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Radverkehr wird akademisch

Der Bund fördert sieben Professuren für Radverkehr. Ein längst fälliger Schritt zur Weiterbildung und Vergrößerung der Chancengleichheit des Verkehrsträgers Fahrrad. Die Fakultäten verstehen sich als Teamplayer und wollen ein neues Kompetenznetzwerk aufbauen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Es war ein Mix aus Alltagstest und Werbetour für ihre neuen Studiengänge: Rund 1.500 Kilometer sind 120 Wissenschaftler mit ihren Studenten in den vergangenen Wochen kreuz und quer durch Deutschland geradelt. Auf ihrer Staffeltour von einer Universität zur nächsten testeten sie die Radinfrastruktur, sprachen mit Politikern, Verkehrsexperten und Unternehmen über ihren Ausbau und entwickelten Ideen für gemeinsame Projekte. Ihr Fazit: sehr durchwachsen. Radfahren in Deutschland reicht aus Sicht der Experten von gut bis mies. Das ist keine Überraschung. Schließlich sollen sie dafür sorgen, dass es besser wird.

Übergabe des Staffelstabs in Frankfurt. Die Vertreter der sieben Radverkehrs-Studiengänge wollen eng zusammenarbeiten. Im Sommer haben sie auf einer Radtour durch Deutschland das Netz genau untersucht.

Sieben Stiftungsprofessuren „Radverkehr“

Das BMVI finanziert mit 8,3 Millionen Euro sieben Stiftungsprofessuren „Radverkehr“ an ihren Fakultäten. Mit dem Geld sollen sie in den kommenden fünf Jahren die Rahmenbedingungen für Radfahrerinnen und Radfahrer verbessern, Daten liefern und den dringend benötigten Nachwuchs an Planern und Planerinnen für Städte, Kommunen und Ingenieurbüros ausbilden. Der Bedarf an Fachkräften ist riesig. Viele Stellen für Radverkehrsplaner bleiben oft monatelang, manche jahrelang unbesetzt, weil die Bewerber fehlen. Das sollen die Absolventen der neuen Masterstudiengänge ändern. Die TH Wildau und die Frankfurt University of Applied Sciences haben mit Jana Kühl und Dennis Knese bereits eine Professorin und einen Professor berufen. Die übrigen wollen in den kommenden sechs bis zwölf Monaten nachziehen. In Frankfurt am Main beginnen die ersten Veranstaltungen bereits im Wintersemester. Neben der Ausbildung der Studenten ist die Weiterbildung von Planern und Ingenieuren ein wichtiges Standbein. Das Spezialisierungsstudium für Bau- und Verkehrsingenieure hat die Schwerpunkte Simulation, Reallabor und Transformation. Das klingt nüchtern, birgt aber viel Zündstoff.

Jana Kühl ist seit 1. November Professorin für Radverkehr an der Ostfalia Hochschule in Salzgitter.

Wuppertal ist eine echte Herausforderung für Radverkehrsplaner. Die bekannte Nordbahntrasse markiert den Beginn einer neuen Ära.

Verkehrsplanung auf neuen Rädern

Professor Felix Huber, Dekan an der Bergischen Universität Wuppertal, sagt: „Wir stellen Waffengleichheit in der Methodik her.“ 80 Jahre habe die Verkehrsplanung die Netze rein vom Auto her gedacht. Privatwagen durften die direkte Strecke fahren. Fußgänger und Straßenbahn wurden auf Restflächen verwiesen oder unter die Erde verbannt. Radfahrer bekamen nur die Restflächen und sie wurden auch bei den Regelwerken schlicht vergessen. „Viele Regelwerke wie etwa der Level of Service (LOS) existieren für Radverkehrsanlagen gar nicht“, so Professor Huber. LOS benotet die Qualität des Verkehrsablaufs von A = „Freier Verkehrsfluss“ bis F = „Verkehrsanlage ist überlastet“. Eine vergleichbare Richtlinie würde den Planern ihre Arbeit enorm erleichtern. Erhält ein Radweg die Kategorie „F“, so wären das für die Politik objektive Argumente für einen Umbau. Dann könnte laut Huber eine Umweltspur für Busse und Radfahrer eingerichtet werden.

„Bislang hat der Radverkehr in der Forschung nur wenig Platz gehabt. Die Datenlage ist extrem dünn.“

Sandra Wolf, Geschäftsführerin bei Riese & Müller

Teamplayer für ein neues Zukunftsnetzwerk

Alle Fakultäten sehen sich als Team-player. Einige von ihnen arbeiten seit Jahren zusammen. Diese Zusammenarbeit soll noch ausgebaut werden, etwa mit einem jährlichen Symposium an der TH Wildau oder einer weiteren Sommerradtour. Petra Schäfer, Professorin für Verkehrsplanung und Öffentlichen Verkehr von der Frankfurt University of Applied Sciences, hat die Tour mitentwickelt. Auf ihrer Etappe besuchte sie mit ihrem Team unter anderem Sharing-Anbieter, Planungsbüros, den Regionalpark RheinMain und Unternehmen aus der Fahrradbranche. Die enge Zusammenarbeit mit den Akteuren vor Ort und die Weiterbildung der Ingenieure in den Verwaltungen und Planungsbüros spielt für Petra Schäfer eine entscheidende Rolle. „Die großen Städte können Radverkehrsplanung inzwischen ganz gut“, sagt die Professorin. Kleinere Städte tun sich ihrer Erfahrung nach häufig schwer, weil ihnen die Fachplaner fehlten. Für Bauingenieure, Stadt- und Verkehrsplaner will sie mit ihren Kollegen in den kommenden Jahren passgenaue Weiterbildungsangebote entwerfen und anbieten.
Die Forschung in Frankfurt am Main wird auch von der Wirtschaft unterstützt. Der E-Bike-Hersteller Riese & Müller übernimmt die Kosten für eine halbe Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters. „Bislang hat der Radverkehr in der Forschung nur wenig Platz gehabt. Die Datenlage ist extrem dünn“, sagt Sandra Wolf, Geschäftsführerin bei Riese & Müller. Aber für die Verkehrswende sei die infrastrukturelle Datenerhebung für alle Verkehrsmittel wichtig. Deshalb unterstütze ihr Unternehmen die Forschung. Der E-Bike-Hersteller ist seit Jahren Partner verschiedener Hochschulen. Studenten schreiben in Kooperation mit dem Unternehmen bei Darmstadt ihre Promotion oder ihre Masterarbeit über Radlogistik oder Maschinenbauthemen.
Für Tilman Bracher, Mobilitätsexperte am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu), sind die neuen Stiftungsprofessuren überfällig. „Der Bedarf an Planern in den Städten, Kommunen und den Planungsbüros ist riesig“, sagt er. So bleiben aktuell viele Stellen über Monate und Jahre unbesetzt, weil schlicht der Nachwuchs fehlt. Allerdings vermisst der Experte ein weiteres Ingenieursfach in dem Studienangebot: Die Ampelschaltung in der Signaltechnik. „Die Ingenieure, die heute die Ampeln schalten, haben gelernt, den Autofluss zu optimieren“, sagt Bracher. Nun sei genau das Gegenteil gefragt. Der Autoverkehr müsse gebremst werden und Radfahrer wie Fußgänger sollten die Kreuzungen schneller passieren dürfen. Mehr Platz für Radfahrer zu schaffen, wird laut Bracher allerdings nicht die einzige Aufgabe der neuen Planer sein: „Wir müssen schöne Straßen planen, wir müssen die Stadträume neu erfinden.“

Masterstudiengänge an sieben Hochschulen

Mithilfe der 8,3 Millionen Euro des Bundesverkehrsministeriums richten diese sieben Hochschulen neue Masterstudiengänge zum Radverkehr mit unterschiedlichen Schwerpunkten ein: In Baden-Württemberg hat die HS Karlsruhe „Radverkehr“, in Hessen die HS RheinMain „Rad_Entwurf“ und die Uni Kassel „Radverkehr und Nahmobilität“, in Frankfurt a. M. die Frankfurt University of Applied Sciences „Nachhaltige Mobilität insbesondere Radverkehr“, in Niedersachsen die Ostfalia HS in Wolfenbüttel „Radverkehrsmanagement“, in Nordrhein-Westfalen die Uni Wuppertal „Planungswerkzeuge für den Radverkehr der Zukunft – Simulation, Reallabor, Transformation“ und in Brandenburg die TH Wildau „Radverkehr in intermodalen Verkehrsnetzen“.


Bilder: BMVI – Peter Adamik, Kevin Rupp – Frankfurt UAS, Marius Probst, Ostfalia – Matthias Nickel, Christa Mrozek Wuppertalbewegung