholbedarf bei Strategie und Zuständigkeit

Der Handlungsdruck für die Politik ist also groß. Allerdings stehen die Entscheider vor der Frage: Wer ist verantwortlich und wer soll das bezahlen? Für viele Radfernwege in Mecklenburg-Vorpommern gibt es keinen zentralen Routenbetreiber. Der ADFC rät dazu seit Jahren, und im Ruhrgebiet ist das Prinzip zum Beispiel seit Jahren bewährt. „Dort teilen sich die Ruhr-Tourismus GmbH und der Regionalverband Ruhr (RVR) die Aufgabe“, sagt Louise Böhler, Tourismus-Expertin beim ADFC. Während der RVR die Strecke regelmäßig kontrolliert und Schäden ausbessert, kümmert sich der Tourismusverband um Produktentwicklung und Marketing. „Sie unternehmen regelmäßig mit den Hoteliers, den Fahrradverleihern und den Anrainern Ausfahrten, um für das Produkt ͵Radreiserouteʹ vor ihrer Haustür zu werben“, sagt Louise Böhler. Das ist clever. Denn so erfahren alle am Projekt Beteiligten buchstäblich das touristische Angebot. „Sie erkennen, warum sich die Investition lohnt“, sagt sie. Im Nordosten der Republik ist das anders. Weil eine zen-trale Anlaufstelle fehlt, ist mal das Land, eine Kommune oder eine Gemeinde für ein Stück Radfernweg zuständig. Sie müssen die Wege warten und Schäden beheben. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis fehlt kleineren Kommunen oftmals das Geld, um Schlaglöcher oder Wurzelaufbrüche auf ihrem Streckenabschnitt auszubessern. Manchmal investiert die Politik vor Ort auch lieber in den überfälligen Ausbau der Kita als in die Radroute – insbesondere wenn die Gemeinde nicht vom Tourismus profitiert.

Mangelware: Finanzmittel und Gesamtkonzept

Das schadet allerdings dem gesamten Land. Denn am Tourismus kommt zwischen Wismar und Usedom kaum jemand vorbei. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es rund 450.000 Betten für Urlauber. Die Ferienbranche ist hier ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. „7,75 Milliarden Euro haben der Tourismus und das Gastgewerbe 2014 ins Land gebracht. Das entsprach dem Landeshaushalt des Jahres“, sagt Referatsleiter Reinhard Wulfhorst. Das entspricht rund zwölf Prozent der Bruttowertschöpfung des Landes. Jeder sechste Arbeitsplatz hängt hier am Tourismus. Untersuchungen zeigen zudem: Mehr als 30 Prozent der Touristen kommen zum Radfahren an die Ostseeküste. Das weiß auch die Landesregierung. Trotzdem gibt es bislang noch keinen konkreten Plan, wie und wann die Reiserouten saniert werden sollen. Für kleine Sofortmaßnahmen hat sie 2019 ein Erhaltungsprogramm gestartet. Mit vier Millionen Euro sollen die Kreise und Gemeinden nun im Zeitraum von zwei Jahren kleine Mängel auf den Wegen ausbessern. „Das ist etwa ein Hundertstel des eigentlichen Bedarfs“, schätzt der Landesvorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs ADFC, Horst Krumpen. Allein für die Sanierung des Ostseeküsten-Radwegs, dem Aushängeschild der Region, seien 20 Millionen Euro notwendig. Horst Krumpen vermisst den politischen Willen und ein angemessenes Budget, um den Radverkehr für Radtouristen und Alltagsfahrer auszubauen.

Radentscheid: Auch in Rostock wurden Unterschriften für eine bessere Radinfrastruktur gesammelt. Marie Heidenreich (Mitte) setzt sich darüber hinaus für einen Radentscheid auf Landesebene ein.

Besserer Radverkehr für alle als Ziel

Wie es besser funktionieren könnte, hat der ADFC Landesverband zusammen mit dem Tourismusverband und der Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Kommunen (AGFK) Mecklenburg-Vorpommern bereits 2018 in einem Sieben-Punkte-Programm aufgezeigt: Das Herzstück des Programms ist der Aufbau eines lückenlosen Radwegenetzes bis 2030 für Alltags- und Freizeitfahrer. Der ADFC und die AGFK unterscheiden dabei nicht mehr zwischen Wegen für Touristen, Pendler oder Freizeitfahrern. „Die Radwege werden von verschiedenen Gruppen genutzt“, sagt Tim Birkholz, Projektkoordinator der AGFK in Mecklenburg-Vorpommern. Die Forderung nach einem landesweiten Netz für Radfahrer ist nicht neu. Bereits 2011 und 2016 haben die gewählten Volksvertreter in ihren Koalitionsvereinbarungen die Planung und den Bau des Netzes festgeschrieben. Passiert ist seitdem wenig. ADFC-Mann Horst Krumpen ist das Warten leid. „Für Autofahrer ist es selbstverständlich, von Wismar nach Schwerin auf einer gut ausgebauten und zusammenhängenden Straße zu fahren“, sagt er. Für Radfahrer endet der Weg auf der 30 Kilometer langen Strecke immer mal wieder vor einem Acker und werde erst 500 Meter später weitergeführt.

„Über 50 Prozent der Erwerbstätigen haben einen Arbeitsweg, der unter zehn Kilometer liegt.“

Tim Birkholz, Projektkoordinator der AGFK in Mecklenburg-Vorpommern

Hohe Potenziale auch für Alltagsradverkehr

Damit Radfahrer und auch Fußgänger bald sicher von A nach B kommen, sieht das Sieben-Punkte-Papier vor, auf Landesebene ein eigenes Referat für den Rad- und Fußverkehr zu schaffen. Auf diesem Weg soll die Mobilität für beide Zielgruppen attraktiver werden und ihr Anteil am Gesamtverkehr steigen. Das Potenzial, den Anteil der Radfahrer im Alltagsverkehr zu stärken, ist hoch in dem Bundesland. Laut der bundesweiten Studie „Mobilität in Deutschland (MID)“ von 2017 liegt ihr Anteil dort heute bereits bei 14 Prozent. Das sind vier Prozent mehr als im Bundesdurchschnitt. Experten sehen gerade unter den Pendlern noch viele Autofahrer, die für kurze Strecken aufs Rad umsteigen könnten. Im Jahr 2016 war der Arbeitsweg bei 44 Prozent der Erwerbstätigen hier zwar länger als zehn Kilometer. „Im Umkehrschluss heißt das, dass über 50 Prozent einen Arbeitsweg haben, der unter zehn Kilometer liegt“, betont Tim Birkholz. Auf dieser Distanz sind das Fahrrad und das E-Bike beliebt bei Berufstätigen, was unter anderem der 2012 vom Bund geförderte „Schweriner Versuch“ zeigte. Hier testeten acht Personen zwei Wochen lang im Berufsverkehr verschiedene Fahrzeuge. Dazu fuhren sie morgens und nachmittags zur Hauptverkehrszeit aus der Vorortsiedlung Friedrichsthal zum Rathaus Schwerin in der Altstadt. Sie legten die 6,5 bis 8 km lange Strecke abwechselnd mit dem Pkw (Benzin und elektrisch), per Motorroller (Benzin und elektrisch), Fahrrad, E-Bike oder dem ÖPNV zurück. Die Forscher untersuchten die Parameter Zeit, Kosten, Energieverbrauch, CO2-Ausstoß, Stress und körperliche Bewegung. Die Ergebnisse zeigten: Das Fahrrad und das E-Bike landeten in sämtlichen Kategorien auf den ersten beiden Plätzen. „Nach meinem Eindruck sind viele Menschen bereits weiter als die Politik“, betont dazu Reinhard Wulfhorst. Aber damit sie das Auto tatsächlich stehen ließen und aufs Rad mit oder ohne Motor umstiegen, müssten die Rahmenbedingungen stimmen. Dazu gehöre neben einem sicheren und zusammenhängenden Radwegenetz auch eine bessere Integration des Radverkehrs in das vorhandene Mobilitätsangebot.

Radgesetz nach NRW-Vorbild?

„Die Menschen brauchen eine gute Anbindung ans Schienennetz und überdachte Abstellanlagen mit Ladestationen für E-Bikes“, sagt Marie Heidenreich, Mitglied der Grünen in Rostock und Initiatorin des dortigen Rad-entscheids. Sie weiß: Beides ist Mangelware, selbst in der Landeshauptstadt Schwerin. Um das zu ändern, setzt sie sich nach dem gewonnenen Radentscheid in Rostock nun für ein Radgesetz auf Landesebene ein. Ihr Vorbild ist Nordrhein-Westfalen. NRW wird das erste Flächenland sein, das ein Radgesetz bekommt. Rund 207.000 Unterschriften haben die Aktivisten vom Radentscheid im vergangenen Jahr der Landesregierung in NRW vorgelegt, 66.000 waren für eine Anhörung nötig. An der großen Zustimmung für den Ausbau der Radinfrastruktur in der Bevölkerung kamen die Politiker nicht vorbei. Diese politische Richtungsentscheidung will Maria Heidenreich nun auch in Mecklenburg-Vorpommern umsetzen. „Ohne rechtliche Vorgaben bleibt es jedem Landkreis und jeder Kommune selbst überlassen, ob und wie sie den Radverkehr stärkt“, sagt sie. Das führt immer wieder dazu, dass Radwege an der Landesgrenze abrupt enden. Außerdem fehlten kleinen Gemeinden nicht nur das Geld, sondern auch die Planer, um die notwendige Infrastruktur zu umzusetzen. Sie fordert deshalb eine überregionale Radverkehrsplanung aus einer Hand sowie verbindliche Ziele und klar definierte Standards für Routen. „Dazu gehört unter anderem auch, dass die Pendler die Strecken im Winter oder bei Dunkelheit nutzen können“, sagt sie.

Ziel: Region zieht an einem Strang

Wie es mit dem Radverkehr in Mecklenburg-Vorpommern weitergeht, werden die kommenden Monate zeigen. Die Landesregierung hat Werkstattgespräche organisiert, um mit allen Beteiligten einen Plan zu erarbeiten. Tilman Bracher, Verkehrsforscher und Leiter des Forschungsbereichs Mobilität beim Deutschen Institut für Urbanistik wird die Gespräche moderieren. In einem sind sich alle Beteiligten jedenfalls einig: Die Bedingungen für alle Radfahrer müssen besser werden. Gute Argumente für einen schnellen Return on Investment liegen mit Blick auf die Stärkung des lokalen Tourismus ebenso auf der Hand wie vor dem Hintergrund von absehbar notwendigen Maßnahmen für Klimaschutz und der vielerorts geforderten Verkehrswende.

Tourismus als Wachstumsmotor im Nordosten

Fast sieben Prozent aller Reisenden aus Deutschland haben im vergangenen Jahr gemäß der Deutschen Tourismusanalyse 2019 die Seen und Ostseegemeinden in Mecklenburg-Vorpommern besucht und damit für rund 34 Millionen Übernachtungen gesorgt. Damit führt die Region in der Beliebtheit bei deutschen Gästen vor Bayern (5,5 %), Niedersachsen (4,8 %), Schleswig-Holstein (4 %) und Baden-Württemberg (2,9%). Der Tourismus ist ein wichtiger Umsatztreiber und wird auch für die Zukunft als Wachstumsmotor der Region gesehen.


Bilder: stock.adobe.com – Katja Xenikis, Tim Birkholz, stock.adobe.com – stylefoto24, Marie Heidenreich

Ein Gespräch über E-Bikes und Tourismus endet schnell in Superlativen. Kein Wunder, schließlich verkaufen sich Fahrräder mit elektrischem Antrieb wie geschnitten Brot. Ein Trend, von dem Kommunen, die Tourismusbranche, Hoteliers und Gastwirte profitieren können. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Egal ob in der Touristinfo oder am Rathaus, im Freibad oder vor Museen, im Biergarten oder vor der Almhütte: Eine E-Bike-Ladelösung ist immer mehr als nur ein Imageobjekt. Vielmehr ist eine Lademöglichkeit ein Mehrwert für potenzielle Kunden und ein Wettbewerbsvorteil für den Betreiber.
Ist die Entscheidung für eine Ladelösung erst einmal gefallen, ist das Wichtigste die Wahl der richtigen Lademöglichkeit. Vor Biergärten, Gaststätten oder Cafés bietet sich der Fahrradständer der energielösung GmbH mit Steckdosen zum Laden an, damit die Gäste schnell und unkompliziert während ihres Aufenthalts ihr E-Bike abstellen und gleichzeitig laden können. Für die Zielgruppe der E-Bike-Touristen, die meist eigene Ladegeräte mitführen, ist hingegen der abschließbare Akkutower eine perfekte Lösung. Der Tower bietet Platz für bis zu acht Akkus (zwei Steckdosen und eine USB-Lademöglichkeit pro Einheit), die sicher im abgesperrten Schließfach laden können. Vorteil des Akkutowers gegenüber einem Fahrradständer mit Ladefunktion ist der Schutz vor Fremdzugriff oder Diebstahl und die wetterfeste Unterbringung der teuren Batterie.
So kann eine Gruppe von bis zu zwei Personen bequem ein Schließfach belegen und während der Ladezeit der Akkus gemütlich in der Stadt flanieren gehen. Gesichert wird das Schließfach entweder mit einem Münzpfandschloss oder einem Schloss mit Zahlencode (ähnlich Hotelsafe).
Gaststättenbetreiber oder städtische Einrichtungen stellen sich dann mitunter die Frage: Wie wird die Abrechnung der Strommenge gehandhabt?
Die Antwort auf diese Frage ist einfach: In den meisten Fällen ist die Lademenge, die ein E-Bike benötigt, schlicht und einfach zu gering, um relevante Kosten zu erzeugen: Nimmt man zum Beispiel einen 500-Wh-Akku und einen kWh-Preis von 0,30 Euro als Rechengrundlage, kommt man auf gerade mal 15 Cent, die eine Vollladung kosten würde. In der Praxis dürfte dieser Wert noch deutlich darunter liegem, da die meisten E-Bike-Fahrer ihre Akkus selten Fällen komplett aufladen müssen.
Neben Akkutower und E-Bike-Ladeständer sind Wandladestationen und freistehende Ladesäulen eine weitere Möglichkeit den Durst der Fahrradbatterien zu stillen.
Mit den entsprechend verbauten Schutzeinrichtungen und der einfachen Installation sind diese Lösungen ideal für kleinere Gastronomiebetriebe, aber auch Unternehmen, die ihren Mitarbeitern das Aufladen des E-Bikes am Arbeitsplatz ermöglichen wollen.

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Bilder: energielösung GmbH

Als Spezialist für die Ausrüstung von Fahrradwerkstätten ist REMA TIP TOP auch für touristische Betriebe, für Arbeitgeber und Kommunen ein kompetenter Ansprechpartner, wenn es um die sichere Lagerung von E-Bike-Akkus geht. Mit den neuen, modularen Lösungen von REMA TIP TOP lassen sich zudem die Lagerungsmöglichkeiten je nach Bedarf skalieren. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Ein brennender und nur schwer löschbarer Lithium-Ionen-Akku ist wohl das Horrorszenario eines jeden Unternehmens, das Abstellmöglichkeiten für E-Bikes anbietet. Zwar sind moderne E-Bike-Batterien heutzutage nicht mehr grundsätzlich ein Gefahrenherd, das gilt aber nur für unbeschädigte Akkus von namhaften Anbietern. Ob ein Gast, ein Mitarbeiter oder Pendler am Akku seines E-Bikes vielleicht selbst rumgeschraubt hat, ob die Batterie gar aus einer zweifelhaften Quelle stammt oder bei einem Sturz bisher unentdeckte Schäden davongetragen hat, lässt sich im Einzelfall kaum überprüfen. Was bei der Lagerung von zweifelhaften E-Bike-Akkus im Fahrradhandel schon längst Standard ist, wird deshalb nun immer häufiger auch beispielsweise für Hotelbetriebe und Fahrrad-Abstellanlagen ein Thema: der Einsatz von besonders brandgeschützten Akku-Ladeschränken für e-bikende Kunden und Gäste.
Eine clevere Lösung bietet hier nun REMA TIP TOP mit dem modularen Akku-Ladeschrank PG 9 an, der sich je nach Bedarf bis zu dreifach stapeln und in vier verschiedenen Versionen zur Lagerung oder auch zum Laden von Batterien einsetzen lässt. Allen Versionen gemeinsam sind die MPA-geprüfte Feuerwiderstandsfähigkeit von mindestens 60 Minuten und das rauchdichte Verschlusssystem. In den Varianten mit eingebauter Stromversorgung wird zudem die beim Laden entstehende Wärme durch Ventilatoren abgeleitet. Optional können die Ladeschränke zudem auch in eine bestehende Brandmeldeanlage integriert werden.

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Bilder: REMA TIP TOP

Nicht erst seit Corona steht der Tourismus vor Umbrüchen und der Radtourismus in neuen, vielfältigen Facetten mehr und mehr im Fokus. Für Planer und Entscheider gibt es vielfältige Chancen und Herausforderungen und vielfach unterschätzte Wirkungen in den Alltag und die Regionsentwicklung hinein. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Nachhaltigkeit, Klimawandel, Resilienz und Resonanz gehören als Themen im Tourismus nicht erst seit Fridays for Future und Corona zu den Hauptschlagworten, wenn es um die Gestaltung von aktuellen und künftigen Angeboten geht. Zurzeit beschleunigt aber nicht nur die Pandemie absehbare Umbrüche. Gerade das Thema Radtourismus boomt im Kleinen wie im Großen durch neue technische Möglichkeiten und neue Produkte ebenso wie durch veränderte Bedürfnisse und bislang unterschätzte Kundengruppen. Gleichzeitig stehen Regionen mit dem Zuwachs und den schnellen Veränderungen vor vielfältigen Herausforderungen. „Viele beliebte Rad- und Wanderwege verzeichneten im April und Mai fünf- bis zehnmal so viele Besucher“, stellt Fahrrad-Destinationsentwickler Tilman Sobek fest.

Konflikte oft hausgemacht

„Nicht nur der Radtourismus boomt, auch allgemein der Aktivtourismus“, betont Tilman Sobek, der als Geschäftsführer des Unternehmens absolutGPS und Macher des Mountainbike Tourismusforums Deutschland die Entwicklungen im Blick hat. Dabei sieht er mancherorts Probleme durch Überfüllung und Konflikte. Die seien aber vielfach durch Versäumnisse in der Vergangenheit eher hausgemacht. „Gerade im dicht besiedelten Deutschland haben wir begrenzt Raum. Deshalb müssen wir uns besonders gut Gedanken darüber machen, wie wir mit den unterschiedlichen Ansprüchen umgehen. Das betrifft zum Beispiel den Naturschutz, die Jagd, den Tourismus und die vielfältige Freizeitnutzung, vom Wanderer über den Geocacher und Trailrunner bis hin zum Mountainbiker.“ Dazu käme es darauf an, mit gezielter Planung Maßnahmen zu entwickeln, die sowohl räumlich als auch in Bezug auf die Kundengruppen in die Breite gingen. „Es ist möglich, die Potenziale nach drei bis fünf Jahren zu heben“, erläutert Tilman Sobek. Dafür seien aber auch ein Denken in größeren Zusammenhängen, ein langfristiges Konzept und eine entsprechende finanzielle Ausstattung wichtig. Seiner Erfahrung nach würde häufig mit viel Geld Konzepte entwickelt, dann fehlten aber die Mittel zur Implementierung und Vertiefung.

„Den größten Boom sehen wir in den Mittelgebirgen. Hier ändert sich die Situation mit dem E-Bike als neuem Standard fundamental.“

Tilman Sobek, absolutGPS

Gezielte Regionalentwicklung zahlt sich aus

Probleme durch versäumte Entwicklungen oder zu wenige Angebote und schlecht durchdachte Verbote sieht auch Darco Cazin, Gründer des Schweizer Beratungsunternehmens „Allegra Tourismus & Trails“, einem der Pioniere und Vordenker bei der Entwicklung von Mountainbike-Destinationen. „Wir sehen, dass diejenigen, die ihre Hausaufgaben gemacht haben, von der aktuellen Situation profitieren und die Früchte ernten. Andere, die nichts oder nur wenig gemacht haben, fallen dagegen gerade auf die Nase.“ Konkret gehe es dabei um vielfältige Aufgaben. Dazu gehören Nahbereichsangebote, die beispielsweise aus Metropolregionen einfach mit dem Rad oder dem öffentlichen Verkehr erreichbar sind, der Ausbau der Infrastruktur und das Einrichten von Bewegungs- und Naturangeboten für Familien und Kinder. Davon profitiert nicht nur der Tourismus, sondern auch die Region, die an Attraktivität gewinnt, und die Bevölkerung vor Ort. Gerade in sonst kaum beachteten ländlichen Mittelgebirgsregionen lasse sich hier mit wenig Aufwand viel bewegen. Negativbeispiele seien auf der anderen Seite Regionen, die eine schlechte Infrastruktur aufweisen oder wo man mit Verboten arbeitet.

Medial wird von Mountainbikern gern ein auf „harte Action“ zugespitztes Bild gezeichnet. „Tatsächlich ist es sehr viel unspektakulärer“, weiß MTB-Pionier Darco Cazin.

Bewegung und Natur hochattraktiv

Komplexer, als man vielfach denkt, ist heute auch die Definition des Radtourismus an sich. Hier lohnt die tiefere Beschäftigung mit den vielfältigen Nutzergruppen und den divergierenden Ansprüchen. „Das Bild der Radtouristen hat sich gewaltig verändert“, schreibt der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club ADFC zu den Ergebnissen seiner aktuellen Radreiseanalyse. Heute zählen dazu nicht nur Männer oder Paare im mittleren Alter mit Trekkingrädern und Packtaschen auf beliebten Flussradwegen, sondern laut ADFC beispielsweise auch Wellness-Reisen kombiniert mit Fahrrad-ausflügen, spontane Radkurztrips mit Städtebesuch, Sterntouren mit einer festen Unterkunft oder die aktive Auszeit in der Nähe des Wohnortes. Neben dem Tagesausflug gehört zu Letzterem auch die spontane Feierabendrunde mit dem Mountainbike, Rennrad oder Gravelbike. Was die Menschen bei aller Unterschiedlichkeit verbindet, ist nach den Erfahrungen von Darco Cazin vor allem der Wunsch nach aktiver Erholung in der Natur. „Das Bedürfnis rauszukommen wächst. Die Menschen wollen ausbrechen aus ihrem Alltag und ihrer Umgebung und in Resonanz mit der Natur und echten Menschen treten.“ Das decke das Fahrrad und auch der Mountainbike-Trail sehr gut ab, deshalb auch der Boom. Dabei ginge es den Menschen darum, „abzuschalten und im Hier und Jetzt im Flow zu sein.“ Das funktioniere durch externe Impulse wie Bewegung und eben Trails viel einfacher als beispielsweise durch Yoga oder Meditation. Mit Blick auf die Situation vor Ort komme es darauf an, die Bedürfnisse der Menschen ernst zu nehmen und entsprechende Angebote zu schaffen.

56 %

der deutschen Inlandsurlauber suchen
vor allem den Aufenthalt in der Natur.
Führend: kulturelle Angebote und
historischen Sehenswürdigkeiten (58 %).

Quelle: GfK Destination Monitor Deutschland 2019

Angebote statt Verbote

Allgemeiner Konsens unter Radtourismus-Experten ist, dass sich potenzielle oder tatsächliche Konfliktsituationen besser mit Angeboten statt Verboten lösen lassen. So macht die gesetzliche Vorgabe in Baden-Württemberg, die das Radfahren auf Waldwegen unter zwei Meter Breite verbietet, auch für Darco Cazin „überhaupt keinen Sinn“. Einwohner würden beispielsweise in Stuttgart grundlos „kriminalisiert und bestraft“, denn die Motivation, mit dem Rad in der Natur unterwegs zu sein und auf einem Trail zu fahren, sei ja keineswegs der Verbotsverstoß und es gebe wenig Alternativen. Ordnung schaffe man dagegen viel besser mit einer guten Planung und Angeboten, die Nutzer lenken, und einer sorgfältigen Abwägung mit allen Beteiligten, in welchem Verhältnis angenommene oder tatsächliche Konflikte oder Schäden zum Nutzen stehen.

Unterschätzt: vielfältige Wechselwirkungen

In Gesprächen betonen Fachleute wie Norman Bielig, Gründer und Geschäftsführer der Kommunikationsagentur desire lines, immer wieder auch unterschätzte Wechselwirkungen zwischen Tourismus und Alltag sowie Stadt und Land. „Die touristische Infrastruktur wird natürlich gerne auch von der Bevölkerung vor Ort in der Freizeit oder im Alltag genutzt“, betont Norman Bielig. Beispiele sind neben Radrouten und Trails gut zu fahrende Radverbindungen innerhalb der Stadt. „Es geht nicht nur um die touristische, sondern auch um die regionale Entwicklung“, erläutert Norman Bielig, der bei komplexen Entwicklungsprojekten wie in Bayern, Österreich oder Ostbelgien gerne partnerschaftlich mit Tilman Sobek von absolutGPS zusammenarbeitet. Profitieren könnten Regionen so zum Beispiel von besseren ÖPNV-Angeboten, mehr Gaststätten, Einkaufsmöglichkeiten, Schwimmbädern etc. Verbessert wird damit vielfach nicht nur die Lebenssituation vor Ort, sondern auch die Attraktivität für jüngere Menschen, Familien oder neue Mitbürger. Mountainbike-Projekte zahlen damit auch auf die allgemeine Daseinsfürsorge ein. Wichtig ist hier nach Norman Bielig auch die Begegnung von Städtern mit der ländlichen Bevölkerung, generell ein besseres Verständnis von Naturräumen und ein positiv verändertes Freizeitverhalten der Bevölkerung vor Ort, die beispielsweise aktive Bewegung mit dem Fahrrad oder Mountainbike neu für sich entdeckt.

E-Bikes und E-MTBs boomen

1.360.000 E-Bikes sind im Jahr 2019 nach den Zahlen des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV) verkauft worden. Das entspricht einem Zuwachs von 39 Prozent zum Vorjahr und einem Anteil am gesamten Fahrradmarkt von inzwischen 31,5 Prozent. Den größten Anteil am E-Bike-Markt haben weiterhin E-Trekkingbikes mit 36 Prozent. Eine ungeahnte und in der breiten Öffentlichkeit bislang wenig beachtete Dynamik zeigt sich bei E-Mountainbikes: In nur vier Jahren hat sich der E-MTB-Anteil am E-Bike-Markt von acht Prozent im Jahr 2015 auf 26,5 Prozent in 2019 gesteigert. Die Verkaufszahlen bei E-Mountainbikes haben mit 360.400 Stück die in Fachforen „Biobikes“ genannten motorlosen Varianten mit nur 215.500 nicht nur erstmals überflügelt, sondern das Verhältnis umgedreht.

E-Revolution fängt gerade erst an

Ebenfalls unterschätzt wird oft auch der Einfluss von neuen Technologien und Produkten aus der Fahrradbranche, allen voran die Motorunterstützung, die in verschiedenen Formen inzwischen sämtliche Fahrradgattungen erreicht hat: vom City-, Trekking- und Lastenrad über das Mountainbike, bis hin zum Rennrad, Gravelbike und Mountainbike für Kinder. Claus Fleischer, General Manager von Bosch eBike Systems, dem Marktführer in Deutschland bei E-Bike-Motoren, schätzt den langfristigen E-Bike-Marktanteil auf „mindestens 65 Prozent des gesamten Fahrradmarktes“. Möglich machen diese Veränderungen unter anderem neue „Hybrid-Bikes“ mit kleinen, leichten Akkus und Motoren. Destinationsentwickler Tilman Sobek geht mit Blick auf den Fahrradtourismus sogar davon aus, dass E-Bikes bereits „bis zum Jahr 2025 der neue Standard“ seien. Damit ergeben sich künftig völlig neue Möglichkeiten in Bezug auf die Regionen, vor allem in Mittelgebirgen, und neue, attraktive Hotspots, wie erhöht gelegene Sehenswürdigkeiten, Aussichtspunkte oder Gaststätten. Ebenfalls neu in den Fokus rücken mit der weiteren Verbreitung der Motorunterstützung bislang vielerorts vernachlässigte Kundengruppen sowie generationenübergreifende Angebote und ein attraktives Gruppenerlebnis.

„Den größten Boom sehen wir in den Mittelgebirgen. Hier ändert sich die Situation mit dem E-Bike als neuem Standard fundamental.“

Tilman Sobek, absolutGPS

Strategische Planung wichtig

Angesichts der vielfältigen Chancen, aber auch Herausforderungen lohnt es sich wohl, die Entwicklungen genau zu beobachten und künftige Veränderungen zu antizipieren und gezielt zu steuern. Für Planer und Entscheider kommt es nach Meinung der Experten wohl vor allem auch darauf an, in sachlichen Diskussionen mit möglichst allen Beteiligten vor Ort herauszufinden, wo man steht, wo man hinwill, was zum Ort oder der Region passt, worauf man aufbauen kann und wo oder bei wem Bedenken liegen. „Wichtig ist, von Anfang an alle Interessengruppen und Ansprechpartner mit einzubeziehen und einen runden Tisch zu bilden“, sagt Darco Cazin, der in der Schweizer Region Graubünden zusammen mit den Beteiligten vor Ort ein bestens funktionierendes und hochgelobtes Mountainbike-Eldorado geschaffen hat. „So ein runder Tisch umfasst auch mal 80 Personen – wobei die Menschen wirklich gerne zu uns kommen.“ Der zweite Schritt sei, Meinungen und Vorurteile zu versachlichen und Projekte anzufangen. Die schlechteste Alternative ist für ihn dagegen, sowohl die Chancen als auch den bestehenden und weiterhin wachsenden Druck aus der Bevölkerung zu ignorieren und keine Angebote zu entwickeln.

Neuer Qualitätstourismus?

Fragen an Stefan Gössling, Professor für nachhaltigen Tourismus und Mobilität an der schwedischen Linnaeus-Universität

Wie sehen Sie neue Destinationsmodelle?
Wir versuchen seit ein paar Jahren, ein Modell vorzuschlagen und zu entwickeln, das man als „resiliente, klima-sichere, hochwertige Destinationen“ zusammenfassen könnte. Im Prinzip geht es darum, gedanklich wegzukommen vom Denken in immer mehr Wachstum und Flügen für 20 Euro.

Was kann man sich darunter vorstellen?
Zum Thema Resilienz: Dieser Tourismus muss Schocks widerstehen können, wie zum Beispiel Wirtschaftskrisen. Das geht, indem Destinationen zum Beispiel einen hohen Teil an Inlandstouristen und einen sehr loyalen Kundenstamm aufbauen. Wir müssen Tourismus in vielerlei Hinsicht anders und neu denken.

Wo gibt es für Destinationen Hebel, um mehr Geld zu verdienen?
Wir müssen uns fragen, wo haben wir Verluste, wo können wir Einnahmen erhöhen und wo können wir den Tourismus stabiler machen. Da gibt es jede Menge Möglichkeiten. Wir können zum Beispiel zusätzliche, attraktive Angebote machen, um Touristen länger am Ort zu halten. Dabei ist das nicht nur eine Frage, wie viel die Touristen ausgeben in einer Destination, sondern auch, wie viel abfließt. Wer zum Beispiel bei Booking eine Reise bucht oder AirBnB, der macht das genaue Gegenteil, da fließen enorme Beträge direkt an die Plattformbetreiber im Ausland ab. Wir können auch stärker sparen – es wird viel verschwendet – bei der Energie, bei Lebensmitteln …

Professor Stefan Gössling

beschäftigt sich seit Jahren in der Forschung, in Fachbüchern und auf Kongressen mit dem Thema Nachhaltigkeit im Tourismus und in der Mobilität. Mehr von ihm auch in der letzten VELOPLAN-Ausgabe 2/20, Schwerpunkt Gesundheit, und auf Youtube.

stefangossling.de

Was sollten Regionen tun?

Fragen an Norman Bielig, Geschäftsführer desire lines

Medien sprechen von Konflikten und Überfüllung. Was läuft falsch?
Viele Regionen haben sich in der Vergangenheit auf Leuchtturmprojekte konzentriert. Auf die fokussieren sich nun auch die Menschen. Wir haben sehr viel Verkehr auf bestimmten Routen, aber eben keine Verteilung in der Breite, deshalb müssen die Regionen dringend an einer Diversifizierung arbeiten.

Was ist mit mehr Diversifizierung gemeint?
Wir brauchen mehr Angebote und Wegenetze für unterschiedliche Zielgruppen. Waldtouren, Trailcenter nach schottischem Vorbild, Bikeparks mit vielfältigen Strecken und auch Angebote für Familien und Kinder. Seit zwei bis drei Jahren wird in den Regionen auch das E-Bike mitgedacht. Das ist also noch ein sehr junges Feld, das insbesondere aufgrund seiner Vielfältigkeit herausfordert.

Was würdet ihr euch mehr wünschen?
Vor allem die stärkere Zusammenarbeit von Verbänden, Vereinen, Kommunen, Politik und Tourismus. Denn Fahrrad- und Mountainbike-Tourismus sind unserer Erfahrung nach immer auch ein Motor der Regional- und Standortentwicklung.

Was sollten Regionen in der aktuellen Situation tun?
Genau jetzt müssen nachhaltige Stakeholder-Prozesse angestoßen, muss in den Dialog getreten und an Konzepten gearbeitet werden. Jetzt ist die Zeit, um Radtourismus größer zu denken: im Zusammenhang mit Jugendbildung, Umweltbildung, Alltagsverkehr, Gesundheit, Regionalentwicklung und vielem mehr.

Norman Bielig

hat mit der Gründung der Kommunikationsagentur desire lines den Rahmen geschaffen, um Contentproduktion, Kampagnen und touristischen Produktentwicklung zu vereinen. Für den Deutschen Alpenverein bildet er Mountainbike-Trainer und -Trainerinnen aus und engagiert sich als Mitglied des Vorstandes beim Mountainbike Tourismusforum Deutschland.

desire-lines.de

Was gibt es bei der Planung zu beachten?

Fragen an Tilman Sobek, Geschäftsführer absolutGPS

Wo gibt es neue Chancen für den Radtourismus?
Auch wenn einige Angebote schon recht reif sind, insgesamt stehen wir bei vielem erst relativ am Anfang. Wir können so tolle Erlebniswelten schaffen! Hier ist bei den Angeboten und der Kommunikation noch viel mehr möglich.

Was zeichnet Planer im Radtourismus aus?
Die psychologischen Komponenten im Blick zu haben. Es geht um Bewegung in der Natur, aber auch um Sinn und Werte. Wenn etwas wirklich vorangebracht wird, dann ist es oft so, dass die Verantwortlichen selbst vom Fahrrad oder Mountainbike kommen und dafür brennen.

Was ist für die Planung wichtig?
Vor Ort: Informieren, Transparenz und Vertrauen herstellen, vernetzen. Man sollte sich nichts vormachen, manche Projekte, besonders beim Mountainbiken, führen anfangs zu Vorurteilen und Widerständen. Für den Gast und die Region: möglichst intensiv an bestehende Konzepte anknüpfen und die eigene Identität weiterentwickeln. Man sollte sich gezielt fragen, was will ich als Ort oder Region oder was will ich auch ganz bewusst nicht.

Ist Mountainbiken das neue Skifahren?
Das ist eine aktuelle Fokussierung aus den Alpen. Moderne Mountainbikes sind heute hochmoderne Geräte, die bestmöglich unterstützen, weit tragen und von fast jedem schnell beherrscht werden. Die Motorunterstützung ermöglicht dabei neue Streckenprofile und erschließt gerade für Mittelgebirgsregionen enorme Chancen.

Tilman Sobek

liegt als Destinationsentwickler die Synthese von Outdoor-Kompetenz und Tourismusmanagement am Herzen. Dafür setzt er sich als Geschäftsführer von absolutGPS und Kopf des Mountainbike Tourismusforums Deutschland e. V. bei der strategischen Arbeit mit Destinationen in Europa ein. Sein Firmenmotto: „Erlebnisse, die bleiben: für den Gast unvergesslich, nachhaltig für die Region.“

absolut-gps.com

Das Mountainbike Tourismusforum Deutschland e. V. versteht sich als Denkfabrik und fungiert als Raum für Vernetzung und Dialog. Seit 2015 ist der jährlich ausgerichtete deutsche MTB-Tourismuskongress eine zentrale Plattform zum Austausch. Wichtige Tools sind der „Mountainbike-Monitor“, die nach eigenen Angaben weltweit umfassendste Untersuchung von Mountainbike-Gästen sowie Forschungsergebnisse, z. B. zu den Auswirkungen auf Boden, Flora und Fauna. Dazu kooperiert der Verein international mit Hochschulen.

mountainbike-tourismusforum.de

Wo liegen die großen Chancen?

Fragen an Darco Cazin, Gründer Allegra Tourismus & Trails

Wo seht ihr Potenziale im Fahrradtourismus?
Das Schöne am Radtourismus ist es, dass es sehr viel Raum gibt, um etwas zu entwickeln, angefangen von null Höhenmetern an der Küste bis rauf auf 3.000 Höhenmeter an den Gletschern. Heute wissen wir auch, dass man nicht in großen Dimensionen denken muss. Viele kleine Regionen sind sehr erfolgreich, weil sie gut durchdacht und geplant sind.

Gibt es einen neuen Schub fürs Rad?
Wir sehen aktuell den Aufstieg des Fahrrads vor allem in den Städten – auch als Statussymbol. Gleichzeitig wird das Radfahren im Urlaub immer wichtiger für Gäste, die keine Fahrradtouristen im eigentlichen Sinne sind. Das verlangt nach neuen Angeboten und Langsam-Verkehrsplänen. Wenn man das angeht, eröffnet sich eine Riesenchance für den ländlich peripheren Raum, um sich stark als alternativer Lebensraum zu positionieren.

Wie schaut es im Umfeld der Städte aus?
Tourismus in den Städten hat eine große Chance in den Naherholungsgebieten. Die in Wert zu setzen gegenüber den Einwohnern und den Touristen kann stark an Bedeutung gewinnen. Wir sehen ein großes Wachstum vor allem bei Mountainbikes. Wenn man die Zahl der neuen Mountainbiker mit den Ausübungstagen multipliziert, dann kommen wir in der Schweiz aktuell auf einen Zuwachs von einer Viertelmillion Ausübungstagen. In Deutschland kann man das mal zehn oder zwölf nehmen.

Wie ordnet man den neuen Zustrom?
Das ist eine große Herausforderung, der man sich stellen muss. Aber nicht mit Verboten, sondern mit Angeboten und einer guten Steuerung. Meiner Erfahrung nach kann man 80 bis 90 Prozent der Nutzer sehr gut durch solche Maßnahmen lenken.

Mit welchen Vorurteilen werdet ihr immer wieder konfrontiert?
Tatsächlich geht es in unserer Arbeit immer wieder darum, von Meinungen zu objektiven Fakten zu kommen. Beispielsweise, wenn es um gefühlte Mengen von Wanderern und Mountainbikern oder potenzielle Beeinträchtigungen der Natur geht. Dazu kommt, dass insbesondere von Mountainbikern medial ein falsches Bild vermittelt wird. Tatsächlich ist das Mountainbiken sehr viel unspektakulärer. Es geht nicht um harte Action, sondern um das Naturerlebnis. Dafür braucht es auch keine Berggipfel, es genügt auch der Wald, ein See oder ein Fluss.

Wie können kleine, erfolgreiche Mountainbike-Projekte aussehen?
Schon in einem sehr limitierten Stück Wald kann man viel Erlebnis entwickeln für den Nutzer. Zum Beispiel kleine Flächen für Trails einrichten und spielerische Elemente mit einem hohen Aufforderungspotenzial bauen, wie Pumptracks oder auch Mountainbike-Spielplätze für Anfänger und Familien, eventuell kombiniert mit Transportbändern, sogenannten Zauberteppichen, dazu Grillplätze für Familien und vieles mehr. Ich finde jede Stadt, jede Region und auch jede kleine Kommune sollte solche Bewegungsräume in der Natur schaffen, wo man lernen und sich ausprobieren kann. Das ist machbar und gerade für junge Menschen wäre das sehr wichtig. Das Mountainbike könnte hier künftig Teil einer neuen Kultur werden.

Darco Cazin

gehört als Gründer des Schweizer Unternehmens Allegra Tourismus & Trails zu den Visionären der Szene und entwickelt seit vielen Jahren Mountainbike-Regionen im In- und Ausland. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist der Schweizer Kanton Graubünden mit namhaften Destinationen wie Andermatt oder St. Moritz. Die Region setzt im internationalen Vergleich Maßstäbe und entwickelt sich rasant weiter fort. Empfehlung: Allegra-Blog und Youtube-Channel. Hier erläutert Darco Cazin unter anderem „die Basics erfolgreicher Mountainbike Destinationen“.

allegra-tourismus.com



Bilder: stock.adobe.com – Uwe, Saalfelden-Leogang – Klemens König, stock.adobe.com – ARochau, Saalbach-Bike – Stefan Voitl, stock.adobe.com – ARochau, Norman Bielig, Tilman Sobek, Allegra – Peter Linden

Mikromobilität heißt in der öffentlichen Wahrnehmung oft: Fun-Fahrzeuge für feuchtfröhliche Großstadt-Touristen. Aber ist das wirklich so? Zumindest die Branche sieht ihren Kernmarkt anders und erholt sich gerade vom Corona-Schock. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Manchmal kommt es anders, als man denkt. Mitte Juli dieses Jahres wurde die Produktion des Pioniers der Mikromobilität Segway PT eingestellt. Was vor rund 20 Jahren als Revolution mit Absatzerwartungen von Hunderttausenden Personal Transportern pro Jahr ausgerufen wurde, endete in einem Flop. Auf weltweit nur 140.000 Einheiten kam man während der kompletten Produktionszeit. Viele Segways werden zum Beispiel weiter für touristische Führungen genutzt. Mit zum Ende beigetragen hat aber wohl auch der Boom der E-Tretroller im Verleih. Wobei gerade hier die Erwartungen hochgesteckt waren. Sind E-Scooter in deutschen Städten also vor allem etwas für Touristen?

Image vom Touri-Roller

Diese Einschätzung drängte sich im ersten Jahr auf, als die motorisierten Tretroller 2019 in den deutschen Kommunen Einzug hielten. Medial wurde intensiv über die touristische Nutzung des neuen Angebots berichtet. Steckt in dieser Form der Mikromobilität neben dem zusätzlichen Verkehrsmittel für lokale Pendler also auch eine Chance, um Stadttouristen an ihrem Zielort eine clevere Mobilität zu bieten? E-Tretroller als jederzeit verfügbares und flexibles Fahrzeug mit Frischluftgarantie zum Cruisen durch die Stadt, aber auch als Alternative zur Fahrt mit dem Taxi oder der Bahn? Das hätte man zumindest meinen können, als etwa 2019 das Beratungsunternehmen 6T in drei französischen Großstädten die Nutzer der neuen Angebote interviewte. 42 Prozent der Befragten nutzten die Scooter der Umfrage zufolge als Touristen. „E-Scooter haben sich mehr als Verkehrsmittel für Touristen im urbanen Raum herauskristallisiert“, sagte auch der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) Niedersachsen, Rüdiger Henze, in der Braunschweiger Zeitung.

5.000 E-Roller der Bosch-Tochter Coup hat das Berliner Startup Tier Mobility Anfang des Jahres samt Ladeinfrastruktur erworben. Die neuen 45-km/h-Roller ergänzen das bestehende Angebot in mehreren großen Städten.

Anbieter sehen Schwerpunkt nicht im Tourismus

War es richtig, das Image vom Touri-Roller zu bedienen? Bei den Anbietern selbst ist man alles andere als erpicht darauf, mit Tourismus identifiziert zu werden. Das Berliner Unternehmen Tier zumindest will das Thema nicht in den Blick nehmen. „Tourismus spielt bei der Planung für unsere Expansion in Städten keine Rolle“, schreibt der PR-Manager des Unternehmens, es gehe um die „nachhaltige Verbesserung der Mobilität für Bewohnerinnen und Bewohner der Städte, damit diese sich ohne eigenes Auto abgas- und emissionsfrei bewegen können“. Dazu passt, dass das Unternehmen Ende letzten Jahres den E-Roller-Sharing-Dienst Coup, eine Bosch-Tochter, übernommen hat und die 45 km/h schnellen E-Mopeds ergänzend in immer mehr Städten mit anbietet. Der E-Tretroller-Verleiher Lime gibt den Anteil der Nutzer in Deutschland, die aus der gleichen Stadt kommen oder dort arbeiten, mit 84 Prozent an. Auch hier lässt sich also kaum behaupten, dass es sich vor allem um ein Gefährt für Touristen handelt. Die Zahlen, die sich auf 2019 beziehen, sind selbst in Madrid kaum anders: Dort sind 80 Prozent der Lime-Nutzer aus der Stadt oder beruflich dort angesiedelt. Bei Lime immerhin heißt es, dass Touristen und Geschäftsreisende für das E-Scooter-Geschäft generell eine Rolle spielen, obwohl der Großteil der Nutzer an allen deutschen und internationalen Lime-Standorten einheimisch sei. Man verweist auf große Unterschiede: „Städte wie Berlin, Madrid oder Málaga verzeichnen einen Anteil von 20 bis 25 Prozent touristischer Nutzung, in anderen Städten wie Hannover, Dortmund oder Wiesbaden liegt der Anteil bei unter zehn Prozent“, sagt Lime-Geschäftsführer Jashar Seyfi. Gern möchte man die touristische Seite ausbauen. „Ja, es gibt erste Gespräche und wir arbeiten schon mit einigen Städten, Hotels und Hotelketten sowie Organisationen wie der Messe Hamburg zusammen“, sagt Seyfi. Dennoch stehe das Unternehmen erst am Anfang. Man habe sich vorgenommen, mit Blick auf 2021 mit weiteren Städten und touristischen Partnern ins Gespräch zu kommen.

Branche in der Krise?

Geht es um die allgemeine Wahrnehmung, dann steht es nicht gut um die Gefährte. E-Scooter gelten – gerade in Verbindung mit Partygängern und urbanem Tourismus – vielfach als Plage. Junge Menschen auf der Straße, unter Alkoholeinfluss, ohne Blick für den Verkehr der Stadt, das sind die Vorurteile, die sich mitunter in der Praxis bestätigen. Die Presse für die neue Variante der E-Mobilität war im ersten Jahr alles andere als gut, und im Corona-Jahr 2020 diskutieren viele weiterhin über die Gefährte als Stolperfallen oder Technikleichen am Wegesrand. Corona hat die Branche hart getroffen, zwischenzeitlich war das Geschäft eingebrochen. Die Betreiber hatten mit Nachfrageproblemen ebenso zu kämpfen wie mit Imageproblemen. Sie wollen sich mit Macht als Teil der nachhaltigen urbanen Mikromobilität etablieren. Und tatsächlich: Wenn man sich den Mobilitätsmix in Großstädten anschaut, merkt man, dass sich einiges verändert hat. E-Tretroller sind inzwischen ebenso wenig aus dem Stadtverkehr wegzudenken wie die kaum hörbaren E-Roller.

„In Großstädten verzeichnen wir 20 bis 25 % touristische Nutzung, in anderen Städten liegt der Anteil bei unter 10 % .“

Jashar Seyfi, Geschäftsführer Lime

Neue Mobilitätsformen per Fahrrad, E-Tretroller oder Segway könnten sich zu einem wichtigen Standbein im Städtetourismus entwickeln. Offenheit und Unterstützung wünscht sich auch Lime- Geschäftsführer Jashar Seyfi.

Köln-Tourismus: „Keine Erweiterung des Mobilitätsangebots“

Ob Bestrebungen, im Tourismus zu wachsen, so einfach sein werden, ist die Frage. Für diesen Artikel blieben Anfragen bei Hamburg Tourismus unbeantwortet – auch wenn die Tourismusgesellschaft der Hansestadt die Scooter auf ihrem Internetportal als Angebot aufführt. Bei Köln-Tourismus redet der neue Geschäftsführer Jürgen Amann nicht lange drumherum. Klar sei der Spaß bei der touristischen Mobilität nicht zu vernachlässigen: „Aktuell sehen wir aber nicht, dass E-Scooter langfristig und nachhaltig das Sharing-Konzept erweitern können.“ Amann sieht in den Scootern denn auch „keine Erweiterung des städtischen Mobilitätsangebots im touristischen Kontext. Hier sind andere Sharing-Angebote und der ÖPNV nachhaltiger zu beurteilen.“

Neuer Markt mit Informationen und Regelung

Bei Lime hätte man es gern anders: „Natürlich wünschen wir uns, dass Städte unseren E-Scooter-Service als Teil des städtischen Mobilitätsangebots für Touristen bekannt machen“, sagt Geschäftsführer Jashar Seyfi. Aber auch hier, sagt Seyfi, stehe man noch ganz am Anfang. Jedenfalls wird er auch eine Menge Vorurteile ausräumen müssen, wenn die E-Scooter-Nutzung im Fremdenverkehr zum aktiv beworbenen Bestandteil werden soll. Es bestehe „definitiv Aufklärungsbedarf, wenn Touristen hierzulande E-Scooter nutzen, denn die geltenden Regeln und Vorschriften unterscheiden sich stark von Land zu Land und auch teilweise innerhalb von Deutschland.“ Für die Mikromobilität im Tourismus sind die Wege also noch weit. Trotzdem, oder gerade deswegen, empfehlen Experten, sich viel stärker als bislang mit dem Thema zu befassen. Die Hersteller haben sich gerade auf Leitlinien für eine neue Generation nachhaltiger Fahrzeuge geeinigt, die Fahrzeuge sprechen neue, bislang autoaffine Nutzergruppen vor allem in der Gruppe an und auch Stadtführer setzen verstärkt auf Fahrräder und Mikromobile. Neue Formen aktiver Mobilität könnten sich so zu einem Standbein für den Städtetourismus entwickeln. Gerade in der aktuellen Krise sicher kein schlechter Gedanke für Touristiker, Planer und kommunale Entscheider.


Bilder: stock.adobe.com – Peeradontax, stock.adobe.com – Peeradontax, Lime, Pressestelle der Stadt Hamm

Das Klima ist im Umbruch und mit ihm der alpine Tourismus. Neben dem Wintersport rücken Sommeraktivitäten, wie Wandern und Mountainbiken, immer stärker in den Fokus. Wie man damit umgeht, zeigen die Region Leogang und die „Bike Republic Sölden“. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Katrin blickt zu ihrem Mann. Sie hat ein Glas Hugo in der Hand, er greift zu seinem Bier. Im Hintergrund flutet die Mittagssonne die Leoganger Steinberge. Verliebt schauen sich die beiden Fünfziger in die Augen. Er im rosa Poloshirt mit beiger Chino, sie im farbenfrohen Sommerkleid. Fehlt eigentlich nur noch ein Oberklasse-Cabrio, das vor dem Biergarten geparkt steht, um die Szene aus einer Alpen-Romanze perfekt zu machen. Stattdessen schnoddert ein Teenie „Hey Papa, ich brauche noch Geld“. Der Sohn der beiden ist mächtig dreckverkrustet und seine Protektoren an Knien, Ellenbogen und Brust zeugen von einigen Stürzen. Klaus öffnet sein Portemonnaie und 50 Euro gehen an die nächste Generation über. Nicht der erste Schein und nicht der letzte, den die Eltern ihrem bikenden Nachwuchs hier zustecken. Wir sind in der Steinadlerbar direkt neben der Mittelstation der Asitzbahn oberhalb von Leogang. Anfang Juli im Corona-Jahr 2020 lässt sich hier live erleben, wie moderner Mountainbike-Tourismus funktioniert.

Auf Flowtrails kann man sehr einfach die Schwierigkeitsstufe wählen. Zur Naturnähe gehört immer auch Staub und bei Regen manchmal auch Schlamm. Mit Service und dem richtigen Zubehör aber alles kein Problem.

Gemeinsamer Urlaub mit Erlebnischarakter

Der Zögling nimmt das Geld und sieht zu, schnell wieder zum anderen Tisch zu kommen. Dort sitzen acht Jungs. Alle zwischen 15 und 18 Jahren alt, alle in Mountainbike-Kluft und alle in „Spendierlaune“: Der hölzerne Außentisch biegt sich fast unter der Last von Getränken und Burgern. Es wird viel gelacht, lautstark über die tagesaktuelle Traktion der verschiedenen Lines/Abfahrten diskutiert und Energie für die zweite Hälfte des Bike-Tages in Leogang getankt. Derweil erzählt uns Katrin, dass sie selbst lieber ans Meer gefahren wäre, der Bikepark aber die einzige Chance gewesen sei, Paul, den Sohn, zu einem gemeinsamen Sommerurlaub zu bewegen. So sitzen die beiden in trauter Zweisamkeit bei einem Absacker-Kaffee, während Paul mit seinen Kumpels Richtung „Bongo Bongo“-Line aufgebrochen ist.

Von Sorgenkindern zu wichtigen Umsatzbringern

An den Mountainbikern hängt mittlerweile viel Umsatz, nicht nur bei den jungen Leuten, in deren Windschatten die Eltern für touristische Erträge sorgen, sondern im Gesamten. Davon berichtet Kornel Grundner, Geschäftsführer der Leoganger Bergbahnen, und fasst zusammen: „Das Sommergeschäft wird noch wichtiger werden.“ Mountainbiker hatten es lange schwer, touristisch ernst genommen zu werden. Ein starkes Wintergeschäft mit Skifahrern und Snowboardern ließ die involvierten Regionen florieren. Im Sommer sorgten Wanderer und gesetztes Klientel, laut Grundner früher „vor allem 60 Jahre und älter“, für einen Grundumsatz in den Pensionen und Hotels, die einen, wenn auch ruhigeren Betrieb jenseits der Hochsaison im Winter erlaubten. Die Rechnung ging im Jahresmittel für Gastronomie und Hotellerie auf.
Urlauber auf dem Mountainbike passten in dieses Idyll kaum hinein. Ihre touristischen Anforderungen fanden sich in den eingespielten Prozessen nicht wieder und das Fahren auf (Wander-)Wegen war in manchen Regionen schlicht illegal. Noch heute sind Waldwege in Österreich zumindest offiziell tabu, sofern der Eigner diese nicht freigibt. Dass Mountainbiker dennoch als touristische Gruppe erschlossen wurden, hat zwei Ursachen. Zum einen ist ihre Anzahl stetig gestiegen und konnte ab einem gewissen Moment in kaum einer alpinen Region mehr ignoriert werden: Organisieren, Kanalisieren und Monetisieren taten Not. Zum anderen boten die radelnden Gäste eine Möglichkeit, Ineffizienzen aus dem Wintergeschäft abzuschwächen. Denn die in Anschaffung und Unterhalt sehr kostspieligen und ressourcenintensiven Bergbahnanlagen stehen für eine starke Dysbalance zwischen winterlicher und sommerlicher Nutzung. Grundner spricht heute von 85 Prozent Wintergeschäft für seine Bahnen. 2001, im Jahr als der Bikepark in Leogang gebaut wurde, waren es 96 Prozent. Anders sieht es übrigens bei den Übernachtungen aus. Hier sei bereits Parität zwischen Sommer- und Wintersaison. Auch, wenn die Wertschöpfung im Winter bislang noch höher sei. Wichtig ist die höhere Auslastung in der „grünen Saison“ auch mit Blick auf den Personalbedarf. So können aus „weißen“ Saisonkräften, die nur während der Wintermonate beschäftigt sind, Vollzeitkräfte werden. Das gibt dem einzelnen Angestellten Planungssicherheit und erlaubt Spezialisierung und Fortbildung.

„Wir haben von Anfang an versucht, keine gemischten Wege zu machen, also Mountainbiker und Wanderer gehören für uns nicht auf den gleichen Weg. Weil einfach zu unterschiedliche Geschwindigkeit vorherrschen.“

Kornel Grundner, Geschäftsführer Leoganger Bergbahnen

Alpen und Tourismus im Klimawandel

Die Klimaerwärmung trifft die Gebirge Untersuchungen zufolge schneller und intensiver als anderswo. In den Alpen ist das mehr als deutlich sicht- und spürbar: Gletscher schmelzen, die Winter werden kürzer, wärmer und unsteter und die Pistenqualität leidet selbst in der Hauptsaison. Auch wenn man vor Ort alles tut, um dem kränkelnden Patienten „Wintertourismus“ durch immer mehr Kunstschnee-Anlagen und Ähnliches zu helfen: Die Tourismusindustrie muss sich anpassen. Deshalb richtet sich der Blick immer stärker auf das Sommerhalbjahr – unter anderem mit Mountainbikern und anderen, jüngeren Erlebnis- und Aktivtouristen.

Differenzierter Blick auf „die Mountainbiker“

Wenn man heute von Mountainbikern spricht, dann lohnt sich ein genauer Blick. Denn so unterschiedlich die Bikes inzwischen sind, so unterschiedlich sind auch die Fahrerinnen und Fahrer – wobei es viel Sinn macht, beide Geschlechter mit unterschiedlichen Ansprüchen im Blick zu haben und auch den Nachwuchs nicht zu vergessen. Ebenso ausdifferenziert sind auch die Produkte, seitdem Mitte der 1990er-Jahre Federungssysteme beim Mountainbike Einzug hielten. Inzwischen reicht das Spektrum vom leichten Cross-Country-MTB für schnelle Fahrten auf und ab durch gemäßigtes Gelände über Enduro- und Allmountainbikes, die sich akzeptabel bergauf und lustvoll bergab bewegen lassen, bis zu Freeride-/Downhill-Boliden, die gänzlich fürs Bergabfahren optimiert sind. Nicht zu vergessen sind zudem Tourenfahrer und Trail-Reisende aus der Gravel- und Bikepacking-Szene. Und als wäre das alles noch nicht genug, gibt es die allermeisten Räder inzwischen auch mit Motor – unter anderem auch für Kinder. Die konsequente Ausgestaltung auf spezifische Ansprüche und Anwendungen brachte optimierte Räder hervor, mit denen auch „normal-talentierte“ sportliche Menschen am Berg oder im Bikepark fahren können, und schafft darüber hinaus einen neuen Zugang und neue Nutzergruppen, in denen Männer, Frauen, Junge, Alte, Kinder, Sportskanonen und weniger sportliche gemeinsame Erlebnisse genießen können. Für Touristiker ergibt sich damit ein Füllhorn neuer Möglichkeiten und Sportgeschäfte vor Ort können den Markt mit neuen Verleihangeboten gezielt weiter anschieben.

Früh übt sich! Ähnlich dem „Ski-Kindergarten“ kümmern sich Fahrtechnik-Bikeschulen um kleinste Biker und vermitteleln ihnen spielerisch den Umgang mit dem Rad. Solche Kurse gibt es natürlich auch für die Großen. Sehr empfehlenswert übrigens.

Hochwertige Infrastruktur zieht Kunden

Der Fokus der lokalen Bergbahnenbetreiber, die neben den Hoteliers meist Motor hinter der Entwicklung sind, liegt in der Regel auf stationären Angeboten, die auf eine lange Verweildauer der Gäste am Ort abzielen. Radtouristische „Durchreise-Projekte“ wie etwa sogenannte Transalp-Touren quer oder längs über die Alpen werden dagegen meist von Radreiseveranstaltern forciert. Wie gelingt es, Biker anzulocken und diese an den Standort zu binden? Noch vor zehn oder 15 Jahren genügte die schlichte Existenz von ein paar ausgewiesenen Strecken. Heute sind die Biker anspruchsvoller und die Anbieter offener und mutiger geworden. Sie übersetzen die Idee vom Wintersport auf den Sommer: Statt einzelne Abfahrten oder Hotels zu bewerben, kommunizieren sie ein Paket aus perfekter Sport-Infrastruktur der kurzen Wege mit Strecken, Liften, Gastronomie, Hotellerie und Dienstleistungen. Wie das in der Praxis aussieht, lässt sich in Leogang oder Sölden erleben. Beide Regionen konkurrieren seit geraumer Zeit darum, zu zeigen, wie der perfekte Mountainbike-Urlaub aussieht – mit unterschiedlichen Ansätzen.
Leogang baute zu Anfang bewusst schwierige, selektive Bike-Strecken mit dem Ziel, neue Gäste anzulocken. Es ging nach Grundners Worten nicht darum, dem Gast vor Ort eine neue Attraktion in sein Urlaubsprogramm zu schreiben, sondern neue Gäste zu bekommen, die mit dem traditionellen Wander-Angebot nicht adressierbar waren. Auf Basis dieses Rufs, dass Leogang ein biketechnisch anspruchsvolles Terrain ist, wurden die neuen Gäste mit immer neuen Strecken weiter umgarnt. In der Sprache der Wintersportler gesagt: Erst wurden die schwarzen Pisten für mutige Könner gebaut und zuletzt der Anfängerhügel. Geradezu gegensätzlich ging Sölden in die Bike-Offensive. Viele natürliche Mountainbike Downhill-Strecken haben in Leogang ein Durchschnittsgefälle von 20 Prozent. Das ist für Anfänger deutlich zu steil. Sölden wollte es deshalb entspannter: Deshalb wurde hier das Durchschnittsgefälle der Strecken halbiert. Mit sogenannten Flowtrails, also gebauten Abfahrten, die ein flüssiges, fließendes Fahrerlebnis (daher der Name) ermöglichen. Die lassen sich mit Grundkenntnissen auf dem Mountainbike quasi von jedermann mit ein wenig Mut und adäquater Ausrüstung fahren und bieten gleichzeitig ein wunderbares Naturerlebnis. Könner fahren Kurvenaußenranderhöhungen („Anlieger“) aus oder nutzen Wellen und speziell gebaute Elemente für Sprünge, die von anderen entspannt umfahren werden können. So sind gut gemachte Flowtrails für alle, vom Anfänger bis zum ambitionierten Biker, ein attraktives Terrain. Berühmtes Beispiel ist die „Tiäre-Line“ in Sölden: Gebaut vom ehemaligen Profi-Fahrer Joscha Forstreuther bedeuten die 130 Kehren auf kaum 5,2 Kilometern puren Flow und Fahrspaß, der auch international für Furore sorgte. Wichtig für Interessierte: Die Baukosten für diese Art der Streckenführung sind zwar höher, als wenn man auf steilere Trails zurückgreift, dem gegenüber stehen aber geringere Erhaltungskosten, da der Boden weniger beschädigt wird, obwohl in Summe mehr Leute darauf fahren.

Basis für Marketing- und PR-Offensive

Als „Bike Republic Sölden“ wird die Destination inzwischen in einem Kommunikationskonzept aus einem Guss international erfolgreich vermarktet. Vor Ort besteht kaum eine Chance, mehr als ein paar Minuten auf dem Bike unterwegs zu sein, ohne ein BRS-Signet zu passieren. Leogang ist mit dem Eigenmarketing dezenter und räumt dafür Sponsoren prominente Flächen auf sogenannten Wallrides oder Rampen ein. Dafür formiert sich Leogang mit Nachbar-Bikeparks zu „Österreichs größter Bikeregion“, so der Eigenanspruch, den die Website unterstreicht: „Über 70 km Lines & Trails und 9 Bergbahnen – Saalbach, Hinterglemm, Leogang, Fieberbrunn: Sechs moderne Bergbahnen in Saalbach Hinterglemm, zwei in Leogang und eine in Fieberbrunn bringen Biker schnell und bequem auf die schönsten Gipfel und zu den Einstiegen der lässigsten Trails. Saalbach Hinter-glemm gilt schon seit vielen Jahren als führende Mountainbike-Region in Österreich. Ein enormes Wegenetz von 400 km aller Schwierigkeitsstufen für Tourenfahrer und E-Biker lässt keine Wünsche offen.“

„Der Weg geht für mich dahin, dass das ein ganzes Familienangebot wird wie im Winter.“

Kornel Grundner, Geschäftsführer Leoganger Bergbahnen

Rollenklischees im Umbruch

Zwischenzeitlich sind wir via „Flying Gangster“-Line talwärts gesaust und haben unterwegs einen bikenden Querschnitt der Gesellschaft getroffen. Nach Fahrtechnik und Radbudget durchaus divers, nach Herkunft und Geschlecht sicherlich nicht. Biken ist auch hier bislang noch „weiß und männlich“ dominiert. Hinsichtlich der Geschlechter ist ein Wandel aber deutlich spürbar. „In den Anfängen war es zu 90 bis 95 Prozent ein Männerthema“, sagt Grundner und ergänzt: Aber „auch Frauen haben absolut Spaß an Freeride und Downhill“. Das braucht Vorbilder und der Bike-Großraum von Saalbach und Leogang spielt hier eine Trumpfkarte in der Kommunikation. Die heißt Valentina „Vali“ Höll und ist ein Star in der Downhillszene. Bereits als Juniorin fuhr die gebürtige Saalbacherin Zeiten wie die Profidamen und ist nunmehr mehrfache Weltmeisterin. Sie ziert Plakatwände, Banner und Poster in der Region und fungiert auch als Aushängeschild für die MTB-Weltmeisterschaften, die im Oktober in Leogang stattfinden.

Zukunftsweisend: Spielplatz für alle

Unten angekommen, setzen wir uns auf die Terrasse des Hotel Bacher und beobachten die Szenerie. Aus verschiedenen Lines kommen die Biker an unterschiedlichen Stellen aus dem Wald auf den Hang heruntergesaust. Dort können sie aus einer Vielzahl von Ausläufen in variierenden Schwierigkeitsgraden wählen. Mancher nimmt den großen Drop, andere einen mehrere Meter messenden Gap und eine Familie rollt ohne „Airtime“ (Sprünge) zur Talstation aus. Direkt daneben übt eine Gruppe Männer mittleren Alters in der Drop Area mit unterschiedlichen Sprunghöhen. Zwei Förderbänder, Zauberteppiche genannt, wie man sie aus dem Skitourismus oder dem Transit der Flughäfen kennt, erlauben den schweißfreien Weg zurück zum Ausgangspunkt im sogenannten Riders Playground. Diese Spielwiese ist das reinste Paradies für Biker jeden Alters und jeder Könnerstufe. An unterschiedlichen Hindernissen kann sich jeder schrittweise an die eigene Grenze herantasten und Fahrtechnik und Selbstvertrauen auf- und ausbauen. Es ist Konzept, die Besucher hier – zusammen mit einer Bike-Technik-Schule – fahrtechnisch fit für die Region und die Lines des Bikeparks zu machen. Großes Familienvergnügen: Für die kleinsten Biker gibt es Strecken, die sich sogar mit dem Laufrad meistern lassen. Davon wird reichlich Gebrauch gemacht. Uns erinnert das an die Skateparks oder Golf-Übungszentren am Stadtrand. Nur viel unterhaltsamer anzuschauen für den Außenstehenden und natürlich die Familien oder Freundeskreise.

Eine gute Beschilderung ist ein wichtiger Baustein für ein reibungsloses Mit- bzw. Nebeneinander.

Blick aus der Gondel auf den Auslauf mit den Routenoptionen der verschiedenen Lines.

Kritik zeigt Bedarf nach Kommunikation und Planung

So entspannt und genussvoll sich der Besuch eines Bikeparks in Sölden oder Leogang gestaltet, so krampfig war deren Entstehung. Da waren zum einen die Widerstände vor Ort. Mancher Wintertourismusanbieter sah im vergleichsweise ruhigen Sommer den genau richtigen Gegenpol zum hektischen Winter. Die benötigten Flächen mussten gekauft oder gepachtet, gestaltet und dann unterhalten werden. So sind allein in Leogang zehn Mitarbeiter im Sommer für die „Trailpflege“ angestellt. Nutzungsrechte für Wege und Wiesen waren einzuholen und Vorbehalten des Naturschutzes und zur Störung anderer Touristen musste entgegnet werden. Ein ganz wichtiger Faktor sind auch die Bauern, die die Wiesen im Sommer für ihre Weidetiere beanspruchen. Sie von den Projekten zu überzeugen, sei teilweise eine Mammutaufgabe, wie Dominik Linser, Projektleiter der Bike Republic Sölden, erklärt. Einer seiner Ansätze: Die Köche im Ötztal nutzen gezielt Produkte aus der heimischen Landwirtschaft. So profitieren die Bauern vom wachsenden Sommertourismus. „Mittlerweile wollen einige Landwirte sogar lieber eine Mountainbike-Strecke auf ihrem Gebiet als einen Wanderweg“, erläutert Linser und liefert die Begründung: „Mountainbiker haben keine Hunde dabei, die die Tiere erschrecken können.“
Bei jeder neuen Line gehen die Verhandlungen jedoch von vorn los. Dabei ist die Zusammenarbeit mit den Landwirten sogar von Vorteil für die Trailbauer: Sie kennen die Untergründe durch jahrelange Erfahrung und wissen zum Beispiel, wo feuchte Stellen sind, die man besser umgehen sollte. Kritik an Bikeparks gibt es auch aus der Mountainbike-Szene selbst: Spezielle Parks seien Steigbügelhalter für die Argumentation, Bikeverbote in der Region auszusprechen mit dem Verweis, es seien doch extra Bikeparks eingerichtet worden. Auch hier sollte man immer daran denken, dass es eben keine homogene Kundengruppe gibt und die einen Biker überhaupt kein Interesse an den künstlichen Welten von Parks, andere kein Interesse an Liften haben und wieder andere genauso gerne auch den Uphill-Flow auf dem E-Mountainbike genießen.

Lukrativ und mit nachhaltigem Effekt

Mountainbiker sind eine attraktive Zielgruppe, die mit passend adressierten Angeboten sehr lukrativ für eine Region sein kann. Neben adäquaten Strecken braucht es auch ein komplettes Netz aus Ansprache, Strecken, Service, Gastronomie, Hotellerie und Rahmenprogramm mit alternativer Freizeitgestaltung. Anders als Ski-Touristen sind Mountainbiker auch deutlich anpassungsfähiger an Wetter und Witterung. Ihre Saison kann mit abgetautem Schnee beginnen und reicht, dank extra breiter Reifen, bis zur ersten geschlossenen Schneedecke. Es gibt bereits viele kleinere Bikeparks auch in deutschen Mittelgebirgen, die zeigen, dass auch ein kleineres Streckennetz sehr wohl konkurrenzfähig ist, besonders wenn es sich im Einzugsbereich größerer Metropolen befindet oder keine direkte Konkurrenz hat. So haben die Bikeparks im Harz ein Einzugsgebiet, das von Berlin über Hamburg bis nach Dänemark reicht. Dass Flowtrail im großen Stil auch ohne Lifte erfolgreich sein kann, zeigt der tschechische Park „Singltrek Pod Smrkem“. Er kombiniert rund ein Dutzend Flowtrail-Runden, die sich nahezu beliebig befahren lassen.
Die Effekte für die Destination sieht Bergbahnchef Grundner sehr positiv: „Wir bekommen eine zweite Saison, die nicht mehr nur dem Preiskampf ausgeliefert ist“, denn so sei das früher gewesen: Die Winterkapazitäten wurden im Sommer quasi verramscht. Dieses Prinzip kann man sich mit dem zunehmenden Abschmelzen der Wintersaison heute gar nicht mehr leisten. Statt Kapazitäten werden im Sommer deshalb verstärkt Erlebnisse vermarktet und so kann ein neuer Qualitätstourismus gedeihen: „Wir haben jetzt mehr Vier-Sterne-Hotels“, betont Grundner. Dazu kämen das Leihgeschäft und der Zusatzverkauf von Ausrüstung, Bekleidung und Ersatzteilen. Dominik Linser sieht in seiner Heimat Sölden inzwischen sogar einen prägenden Effekt für die Bewohner der Region: „Mountainbiken wird bei der Jugend immer beliebter. Unser Mountainbike-Club hat mittlerweile rund 140 junge Mitglieder.“ Durch den Sport lernen die Jugendlichen eine neue Heimatverbundenheit, Bergsportbegeisterung und bekommen erste Einblicke in den Tourismus – was wiederum langfristig für heimischen Nachwuchs bei Bergführern, Trainern, Guides oder auch Hoteliers sorgt und der Landflucht entgegenwirkt.

Unser Autor Gunnar Fehlau (links) war in der Vergangenheit mehrfach auf Einladung in der Bike Republic Sölden, um Reportagen zu realisieren, und wurde für diesen Artikel nach Leogang eingeladen. Eigene Erfahrungen und echte Begeisterung für den Bike- und Mountainbike-Tourismus in seinen unterschiedlichsten Facetten bringen aber alle im VELOPLAN-Team mit.


Bilder: Gunnar Fehlau, Tourismusverband Saalbach Hinterglemm, Felix Hens, Klemens König – Leogang