Das Jahrhunderthochwasser hat vor zwei Jahren weite Teile der Stadt Stolberg bei Aachen zerstört. Beim Wiederaufbau will die Stadtregierung nun die Mobilität in der zerstörten Region neu ordnen. Stolberg soll zur Stadt der kurzen Wege werden. Ein Ortsbesuch. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Der Baulärm ist in Stolberg allgegenwärtig. Am Mühlener Bahnhof im Stadtzentrum sanieren Bauarbeiter den Parkplatz und rütteln Pflastersteine ins Sandbett. In der nahe gelegenen Geschäftsstraße wird hinter vielen der verbarrikadierten Fensterfronten gebohrt und gesägt, und in der angrenzenden Fußgängerzone reißen Bagger die Straße auf, um neue Leitungen für Strom, Gas und Wasser im Erdreich zu verlegen.
Seit zwei Jahren leben die Menschen in Stolberg, rund 15 Kilometer westlich von Aachen gelegen, auf einer riesigen Baustelle. Wann sämtliche Schäden behoben sind, ist nicht absehbar. Im Sommer 2021 hatte das Jahrhunderthochwasser die Talachse der Kupferstadt mit voller Wucht getroffen. Im Süden überschwemmte die braune Brühe zunächst die Produktionsmaschinen in den Industriebetrieben. Weiter flussabwärts walzte sie mit jeder Menge Unrat durch die frisch renovierte Fußgängerzone, setzte dort das Rathaus unter Wasser und breitete sich Stunde um Stunde in den umliegenden Straßen aus. Bis auf drei Meter Höhe türmte sich die Wassermasse an den Hausfassaden und riss alles mit, was sich ihr in den Weg stellte. Sie unterspülte die Asphaltdecke und verdrehte sie wie einen Hefezopf. Sie zerstörte Brückenpfeiler und riss Krater in Schwimmbadgröße in die Straßen. Nahezu alle Wohnungen und Geschäfte im Erdgeschoss der Talachse, dem Herzstück der Stadt, wurden geflutet.
„Das Ausmaß der Zerstörung war unglaublich“, sagt Bürgermeister Patrick Haas. Als er jedoch inmitten der Trümmer mit den Rettungskräften und den Anwohnern sprach, stand schnell für ihn fest: Ein Wiederaufbau allein reicht nicht aus. „Wir müssen die Katastrophe als Chance nutzen“, sagt er. Die Menschen brauchen eine Perspektive, um in Stolberg zu bleiben. Die will er ihnen geben, indem er in seiner Stadt so viel Klimaschutz, Klimaanpassung und nachhaltige Mobilität umsetzt wie möglich. Stolberg soll zu einer Stadt der kurzen Wege werden. Der Arbeitsaufwand dafür ist immens. Statt nur die alte Infrastruktur wiederherzustellen, arbeitet das Team um den Mobilitätsmanager der Stadt, Georg Trocha, mit Hochdruck daran, die öffentlichen Flächen in der Talachse, der Hauptschlagader der Kernstadt, neu aufzuteilen. Sie legen im „Verkehrskonzept Talachse“ für jeden Streckenabschnitt fest, welche primären Ziele sie erfüllen soll, also ob der Bus-, Rad-, Fuß- oder Autoverkehr dort bevorzugt wird. Außerdem kooperieren sie mit den Unternehmen in den Gewerbegebieten, um den Mitarbeiterinnen fürs Pendeln eine Alternative zum Privatwagen anzubieten.

In der Fußgängerzone werden noch neue Versorgungsleitungen verlegt. Aber der Neuanfang ist gemacht: Die Goldschmiede ist geöffnet.

Vorgeschichte ohne Katastrophe

Der Entschluss des Bürgermeisters, die Mobilität in der Talachse neu zu ordnen, hat eine Vorgeschichte, die schon vor der Flutkatastrophe beginnt. Auf seine Initiative hin hatte die Stadtregierung bereits 2018 das „Klimafreundliche Mobilitätskonzept“ beschlossen. Stolberg brauchte damals dringend eine Alternative zum Auto im Alltag. Etwa ein Drittel der Treibhausemissionen, die vor Ort produziert werden, verursacht der Autoverkehr. Das ist ein typischer Wert für ländliche Regionen, aber viel im Bundesdurchschnitt, wo der Wert mit rund 20 Prozent deutlich niedriger liegt. In Stolberg war zu diesem Zeitpunkt ein umweltgerechter Umbau nicht möglich, weil der Stadtrat bereits 2015 die Pläne für den Umbau der Talachse beschlossen hatte. Diese wurden 2019 umgesetzt. Nach der Flut gab das Mobilitätskonzept Haas den notwendigen Rückenwind, um in der Talachse den Rad- und Busverkehr zu stärken.
Die Rahmenbedingungen für den Umstieg auf den Umweltverbund sind gut. Die 60.000-Einwohner-Stadt ist an ein attraktives Schienennetz angebunden. Vom Hauptbahnhof am Stadtrand fährt bis zu viermal pro Stunde ein Regionalexpress Richtung Aachen oder Köln. Die Euregio-Bahn verbindet die Stadt zudem mit dem Umland und den Niederlanden und hält viermal im Stadtgebiet. Was den Pendlerinnen und Stadtbewohnerinnen bislang fehlte, war ein attraktives Stadtbussystem sowie eine Radinfrastruktur, auf der die Menschen sicher und bequem durch die Stadt oder zu den Bus- und Bahnhaltestellen radeln können.
Der Platz für mehr Radwege und neue Buslinien, die die Wohngebiete passieren, soll von den bisherigen Flächen für den Autoverkehr kommen. Damit das klappt, muss insbesondere das Parken neu geordnet werden. „Die Autos sollen in der Kernstadt nicht mehr überall am Fahrbahnrand abgestellt werden, sondern nur noch dezentral in Parkhäusern, Park&Ride-Stellplätzen oder auf neuen Sammelparkplätzen, die wir bauen werden“, sagt Haas. Die Idee ist, dass alle Autofahrenden in der Talachse dennoch im Umkreis von 150 bis 200 Meter einen Parkplatz finden. Sind die Wohnstraßen erst mal von geparkten Autos am Fahrbahnrand befreit, könnten dort neue Stadtbuslinien verkehren. Bislang scheiterten diese aufgrund des ruhenden Verkehrs an zu schmalen Fahrspuren und zu engen Kurven.

„Mir ist es lieber, nur drei Routen in Gänze zu bauen, als einen Flickenteppich zu produzieren.“

Georg Trocha
Mobilitätsmanager der Stadt Stolberg

Durchgehende Radroute statt Flickenteppich

Der gewonnene Platz soll auch für breitere Gehwege und neue Radwege genutzt werden. Radstreifen, separate Radwege oder Fahrradstraßen sind in Stolberg bislang die seltene Ausnahme. Das spiegelt auch das Mobilitätsverhalten der Anwohnenden wider. Nur magere drei Prozent der Wege wurden laut letzter Mobilitätsbefragung 2016 mit dem Rad zurückgelegt. „Mittlerweile sind es zwar deutlich mehr, aber wir stehen beim Ausbau des Radverkehrs noch am Anfang“, sagt Trocha.
Vor drei Jahren wurde ein Radverkehrsplaner eingestellt, der das bereits 2018 skizzierte gesamtstädtische Routennetz mit 18 Hauptrouten schrittweise umsetzen soll. „Das sind die wichtigsten Verbindungen für Radfahrer, um durch die Stadt zu kommen“, sagt Trocha. Sein Anspruch ist, jede dieser Routen stets komplett fertigzustellen. „Mir ist es lieber, nur drei Routen in Gänze zu bauen, als einen Flickenteppich zu produzieren. Schließlich wollen wir die Menschen aufs Rad bringen“, sagt er.
Eine der wichtigsten Verbindungen ist die Radroute, die in der Talachse parallel zum Fluss Vicht verläuft. Über eine Länge von rund sieben Kilometer verbindet sie die Industriestandorte am Stadtrand mit der Altstadt, den Geschäftsstraßen und dem Mühlener Bahnhof im Zentrum der Kupferstadt und führt dann weiter bis zum Hauptbahnhof am anderen Ende der Stadt. Diese Route ist für die Pendlerinnen, Anwohnerinnen attraktiv und sogar für Tourist*innen. Denn sie führt mitten durch die Fußgängerzone. Von dort sind es nur wenige Schritte hoch in die Altstadt mit ihren pittoresken Gässchen bis zur mittelalterlichen Burg.

Wenn alles nach Plan geht, wird in den kommenden Wochen der Gehweg um einen zweieinhalb Meter breiten Radweg erweitert.

Zweirichtungsradweg für die Talachse

In der Fußgängerzone unterhalb der Burg hat die Flut besonders gewütet. Als das Wasser abfloss, türmten sich dort bis auf Brusthöhe Tische, Stühle, Bretter und sonstiges Treibgut aus Holz, Metall und Plastik. Heute ist davon zwischen Geschenkladen und Goldschmiede nichts mehr zu sehen. Bunte Windspiele, Blumenkübel und kleinen Aufsteller locken die Pas-santinnen in die Läden. Aber weiterhin sind viele der umliegenden Ladenlokale verwaist. Ihre Schaufenster sind verbarrikadiert und dokumentieren mit frontfüllenden Fotos die Flutschäden. Dieser Teil der Talachse ist ein Lichtblick für die Stadtbewohn-erinnen. Seit dem Frühling verlegen hier Bauarbeiter Versorgungsleitungen im Erdreich. „Wenn die Fußgängerzone im Anschluss neu gepflastert wird, bekommt sie in der Mitte einen drei Meter breiten Zweirichtungsradweg“, sagt Haas und schiebt sein Gravelbike an Bagger und Baustellenbaken vorbei. Wenn alles nach Plan geht, wird das Teilstück der Radroute gegen Ende des Sommers fertig sein.
Im weiteren Verlauf des Tals wird die Fortsetzung des Zweirichtungsradwegs derzeit geplant. In der angrenzenden Rathausstraße gilt zwar bereits Tempo 30. Allerdings animiert die schnurgerade Straße Autofahrende dazu, deutlich schneller zu fahren. Zwischen den abgestellten Pkw am Fahrbahnrand und drängelnden Fahrzeugen am Hinterrad ist Radfahren dort momentan nur für hart gesottene Fahrradfahrende alltagstauglich. Wie die Flächen dort künftig verteilt werden sollen, diskutieren die Ratsmitglieder in den kommenden Wochen.
Auf dem letzten Drittel der Strecke Richtung Bahnhof ist die Planung schon deutlich weiter vorangeschritten. Noch in diesem Jahr soll der vorhandene Gehweg um einen rund zweieinhalb Meter breiten Zweirichtungsradweg erweitert werden. „Für die Radfahrer ist das ein echter Gewinn“, sagt Trocha. Vor der Flut mussten sie sich hier ebenfalls mit den Autofahrenden die Fahrspur teilen.
Der Zeitdruck für die Feinplanung der Teilabschnitte, der übrigen Routen und ihre Umsetzung ist immens. „Wir müssen viele große Projekte in kurzer Zeit planen und fertigstellen“, sagt Trocha. Für das kleine Team ist das ein Kraftakt, aber zugleich die einmalige Gelegenheit, die Alltagsmobilität in Stolberg in kurzer Zeit spürbar zu verändern. In der Regel können Planer*innen in ihrem Arbeitsleben stets nur einzelne Bereiche eines Stadtteils umplanen. „Wir dagegen bauen die gesamte Talachse um“, sagt der Mobilitätsmanager. Hilfreich ist, dass der Ausbau des Radverkehrs schon seit Jahren vorbereitet wurde.

Ein Fahrradparkhaus am Hauptbahnhof

Auf dem Bahnhofsvorplatz zeigt sich, wie Bürgermeister und Mobilitätsmanager den Radverkehr schon lange auf Zuwachs planen. Eine große Zahl überdachter Stellplätze und 36 abschließbare Fahrradboxen stehen hier zwischen Parkplatz und Bahnsteig. „Sämtliche Boxen sind vermietet und rund zwei Dutzend Radfahrer stehen auf der Warteliste“, sagt Trocha. Mit diesem Bedarf hatte bei der Fertigstellung 2016 noch niemand gerechnet. „Damals standen gerade mal zehn Räder am Bahnhof.“ Trotzdem ließ die Stadt im Rahmen eines Förderprojekts 16 Fahrradboxen neben den Gleisen aufstellen. Als die Nachfrage hoch blieb, sorgten weitere Förderprogramme für Nachschub. Der stetig steigende Bedarf an sicheren Abstellplätzen ist für Trocha ein wichtiges Signal Richtung Stadtrat: „Diese Entwicklung beweist, dass die Infrastruktur, die wir bauen, immer auch eine Nachfrage erzeugt“, sagt er. Der nächste Schritt ist bereits gemacht. Im kommenden Jahr soll am Bahnhof ein Fahrradparkhaus mit 100 Stellplätzen entstehen.
Viele ihrer Mobilitätsideen setzen Patrick Haas und Georg Trocha selbst auch im eigenen Alltag um. „Ich habe drei Kinder, trotzdem haben meine Frau und ich ‚nur‘ ein Auto, das ist selten in unserer Region“, sagt Bürgermeister Haas. Er nutzt den Wagen werktags kaum, sondern fährt mit seinem Gravelbike ins Büro und zu all seinen Terminen. Obwohl die Region bergig ist und die Anstiege mit bis zu zehn Prozent Steigung immer wieder knackig. Trocha nimmt für seine Termine lieber ein E-Bike aus der Dienstfahrzeug-Flotte. „Mit Motorunterstützung ist Radfahren selbst in Stolberg fast für jedermann möglich“, sagt er.

Sichere Radabstellanlagen gibt es in Stolberg sowohl am Mühlener Bahnhof in der Stadt (links) als auch am Hauptbahnhof am Stadtrand (rechts)

Mit Unternehmen autoarme Mobilität fördern

Dass Stolberg Alternativen zum Privatwagen für die Alltagswege braucht, finden mittlerweile auch einige der lokalen Unternehmen. „Junge Ingenieure aus Aachen oder Düren fragen deutlich seltener nach einem Dienstwagen als noch vor zehn Jahren“, sagt Trocha. Vielmehr wollen sie diese Strecken per Bus, Bahn und Rad zurücklegen. Das berichten ihm ortsansässige Arbeitgeber. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, brauchen sie Alternativen zum Auto. Trocha reagiert darauf. Im kommenden Jahr startet er mit 16 Arbeitgebern aus Stolberg ein Projekt im Rahmen von „ways2work“.
Diesen Wettbewerb hat die Landesregierung Nordrhein-Westfalen initiiert. Die Aufgabe ist, autoarme Mobilität auch in ländlichen abgelegenen Gewerbegebieten umzusetzen. Stolberg ist eine von 15 Kommunen, deren Projektidee gefördert wird. Diese sieht vor, dass ab 2024 eine neue Stadtbuslinie nebst Rufbusverkehr vier Gewerbegebiete ans ÖPNV-Netz anbindet. Außerdem werden an den Unternehmensstandorten und im Stadtgebiet Sharing-Stationen für E-Bikes installiert. An der Umsetzung ist neben der Stadt Stolberg das regionale Verkehrsunternehmen ASEAG beteiligt und der Bike-Sharing-Anbieter Velocity Aachen.
Für die Arbeitgeber ist das Risiko gering. „Die Unternehmen zahlen für die Station mit sechs E-Bikes an ihrem Standort einen Eigenanteil von 8000 Euro“, sagt Trocha. Bei Bedarf kann die Flotte auch auf 12 oder 18 Räder erweitert werden. Die Resonanz bei den Unternehmen ist hoch. Anfang August waren 16 Arbeitgeber mit rund 1900 Mitarbeitern in Stolberg bei „ways2work“ dabei, Tendenz weiterhin steigend.

„Die Autos sollen in der Kernstadt nicht mehr überall am Fahrbahnrand abgestellt werden, sondern nur noch dezentral.“

Patrick Haas
Bürgermeister der Stadt Stolberg

Stadtbus im 15-Minuten-Takt

Die Mobilitätsstationen, die neue Buslinie und das Rufbussystem sind ein Vorgeschmack auf das neue Stadtbussystem, das die Stadtregierung in ein paar Jahren in der Kernstadt ausrollen will. Die neuen Linien sollen nicht mehr ausschließlich auf den Hauptstraßen unterwegs sein, sondern in die Wohnstraßen hineinfahren und dort in kurzen Abständen halten. Der Fußweg zur nächsten Haltestelle soll maximal 150 Meter betragen. „Momentan sind die Haltestellen oft 400, 600 oder 800 Meter entfernt und haben eine Steigung von zehn Prozent, das ist unattraktiv“, sagt Trocha. Acht Stadtbuslinien soll es geben, die im 15-Minuten-Takt zwischen 5 und 23 Uhr die einzelnen Haltestellen ansteuern. „Das Wichtigste ist der Takt, Takt, Takt!“, sagt Haas. Nur wenn die Menschen keinen Fahrplan benötigten und sich auf kurze Wartezeiten verlassen könnten, steigen sie um, sagt er. „Entscheidend ist, dass alle Busse gleichzeitig am Stadtbahnhof, dem Mühlener Bahnhof, ankommen und die Busse auch gleichzeitig abfahren“, sagt Trocha. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass jeder Fahrgast jeden Bus erreicht.

Bus und Bahn als Rückgrat für Alltagsmobilität

„Für uns sind der Bus und die Regionalbahn das Rückgrat der Alltagsmobilität“, sagt Trocha. Deshalb haben sie künftig Vorfahrt, vor dem Radverkehr und dem Autoverkehr. „Damit die Busse in die Wohngebiete überhaupt hineinfahren können, muss das Parken am Fahrbahnrand in den engen Straßen teilweise jedoch neu strukturiert werden“, sagt er. Im Frühjahr wurden in Stolberg bereits die potenziellen Routen abgefahren und angepasst. In den kommenden Wochen entscheidet der Stadtrat über die Pläne.
Der Ausbau des Stadtbussystems ist wie der Ausbau des Radverkehrs ein Projekt für die nächsten Jahrzehnte. Läuft alles nach Zeitplan, könnten laut Trocha zwei Buslinien im Jahr 2025 starten, sofern die Landesregierung die Finanzierung übernimmt.
Die Aufgaben in Stolberg sind riesig, der Kraft- und Arbeitsaufwand immens. Sämtliche Ratsmitglieder arbeiten ehrenamtlich. In den kommenden Monaten stellen sie die Weichen, wie sie und ihre Enkel zukünftig mobil sein werden. Wenn sie ihre aktuellen Vorhaben umsetzen, kann Stolberg in den kommenden Jahren zum Vorreiter werden und zeigen, wie eine nachhaltige Alltagsmobilität in ländlichen Kommunen aussehen kann. Bei allen Vorhaben sitzt dem Team um Haas und Trocha die Zeit im Nacken. Der Wiederaufbaufonds der Landesregierung und des Bundes ist momentan bis 2030 begrenzt.
Der Umbau der Mobilität ist dabei längst nicht die einzige Herausforderung. Gegen eine weitere Jahrhundertflut werden all die neuen Maßnahmen nichts ausrichten können. Das weiß Haas genau. „Das Wasser muss zukünftig weit vor unserer Stadt aufgehalten werden“, sagt der Bürgermeister. Ideen für große Rückhaltebecken inmitten grüner Wiesen weit vor der Stadt existieren bereits, die Pläne dafür sind noch nicht verabschiedet.


Bilder: Stadt Stolberg, Georg Trocha, Andrea Reidl

Über wenige Punkte ist man sich heute im Mobilitätssektor so einig wie darüber, dass der Einsatz von Lastenrädern eine wesentliche Bedingung für ein Gelingen der Verkehrswende ist. Aber welche Räder wo und wie einsetzen? Der Antwort dazu hat sich das Beratungsunternehmen Cargobike.Jetzt verschrieben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


165.000 – so viele Lastenräder mit elektrischer Unterstützung sind laut Zweirad-Industrie-Verband 2022 verkauft worden, ein Zuwachs von 37 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Jemand, den diese Zahl nicht wundert, ist Martin Seißler. „Wir bemerken das direkt bei unseren Projekten. Im privaten Bereich ist das Lastenrad ein echter Selbstläufer geworden“, sagt der Geschäftsführer der Cargobike.Jetzt GmbH. Und auch die Kommunen hätten gemerkt, dass eine Verkehrswende – oder zumindest die Entlastung der Innenstadt – nicht ohne die großflächige Nutzung von Cargobikes ginge.
Die Aufgaben von Cargobike.Jetzt drehen sich ausschließlich um Lastenräder und ihren Sinn und Zweck als Transportmittel. Entsprechend sieht sich das Unternehmen nicht einfach nur als Berater rund ums Cargobike. „Wir sind eine Verkehrswende-Agentur“, so Seißler. Und dann hebt er an zu erklären und man merkt schnell: Das ist sein Thema.

Die Cargobike Roadshow ist ein Format, mit dem Familien und andere Zielgruppen niederschwellig ein Lastenrad antesten können.

Der Glaube an das Lastenrad

Allein in Europa gibt es etwa 200 Lastenradhersteller. Doch wer bringt Ordnung in dieses riesige Angebot? Ende 2020 gründete Martin Seißler mit Arne Behrensen die heutige GmbH „mit dem Ziel, die Verkehrswende mit dem Cargobike voranzubringen“. Und zwar, indem man den Menschen in allen Bereichen hilft, sich in dem Angebot an Lastenrädern zurechtzufinden. Da geht es zunächst um den bereits angesprochenen privaten Bereich, aber auch um den
gewerblichen – Cargobikes für Unternehmen in allen möglichen Variationen – und um den öffentlichen Sektor. „Was wir damals, als wir anfingen, vor allem brauchten, war Netzwerk-Erfahrung“, erklärt Seißler, „und die hatten wir beide.“ Mittlerweile ist aus dem Duo ein Unternehmen mit zwölf Angestellten und einer Vielzahl von Projekten geworden, die sich alle ums Lastenrad und seine Nutzung drehen.
Das Unternehmen sitzt am Franz-Mehring-Platz in Berlin, im Gebäude, in dem auch die sozialistische Tageszeitung „Neues Deutschland“ untergebracht ist. Mehr großstädtisches Ambiente geht kaum, und das passt für eine Verkehrswende-Agentur. Zu Pandemie-Zeiten war hier, wie fast überall, Homeoffice angesagt. „Jetzt ist wieder viel los im Büro in Berlin“, sagt Mitarbeiterin Kirsten Havers. Wie es sich für eine moderne Agentur gehört, läuft trotzdem viel digital, und die Arbeitsplätze werden flexibel zugeteilt.
Kirsten Havers ist bei Cargobike.Jetzt für die Projektkoordination zur gewerblichen Lastenrad-Nutzung zuständig – ein Feld, das noch viel beackert werden muss, wie wir noch sehen werden. Sie hat unter anderem beim BUND zu Themen wie Güterverkehr gearbeitet und ist seit 2021 bei Cargobike.Jetzt.

Bei der Cargobike Roadshow erklären Expert*innen die verschiedenen Modelle und ihre Vor- und Nachteile und bauen damit auch viele Vorurteile ab.

Lastenrad-Streetworker

Das bekannteste Projekt des Unternehmens ist die Cargobike Road-show als Testformat für Privatkunden. Kurztitel: Drei Lastenradexpert*innen und zwölf Lastenräder erobern eine Stadt. Dieses Jahr passiert das 53-mal in Deutschland. „Und diesmal ist die Roadshow erstmals in den östlichen Bundesländern unterwegs“, erzählt Seißler.
Die Organisation der Roadshow läuft über die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundliche Städte in Nordrhein-Westfalen (AGFS). Die Kommunen können sich bei der AGFS als Station der Road-show bewerben. „Die meisten Menschen nutzen das Angebot, weil die jeweilige Stadt noch keine Händler vor Ort hat“, so Seißler. „Sie wollen oft nur kurz vorbeischauen, sind nach drei Stunden immer noch da und haben Räder getestet.“ Und oft kaufen sie kurz danach ein Rad.
„Das Gewerbe ist da viel zögerlicher“, erklärt Seißler, „75 Prozent der Lastenräder dürften heute im privaten Einsatz sein, nur 25 Prozent im gewerblichen.“ Die Hersteller stellen die Räder zur Verfügung und sind Mit-Auftraggeber. „Wir sehen uns dabei als Kuratoren, stellen einen möglichst breiten Fuhrpark zur Verfügung.“ Schließlich sind auch die Interessenten bunt gemischt: Familien mit Kindern, Menschen, die ihren Einkauf transportieren, Menschen, die mit ihrem Hund mobil sein wollen. Schöner Nebeneffekt: „Die Entscheider in den Kommunen nehmen gern teil und lassen sich auf den Lastenrädern fotografieren.“

Lastenmobilität für Unternehmen: „Flottes Gewerbe“

Ein Punkt wird betont, wenn man mit dem Team spricht: Die Beratung der Unternehmen wie der privaten Lastenrad-Interessierten ist immer herstellerneutral. „Es ist uns enorm wichtig, dass das so ist – und die Interessenten und Interessentinnen das auch so wahrnehmen. Wir wollen die Kunden so beraten, dass sie oder er das genau passende Cargobike findet, und das hat zunächst nichts mit dem Hersteller zu tun“, erklärt Seißler.
Das gilt auch bei gewerblicher Nutzung. Um den Abbau des Rückstands der Nutzung im gewerblichen Bereich kümmert sich Projektleiterin Kirsten Havers mit dem vielleicht zweitwichtigsten Projekt Flottes Gewerbe. Das ist ein Projekt, das zusammen mit Städten organisiert wird. „In der Regel wenden sich die Kommunen an uns“, erklärt Havers. „Auch die IHK, die Handwerkskammer und Kreishandwerkerschaft sind oft involviert, sodass wir viele Unternehmen hierbei erreichen können.“
Lokale Unternehmen können sich ebenfalls für einen Lastenrad-Test innerhalb ihres Unternehmens bewerben. „Wir wählen dann acht Unternehmen pro Stadt aus. Dabei achten wir auf eine möglichst breite Streuung.“ In einer offiziellen Auftaktveranstaltung bekommen die Unternehmen ihre Räder übergeben, die sie dann fünf Wochen lang testen. Am Aktionstag gibt es zudem für interessierte Unternehmen die Möglichkeit, Räder vor Ort auf einem Parcours zu testen und sich beraten zu lassen. „Ganz wesentlich sind die Beratungsgespräche. Wir lernen unglaublich viel von den Unternehmen, auf das wir wieder mit den richtigen Angeboten reagieren können – wie ist die Parksituation in der Stadt, wie die Verkehrssituation, gibt es Probleme der Unternehmen, weil ihre Auszubildenden keinen Führerschein haben et cetera.“ Außerdem wird ein Abschlussbericht erstellt und später eine Evaluierung, in der festgehalten wird, welches Unternehmen tatsächlich dann auch in ein Lastenrad investiert hat. „Die Städte haben ein starkes Interesse an weniger belastendem gewerblichen Güterverkehr“, so Havers. Daneben läuft gerade auch das Projekt „Ich entlaste Städte“ an, das – mit anderen Partnern – ähnlich funktioniert (siehe www.lastenrad-test.de). Ein Ziel des Flotten Gewerbes ist auch, über den Kontakt zu Händlern und Servicestellen Grundlagen für Wartung und Instandhaltung der Räder zu schaffen. Denn erst wenn Fragen eines Netzwerkes dafür geklärt sind, können Unternehmen Vertrauen gewinnen in eine erfolgreiche Nutzung von Lastenrädern statt Lieferwagen auf der Last Mile.
Am schwierigsten ist dabei sicher die Einbeziehung von Logistik-Unternehmen, auch wenn es dazu schon erfolgreiche Beispiele gibt – wie etwa die Dreiräder von UPS. Hier spielen vielfältige Anforderungen eine Rolle – unter anderem braucht man auch ein System von Mikrodepots. Dazu müssen viele Partner zusammenwirken.

„Wir wollen die Kunden so beraten, dass sie oder er das genau passende Cargobike findet, und das hat zunächst nichts mit dem Hersteller zu tun.“

Martin Seißler, Cargobike.Jetzt

Martin Seißler hat die Entwicklung der Lastenradnutzung in der vergangenen Dekade an vielen Stellen mitgeprägt. Als Mitgründer und Geschäftsführer von Cargobike.Jetzt will er nun dieser Fahrradgattung zu noch mehr Popularität verhelfen, denn „wir haben wenig Zeit, unsere Städte umzubauen – und es gibt so viele Gründe, auf kleinere und energieärmere Fahrzeuge umzusteigen.“

Leihen und Laden

Ein weiterer wichtiger Aufgabenbereich von Cargobike.Jetzt sind Konferenzen und Fachvorträge. Bei der zweitägigen Nationalen Radlogistik-Konferenz – 2023 am 19. und 20. September in Darmstadt – ist das Unternehmen Organisator, der Radlogistik-Verband Deutschland Schirmherr. Hier werden am ersten Tag Exkursionen zu Orten der Radlogistik veranstaltet, am zweiten Tag trifft man sich zu Workshops. Eine weitere wichtige Konferenz ist die Cargo Bike Sharing Europe in Köln. Alexander Lutz, der den Vertrieb Kommunal bei Cargobike.Jetzt leitet, arbeitete in diesem Bereich und auch er sieht sich vor allem als Netzwerker für das Thema Lastenrad. Er baut die Kontakte zu den Kommunen aus, er weiß: „Das Lastenrad bietet für alle Beteiligten viel größere Chancen, die Verkehrswende aktiv zu beschleunigen. Und es ist ein erster Schritt in die lebenswerte Stadt!“
Als besonders wichtig zum Einstieg in die Verkehrswende sieht Lutz für die Kommunen das Lastenrad-Sharing. „Das liegt uns sehr am Herzen, denn Sharing ist eigentlich so eine Art Einstiegsdroge in die Lastenradnutzung“, sagt er. „Es macht das Rad finanzierbar auch für untere Einkommen und es ist wirklich im Sinne der öffentlichen Daseinsvorsorge. In Köln fand im Mai die Cargobike Sharing Europe im Rahmen der Messe Polis Mobility statt. Lutz kann Beispiele gelungener Sharing- und Leih-Projekte herunterrasseln. Begeistert ist er vom „Stuttgarter Rössle“: Hier kann man sich für mehrere Jahre ein Lastenrad bereits ab 20 Euro (mit regionaler Ermäßigungskarte) im Monat leihen. „Damit schafft man es, den gut Situierten zumindest den Zweitwagen abspenstig zu machen“, sagt er. „Besonders wichtig“, sagt er, „ist auch die Kooperation mit dem Wohnungsbau.“ Stellplatz-Satzungen oder andere Regelungen, bei denen für Neubauten Stellplätze für Lastenräder oder allgemein alternative Mobilität mit eingeplant werden, sorgen quasi für integrierte Umstiegsvoraussetzungen in die schonende Mobilität.

Studien und Servicedienste für Cargobiker in spe

Eine weitere Aufgabe, der sich das Unternehmen widmet, sind Studien, für die Cargobike.Jetzt mit Hochschulen und anderen Partnern zusammenarbeitet. Für eine Hamburger Behörde hat man zusammen mit den Universitäten Wuppertal und Magdeburg über den Infrastruktur-Bedarf von Lastenrädern insbesondere beim Einsatz in der Last-Mile-Logistik gearbeitet. Eine andere Studie behandelte die Potenziale und Wirkungen von Mikro-Depots in Berlin.
„Cargobike.Jetzt ist nicht nur durch die Roadshow direkt für die Endverbrauchenden interessant. Auf der Homepage findet man eine ausführliche Beratung nach Ansprüchen und Nutzung von Lastenrädern und – unser beliebtester Anlaufpunkt – die Kaufprämien-Übersicht für Deutschland und Österreich“, so Lutz. Aber die Homepage ist unter dem Menüpunkt „Tipps“ ohnehin eine Fundgrube: Vom Marktüberblick über Rechtliches zum Personentransport bis hin zur Radwegnutzung von Cargobikes oder den Transport in der Bahn wird alles, was im Zusammenhang mit diesen Rädern Fragen aufwerfen kann, behandelt.
Darauf setzen auch viele, die das Cargobike publik machen und in die moderne Mobilitätsentwicklung implantieren wollen. So auch die Leitmesse der Fahrradbranche, die Eurobike 2023. Sie hat Cargobike.Jetzt als Partner für eine groß angelegte Cargo Area gewonnen.

Prominenter Beirat

Der Beirat von Cargobike.Jetzt liest sich wie ein Who-is-who der New Mobility.

Arne Behrensen

ist Mitgründer von Cargobike.Jetzt. Seit Januar dieses Jahres ist er der politische Lastenrad-Kopf bei Bundesverband Zukunft Fahrrad.

Swantje Michaelsen

ist Bundestagsabgeordnete für die Grünen. Sie bearbeitet vor allem Mobilitäts- und Verkehrsthemen.

Dr. Tom Assmann

ist Vorsitzender des Radlogistik-Verbands Deutschland und arbeitet zudem in der Erforschung und Entwicklung zu urbanen, nachhaltigen Logistiklösungen.

Johannes Reichel

ist Ressortleiter Transport bei der Zeitschrift Logistra.

Katja Diehl

hat mit „Autokorrektur“ einen Spiegel-Bestseller über die Mobilitätswende geschrieben. Sie ist dafür auch mit dem deutschen Wirtschaftsbuchpreis ausge-zeichnet worden.


Bilder: Andreas Lörcher, CBRS, Andreas Domma

Verkehrswende, Gesundheit und Lebensqualität in der Stadt: Mit einem breiten Mix an Maßnahmen geht Wien die Herausforderungen der Zukunft in Richtung Klimaneutralität entschlossen an. Das Fahrrad spielt dabei eine immer wichtigere Rolle. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Klimaschutz, Ressourcenschonung sowie Nachhaltigkeit stehen auf der Agenda der neuen Smart-Klima-City-Strategie und des Wiener Klima-Fahrplans. Um die Stadt bis 2040 CO2-neutral zu machen, investiert man auch in eine zeitgemäße Mobilität: Seit diesem Jahr sind jährlich 20 Millionen Euro mehr im Topf für Radinfrastrukturprojekte. Noch sind die Kfz-Verbrenner im Verkehr für rund 43 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Dabei erledigen zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger der 1,9-Millionen-Metropole ihre Alltagswege längst mit alternativen Verkehrsmitteln. 42 Prozent der Wiener Haushalte besitzen kein Auto.
Schon 2018 beobachtete eine Studie der Universität Wien den Rückgang des Auto-Pendelns und einen konstant hohen Anteil an Fußgänger*innen. Denn traditionell ist Wien eine Stadt des ÖPNV, der Öffis, wie man hier sagt. Im Pandemiejahr 2020 ist die Fahrgastzahl allerdings um mehr als zehn Prozentpunkte auf 27 Prozent gesunken. Das zeigt eine Befragung im Auftrag der Wiener Linien. Der Anteil des MIV am Modal Split beträgt weiterhin ebenfalls konstant 27 Prozent. Bei der Fortbewegungsart der Stunde triumphieren die Flaneure: Ihr Anteil stieg von 28 auf 37 Prozent. Da ist es konsequent, dass sich die Kulturstadt des Gehens eine eigene Fußwegebeauftragte gönnt.

Wien ist die Stadt des ÖPNV, der Fuß- und Radwege. Neueste Zählungen belegen einen Fahrrad-Boom.

Das Fahrrad boomt wie nie zuvor

Die anderen wichtigen Trendsetter sind die Wiener Radfahrer*innen: Im Modal Split 2020 liegt ihr Anteil noch bei neun Prozent (plus 2). Angesichts neuer Zahlen aus 2021 spricht die Wiener Mobilitätsagentur von einem Rekordjahr für den Radverkehr. An den automatischen Zählstellen wurden 9,3 Millionen Radfahrerinnen und Radfahrer registriert. Seit 2019 stieg ihre Zahl um 13 Prozent. Deutlich zeigt sich zum Beispiel an der Verbindung zwischen Sonnwendviertel, Hauptbahnhof und Zentrum, der Argentinierstraße, dass Pendlerwege zunehmend mit dem Velo erledigt werden. Dort verdoppelte sich die Zahl der Radfahrenden von 2013 bis 2021 auf über 962.000.

Zukunftsprojekt Verbindung Praterstraße: Radfahrende nutzen hier künftig eine Spurbreite von insgesamt fast sechs Meter Breite.

Kühle, gendersensible und sichere Straßen

Zu den Instrumenten im Klimafahrplan gehören Verkehrsberuhigung, Sicherheit („Vision Zero“), zunehmende Einführung von Tempo 30 vor allem in Wohngebieten sowie die Realisierung von Superblocks, die in Wien „Supergrätzel“ heißen. 25.000 neue Stadtbäume sollen im Straßenraum Fahr- und Parkstreifen ersetzen. Und weil mit einer Stadtausdehnung von fast 30 Kilometern die Kombination von Fahrrad und ÖPNV wichtig ist, soll die Fahrradmitnahme im ÖPNV erleichtert werden. Derzeit dürfen Fahrräder in der U-Bahn nur außerhalb der Stoßzeiten und an Wochenenden ohne zusätzliche Kosten transportiert werden.
Gegenwärtig weist die Donaume-tropole 168,6 Kilometer Radwege und 41,3 Kilometer Radfahrstreifen aus. Das Radfahren gegen Einbahnstraßen ist auf einer Länge von 321,4 Kilometer erlaubt – Tendenz steigend. Zudem verdoppelte sich seit 2010 die Zahl der öffentlichen Radabstellplätze auf derzeit rund 50.700. An der Verdichtung des noch lückenhaften Wiener Hauptnetzes wird gearbeitet. Die Qualität befindet sich im Umbruch hin zu breiteren Spuren sowie der baulichen Trennung vom motorisierten Verkehr. Jüngstes Beispiel ist der Umbau der Praterstraße zu einem sechs Meter breiten Fahrrad-Highway.
Ausdrücklich soll der Straßenraum neu verteilt und umgestaltet werden, nach dem neuen Klimapapier „grüner, schattiger und kühler, gendersensibel, sicher und alltagstauglich und mit mehr Platz für aktive Mobilität.“

„Die Mariahilfer Straße zeigt, dass man auf einer staugeplagten Straße den Kfz-Verkehr komplett rausnehmen kann.“

Martin Blum, Stadt Wien

Öffentliche Wasserspender, Sprühnebel und verkehrsberuhigte Viertel sorgen für mehr Stadt- und Lebensqualität.

Von der Begegnungszonebis zum Supergrätzl

Wie Straßen im Handumdrehen klimafreundlicher werden und zur sozialen Begegnungszone avancieren können, bewies Wien bereits mit Pop-up-Aktionen wie temporär autofreie, „coole Straßen“ (s.Veloplan 4/20): Dafür bringen Anwohner Liegestühle, Planschbecken oder Grünpflanzen. Die Stadt sponsert zum Beispiel Wasserstelen, deren Sprühnebel erfrischen. Vier Straßen dieser Aktion wurden 2021 dauerhaft verkehrsberuhigt. Künftig wird das Projekt mit weiteren Plätzen, allerdings ohne für den Autoverkehr gesperrte Straßen fortgesetzt.
Seit 2013 gibt es in Wien Begegnungszonen, in denen Auto-, Rad- und Fußverkehr gleichberechtigt sind. Höchstgeschwindigkeit hier: Tempo 20. Berühmt wurde der Umbau der Mariahilfer Straße. Wie der Standard Mitte 2020 berichtete, mauserte sie sich in der öffentlichen Wahrnehmung von der befürchteten „Berliner Mauer mitten in Wien“ zum lebendigen Stadtzentrum. An einem durchschnittlichen Wochentag flanieren dort mehr als 50.000 Passanten, im Jahr kommt man auf 17 Millionen. Die Wiener Wirtschaftskammer (WKW) schwenkte um vom Opponenten zum Fürsprecher verkehrsberuhigter Zonen. Der Wiener Radverkehrsbeauftragte Martin Blum resümiert: „Die Mariahilfer Straße zeigt, dass man auf einer staugeplagten Einkaufsstraße mit beiderseitigen Parkstreifen den Kfz-Verkehr komplett rausnehmen kann. Es funktioniert trotzdem.“
Von der Mariahilfer Straße aus wurden benachbarte Bezirke verkehrsberuhigt. Mehr als ein Dutzend solcher Zonen finden sich heute in Wien. Mit der Thaliastraße soll bis 2025 auch die wichtigste Einkaufsstraße Ottakrings als „Klimaboulevard“ in neuem Glanz erstrahlen: Auf einer Länge von 2,8 Kilometer werden Bäume gepflanzt, der Asphalt reduziert und mehr Aufenthaltsqualität geschaffen.
Nach der Superblock-Pilotstudie im Volkertviertel soll dort 2022 ein Supergrätzl umgesetzt werden. Das Konzept nach Vorbildern aus Barcelona fasst mehrere Wohnblocks zu verkehrsberuhigten Bereichen zusammen, in denen der Durchgangsverkehr unterbunden wird. Auch für das Supergrätzl Josefstadt gab die zuständige Bezirksvertretungssitzung grünes Licht. Vor der Umsetzung sollen die Wünsche der Bevölkerung in die Planung integriert werden.

Weniger Pendelverkehr, höhere Lebensqualität

Nach Feierabend noch viele Extrarunden drehen, um das eigene Auto abzustellen? Heute wünscht sich kaum jemand diese Situation vor der „Parkpickerl“-Einführung in den 1990er-Jahren zurück. Weniger Lärm, Staub und CO2-Ausstoß erhöhte die Lebensqualität in den Quartieren und sorgte für mehr Platz für Flaneure und Radfahrende. Nach Umfragen der Stadt Wien stieg die Akzeptanz in den Bezirken nach der Einführung von 46 auf 67 Prozent. Schon damals wurden im Westen Wiens bis zu 8.000 Pkw-Fahrten pro Werktag vermieden. Ab März 2022 gilt in ganz Wien eine Kurzparkzone, in der man nur als „Hauptwohnsitzer“ samt „Parkpickerl“ (Parkschein) seinen Pkw parken darf. Die Kosten betragen zehn Euro pro Monat. Die Maßnahme verhindert einen Verdrängungseffekt auf parkscheinfreie Bezirke und zielt auf eine Reduktion des einpendelnden Pkw-Verkehrs. Wer nicht in Wien wohnt, muss jetzt auf eine Garage ausweichen – oder löst einen Kurzparkschein. Hinzu kommen Zonen zur Reduktion des „Binnenverkehrs“ innerhalb der Bezirke durch Preis- oder Berechtigungsstaffelungen. Alle Einnahmen daraus fließen zweckgebunden in den Umweltverbund.

Wien ersetzt die alten „City-Bikes“ durch ein flächendeckendes Bikesharing-Modell für den multi-modalen Wegemix. Privatleute können kostenlos Lastenräder leihen.

Stadträume mit dem Privatauto okkupieren ist nicht kostenlos: Das Wiener Parkpickerl richtet sich besonders gegen Pendlerverkehre.

Sympathische Lufttankstellen. Neben Bikes werden hier auch Kinderwagen oder Rollis aufgepumpt.

Breite Sharing-Palette

Das Wiener Bikesharing-System befindet sich im Wechsel: „Das Citybike-Modell war international Vorbild für städtische Leihradsysteme, von Paris bis Sevilla oder Brisbane. Nach 18 Jahren erfolgt jetzt der Startschuss für ein modernes und flächendeckendes Bikesharing-Modell“, sagt Wirtschaftsstadtrat Peter Hanke (SPÖ). Im April startet „WienMobil Rad“ mit den ersten 1.000 Fahrrädern. Bis zum Vollbetrieb im Herbst dieses Jahres werden es 3.000 sein. 185 physische Stationen sind für Leihräder reserviert und über die „WienMobil“-App zu finden. 50 digitale Stationen können temporär für Events eingerichtet werden. Hanke: „Das neue Bikesharing-Konzept bringt in Zukunft doppelt so viele Räder wie bisher, viele neue Standorte und das in allen 23 Bezirken.“
Kombiniert werden die Rad-Sharing-Stationen mit den „WienMobil“-Stationen. Sie bieten den Mobilitäts-Mix aus Öffis und Leihangebote für E-Autos, Scooter und Bikes. Aktuell gibt es neun Stationen. 100 sollen es bis 2025 sein. Bisher wurde an den WienMobil-Stationen Platz für 12 E-Autos, 56 Scooter und 36 Mopeds zum Ausleihen, 5 Radservicestationen sowie 15 Radboxen zum sicheren Abstellen von Fahrrädern geschaffen. Wichtig: Rund zwei Drittel der geplanten WienMobil-Stationen werden außerhalb des Gürtels und über der Donau entstehen. So werden Außenbezirke mit weniger dicht besiedelten Gebieten in die umweltfreundliche Mobilität einbezogen.
Ähnliches gilt für das städtische Regelwerk für E-Scooter. Für eine multimodale Wegekette sollen Anbieter eine gleichmäßige Versorgung nicht nur in der City, sondern auch in Außenbezirken berücksichtigen. Nach Angaben der Stadt werden rund 4.000 frei stehende Leih-E-Scooter genutzt. Die E-Roller sind Fahrrädern gleichgestellt, die auf Radwegen sowie in Begegnungszonen gefahren werden. Fünf Anbieter sind derzeit dabei. Plus die neuen „Wheels“-Fahrgeräte – flexible E-Bikes mit Fußrasten statt Pedale.

Lastenräder als Teil des Alltags sichtbar

Als klimaschonendes Kindertaxi oder für den Alltagstransport beim Shopping können Wiener*innen Lastenräder leihen. Das Ausborgen eines Grätzlrads ist kostenlos; reserviert wird telefonisch oder per E-Mail. Martin Blum betont den nachhaltigen Aspekt des Projekts: „Das Grätzlrad bewirkt, dass der klimaschonende Transport mit Lastenrädern Teil des städtischen Alltags wird. Einerseits sind die Transportfahrräder in der Stadt sichtbar, andererseits werden Menschen motiviert, auf Cargobikes umzusteigen.“ Das bestätigt auch eine Evaluierung des Projekts im Jahr 2019. Demnach spricht das Angebot eine große Zahl von Personen an, die erstmals ein Transportrad nutzten. Fazit: Der überwiegende Teil möchte zukünftig wieder ein Lastenrad nutzen.

Vorbild bei Radfahrkampagnen

Auch unscheinbare „Gimmicks“ machen Stadtradeln attraktiver. So hat die Mobilitätsagentur Wien an zehn wichtigen Radverkehrsverbindungen öffentliche Luftpumpen aufgestellt. Eine befindet sich am Praterstern, unweit der Haustür des Radverkehrsbeauftragten: „Fahre ich dort vorbei, sehe ich häufig Radfahrende ihre Reifen aufpumpen. Das sind kleine Dinge, die oft vergessen, aber gerne angenommen werden.“ Selbstverständlich für die Wiener Fahrradstadt ist eine schicke Webpräsenz (fahrradwien.at) mit Radwegen, Routenplaner, Fahrradgeschäften und Leihstationen.
Als Wien auf dem Copenhagenize Index 2019 unter 115 Mitbewerbern auf Platz neun hinter Paris landete, attestierte die dänische Agentur der Stadt Vorbildfunktion für andere Städte in Sachen Radverkehrskampagnen. Auffallend wendet sie sich an Ein- und Umsteiger. So porträtierte die 2018er-Kampgane #warumfährstDUnicht? lokale Testimonials, die ihre Motivation zum Radfahren im Alltag aufzeigen. Dabei ist es kein Zufall, dass die Kampagne Motive wie Individualität und Freiheit triggert – aus der Autowerbung gut bekannt. Martin Blum: „Für neue Zielgruppen ist es wichtig, andere Attribute anzusprechen. So haben wir uns beim Radfahrmarketing einiges von der Autowerbung abgeguckt.“ Die jüngste Kampagne #gofuture setzt diesen lebensbejahenden Impuls fort: „Lust auf Glücksgefühle? Fahr auch im Winter Fahrrad und geh zu Fuß. So tust du dir und der Stadt etwas Gutes.“  


„Stadt funktioniert auch anders“

Veloplan-Interview mit Martin Blum, Radverkehrsbeauftragter der Stadt Wien

Wie sehen die Herausforderungen aus bei der Fahrradinfrastruktur?
Mit 27 Millionen Euro pro Jahr gibt es derzeit in Wien so viel städtisches Budget für den Radwegebau wie nie zuvor. Dabei stehen wir heute vor zwei Herausforderungen: Einerseits das Radwegenetz, das etwas in die Jahre gekommen ist, was die Breite anbelangt. Zweitens: Die Lücken im Radverkehr schließen, sodass die Wege durchgängig sind. Es hat unterschiedliche Planungsparadigmen gegeben. Ende der 1990er- bis 2000er- Jahre war das Mitfahren im Fließverkehr Thema, Stichwort „Vehicular Cycling“. Dann kam der Radfahrstreifen, der in Wien „Mehrzweckstreifen“ heißt. Der darf auch vom Auto genutzt werden. Mittlerweile geht es klar in die Richtung: auf Hauptstraßen gute, getrennte und ausreichend breite Radwege. Auf Nebenstraßen verkehrsberuhigte Bereiche, Begegnungszonen oder Fahrradstraßen.
Seit zwei, drei Jahren gibt es immer mehr Fahrradstraßen. Oder „fahrradfreundliche Straßen“, wie wir sie auch nennen. Das ist ein Spezifikum: Die Fahrradstraße in Österreich ist rechtlich streng gefasst. Da dürfen Autos, außer zufahrende Anliegerverkehre, überhaupt nicht bis zur nächsten Kreuzung durchfahren.

Was macht Wien bei Radfahrkampagnen anders als andere Städte?
Natürlich ist das Fahrrad das klimaschonendste Fahrzeug in der Stadt. Aber wer aus Umweltmotiven fährt, nutzt sowieso schon das Fahrrad. Für neue Zielgruppen ist es wichtig, andere Attribute anzusprechen. So haben wir uns beim Radfahrmarketing einiges von der Autowerbung abgeguckt. Und wir haben uns angeschaut, was das Radfahren in der Stadt ausmacht. Das sind im Wesentlichen die Themen Freiheit und Individualität. Radfahren ist praktisch und flexibel. Der Fehler wird oft gemacht, dass man zu sehr den Sicherheitsaspekt anspricht. Aber es geht um diese Lebensfreude: Man bewegt sich wie auf einer Bühne durch die Stadt, zeigt sich und erlebt die Stadt hautnah mit allen Sinnen. Das alles sollte zum Ausdruck kommen, will man neue Zielgruppen ansprechen.

Wie integriert die Donau-Metropole neue Sharing-Anbieter für Mikromobilität?
Wir haben relativ früh ein Regulativ gefunden: Wir begrenzen die Scooter mit einer Verordnung mengenmäßig pro Anbieter. Zudem verpflichten sich die Scooter-Betreiber dazu, sich in den Bezirken unterschiedlich aufzustellen. Das heißt: Sie müssen auch einen bestimmten Anteil in äußeren Bezirken aufstellen und nicht nur in der City. Zudem braucht es gewisse Regeln, damit man beim Zufußgehen nicht darüber stolpert. So ist auf Gehsteigen, die schmaler sind als vier Meter, das Abstellen der Scooter nicht gestattet.

Welche Bedeutung besitzt die Begegnungszone in der Mariahilfer Straße?
Veränderungen sind oft kaum vorstellbar. Gibt es ein Umbauprojekt, kommt es zu einem Aufschrei und Vorbehalten. Die Mariahilfer Straße zeigt, dass man auf einer staugeplagten Einkaufsstraße mit beiderseitigen Parkstreifen den Kfz-Verkehr komplett rausnehmen kann. Es funktioniert trotzdem – und zwar auf 1,6 Kilometer Länge. Die Menschen haben einfach andere Fortbewegungsarten genutzt. Und die Straße boomt mehr als vorher. Das zeigt: Stadt funktioniert auch anders.

Welche Projekte packt die Verkehrsplanung als Nächstes an?
Große Projekte, wo es in Richtung zukünftige Stadtgestaltung und Mobilität geht, betreffen die Flächenkonkurrenz einzelner Verkehrsmittel. Dazu gehört das aktuelle Projekt in der Praterstraße. Ein Boulevard, wo die Radwegbreite – beide Seiten zusammengezählt – mehr als sechs Meter betragen wird. Radwege an Hauptachsen sind wichtig, weil sie zeigen, wie komfortabel Radfahren sein kann, wenn die entsprechende Qualität da ist. Da gibt es dann den Ruf nach mehr. Gerade wenn es um getrennte Radwege geht, heißt es: „Den wollen wir jetzt auch an der anderen Straßenseite.“ Und Nebenstraßen sollten so gestaltet sein, dass sich Autos zu Gast fühlen. Dort braucht es eine Qualität, wie man sie von den Fahrradstraßen in den Niederlanden kennt.
In Wien gibt es eine hohe Nahversorgungsdichte, das heißt, man kann viel zu Fuß erledigen. Das kann man noch weiterdenken und mittlere Strecken fürs Fahrrad übersetzen. Dazu hat Wien eine Strategie verabschiedet, den Klimafahrplan, in dem die 15-Minuten-Stadt verankert ist. Wenn das, was dort festgeschrieben ist, in den Zielen der Stadt, um Klimaneutralität zu erreichen, umgesetzt wird, dann braucht man nicht mehr so viel Vision.


Wiener Infrastruktur in Zahlen

Radwege: 168,6 km
Geh- und Radwege: 169,3 km
Radfahrstreifen: 41,3 km
Mehrzweckstreifen: 145,2 km
Radfahrerüberfahrten: 27 km
Fahrradstraßen: 7 km
Radfahren gegen die Einbahn: 321,4 km
Radfahren auf der Busspur: 18,5 km
Radroute: 276,4 km
Radfahren in Fußgängerzonen: 8,8 km
Wohnstraße: 38,1 km
Verkehrsberuhigter Bereich: 361,4 km
Mountainbike-Strecke: 72,4 km
Öffentliche Radabstellplätze: 50.700


Bilder: Mobilitaetsagentur Wien – Peter Provaznik, Wiener Linien, zoom vp – Mobilitätsagentur Wien Digital, Mobilitätsagentur Wien, Fuerthner, PID, Gewista, Mobilitätsagentur – Christian Fürthner, Regina Hügli

Rotterdam baut seine Innenstadt seit einigen Jahren fundamental um. Das Zentrum soll zur „City Lounge“ werden. Zufußgehen und Radfahren haben dann ebenso oberste Priorität wie der Zugang zu mehr Grün für alle Bewohner der Hafen- und Industriestadt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Von Rotterdams Innenstadt war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr viel übrig. Alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen riesige Brachflächen rund um die Laurenskerk (Laurenskirche). Dort, wo sich einst die Altstadt befand, wurden in der Folge breite, mehrspurige Straßen gebaut sowie riesige Kreisverkehre für Autos und Straßenbahnen. Bis zum Jahr 2000 hatte die boomende Industriestadt am Flussdelta von Rhein und Maas das amerikanischste Straßennetz der Niederlande. Dann fand ein Kurswechsel statt. Das neue politische Ziel ist, das Zentrum in eine moderne „City Lounge“ zu verwandeln. Wo heute noch Autos fahren und parken, sollen Wiesen und Parks entstehen und der rasant wachsenden Bevölkerung Platz zum Bewegen, Spielen und Pausieren bieten. Dafür muss der Autoverkehr massiv zurückgedrängt und durch mehr Rad- und Fußverkehr ersetzt werden. Das Tempo, mit dem Politik und Planer den Wandel vorantreiben, ist hoch.

Ambitionierte Ziele für die Industriestadt

Außenstehenden erscheint die Stadt mit dem größten Seehafen Europas wie ein riesiges Pilotprojekt. Seit 15 Jahren wird die Stadt bereits umgebaut. Das hat einen Grund: Die Industrie- und Autostadt soll klimaresilient werden. Um das zu erreichen, hat die Stadt 2020 beschlossen, in den kommenden zehn Jahren sieben Stadtprojekte umzusetzen. Mit 230 Millionen Euro sollen sieben grüne Lungen im Zentrum entstehen, die bei Starkregen das Wasser aufnehmen und bei extremer Hitze die Umgebung kühlen. Dafür wird etwa ein großer Parkplatz begrünt, ein Park in Größe von elf Fußballfeldern direkt am Hafen geschaffen und ein Eisenbahnviadukt in einen Park verwandelt, der sich durch mehrere dicht besiedelte Stadtteile zieht. „Rotterdam hat ambitionierte Ziele und traut sich, sehr innovativ zu sein“, sagt Sophie Simon, Mobilitätsexpertin des niederländischen Beratungsunternehmens Mobycon. Die Verkehrsexpertin lebt in der Hafenstadt und bekommt den Umbau täglich mit. Der Wandel ist rasant. Noch vor zehn Jahren lag der Anteil des Radverkehrs hier mit gerade mal 20 Prozent und damit weit unter dem landesweiten Wert von 27 Prozent. Aber die Hafenstadt holt auf. 2020 legten bereits 28 Prozent der Menschen ihre Wege mit dem Rad zurück und es werden stetig mehr. Die Basis für den Umstieg bilden unter anderem die Fußgängerstrategie, das neue Parkraummanagement und das zukunftsweisende Mobilitäts- und Fahrradkonzept.
Der Name des Fahrradkonzepts ist Programm: „Fahrradkurs 2025 – Das Fahrrad als Hebel in der Rotterdamer Mobilitätswende“ heißt der Titel (Fietskoers 2025 – De Fiets als hefboom in de Rotterdamse mobiliteitstransitie). Für die Hafenstadt bedeutet das: Menschen jeden Alters und Einkommens sollen hier zukünftig sicher und komfortabel mit dem Rad von zu Hause ans Ziel kommen.

„Die Menschen suchen sich nicht nur alternative Routen, sie steigen auch auf andere Verkehrsmittel um.“

Bart Christiaens, Fahrradkoordinator in Rotterdam

Mehr als der Wechsel von einem Verkehrsmittel zum anderen. Die Stadt soll grüner werden, den Menschen im Sommer Schatten spenden und Platz zum Verweilen anbieten.

Umbauprojekt „Coolsingel“

Wie die neue Infrastruktur dafür in der Praxis aussehen könnte, lässt sich heute ein wenig in der umgebauten Straße „Coolsingel“ erahnen. Sie ist rund 700 Meter lang und eine der Hauptachsen in der Innenstadt. Anfang 2018 waren hier noch täglich rund 22.000 Autos unterwegs, außerdem Straßenbahnen sowie Rad-fahrerinnen und Fußgängerinnen. Dann wurde der Coolsingel umgebaut. Seitdem gibt es auf der Westseite der Tram statt einer zweispurigen Fahrbahn einen 4,5 Meter breiten Zweiwege-Radweg. Der Rest der Fahrbahn wurde zum Fußweg. Autoverkehr gibt es nur noch auf zwei Fahrspuren östlich der Tram und nur noch mit Tempo 30. Das zeigt Wirkung. Der Verkehrslärm ist seit dem Umbau deutlich zurückgegangen. Auch der sandfarbene Radweg und das helle Pflaster der erweiterten Fußgängerpromenade – gut gegen das Aufheizen im Sommer – haben die Straße verändert. Mit den 77 schattenspendenden Baumriesen (38 wurden neu gepflanzt) und den vielen neuen Sitzgelegenheiten unter den Laubbäumen steigt die Aufenthaltsqualität. Es erinnert an die großzügigen Boulevards in Südeuropa. Rund 58 Millionen Euro hat der Umbau gekostet. Geht das Konzept der Planerinnen auf, sind hier langfristig nur noch 10.000 Autos unterwegs. „Wenn ich dort bin, habe ich den Eindruck, dass bereits heute deutlich weniger Autos unterwegs sind“, sagt Bart Christiaens, Fahrradkoordinator von Rotterdam. Die genauen Zahlen kennt er noch nicht, denn die will die Gemeinde für eine realistische Einschätzung erst nach der Pandemie erheben. Aber schon während der Bauphase habe sich ein Teil des Verkehrs verlagert, sagt Christiaens. In einigen Nebenstraßen sei die Zahl der Autos etwas gestiegen, aber in einem geringeren Ausmaß, als es die Verkehrsanalyse vorhergesagt habe. Ein Teil der Fahrzeuge, die zuvor auf dem Coolsingel unterwegs gewesen seien, seien einfach verschwunden. Dieses Phänomen erleben Verkehrsplaner immer wieder, selbst beim Einrichten von Baustellen. „Die Menschen suchen sich nicht nur alternative Routen, sie steigen auch auf andere Verkehrsmittel um“, erläutert Christiaens das Phänomen. Trotz des guten Starts bleibt für ihn die Verkehrsentwicklung im Coolsingel in den kommenden Monaten spannend. In der unmittelbaren Nähe der Straße befindet sich rund ein halbes Dutzend Parkhäuser. „Die Frage ist, ob die Menschen zu den Einkaufszentren und in die Kinos weiterhin mit dem Auto fahren oder Alternativen nutzen“, sagt er. Das neue Parkraummanagement sieht vor, dass mehr Menschen den ÖPNV nutzen (siehe Kasten). Aber Christiaens weiß: „Die Menschen brauchen eine gewisse Zeit, um sich an die neue In-frastruktur zu gewöhnen.“ Rund um den Coolsingel wird diese Phase wohl noch eine Weile andauern. Schließlich sind die nächsten Großprojekte dort bereits in Planung. In ein paar Jahren soll der angrenzende Hofplein (Hofplatz) mit seinem 20 Meter breiten Springbrunnen umgebaut werden. Seine Neugestaltung ist eines der sieben Stadtprojekte und soll Radfahrerinnen, Fußgängerin-nen und Anwohnerinnen den Zugang überhaupt erst ermöglichen. Bislang umrunden Autos und Busse auf drei Fahrspuren den Brunnen, dazwischen kreuzen die Straßenbahnen. Fuß- oder Radverkehr waren hier nicht vorgesehen. Nach dem Umbau soll der Brunnen zum Herzstück des neuen Parks werden, mit vielen Fußwegen und Sitzgelegenheiten für die Anwohner. Die Straßenbahn darf weiterhin passieren, der Autoverkehr wird jedoch in einem großen Bogen um den Park herumgeführt.

Die Illustration zeigt, wie der Hofplein nach dem Umbau aussehen soll: Der Springbrunnen wird zum Zentrum eines neuen Parks für die Anwohner des Viertels.
Der Bahnhof im Zentrum ist Rotterdams Foyer zur Stadt und gibt einen Ausblick auf ihre Zukunft. Rad fahren, zu Fuß gehen oder der Umstieg auf Bus und Bahn sollen überall so leicht und komfortabel werden wie hier.

Schnelle Umsetzung von Großprojekten

Für die Transformation setzt Rotterdam auf eine breite interdisziplinäre Beteiligung. 25 Partner haben die sieben Stadtprojekte mitentwickelt. Ihre Fachrichtungen reichen von der Architektur über die Kunst und den Jugendrat, bis hin zu Vertreter*innen sozialer Organisationen und der Gemeinde. Die Phase von der Planung bis zur Eröffnung ist mit rund zehn Jahren sehr knapp bemessen. „Der Coolsingel ist etwa innerhalb von drei Jahren geplant und umgebaut worden“, sagt Sophie Simon. Dass es so schnell geht, liegt aus ihrer Sicht an dem Regelwerk „CROW“ für Verkehrsplaner, das der deutschen ERA (Empfehlungen für Radverkehrsanlagen) entspricht. „Sämtliche Infrastruktur aus den Niederlanden baut auf den CROW-Richtlinien auf“, sagt die Mobycon-Expertin. Die Planer und die Verwaltungen orientierten sich an den modernen Richtlinien, weshalb der Bau von Radinfrastruktur in den Niederlanden deutlich schneller vonstattengehe als in Deutschland. „Die ERA ist veraltet. Viele deutsche Städte entwickeln deshalb eigene Standards“, sagt die Expertin. Das kostet Zeit. Sie sagt: „Es wäre viel einfacher, wenn alle ein einheitliches Regelwerk verwenden würden.“

28 %

28 Prozent der Menschen legten 2020
ihre Wege mit dem Rad
zurück, und es werden stetig mehr.

Vor dem Umbau: Bürgerbeteiligung und Pop-up-Tests

Zu jeder Planung gehört in den Niederlanden auch der intensive Austausch mit den Bürgerinnen vor Ort. „Bereits vor der ersten Planung befragt man die Anwohnerinnen; was gut und was schlecht in ihrer Straße funktioniert, worauf sie stolz sind und wo sie sich gerne aufhalten“, sagt Sophie Simon. Dieser Austausch werde zur Halbzeit und gegen Ende der Planung wiederholt. Für sie ist das Feedback wertvoll. „Manche Pläne funktionieren gut in der Theorie, aber nicht in der Praxis“, sagt sie. Deshalb sei es wichtig, nachbessern zu können. Außerdem zeige der Dialog den Bürgerinnen und Bürgern, dass Entscheidungen nicht über ihren Kopf hinweg getroffen werden.
In Rotterdam werden die neuen Pläne vor dem schlussendlichen Umbau in einem Testlauf ausprobiert. Das gilt beispielsweise auch für die Sperrung einer Nebenstraße des Coolsingels. In der „Meent“ störten „Auto-Poser“ seit Langem die Nachtruhe der Anwohnerinnen. Um das abzustellen, wurde die beliebte Flaniermeile für den Autoverkehr zeitweise gesperrt. Zunächst für zwei Monate jeweils donnerstags, freitags und am Wochenende. Bewährt sich die Sperrung, soll sie laut Sophie Simons dauerhaft umgesetzt werden. Auch in den Niederlanden sind nicht alle vom Kurs der Politik begeistert. Trotzdem bleibt der große Protest aus. „Die Akzeptanz ist größer, weil das Fahrrad omnipräsent in unserer Gesellschaft ist“, sagt Sophie Simon. Aber anscheinend zeigt auch die Umgestaltung der Innenstadt Wirkung. Christiaens bemerkt einen Wandel während des Feedback-Prozesses. „Die Menschen kommen zu unseren Veranstaltungen und unterstützen unsere Idee zum Umbau der Stadt“, sagt er. Das ist selbst in den Niederlanden neu und bestärkt die Planerinnen auf ihrem Weg.

Sichtbare Mobilitätswende

Die Mobilitätswende und die steigende Aufenthaltsqualität sind bereits vielerorts sichtbar und spürbar. Besonders deutlich ist das für Touristinnen am Hauptbahnhof. Früher verliefen direkt vor der Eingangshalle eine mehrspurige Straße und das Schienennetz. Wer heute aus der lichtdurchfluteten, weitläufigen Halle tritt, steht auf einem riesigen Vorplatz, auf dem sich vor allem Fußgängerinnen und Radfahrerinnen tummeln. Linke Hand geht es für Pendelnde und Reisende weiter zur Straßenbahn. Fahrradpendlerinnen erreichen nach wenigen Schritten einen der beiden Eingänge zum unterirdischen Fahrradparkhaus. Laufbänder bringen sie ins Untergeschoss zu den rund 5.200 Fahrradstellplätzen. Autopendler*innen hingegen müssen ein paar Hundert Meter laufen, um zu unterirdischen Parkhäusern zu gelangen. Wer nicht unbedingt darauf angewiesen ist, lässt sich auch nicht mit dem Auto abholen, denn die einspurige Einbahnstraße vor dem Bahnhof lässt keinen Stopp zu. Ähnlich sieht es auf der Rückseite des Bahnhofs aus. Die wenigen Parkplätze dort sind für Taxis reserviert. Mit dem neuen Bahnhof hat die Stadt ein Statement gesetzt. Das Zeitalter des Autos geht langsam zu Ende in der Stadt. Wer in Rotterdam zu Fuß, mit Bus, Bahn oder Rad unterwegs ist, bekommt Vorrang – jedenfalls langfristig. Bis es tatsächlich so weit ist, müssen noch viele Straßen umgebaut werden. Neben Raum zum Fahren brauchen Radfahrende aber auch Stellplätze für ihre Räder.

Ein Fahrradparkhaus und 1.000 zusätzliche Stellplätze am Bahnhof reichen nicht mehr aus, um den Bedarf zu decken.

Auch die Doppelstockparker an der Markthalle reichen nicht mehr für Pendler*innen, die von hier aus per Bus, Bahn oder Metro weiterreisen.

Mehr Fahrradstellplätze benötigt

15.000 Fahrradstellplätze gibt es momentan im Zentrum. Das klingt viel. Gebraucht werden aber 45.000, also dreimal so viele. Dass die Stellplätze nicht reichen, hat einen Grund: In den vergangenen zehn Jahren sind 60 Prozent mehr Menschen aufs Rad gestiegen als zuvor und es werden täglich mehr. „Entsprechend viele Räder stehen überall in der Innenstadt am Straßenrand“, sagt Sophie Simon. Das gilt auch für die Wohngebiete. „In der Straße, in der ich wohne, gibt es zehn Fahrradbügel“, sagt sie. Dabei würden Hunderte gebraucht. Aus ihrer Sicht wäre es am einfachsten, in jeder Wohnstraße ein bis zwei Pkw-Stellplätze in Fahrradparkplätze umzuwandeln. Das ist momentan nicht vorgesehen. Allerdings können sich die Anwohnerinnen bei Bedarf direkt an die Stadt wenden. „Wenn drei Anwohner gemeinsam eine Anfrage stellen, dann wird für drei bis sechs Monate ein sogenanntes Fietsvlonder (Fahrradgeländer) aufgestellt“, sagt der Fahrradkoordinator. Das Pop-up-Kunststoffdeck mit zehn Fahrradbügeln wird auf einem Parkplatz abgestellt. Wenn die Fahrradbügel gut genutzt werden und sich die übrigen Anwohnerinnen nicht beschweren, dann wird das temporäre Modul durch einen dauerhaften Fahrradstellplatz ersetzt. Das gelingt laut Christiaens bei 80 Prozent der Pop-up-Stellplätze. Die Maßnahme ist jedoch nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. „Das Fahrradparken ist aktuell unsere Achillesferse“, so Christiaens. Mit seinem Team stockt er die Zahl der Stellplätze zwar permanent auf. Erst im Sommer kamen unter anderem rund 1.000 Stellplätze am Bahnhof hinzu und in der Nähe des Coolsingels wurde eine Fahrradgarage für 450 Räder eröffnet. Trotzdem fehlen große Flächen zum Fahrradparken im Zentrum. Bald sollen deshalb unter anderem im Keller eines ehemaligen Kaufhauses sowie in einer Bibliothek eine Parkgarage entstehen. Denkbar seien auch leerstehende Ladenlokale. Die Suche nach Flächen wird den Fahrradkoordinator auf jeden Fall auch in den kommenden Jahren beschäftigen. Die Gemeinde geht davon aus, dass 2030 mehr als 60.000 Fahrradstellplätze benötigt werden.

„Rotterdam hat

ambitionierte Ziele

und traut sich,

sehr innovativ zu sein“

Sophie Simon, Mobycon

Fahrradmobilität für alle

Eine weitere Herausforderung für die Politik ist es, den Anteil des Radverkehrs möglichst im gesamten Stadtgebiet gleichmäßig zu erhöhen. Das ist gar nicht so leicht. Im Süden der Stadt gaben zum Beispiel 52 Prozent der Befragten bei der letzten Mobilitätserhebung an, nie oder fast nie das Fahrrad zu nutzen. Christiaens kennt die Zahlen seit Jahren. „In Rotterdam Zuid leben traditionell viele Hafenarbeiter und Migrantinnen in der zweiten oder dritten Generation“, sagt er. Die niederländische Fahrradkultur habe sich dort noch nicht durchsetzen können. Manche der dort lebenden Rotterdamerinnen können gar nicht Radfahren oder besitzen kein Fahrrad. Um das zu ändern, startete die Gemeinde mit verschiedenen Partnern vor fünf Jahren das Programm „Fietsen op Zuid“. Die verschiedenen Organisatoren arbeiten eng mit Ansprechpartnerinnen vor Ort zusammen und versuchen über verschiedene Projekte, das Fahrrad als Alltagsverkehrsmittel bei den Menschen zu etablieren. „Cycle Along“ ist einer von vielen Bausteinen des Programms und wendet sich an Frauen mit bikulturellem Hintergrund. Neben Radfahrkursen für Hunderte von Frauen wird auch ein Botschafterinnen-Netzwerk aufgebaut. Das heißt, die ehemaligen Teilnehmerinnen bringen anderen Frauen vor Ort Fahrradfahren bei. Damit erweitern die Frauen gemeinsam ihren Aktionsradius und bilden neue Netzwerke. Für Kinder gibt es spezielle Kurse über die dortige BMX-Schule. Damit alle nach den Kursen weiterradeln können, hat die Stadt die „Fietserbank“ (Fahrradbank) eingerichtet. Wer sich kein eigenes Rad leisten kann, bekommt dort ein verwaistes Fahrrad. Rund 1.000 Fahrräder bekommen so jedes Jahr einen neue Besitzerinnen.
Aber es geht nicht nur darum, dass jeder und jede fähig ist, Rad zu fahren. Die neu gewonnenen Radfahrerinnen müssen sich auch trauen, mit dem Rad quer durch die Stadt zu fahren. Das will der „Fietskoers 2025“ sicherstellen. „Eine der Hauptkomponenten des Plans ist, dass die Infrastruktur gleichermaßen für schnelle und langsame Radfahrerinnen ausgelegt wird“, sagt Sophie Simon. Für sie ist das ausschlaggebend, um alle potenziellen Radfahrerinnen und Radfahrer in den Sattel zu bringen. Viele der älteren Radwege Rotterdams sind für die stetig wachsende Zahl an Radfahrenden jedoch zu schmal. Christiaens hat dazu bereits eine Idee. Die langsameren Radfahrenden sollten zukünftig weiterhin die Radwege nutzen, sagt er. Sportliche Radfahrerinnen und schnelle E-Bike-Fahrerinnen könnten dagegen auf die Fahrbahn wechseln und sich mit den Autos den Platz teilen. Das funktioniert aus seiner Sicht jedoch nur, wenn stadtweit Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit eingeführt wird. Für ihn ist das der nächste Schritt. Künftig also Tempo 30 auch in Rotterdam. Das passe auch deutlich besser zu dem Ziel der Stadt, das Zentrum in eine City Lounge umzuwandeln.



Industrie- und
Hafenstadt
Rotterdam

Rotterdam ist mit rund 650.000 Einwohnerinnen und Einwohnern nach Amsterdam die zweitgrößte Stadt der Niederlande. Die an der Mündung von Rhein und Maas gelegene Stadt ist vor allem für den wichtigsten Industriehafen Europas bekannt. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Innenstadt im Jahr 1940 bei einem deutschen Luftangriff mit verheerenden Bränden fast vollständig zerstört und danach neu aufgebaut. Die Bevölkerung hat sich heute durch Zuwanderung verjüngt und ist sehr durchmischt. Rund die Hälfte der Menschen hat eine migrantische Geschichte. Eine Besonderheit gibt es beim Einkommen: Während das Durchschnittseinkommen im Stadtgebiet niedriger ist als im Landesschnitt, ist es im Umland der Stadt höher. Die Arbeitslosenquote lag in den letzten Jahren deutlich über dem Durchschnitt der Niederlande.


Bilder: Dutch Cycle Embassy, Gemeinde Rotterdam, Andrea Reidl, Melissa und Chris Bruntlett – Mobycon, stock.adobe.com – markus thoenen

Kann ein Fahrradparkhaus die Bahnhofsumgebung aufwerten? Wenn man nach Oranienburg schaut, dann lautet die Antwort ganz klar „Ja“. Sowohl in Bezug auf die Optik als auch den Mehrwert gelungen ist die Anlage eine echte Best-Practice-Empfehlung. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


Nicht nur funktional, sondern auch optisch ansprechend und ein klares Statement für den Radverkehr.Spezialisierte Hersteller wie Orion Bausysteme beraten bei der Ausstattung und bieten erprobte und zertifizierte modulare Lösungen.

Nach knapp einjähriger Bauzeit wurde das Bike+Ride-Fahrradparkhaus am Bahnhof Oranienburg, rund 30 Kilometer nördlich von Berlin, 2018 eröffnet. Der Bedarf war durch die verbesserten Zugverbindungen ins rund 30 Kilometer entfernte Berlin entstanden. Mit den neuen Verbindungen stieg auch die Zahl der Bahnreisenden und Pendler, die mit dem Fahrrad zum Bahnhof kamen. Die Folge: eine Vielzahl wild geparkter Fahrräder im Umfeld. Zählungen im Vorfeld des Neubaus ergaben, dass der Bedarf mehr als doppelt so hoch war wie die Kapazität der alten Anlage mit 350 Plätzen.
Mit der Errichtung des neuen Fahrradparkhauses sollte aber nicht nur eine praktische Lösung zum sicheren und wettergeschützten Abstellen entstehen, der Bahnhofsbereich sollte auch insgesamt aufgewertet werden. So entstand das Fahrradparkhaus als architektonisch ansprechendes „durchlässiges“ Gebäude, das durch die gute Beleuchtung auch nachts attraktiv wirkt und ein sicheres Gefühl vermittelt. Auch in Bezug auf den Platz ist das Fahrradparkhaus ein Gewinn. Es wurde direkt am S-Bahndamm auf einer Fläche angelegt, die anderweitig kaum nutzbar gewesen wäre. An den Standort der alten Abstellanlage rückten überdachte Bushaltestellen und Taxistände – auch das ein Vorteil.
Das neue Fahrradparkhaus bietet auf zwei Etagen Platz für über 1.000 Räder. Die können kostenlos im sogenannten Doppelstockparksystem eingestellt werden. Während die Abstellplätze im Erdgeschoss vom Gehweg aus zugänglich sind, kann das Obergeschoss über zwei Treppenanlagen mit seitlichen Schieberampen erreicht werden. Von hier aus gibt es auch eine direkte Verbindung zum S-Bahnsteig. Neben den kostenfreien Abstellmöglichkeiten wurden zusätzlich Fahrradboxen zum Mieten und Schließfächer mit Lademöglichkeiten für E-Bike-Akkus eingeplant. Als Service gibt es zudem eine kombinierte Luftpumpstation mit Werkzeugausstattung. Auch eine WC-Anlage wurde als Ergänzung zur vorhandenen öffentlichen Toilette am Bahnhofsplatz in das Parkhaus integriert. Vorausschauend wurden auch gleich die technischen Voraussetzungen für eine Videoüberwachung geschaffen. Dank der modularen Bauweise des Fahrradparkhauses ist es zudem möglich, die Nutzung zu variieren, indem zum Beispiel ein Teil der Anlage für die Unterbringung einer Serviceeinrichtung (Werkstatt oder Fahrradverleih) abgetrennt wird.
Um die Verkehrssicherheit am nun aufgeweiteten Bahnhofsplatz zu erhöhen, wurde er als verkehrsberuhigter Bereich mit Tempo 20 ausgewiesen. Die Kosten für das Fahrradparkhaus beliefen sich auf rund 1,75 Millionen Euro. Die Finanzierung erfolgt aus Städtebaufördermitteln im Rahmen des Förderprogramms „Aktive Stadtzentren“, wonach je ein Drittel der Aufwendungen von Bund, Land und Kommune getragen werden.

Ausstattung Fahrradparkhaus Oranienburg im Überblick

  • 1.056 Abstellplätze in Doppelstock-parkern – nach DIN 79008 „stationäre Fahrradparksysteme“ geprüftes und vom ADFC zertifiziertes Modell
  • 14 Gepäckschließfächer inklusive Lademöglichkeit für E-Bike-Akkus
  • 9 Fahrradboxen zur Anmietung
  • Reparatursäule inklusive Luftpumpe, Werkzeugset und Haltevorrichtung
  • Die Kosten für die Ausstattung, die durch die Unternehmen Orion Bausysteme und Orion Stadtmöblierung realisiert wurde, beliefen sich auf 264.000 Euro. Mehr Informationen unter orion-bausysteme.de

Bilder: Orion Bausysteme – Nikolay Kazakov, Stadt Oranienburg – Sven Dehler

In die Metropolregion Hamburg sollen künftig deutlich mehr Menschen aus den umliegenden Bundesländern mit dem Rad pendeln. Mit einem 270 Kilometer langen Radschnellwegenetz will man vor allem für Pendler aus ländlichen Regionen ein neues, attraktives Angebot schaffen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


In den Niederlanden längst Standard, in Hamburg noch Vision: Für Pendler im Umland soll es künftig ein Netz von Radschnellwegen geben.

Berufspendler brauchen häufig gute Nerven. Besonders, wenn sie in den ländlichen Regionen rund um eine prosperierende Großstadt wie Hamburg leben. Aus dem Alten Land, der Marsch und der Heide fahren jeden Morgen mehr als 300.000 Pendler in die Hamburger Innenstadt. Spätestens an der Landesgrenze stehen sie im Stau oder drängen in überfüllte Busse und Bahnen. Zu den Stoßzeiten hat das Straßen- und Schienennetz der Hansestadt sein Limit längst erreicht. 2019 war Hamburg die Stauhauptstadt Deutschlands. Zur Staubekämpfung baut man in den Niederlanden seit Jahrzehnten Radschnell-wege. Das will die Metropolregion Hamburg jetzt auch versuchen, und zwar in großem Stil. Ein Netz aus sieben Routen soll in naher Zukunft sternförmig aus allen Himmelsrichtungen in die Hafenstadt führen.

„Noch ist das Netz aus Radschnellwegen ein Versprechen.“

Susanne Elfferding, Projektkoordinatorin

Das Projekt ist ehrgeizig

Die kürzeste Route von Ahrensburg zur Stadtgrenze ist immerhin 8,5 Kilometer lang. Die beiden längsten Strecken im Hamburger Südwesten und Südosten bringen es sogar auf über 50 Kilometer. Sie führen von Lüneburg und Stade durch viele kleine Ortschaften zu den Elbbrücken. Wenn alle Routen fertig sind, soll im Hamburger Umland ein 270 Kilometer langes Premiumnetz für Fahrradfahrer die Straßen vom Autoverkehr entlasten und für Klimaschutz und bessere Luft sorgen. Allerdings wird das noch dauern. „Noch ist das Netz aus Radschnellwegen ein Versprechen, noch bauen wir nicht“, betont Susanne Elfferding, die für die Metropolregion das Projekt koordiniert. Die Partner sind die Hansestadt Hamburg und über 1.000 Orte, 20 Landkreise und kreisfreie Städte aus den Ländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Diese Zusammenarbeit über vier Landesgrenzen hinweg ist einzigartig. Neben den sieben Radschnellwegen, die auf Hamburg zulaufen, sind auch noch zwei im Norden von Schleswig-Holstein geplant.

„Ich finde den Begriff Radboulevard treffender.“

Hartmut Teichmann, Stadtplaner

Basis: Gute Planung und gute Kommunikation

„Ende des Jahres sollen die Machbarkeitsstudien für die neun Routen fertig sein“, erläutert Susanne Elfferding. Die Technische Universität Hamburg hatte zuvor das Potenzial von über 30 Strecken ermittelt. Ausschlaggebend war schlussendlich, wie viele Arbeitsplätze, Schulen, Supermärkte und Bahnhöfe die Menschen auf den jeweiligen Routen innerhalb von 15 Radminuten erreichen könnten. Dabei zeigte sich: Die Bürger im schleswig-holsteinischen Kreis Pinneberg würden von ihrer 32 Kilometer langen Radschnellstrecke wahrscheinlich am meisten profitieren. „Etwa 70.000 Pendler fahren täglich Richtung Hamburg und rund 30.000 in die Gegenrichtung“, sagt Hartmut Teichmann, Stadtplaner des Kreises. Er erwartet, dass viele von ihnen das Auto gegen das Fahrrad oder E-Bike tauschen, wenn die Strecke fertig ist, und rechnet mit einem Anstieg des Radverkehrsanteils von 16 auf 25 Prozent. Bis es so weit ist, müssen er und seine Kollegen jedoch vor allem noch viel Aufklärungsarbeit leisten. Die verschiedenen Bürgerbeteiligungen haben Teichmann beispielsweise gezeigt: Die Bezeichnung Radschnellweg irritiert viele Anrainer. Sie fürchten, dass rasende Radfahrer seltene Vogelarten vertreiben, ihre Kinder anfahren oder die Fußgänger stören, die im Moor spazieren gehen. „Ich finde den Begriff Radboulevard treffender“, sagt Teichmann. Damit ließen sich viele Vorurteile von vornherein ausräumen. Bis zum Baubeginn ist dafür noch jede Menge Zeit. Wenn Ende des Jahres alle Machbarkeitsstudien fertig sind, muss beispielsweise erst noch geklärt werden, wer die Trägerschaft der Radschnellwege übernimmt und wer sie bezahlt. Der Bund beteiligt sich mit durchschnittlich 75 Prozent an den Kosten für die Planung und den Bau. Allerdings bundesweit nur mit 25 Millionen Euro. Die reichen für die geplanten 270 Kilometer nicht aus. Aber Radschnellwege werden auch nicht ausgerollt wie Rollrasen. Zunächst werden Teilstücke gebaut. Teichmann rechnet mit einem positiven Effekt in der Bevölkerung, wenn der erste Abschnitt fertig ist. Denn Fotos und Imagefilme würden die Vorteile der Premiumrouten nur eingeschränkt abbilden. „Die Menschen müssen es selbst erfahren“, sagt er. Dann werde die Planung und Umsetzung der anderen Abschnitte leichter. Aber auch das wird seine Zeit dauern. Stadtplaner Teichmann sagt: „Wenn alles gut läuft, wird der erste Abschnitt Mitte der 20er-Jahre fertig sein.“


Bilder: M. Zapf – MRH, Metropolregion Hamburg

Der Bund fördert sieben Professuren für Radverkehr. Ein längst fälliger Schritt zur Weiterbildung und Vergrößerung der Chancengleichheit des Verkehrsträgers Fahrrad. Die Fakultäten verstehen sich als Teamplayer und wollen ein neues Kompetenznetzwerk aufbauen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Es war ein Mix aus Alltagstest und Werbetour für ihre neuen Studiengänge: Rund 1.500 Kilometer sind 120 Wissenschaftler mit ihren Studenten in den vergangenen Wochen kreuz und quer durch Deutschland geradelt. Auf ihrer Staffeltour von einer Universität zur nächsten testeten sie die Radinfrastruktur, sprachen mit Politikern, Verkehrsexperten und Unternehmen über ihren Ausbau und entwickelten Ideen für gemeinsame Projekte. Ihr Fazit: sehr durchwachsen. Radfahren in Deutschland reicht aus Sicht der Experten von gut bis mies. Das ist keine Überraschung. Schließlich sollen sie dafür sorgen, dass es besser wird.

Übergabe des Staffelstabs in Frankfurt. Die Vertreter der sieben Radverkehrs-Studiengänge wollen eng zusammenarbeiten. Im Sommer haben sie auf einer Radtour durch Deutschland das Netz genau untersucht.

Sieben Stiftungsprofessuren „Radverkehr“

Das BMVI finanziert mit 8,3 Millionen Euro sieben Stiftungsprofessuren „Radverkehr“ an ihren Fakultäten. Mit dem Geld sollen sie in den kommenden fünf Jahren die Rahmenbedingungen für Radfahrerinnen und Radfahrer verbessern, Daten liefern und den dringend benötigten Nachwuchs an Planern und Planerinnen für Städte, Kommunen und Ingenieurbüros ausbilden. Der Bedarf an Fachkräften ist riesig. Viele Stellen für Radverkehrsplaner bleiben oft monatelang, manche jahrelang unbesetzt, weil die Bewerber fehlen. Das sollen die Absolventen der neuen Masterstudiengänge ändern. Die TH Wildau und die Frankfurt University of Applied Sciences haben mit Jana Kühl und Dennis Knese bereits eine Professorin und einen Professor berufen. Die übrigen wollen in den kommenden sechs bis zwölf Monaten nachziehen. In Frankfurt am Main beginnen die ersten Veranstaltungen bereits im Wintersemester. Neben der Ausbildung der Studenten ist die Weiterbildung von Planern und Ingenieuren ein wichtiges Standbein. Das Spezialisierungsstudium für Bau- und Verkehrsingenieure hat die Schwerpunkte Simulation, Reallabor und Transformation. Das klingt nüchtern, birgt aber viel Zündstoff.

Jana Kühl ist seit 1. November Professorin für Radverkehr an der Ostfalia Hochschule in Salzgitter.

Wuppertal ist eine echte Herausforderung für Radverkehrsplaner. Die bekannte Nordbahntrasse markiert den Beginn einer neuen Ära.

Verkehrsplanung auf neuen Rädern

Professor Felix Huber, Dekan an der Bergischen Universität Wuppertal, sagt: „Wir stellen Waffengleichheit in der Methodik her.“ 80 Jahre habe die Verkehrsplanung die Netze rein vom Auto her gedacht. Privatwagen durften die direkte Strecke fahren. Fußgänger und Straßenbahn wurden auf Restflächen verwiesen oder unter die Erde verbannt. Radfahrer bekamen nur die Restflächen und sie wurden auch bei den Regelwerken schlicht vergessen. „Viele Regelwerke wie etwa der Level of Service (LOS) existieren für Radverkehrsanlagen gar nicht“, so Professor Huber. LOS benotet die Qualität des Verkehrsablaufs von A = „Freier Verkehrsfluss“ bis F = „Verkehrsanlage ist überlastet“. Eine vergleichbare Richtlinie würde den Planern ihre Arbeit enorm erleichtern. Erhält ein Radweg die Kategorie „F“, so wären das für die Politik objektive Argumente für einen Umbau. Dann könnte laut Huber eine Umweltspur für Busse und Radfahrer eingerichtet werden.

„Bislang hat der Radverkehr in der Forschung nur wenig Platz gehabt. Die Datenlage ist extrem dünn.“

Sandra Wolf, Geschäftsführerin bei Riese & Müller

Teamplayer für ein neues Zukunftsnetzwerk

Alle Fakultäten sehen sich als Team-player. Einige von ihnen arbeiten seit Jahren zusammen. Diese Zusammenarbeit soll noch ausgebaut werden, etwa mit einem jährlichen Symposium an der TH Wildau oder einer weiteren Sommerradtour. Petra Schäfer, Professorin für Verkehrsplanung und Öffentlichen Verkehr von der Frankfurt University of Applied Sciences, hat die Tour mitentwickelt. Auf ihrer Etappe besuchte sie mit ihrem Team unter anderem Sharing-Anbieter, Planungsbüros, den Regionalpark RheinMain und Unternehmen aus der Fahrradbranche. Die enge Zusammenarbeit mit den Akteuren vor Ort und die Weiterbildung der Ingenieure in den Verwaltungen und Planungsbüros spielt für Petra Schäfer eine entscheidende Rolle. „Die großen Städte können Radverkehrsplanung inzwischen ganz gut“, sagt die Professorin. Kleinere Städte tun sich ihrer Erfahrung nach häufig schwer, weil ihnen die Fachplaner fehlten. Für Bauingenieure, Stadt- und Verkehrsplaner will sie mit ihren Kollegen in den kommenden Jahren passgenaue Weiterbildungsangebote entwerfen und anbieten.
Die Forschung in Frankfurt am Main wird auch von der Wirtschaft unterstützt. Der E-Bike-Hersteller Riese & Müller übernimmt die Kosten für eine halbe Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters. „Bislang hat der Radverkehr in der Forschung nur wenig Platz gehabt. Die Datenlage ist extrem dünn“, sagt Sandra Wolf, Geschäftsführerin bei Riese & Müller. Aber für die Verkehrswende sei die infrastrukturelle Datenerhebung für alle Verkehrsmittel wichtig. Deshalb unterstütze ihr Unternehmen die Forschung. Der E-Bike-Hersteller ist seit Jahren Partner verschiedener Hochschulen. Studenten schreiben in Kooperation mit dem Unternehmen bei Darmstadt ihre Promotion oder ihre Masterarbeit über Radlogistik oder Maschinenbauthemen.
Für Tilman Bracher, Mobilitätsexperte am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu), sind die neuen Stiftungsprofessuren überfällig. „Der Bedarf an Planern in den Städten, Kommunen und den Planungsbüros ist riesig“, sagt er. So bleiben aktuell viele Stellen über Monate und Jahre unbesetzt, weil schlicht der Nachwuchs fehlt. Allerdings vermisst der Experte ein weiteres Ingenieursfach in dem Studienangebot: Die Ampelschaltung in der Signaltechnik. „Die Ingenieure, die heute die Ampeln schalten, haben gelernt, den Autofluss zu optimieren“, sagt Bracher. Nun sei genau das Gegenteil gefragt. Der Autoverkehr müsse gebremst werden und Radfahrer wie Fußgänger sollten die Kreuzungen schneller passieren dürfen. Mehr Platz für Radfahrer zu schaffen, wird laut Bracher allerdings nicht die einzige Aufgabe der neuen Planer sein: „Wir müssen schöne Straßen planen, wir müssen die Stadträume neu erfinden.“

Masterstudiengänge an sieben Hochschulen

Mithilfe der 8,3 Millionen Euro des Bundesverkehrsministeriums richten diese sieben Hochschulen neue Masterstudiengänge zum Radverkehr mit unterschiedlichen Schwerpunkten ein: In Baden-Württemberg hat die HS Karlsruhe „Radverkehr“, in Hessen die HS RheinMain „Rad_Entwurf“ und die Uni Kassel „Radverkehr und Nahmobilität“, in Frankfurt a. M. die Frankfurt University of Applied Sciences „Nachhaltige Mobilität insbesondere Radverkehr“, in Niedersachsen die Ostfalia HS in Wolfenbüttel „Radverkehrsmanagement“, in Nordrhein-Westfalen die Uni Wuppertal „Planungswerkzeuge für den Radverkehr der Zukunft – Simulation, Reallabor, Transformation“ und in Brandenburg die TH Wildau „Radverkehr in intermodalen Verkehrsnetzen“.


Bilder: BMVI – Peter Adamik, Kevin Rupp – Frankfurt UAS, Marius Probst, Ostfalia – Matthias Nickel, Christa Mrozek Wuppertalbewegung

Mecklenburg-Vorpommern war jahrelang eine der führenden Radreisedestinationen Deutschlands. Allerdings haben das Land und die Kommunen die Pflege der Radfernwege vernachlässigt. Sie müssen saniert werden. Das ist kostspielig, birgt aber große Chancen für die Tourismusförderung und den Alltagsradverkehr. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Die Ostseeküste ist eigentlich eine Traumdestination, und das nicht nur in Zeiten von Corona. Wer im Sommer von Travemünde Richtung Rügen radelt, behält die Badehose auf dem Rad am besten gleich an. Auf diesem Teil des Ostseeküsten-Radwegs ist das Meer meist in Sichtweite. Besonders stilvoll baden können Radfahrer auf diesem Streckenabschnitt des Ostseeküsten-Radwegs vor der Kulisse des ältesten Seebads der Region in Kühlungsborn. Nostalgiker nennen das Ensemble aus klassizistischen Villen und dem imposanten Grand Hotel „die weiße Stadt“. Weniger mondän, dafür bizarr und spooky ist wenige Kilometer weiter der Gespensterwald bei Nienhagen. Dort hat der starke Seewind das Geäst der Eichen, Eschen und Buchen so verformt, dass sie ohne Laub an greifende Klauen von Geisterwesen erinnern.

Ostsee beliebt bei Radausflüglern

Laut ADFC-Radreiseanalyse 2020 finden die meisten Radausflüge im Urlaub an der Ostsee statt. Im Ranking der beliebtesten Radrouten in Deutschland findet sich auch der Ostseeküsten-Radweg regelmäßig unter den Top 10. Allerdings gibt es noch deutlich Luft nach oben: In der aktuellen ADFC-Befragung zeigt sich die Route nur als halb so beliebt wie der Spitzenreiter Weser-Radweg, der vom Kreis Göttingen bis nach Cuxhaven führt.

Marode Radinfrastruktur bremst die Begeisterung

Landschaftlich schöner und abwechslungsreicher kann man wohl kaum an einer deutschen Küste entlang radeln. Allerdings geht es deutlich komfortabler. Das einstige Aushängeschild Mecklenburg-Vorpommerns ist mit vielen anderen Radrouten in der Region in Verruf geraten. Land, Kreise und Kommunen haben die Radwanderwege lange Zeit sich selbst überlassen. Das rächt sich heute: Eine Vielzahl der Streckenabschnitte ist verrottet, Asphalt durch Wurzeln aufgebrochen, zu Sand- und Schlammpisten mutiert und in Küstennähe teilweise sogar komplett weggebrochen. Verkehrsexperten und Radtouristen geben der Region deshalb seit ein paar Jahren schlechte Noten.

Region droht langfristiger Imageverlust

Diesen Imageverlust kann sich die Radreisedestination eigentlich nicht leisten. Der Tourismus bringt jedes Jahr ebenso viel Geld ins Land wie die Landesregierung in zwölf Monaten ausgibt. Jeder dritte Urlauber reist zum Radfahren an und schlechte Bewertungen schrecken Gäste schnell ab. Der Tourismusverband Rügen hat bereits eine Vielzahl verärgerte Rückmeldungen von Urlaubern erhalten. „Wir sind froh, gesund und ohne Unfall nach Hause gekommen zu sein, obwohl wir uns jeden Tag mindestens einmal in Lebensgefahr gefühlt haben“, schrieb eine Familie. Andere erklärten: „So eine schlechte Infrastruktur für Radfahrer haben wir noch nicht erlebt. Wenn Sie keine Lust auf Radtouristen haben, schreiben Sie es doch in Ihre Prospekte.“ Reinhard Wulfhorst, Referatsleiter für Verkehrspolitik der Landesregierung in Schwerin, findet ähnliche Beschwerden immer wieder in seiner Post. „Das sind keine Wutbürger, sondern verärgerte Urlauber, die ihre Erlebnisse schildern“, sagt er. Er ist selbst häufig mit dem Rad in Mecklenburg-Vorpommern unterwegs und weiß: „Es gibt lange Strecken, die sind vorzüglich, aber es gibt auch Strecken, für die man sich einfach schämen muss.“ Eine Einschätzung, der erfahrene Radler kaum widersprechen werden.

Radfernwege sind nur so gut wie die schlechtesten Streckenabschnitte: An Betonplatten und Sperrungen erinnern sich Reiseradler, berichten anderen und geben der Region schlechte Noten.

Gutachten zeigen immensen Sanierungsbedarf

Die Landesregierung hat inzwischen auf die Kritik reagiert. Im letzten Jahr beauftragte sie ein Planungsbüro, um die Qualität des 2500 Kilometer langen Radfernwegenetzes zu bewerten. Die Experten konnten nicht das komplette Netz abfahren. Stattdessen haben sie jeden Meter des 78 Kilometer langen Radfernweges auf Usedom untersucht. Die Insel wurde ausgewählt, weil ihre Topografie und die Wegeführung exemplarisch sind für Mecklenburg-Vorpommern. Das Gutachten bestätigte die Kritik der Radfahrer. Der Sanierungsbedarf ist riesig. Nur etwas mehr als die Hälfte der Wege sind in gutem Zustand oder benötigen nur kleinere Reparaturen. 28 Prozent dagegen brauchen eine neue Asphaltschicht und 19 Prozent der Wege müssen komplett saniert werden. Auf Usedom zeigte sich außerdem: Der Handlungsdruck ist bei den kommunalen Straßen am größten. Zwar wissen Auftraggeber und Radexperten, dass die Ergebnisse der Bestandsaufnahme nicht eins zu eins übertragbar sind, aber sie zeigen dennoch: Der Sanierungsbedarf ist immens. Um die Schäden im ganzen Bundesland auf den Fahrbahnen, Radwegen sowie Wald- und Forstwegen zu beseitigen, müssten laut Gutachter etwa 348 Millionen Euro investiert werden.

AGFK MV wird zum landesweiten Verein

Im Herbst geht es los. Dann wird die seit 2017 bestehende Arbeitsgemeinschaft für fahrrad- und fußgängerfreundliche Kommunen Mecklenburg-Vorpommern (AGFK MV) zu einem eingetragenen Verein. Aktuell ist sie ein Projekt der Hansestadt Rostock und wird finanziert vom Ministerium für Energie, Infrastruktur und Digitalisierung sowie über kommunale Mitgliedsbeiträge. Ab Oktober gehören neben Rostock auch Stralsund, die Landeshauptstadt Schwerin, Greifswald, Wismar, Neustrelitz und Anklam sowie die Gemeinde Heringsdorf zur AGFK MV. Sie alle wollen mehr für Verkehrsteilnehmer tun, die nicht motorisiert unterwegs sind. Das BMVI fördert über das Sonderprogramm „Stadt und Land“ in Kürze erstmals die Planung und den Bau von qualitativ hochwertigen Radverkehrsanlagen mit Fördergeldern in Millionenhöhe. Die AGFK MV soll ihre Mitglieder unter anderem dabei unterstützen, diese Mittel zu beantragen und bei der Umsetzung der Projekte helfen. Rückenwind bekommt die neue AGFK auch durch den Städte- und Gemeindetag M-V, der die Entwicklung seit dem Projektstart unterstützt und die Mitgliedschaft per Vorstandsbeschluss empfiehlt.

Nachholbedarf bei Strategie und Zuständigkeit

Der Handlungsdruck für die Politik ist also groß. Allerdings stehen die Entscheider vor der Frage: Wer ist verantwortlich und wer soll das bezahlen? Für viele Radfernwege in Mecklenburg-Vorpommern gibt es keinen zentralen Routenbetreiber. Der ADFC rät dazu seit Jahren, und im Ruhrgebiet ist das Prinzip zum Beispiel seit Jahren bewährt. „Dort teilen sich die Ruhr-Tourismus GmbH und der Regionalverband Ruhr (RVR) die Aufgabe“, sagt Louise Böhler, Tourismus-Expertin beim ADFC. Während der RVR die Strecke regelmäßig kontrolliert und Schäden ausbessert, kümmert sich der Tourismusverband um Produktentwicklung und Marketing. „Sie unternehmen regelmäßig mit den Hoteliers, den Fahrradverleihern und den Anrainern Ausfahrten, um für das Produkt ͵Radreiserouteʹ vor ihrer Haustür zu werben“, sagt Louise Böhler. Das ist clever. Denn so erfahren alle am Projekt Beteiligten buchstäblich das touristische Angebot. „Sie erkennen, warum sich die Investition lohnt“, sagt sie. Im Nordosten der Republik ist das anders. Weil eine zen-trale Anlaufstelle fehlt, ist mal das Land, eine Kommune oder eine Gemeinde für ein Stück Radfernweg zuständig. Sie müssen die Wege warten und Schäden beheben. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis fehlt kleineren Kommunen oftmals das Geld, um Schlaglöcher oder Wurzelaufbrüche auf ihrem Streckenabschnitt auszubessern. Manchmal investiert die Politik vor Ort auch lieber in den überfälligen Ausbau der Kita als in die Radroute – insbesondere wenn die Gemeinde nicht vom Tourismus profitiert.

Mangelware: Finanzmittel und Gesamtkonzept

Das schadet allerdings dem gesamten Land. Denn am Tourismus kommt zwischen Wismar und Usedom kaum jemand vorbei. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es rund 450.000 Betten für Urlauber. Die Ferienbranche ist hier ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. „7,75 Milliarden Euro haben der Tourismus und das Gastgewerbe 2014 ins Land gebracht. Das entsprach dem Landeshaushalt des Jahres“, sagt Referatsleiter Reinhard Wulfhorst. Das entspricht rund zwölf Prozent der Bruttowertschöpfung des Landes. Jeder sechste Arbeitsplatz hängt hier am Tourismus. Untersuchungen zeigen zudem: Mehr als 30 Prozent der Touristen kommen zum Radfahren an die Ostseeküste. Das weiß auch die Landesregierung. Trotzdem gibt es bislang noch keinen konkreten Plan, wie und wann die Reiserouten saniert werden sollen. Für kleine Sofortmaßnahmen hat sie 2019 ein Erhaltungsprogramm gestartet. Mit vier Millionen Euro sollen die Kreise und Gemeinden nun im Zeitraum von zwei Jahren kleine Mängel auf den Wegen ausbessern. „Das ist etwa ein Hundertstel des eigentlichen Bedarfs“, schätzt der Landesvorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs ADFC, Horst Krumpen. Allein für die Sanierung des Ostseeküsten-Radwegs, dem Aushängeschild der Region, seien 20 Millionen Euro notwendig. Horst Krumpen vermisst den politischen Willen und ein angemessenes Budget, um den Radverkehr für Radtouristen und Alltagsfahrer auszubauen.

Radentscheid: Auch in Rostock wurden Unterschriften für eine bessere Radinfrastruktur gesammelt. Marie Heidenreich (Mitte) setzt sich darüber hinaus für einen Radentscheid auf Landesebene ein.

Besserer Radverkehr für alle als Ziel

Wie es besser funktionieren könnte, hat der ADFC Landesverband zusammen mit dem Tourismusverband und der Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Kommunen (AGFK) Mecklenburg-Vorpommern bereits 2018 in einem Sieben-Punkte-Programm aufgezeigt: Das Herzstück des Programms ist der Aufbau eines lückenlosen Radwegenetzes bis 2030 für Alltags- und Freizeitfahrer. Der ADFC und die AGFK unterscheiden dabei nicht mehr zwischen Wegen für Touristen, Pendler oder Freizeitfahrern. „Die Radwege werden von verschiedenen Gruppen genutzt“, sagt Tim Birkholz, Projektkoordinator der AGFK in Mecklenburg-Vorpommern. Die Forderung nach einem landesweiten Netz für Radfahrer ist nicht neu. Bereits 2011 und 2016 haben die gewählten Volksvertreter in ihren Koalitionsvereinbarungen die Planung und den Bau des Netzes festgeschrieben. Passiert ist seitdem wenig. ADFC-Mann Horst Krumpen ist das Warten leid. „Für Autofahrer ist es selbstverständlich, von Wismar nach Schwerin auf einer gut ausgebauten und zusammenhängenden Straße zu fahren“, sagt er. Für Radfahrer endet der Weg auf der 30 Kilometer langen Strecke immer mal wieder vor einem Acker und werde erst 500 Meter später weitergeführt.

„Über 50 Prozent der Erwerbstätigen haben einen Arbeitsweg, der unter zehn Kilometer liegt.“

Tim Birkholz, Projektkoordinator der AGFK in Mecklenburg-Vorpommern

Hohe Potenziale auch für Alltagsradverkehr

Damit Radfahrer und auch Fußgänger bald sicher von A nach B kommen, sieht das Sieben-Punkte-Papier vor, auf Landesebene ein eigenes Referat für den Rad- und Fußverkehr zu schaffen. Auf diesem Weg soll die Mobilität für beide Zielgruppen attraktiver werden und ihr Anteil am Gesamtverkehr steigen. Das Potenzial, den Anteil der Radfahrer im Alltagsverkehr zu stärken, ist hoch in dem Bundesland. Laut der bundesweiten Studie „Mobilität in Deutschland (MID)“ von 2017 liegt ihr Anteil dort heute bereits bei 14 Prozent. Das sind vier Prozent mehr als im Bundesdurchschnitt. Experten sehen gerade unter den Pendlern noch viele Autofahrer, die für kurze Strecken aufs Rad umsteigen könnten. Im Jahr 2016 war der Arbeitsweg bei 44 Prozent der Erwerbstätigen hier zwar länger als zehn Kilometer. „Im Umkehrschluss heißt das, dass über 50 Prozent einen Arbeitsweg haben, der unter zehn Kilometer liegt“, betont Tim Birkholz. Auf dieser Distanz sind das Fahrrad und das E-Bike beliebt bei Berufstätigen, was unter anderem der 2012 vom Bund geförderte „Schweriner Versuch“ zeigte. Hier testeten acht Personen zwei Wochen lang im Berufsverkehr verschiedene Fahrzeuge. Dazu fuhren sie morgens und nachmittags zur Hauptverkehrszeit aus der Vorortsiedlung Friedrichsthal zum Rathaus Schwerin in der Altstadt. Sie legten die 6,5 bis 8 km lange Strecke abwechselnd mit dem Pkw (Benzin und elektrisch), per Motorroller (Benzin und elektrisch), Fahrrad, E-Bike oder dem ÖPNV zurück. Die Forscher untersuchten die Parameter Zeit, Kosten, Energieverbrauch, CO2-Ausstoß, Stress und körperliche Bewegung. Die Ergebnisse zeigten: Das Fahrrad und das E-Bike landeten in sämtlichen Kategorien auf den ersten beiden Plätzen. „Nach meinem Eindruck sind viele Menschen bereits weiter als die Politik“, betont dazu Reinhard Wulfhorst. Aber damit sie das Auto tatsächlich stehen ließen und aufs Rad mit oder ohne Motor umstiegen, müssten die Rahmenbedingungen stimmen. Dazu gehöre neben einem sicheren und zusammenhängenden Radwegenetz auch eine bessere Integration des Radverkehrs in das vorhandene Mobilitätsangebot.

Radgesetz nach NRW-Vorbild?

„Die Menschen brauchen eine gute Anbindung ans Schienennetz und überdachte Abstellanlagen mit Ladestationen für E-Bikes“, sagt Marie Heidenreich, Mitglied der Grünen in Rostock und Initiatorin des dortigen Rad-entscheids. Sie weiß: Beides ist Mangelware, selbst in der Landeshauptstadt Schwerin. Um das zu ändern, setzt sie sich nach dem gewonnenen Radentscheid in Rostock nun für ein Radgesetz auf Landesebene ein. Ihr Vorbild ist Nordrhein-Westfalen. NRW wird das erste Flächenland sein, das ein Radgesetz bekommt. Rund 207.000 Unterschriften haben die Aktivisten vom Radentscheid im vergangenen Jahr der Landesregierung in NRW vorgelegt, 66.000 waren für eine Anhörung nötig. An der großen Zustimmung für den Ausbau der Radinfrastruktur in der Bevölkerung kamen die Politiker nicht vorbei. Diese politische Richtungsentscheidung will Maria Heidenreich nun auch in Mecklenburg-Vorpommern umsetzen. „Ohne rechtliche Vorgaben bleibt es jedem Landkreis und jeder Kommune selbst überlassen, ob und wie sie den Radverkehr stärkt“, sagt sie. Das führt immer wieder dazu, dass Radwege an der Landesgrenze abrupt enden. Außerdem fehlten kleinen Gemeinden nicht nur das Geld, sondern auch die Planer, um die notwendige Infrastruktur zu umzusetzen. Sie fordert deshalb eine überregionale Radverkehrsplanung aus einer Hand sowie verbindliche Ziele und klar definierte Standards für Routen. „Dazu gehört unter anderem auch, dass die Pendler die Strecken im Winter oder bei Dunkelheit nutzen können“, sagt sie.

Ziel: Region zieht an einem Strang

Wie es mit dem Radverkehr in Mecklenburg-Vorpommern weitergeht, werden die kommenden Monate zeigen. Die Landesregierung hat Werkstattgespräche organisiert, um mit allen Beteiligten einen Plan zu erarbeiten. Tilman Bracher, Verkehrsforscher und Leiter des Forschungsbereichs Mobilität beim Deutschen Institut für Urbanistik wird die Gespräche moderieren. In einem sind sich alle Beteiligten jedenfalls einig: Die Bedingungen für alle Radfahrer müssen besser werden. Gute Argumente für einen schnellen Return on Investment liegen mit Blick auf die Stärkung des lokalen Tourismus ebenso auf der Hand wie vor dem Hintergrund von absehbar notwendigen Maßnahmen für Klimaschutz und der vielerorts geforderten Verkehrswende.

Tourismus als Wachstumsmotor im Nordosten

Fast sieben Prozent aller Reisenden aus Deutschland haben im vergangenen Jahr gemäß der Deutschen Tourismusanalyse 2019 die Seen und Ostseegemeinden in Mecklenburg-Vorpommern besucht und damit für rund 34 Millionen Übernachtungen gesorgt. Damit führt die Region in der Beliebtheit bei deutschen Gästen vor Bayern (5,5 %), Niedersachsen (4,8 %), Schleswig-Holstein (4 %) und Baden-Württemberg (2,9%). Der Tourismus ist ein wichtiger Umsatztreiber und wird auch für die Zukunft als Wachstumsmotor der Region gesehen.


Bilder: stock.adobe.com – Katja Xenikis, Tim Birkholz, stock.adobe.com – stylefoto24, Marie Heidenreich

Die Niederlande stellen für viele das Land dar, wie man es sich hier nach einer Verkehrswende wünscht. Beispiele zeigen: Mit Radwegen allein ist es nicht getan. Man muss dranbleiben und in größeren Zusammenhängen denken. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Wer an der Station Centraal in Amsterdam aus dem Zug steigt, steht mitten in einer Großstadt – und in einer Mobilitäts-Idylle: Über den weiten Vorplatz nur Radfahrer, Taxis und kleine E-Autos auf schmalen Wegen. Ansonsten ist der Platz von Fußgängern bevölkert, viele auf dem Weg zur wenige Meter entfernten Straßenbahn- und Busstation. Von hier aus fahren Bahnen in alle Winkel der weitverzweigten Stadt, die sich in den letzten Jahren sogar über künstlich angelegte Inseln im Norden ausgebreitet hat. Kurz vor dem Haupteingang des Bahnhofs beginnt die nahezu autofreie Einkaufsstadt.
In den letzten 15 bis 20 Jahren gab es auch durch Zuwanderung einen Schub an Arbeitsplätzen in der größten Stadt der Niederlande. Sie wächst kontinuierlich. Heute hat sie gut 850.000 Einwohner, vor 20 Jahren waren es noch 680.000. Die Räder der Fahrradpendler stehen wenige Meter von den Gleisen entfernt in teils schwimmenden Fahrradparkhäusern am Hinterausgang des Bahnhofs. Ihre Zahl wird laufend aufgestockt, trotzdem hinkt die Stadt dem weiter wachsenden Bedarf oft hinterher. Amsterdam ist aber auch die touristisch wichtigste Stadt in den Niederlanden. In den letzten Jahren lockte sie immer mehr Touristen und Hotelketten an.

Beispiel Amsterdam: die permanente Arbeit an der Lebensqualität

Die holländische Weltstadt wird, wie alle größeren Wirtschaftszentren, täglich von enormen Pendlerströmen heimgesucht. Natürlich leidet auch die Grachtenstadt unter der Verkehrslast, vor allem in Sachen Autoverkehr, auch wenn man es am bahnhöflichen Idyll zunächst gar nicht sieht. Staus wie in München oder Köln auf und neben den Hauptverkehrsadern, schlechte Luft, zu wenig Platz. Das gibt es auch hier. Doch die Stadt kämpft dagegen an. Autos aus dem Innenstadtbereich heraus zu halten, ist nicht einfach. Offizielle Internetseiten der Stadt raten davon ab, die Stadt per Auto zu besuchen. Ein dichtes Netz aus Park & Ride-Plätzen sorgt für etwas Entlastung. Die relativ hohen Gebühren eines elektronisch gesteuerten Bezahlsystems schrecken vom Besuch per Auto ab.
Und die Bewohner? In den Wohnvierteln wurden in den letzten 15 Jahren Parkausweise für Anwohner extrem verteuert. 535 Euro kosten sie in Amsterdam im Schnitt. Und die Parkplätze werden abgebaut: jährlich um etwa 1.500. Wer innerhalb der Stadt umzieht, muss im neuen Viertel auf seinen Parkausweis obligatorisch verzichten.
Intelligente Verkehrsplanung und -routing, ein ständig optimiertes Netz der öffentlichen Verkehrsmittel und, natürlich, das bekannte feingliedrige und eigenständige Radwege-Netz sind hier die größten Mobilitäts-Garanten. „Für unsere Städte gibt es nur eine Möglichkeit zu mehr Lebensqualität, und der führt über die Verringerung des Autoverkehrs“, sagt Bernhard Ensink, strategischer Berater beim Verkehrsplanungs- und Beratungsunternehmen Mobycon. Mittlerweile hat die Firma 45 Mitarbeiter an drei niederländischen Standorten, zudem einen Standort in Nordamerika. Ensink hat Erfahrung in Sachen Lenkung von Mobilitätsströmen und Förderung von Fahrradverkehr. Er war Gründer und Leiter der internationalen Fachkonferenz Velocity und leitete ab 2006 den Dachverband der europäischen Radfahrerverbände ECF.

Neue Herausforderungen und Pop-up-Radwege durch Corona

Die aktuelle Corona-Krise bringt neue Herausforderungen und bedeutet für Mobycon noch mehr Arbeit: Das Unternehmen war auch als Berater bei Corona-Pop-up-Radwegen in Berlin involviert. Für ihre Planung wurde kurzfristig sogar ein Handbuch in mehreren Sprachen herausgegeben – abrufbar auf der Internetseite mobycon.com. Eine Erfahrung aus Ensinks langjähriger Beratung und Analyse, die er für allgemeingültig hält: „Überall, wo mehr als 30 Stundenkilometer gefahren werden darf, macht Mischverkehr keinen Sinn!“ Eine klare Trennung der Wege für Autos und Fahrräder – ein Konzept, wie man es in den Niederlanden fast überall bestätigt bekommt. „In Holland ist es so, dass ambitionierte Städte mit eigenem Personal Projekte und Programme erarbeiten.“ Für die erste Analyse und Beratungen wird gern auf externe Unternehmen zurückgriffen. „Die Analyse ist das Wichtigste. Unterschiedliche Ausgangslagen brauchen unterschiedliche Maßnahmen“, sagt er und verweist auf Projekte in Delft und Rotterdam, wo regionale Fahrrad-Schnellstraßen gebaut wurden. In anderen Städten hätte man diese vielleicht ganz anders angelegt – entscheidend seien die Arten der Pendlerströme, vorhandene In­frastrukturen und vieles mehr. Und stehen bleiben gibt es nicht: Seit einigen Jahren werden bei Mobycon auch spezifische Besonderheiten für die schnellen S-Pedelecs in die Netzplanung einbezogen.

Fahrradsozialisation: in den Niederlanden eine gesellschaftliche Aufgabe

Natürlich muss man nicht nur baulich nachhelfen, um die Bewohner und Touristen auf die Räder zu bekommen, sondern zunächst gesellschaftlich. Wie mit einer Fahrrad-Bürgermeisterin für Amsterdam. Diese Ehrenamtsstelle gibt es in Amsterdam seit 2016 und mittlerweile auch andernorts. Katelijne Boer­mas Aufgabe ist es unter anderem, in der Bevölkerung Ideen für noch mehr Fahrradmobilität aufzuspüren und weiterzugeben – auch an die Behörden. Vernetzung ist für sie hier ein Zauberwort. Ein Fokus ihrer aktuellen Arbeit ist das Thema „Kinder aufs Fahrrad“. Helikopter-Eltern sind keine deutsche Erfindung, auch in Amsterdam gibt es den Trend, Kinder per SUV zur Schule und zu Freizeitaktivitäten zu chauffieren. Hier versucht man, dem entgegenzutreten. Aufklärung, Lernprogramme, Verbreitung von Lastenrädern. Schließlich sollen die Kinder nicht an das Auto gewöhnt werden, sondern an intelligente Nutzung nachhaltiger Mobilitäten – und das Fahrrad. Mit bis ins Detail abgestimmten Programmen lernen Kinder hier, gut und sicher Fahrrad zu fahren.

Vernetzt denken bringt Mobilitäts-Mehrwert. Die Hälfte der Bahnreisenden nutzt in den Niederlanden das Fahrrad als Zubringer.

Fahrradparadies? Das ist nur die halbe Geschichte

Das Bild der Niederlande als Fahrradnation ist richtig, aber es ist nur die Perspektive der letzten 30 bis 40 Jahre. Oft wird vergessen, dass auch Städte wie Amsterdam nicht als „Biketown“ geboren wurden. Es hilft, die Situation in Deutschland zu verstehen, wenn man sich die Geschichte der Fahrradnation vor Augen führt. Zunächst gleicht die Vergangenheit der Niederlande der bundesdeutschen Geschichte: Vor dem Zweiten Weltkrieg dominierte das Fahrrad das Stadtbild uneingeschränkt. Radwege? Auch sie gab es, aber Autos waren in der Unterzahl, in den meisten kleineren Städten waren Radwege kaum vorhanden, da unnötig. Durch eine dem deutschen Wirtschaftswunder ähnliche ökonomische Dynamik erreichten die Niederländer nach dem Krieg schnell einen hohen Wohlstand. Prosperität hieß auch hier: Konzentration auf das Auto. Ab Mitte der 1950er Jahre musste deshalb in vielen Städten mehr Platz fürs Auto geschaffen werden. Ganze Straßenzüge wurden abgerissen und neu aufgebaut. Mehrspurige Führungen, riesige Parkplätze in den Innenstädten. Es gab die ganze Palette an Umwidmungen der Flächen, die man auch aus Deutschland kennt. Die Zahl der Radfahrer sank dabei jedes Jahr um sechs Prozent.

„Wir müssen jetzt darüber nachdenken, was wir der jungen Generation vermitteln“

Katelijne Boerma, Amsterdamer Fahrrad-Bürgermeisterin

Mehr Auto-Mobilität – mehr Unfälle

Die durchschnittlich pro Tag zurückgelegte Strecke pro Person versiebenfachte sich auf fast 30 Kilometer. 1971 erreichte eine Folge der Entwicklung seinen traurigen Höhepunkt: 3300 Menschen starben bei Verkehrsunfällen, darunter ein hoher Prozentsatz an Kindern.
Hier trennen sich die Entwicklungen der beiden Länder: Ab den Siebzigern gingen die Holländer zu Tausenden auf die Straßen, um gegen die Verkehrstoten zu demonstrieren. Sie forderten sicherere Straßen und lebenswertere Innenstädte für Menschen, denen der Platz zum Leben weggenommen worden war. Wesentlich mit zu einem Umdenken beigetragen hat dabei die Ölkrise 1973. Sie verstärkte den Protest und stellte neben mehr Sicherheit und Menschenfreundlichkeit im Verkehr auch den Umweltgedanken und die Unabhängigkeit vom Erdöl in den Mittelpunkt. Einige kleinere Städte gingen voraus und schufen autofreie Innenstädte. Wo Mischverkehr bleiben sollte, da wurde ein neues Radwegenetz entwickelt – mit getrennten Wegen für Autos und Räder, Autostraßen wurden oft zurückgebaut. Wo komplette Fahrrad-Netze umgesetzt wurden, stieg der Anteil der Fahrradnutzung binnen kurzer Zeit wieder um bis zu 75 Prozent an. Mit fahrradpolitischen Richtlinien, die nicht verpflichtend waren, aber vom ganzen Land übernommen wurden, hatten sich die Niederlande auf den Weg zum Fahrradland gemacht, wie wir es heute kennen. Nebeneffekt: Laut Statista gab es im Jahr 2018 nur 678 Verkehrstote im ganzen Land.
Eine Voraussetzung für so einen Wandel ist unerlässlich: „Das Fahrrad muss als vollwertiges Verkehrsmittel anerkannt werden – von allen Beteiligten, vom Verkehrsplaner über die Behörden bis hin zum Nutzer“, betont auch Bernhard Ensink.

Fahrradanteil Utrecht: 40 Prozent und steigend

Eine der Städte, die in und nach den Siebzigern weitreichend umgebaut wurden, ist Utrecht. Die Stadt zählt 350.000 Einwohner, 125.000 Radfahrer sind laut Statistik täglich mit dem Rad in der City unterwegs. Das braucht entsprechend breite Radwege für die Rushhours, aber auch Parkmöglichkeiten. Um die 35.000 Plätze sollen es allein in der Innenstadt sein. Doch Utrecht ist auch eine Durchgangsstadt. Sie liegt zentral im Land, der Bahnhof Utrecht Centraal spielt eine herausragende Rolle für den Fernverkehr. Vor allem ins 45 Kilometer entfernte Amsterdam pendeln die Bewohner und die der umliegenden Ortschaften zur Arbeit. Für die Möglichkeit, das mit der Bahn in 25 Minuten zu tun, sorgt unter anderem auch das größte Fahrradparkhaus der Welt. Von der Einfahrt ins Parkhaus unter dem Bahnhof bis zum Zug brauchen Pendler etwa 10 Minuten – inklusive sicherem Abstellen des Zweirads. Seit Ende 2019 sind allein dort 12.500 Rad-Parkplätze vorhanden, dazu um die Ecke mehrere Hundert weitere für Spezial- und Lastenräder. Das Parkhaus ist mit einem Leitsystem ausgestattet, das die Reihen angibt, in denen sich freie Plätze befinden.
Dieses Beispiel zeigt: Vernetzt zu denken bringt Mobilitäts-Mehrwert. Wer Auto-Pendlerströme vermindern will, sorgt für gute Anschlüsse bei der alternativen Mobilität schon auf halbem Weg dorthin. In den Niederlanden erreicht rund die Hälfte der Pendler den Bahnhof mit dem Fahrrad. Schon innerhalb der Stadt sichert ein auf den Radverkehr zugeschnittenes Wegenetz eine komfortable Anfahrt zum Bahnhof. Am Ankunftsort wird die Fahrt mit dem öffentlichen Verkehr OV oder Leihrädern von OV Fiets. Diese auch am kleinsten holländischen Bahnhof vorhandenen Leihräder kosten 3,85 Euro je Tag. Deutlich günstiger wird es mit dem Jahresticket, das nur wenige Euro kostet. Von der Stadt finanzierte Fahrradlehrer geben Unterricht oder helfen Neuzugezogenen, sich auf dem Rad in der Großstadt zurechtzufinden. E-Tretroller, die hierzulande vor Kurzem noch als vermeintliche Mobilitätsrevolution gefeiert wurden, sind in den meisten niederländischen Städten übrigens so gut wie nicht vertreten; sie werden einfach nicht gebraucht.

Auf einem guten Weg: Die vorhandenen Radschnellwege in den Niederlanden in Grün, die orangefarbenen sind in der Planungs- oder Ausführungsphase. Zentren sind bereits teils sehr gut abgedeckt. Grau: Verbindungsrouten der Kluster.

Niederländer denken größer und vernetzter

„Hier in Holland sind alle Autofahrer auch Fahrradfahrer“, sagt Marion Kresken vom IPV Delft, einem Ingenieurbüro in der gleichnamigen Stadt, das sich mit der Planung und Durchführung von Radweganlagen, speziell Brücken beschäftigt. „Das fördert das Verständnis füreinander und für die Radnetz-Planungen ungemein. Überhaupt gibt es in den Niederlanden viel mehr Institutionen und Verbände, die netzwerkartig zusammenarbeiten und vom öffentlichen Träger auch gern einbezogen werden. Man analysiert zusammen und denkt zusammen nach, das kann sehr effektiv sein.“ Und auch die unterschiedliche Mentalität und Lebensweise wirke sich auf die Entwicklung und Dynamik hin zur neuen Mobilität aus. „Man denkt hier vernetzter, größer.“ Ein gutes Beispiel ist der geradezu ikonische Hovenring in Eindhoven, der die Radfahrer aus dem gefährlichen Kreuzungsverkehr nimmt und ihnen auf lichter Höhe einen eigenen Kreisverkehr gibt. Dabei war nicht der Wunsch nach einem besseren Fluss des Fahrradverkehrs der Anlass, „sondern der Wunsch nach ungehindertem Autoverkehr“, erklärt dazu Bernhard Ensink. Der kühne Entwurf von IPV Delft kam bei den Entscheidern in Niederlanden gut an. „Unsere Entwürfe für deutsche Projekte sind dagegen oft zu gewagt, was die Reichweite der Lösungen anbetrifft“, so Marion Kresken. In Deutschland traue man sich derzeit weniger zu und es sei komplizierter, etwas auf die Beine zu stellen.

IPV Delft hat den Hovenring in Eindhoven mitentwickelt und gebaut. Der erhöhte Kreisverkehr wurde wie eine Hängebrücke mit Abspannseilen an einem Pylon aufgehängt. Die Anfahrrampen für die Radfahrer sind relativ lang, um die Steigung gering zu halten. Täglich nutzen etwa 4000 bis 5000 Radfahrende das Bauwerk. Die Kosten des Projekts betrugen elf Millionen Euro.

Beispiel Houten – Modellstadt statt Utopie

Die Kleinstadt Houten, wenige Kilometer südlich von Utrecht, wird auch „Verkehrskonzept der Zu-kunft“ genannt. Das ursprüngliche 8000-Einwohner-Dorf im Umkreis von Utrecht wurde so umgebaut, dass man von seinem Viertel aus die angrenzenden Wohnviertel zu Fuß oder mit dem Fahrrad direkt erreichen kann; mit dem Auto aber muss man auf eine Umgehungsstraße, der Weg wird ungleich länger und unbequemer. Die direkten Wege sind umgekehrt dadurch ruhig und sicher. Das Rad hat Vorrang vor dem Autoverkehr. Das neue Zentrum von Houten ist fast komplett autofrei, Radverkehrs- und Autostraßen sind praktisch völlig entkoppelt. Die Trennung der Verkehrsspuren hat Erfolg: Seit 30 Jahren soll es in Houten keinen tödlichen Unfall gegeben haben. Die neuen Bereiche der Stadt wurden von Anfang an als Viertel der alternativen Mobilität und der kurzen Wege für Fußgänger und Radfahrer geplant. Die Einkaufsregion im neuen Zentrum rund um den Bahnhof ist – gegen anfängliche Bedenken der Einzelhändler – gut besucht. Die Zufahrt zu den umliegenden günstigen Parkhäusern ist unkompliziert, die Wege sind kurz.

Deutschland als Fahrradland?

Auch wenn Konzepte wie die von Amsterdam, Utrecht oder Houten nicht auf jede Stadt und schon gar nicht für jede Stadtgröße transformierbar sind: Sie zeigen, wie viel Lebensqualität möglich wird, wenn Autos nicht mehr den Verkehrsraum bestimmen. Mobycon-Berater Bernhard Ensink kennt die Entwicklung beider Länder auf dem Verkehrs-sektor und glaubt an Deutschland als potenzielle Fahrradnation: „In Deutschland will man jetzt schneller voran, man spürt es in allen Kontakten bis hin zum Verkehrsminister. Ich glaube fest, dass Deutschland ein Fahrradland werden kann!“


Bilder: Hector Hoogstad Architecten – Petra Appelhof, Georg Bleicher, Fietsersbond

Berlin hat als erste Stadt Deutschlands ein Mobilitätsgesetz. Radfahren soll so komfortabel und sicher werden wie Autofahren. Wie schaut es nach der Verabschiedung des Gesetzes im Juni 2018 aus? Ein Zwischenstand. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Die Holzmarktstraße in Berlin-Mitte kennt in der Hauptstadt fast jeder, der Fahrrad fährt. 2018 wurde dort die erste Protected Bike Lane eröffnet – ein breiter grüner Radstreifen auf der Fahrbahn, der mit rot-weißen Pollern die Radfahrer vor dem schnellen Autoverkehr schützen soll. Für Politik und Verwaltung war das der Auftakt zum Umbau ihrer Stadt. Berlin soll Fahrradstadt werden. Noch ist auf den Straßen der Hauptstadt wenig von der Verkehrswende zu sehen. Trotzdem ist Berlin bundesweit ein Impulsgeber. Der Richtungswechsel zu mehr nachhaltiger Mobilität steht allen Städten und Kommunen bevor. Oft fehlt der Politik und somit der Verwaltung jedoch ein Leitbild, eine klare Vision für die nachhaltige Stadt von morgen. In Berlin ist das anders. Dort hat die rot-rot-grüne Koalition 2018 die Rahmenbedingungen für den Umbau im Mobilitätsgesetz festgesetzt. Zukünftig gilt: Der Umweltverbund, also der Rad-, Fuß-, Bus- und Bahnverkehr hat in Berlin Vorrang. Diese Entscheidung traf die Politik nicht freiwillig, sondern auf Druck der Bevölkerung. Und die wollte vor allem eines: sicher Radfahren.

Mehr Sicherheit für Radfahrer: Der Senat testet neue Maßnahmen wie Poller, grüne Farbe oder aufgepinselte Sicherheitssperren.

Mehr Geld, Personal und neue Strukturen auf Landesebene

Die Radverkehrsplanung war über Jahrzehnte ein Randthema in der Hauptstadt. 2016 waren gerade mal dreieinhalb Radverkehrsexperten für das Land und die zwölf Berliner Bezirke zuständig. Als das Mobilitätsgesetz Mitte 2018 in Kraft trat, änderte sich das schlagartig. Das Budget wurde auf 200 Millionen Euro für die Legislaturperiode erhöht und bis Ende 2019 wurden über 50 Radverkehrsexperten eingestellt. Aber weiterhin fehlt Personal. In den Bezirken sind nur 16 der 24 Stellen besetzt. „Wir spüren, wie alle Branchen, den Fachkräftemangel“, sagt Jan Thomsen, Sprecher der Verkehrsverwaltung. Allerdings setzen auch nicht alle Bezirke den Richtungswechsel der Politik um. Der Bezirk Reinickendorf hat beispielsweise die beiden freien Planerstellen noch nicht ausgeschrieben. „Die Bezirke sind politisch autark“, erklärt Thomsen. Der Ausbau der Infrastruktur liege allein in ihrer Hand. Für die bezirksübergreifenden Routen dagegen ist das Land zuständig – in Absprache mit den Bezirken.
Auf Landesebene hat sich der Berliner Senat viel vorgenommen. Bis 2030 sollen 100 Kilometer Radschnellwege geplant und gebaut werden. Das neue Radverkehrsnetz soll modernen Standards entsprechen und über zentrale Achsen alle wichtigen Punkte der Hauptstadt miteinander verbinden. Für die Fahrräder, die bislang kreuz und quer an den S- und U-Bahn-Haltestellen angeschlossen werden, soll es eigene Radstationen oder Parkhäuser geben, mit Schließfächern und sicheren Boxen für E-Bikes.
Ein zentrales Thema in der ganzen Planung ist die Sicherheit. Mit dem Mobilitätsgesetz hat die Politik Vision Zero zu ihrem neuen Leitbild erklärt – also null Verkehrstote und Schwerverletzte. Um das umzusetzen, sollen Kreuzungen komplett neu gestaltet und umgebaut werden. Viele der geplanten Vorhaben sind Neuland für die Planer und die Verwaltungen. Oftmals brauchen sie auch neue Regelwerke, Richtlinien oder Standards. Dafür ist unter anderem das Unternehmen Infravelo wichtig.

Mobilitätsgesetz aus bürgerschaftlichem Engagement

Das Berliner Mobilitätsgesetz ist ein Novum in Deutschland. Es steht für die Verkehrswende in der Hauptstadt und ist aus dem Protest der Zivilgesellschaft hervorgegangen. Ohne den „Volksentscheid Fahrrad“ würde es das Gesetz wohl nicht geben. Die 2016 gegründete Initiative forderte sichere und moderne Radwege für 8- bis 80-Jährige. Anfangs wurden die Aktivisten von Planern und Politikern noch belächelt. Auf unzähligen Infoveranstaltungen warben sie jedoch für ihre Idee und demonstrierten an Unfallorten für mehr Verkehrssicherheit oder an viel befahrenen Straßen für Protected Bike Lanes. Ihr Anliegen traf einen Nerv. Während des Wahlkampfes 2017 zum Berliner Abgeordnetenhaus sammelten sie innerhalb weniger Wochen rund 100.000 Unterschriften für ihre Sache. Damit machten sie Radverkehr zum Wahlkampfthema. Ihr Engagement mündete 2018 im Mobilitätsgesetz, dessen Rahmenbedingungen die Mitglieder vom Volksentscheid Fahrrad gemeinsam mit Verbänden, Experten und der rot-rot-grünen Landesregierung ausgehandelt haben.

Infravelo baut Berlin um

Das landeseigene Unternehmen Infravelo wurde 2017 gegründet und soll den Prozess hin zu einer besseren Radverkehrsinfrastruktur strukturieren und koordinieren. Die Bauingenieurin Katja Krause leitet Infravelo. Als gebürtige Berlinerin kennt sie die Probleme ihrer Stadt genau. Sie hat in der Hauptstadt studiert und anschließend in Berlin und Köln als ausgewiesene Tunnelspezialistin Tiefbau-Projekte betreut. Nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs war sie dort fünf Jahre lang für die darunterliegende U-Bahn-Baustelle zuständig. Da brauchte sie einen kühlen Kopf als Planerin und Krisenmanagerin. Seit 2017 sorgt sie dafür, dass der Richtungswechsel in der Verkehrspolitik auf Berlins Straßen Gestalt annimmt. Rund 30 Mitarbeiter helfen ihr zurzeit dabei. Zusammen mit ihrem Team ist sie für die bezirksübergreifenden Radverkehrsprojekte zuständig. Dazu gehört unter anderem der Bau von Radschnellwegen und Fahrradparkhäusern. Allerdings planen sie selten selbst. Stattdessen halten sie die Fäden in der Hand, vergeben Aufträge für Projekte und Machbarkeitsstudien, entwerfen Pilotprojekte und diskutieren mit den Anwohnern ihre Pläne. „Wir sind Bauherren, Planer und Kommunikatoren“, sagt Katja Krause.

„Wie sieht der Radweg der Zukunft aus?“

Grundlagenarbeit für Beschleunigung braucht Zeit

Ein großer Teil der Arbeit von Infravelo ist Neuland, und aktuell leisten sie vor allem wichtige Aufbauarbeit. Dazu gehört auch die neue Projektdatenbank für das landesweite Radwegenetz. Diese Plattform ist ein Novum. Erstmals sehen die Radverkehrsplaner auf einen Blick, was ihre Kollegen in den Nachbarbezirken aktuell planen, bauen oder bereits abgeschlossen haben. Das erleichtert allen Beteiligten, die Projekte gemeinsam zu koordinieren. Zuvor endete jede Planung an der Bezirksgrenze. Außerdem werden Vorhaben, die die Pläne des Senats vorantreiben, automatisch markiert und gebündelt. Auf diesem Weg werden beispielsweise Unfallschwerpunkte schneller umgebaut. Zeit ist ein wichtiger Faktor in Berlin. Der Bau eines Radwegs dauert hier momentan rund vier Jahre. Ingmar Streese, Staatssekretär für Verkehr, ist das zu lang, er will den Prozess verkürzen. „Die Verwaltung arbeitet teilweise seit 100 Jahren auf derselben Grundlage“, sagt er. Anhand eines fiktiven Radwegs analysiert er zurzeit mit Mitarbeitern der Infravelo und fünf Berliner Bezirken die einzelnen Arbeitsschritte. Schlussendlich wollen sie mit einer eigenen Vorlage zum Radwegebau den gesamten Prozess beschleunigen.

FixmyBerlin: Online-Plattform schafft Transparenz

Bei den Bürgern kommt von der Aufbauarbeit bislang nur wenig an. Was sie sehen, ist: Auf der Straße passiert kaum etwas. Das soll sich ändern. Im Auftrag der Senatskanzlei und des Bundesverkehrsministeriums hat das Start-up FixmyBerlin eine interaktive Karte entworfen, die sämtliche Bauvorhaben für den Radverkehr nebst Projektstand in der Hauptstadt anzeigt. Über die gleichnamige Plattform können sich interessierte Bürger nun jederzeit über die verschiedenen Bauprojekte genau informieren. „Anfangs fürchteten die Verwaltungen, dass die Beschwerden zunehmen“, sagt Heiko Rintelen, Geschäftsführer von FixmyBerlin. Aber das Gegenteil sei der Fall. Die Plattform entlastet die Behörden spürbar: „30 bis 50 Prozent ihrer Arbeitszeit haben die Mitarbeiter früher für das Beantworten von Bürgeranfragen verwendet“, sagt er. Seit es die Karte gibt, seien die Anfragen deutlich zurückgegangen.

Anhand von Bildern können Bewohner entscheiden, ob sie auf den abgebildeten Radwegen Fahrrad gerne fahren würden oder nicht. Die digitalen Lösungen dafür existieren.

Bedarfsabfrage per Mausklick

Mittlerweile nutzen die ersten Bezirke die Plattform konkret für ihre Radverkehrsplanung. Friedrichshain-Kreuzberg hat im vergangenen September die Anwohner gefragt, an welchen Stellen im Bezirk Fahrradbügel fehlten. Die Resonanz war riesig. Über 1200 Wunschstandorte gingen innerhalb von vier Wochen auf FixmyBerlin ein. Sie werden jetzt geprüft und nach und nach umgesetzt. Dialogveranstaltungen mit den Bürgern zum Bau von Radwegen findet Rintelen weiterhin wichtig. „Aber in diesem Fall reichte eine einfache Abfrage völlig aus und sprach eine viel breitere Gruppe in der Bevölkerung an.“ Momentan testet das Team eine neue Methode im Vorfeld der Radverkehrsplanung. Mit dem Berliner Tagesspiegel haben die Daten-, Kommunikations- und Verkehrsexperten eine Umfrage gestartet, die anhand von 3D-Visualisierungen sämtliche Typen an Radinfrastruktur zeigt und abfragt, auf welcher Art von Radwegen sich die Menschen am sichersten fühlen. „Einen ernsthaften Dialog kann ich digital nicht abbilden“, so Rintelen. Aber die Stadtbewohner könnten anhand der Bilder durchaus entscheiden, ob sie auf den abgebildeten Radwegen Fahrrad fahren würden oder nicht. Mit dieser Umfrage betritt das Team Neuland. Bislang gibt es kaum Untersuchungen über Menschen, die nicht Rad fahren. Damit Stadtbewohner aber zukünftig tatsächlich mehr Alltagswege auf zwei statt auf vier Rädern zurücklegen, muss man die Beweggründe kennen, die einen Umstieg verhindern. Die Ergebnisse stehen noch aus. Das Team von FixmyBerlin erhofft sich von der Umfrage ein klares Stimmungsbild, das den Planern bei ihren Entscheidungen hilft. Wenn die Ergebnisse beispielsweise zeigten, dass das Sicherheitsgefühl der Radfahrer bei einer Radwegbreite von unter 2,3 Metern problematisch sei, brauche man diese Maßnahme gar nicht erst zu bauen, sagt Rintelen. Mit der Plattform beschreitet FixmyBerlin einen neuen Weg in der Infrastrukturplanung. Auf diesem Weg kann die Verwaltung die Bevölkerung direkt fragen, was für einen Typ Infrastruktur sie sich wünscht. Das ist ein komplett neuer Ansatz. Die Bevölkerung kann an der Entwicklung neuer Standards mitwirken. Bislang ist das allerdings noch Zukunftsmusik.

Heiko Rintelen ist jeden Tag mit dem Rad in Berlin unterwegs. Mit dem FixmyBerlin-Team liefert er digitale Lösungen, die den Austausch mit den Bürgern erleichtern und den Umbau zur Fahrradstadt beschleunigen.

Lasten auf die Räder

Eine Verkehrswende ist mehr als nur der Umbau von Straßen. Um Autofahrern den Umstieg aufs Fahrrad zu erleichtern, fördert die Senatsverwaltung deshalb unter anderem auf vielen Ebenen den Einsatz von Cargobikes – beispielsweise über Kaufprämien. 200.000 Euro waren 2018 im Fördertopf. Privatleute und Gewerbetreibende konnten bis zu 1000 Euro pro Rad beantragen. Die Nachfrage war riesig. Innerhalb weniger Stunden nach dem Start der Kampagne war das Kontingent aufgebraucht. Im Folgejahr wurde das Budget dann auf 500.000 Euro aufgestockt. Aber mit den Lastenrädern ist es in der Stadt ähnlich wie mit den Autos: Eigentlich braucht man sie nur selten. In vielen Großstädten kann man deshalb inzwischen sogenannte Freie Lastenräder über Organisationen, Vereine oder den ADFC kostenlos mieten. Berlin hat mit rund 120 Cargobikes die größte Flotte bundesweit. Sie stehen vor Cafés, Vereinen, Bürgerhäusern oder bei Privatleuten. Der Ortsverband des ADFC organisiert den Verleih und kümmert sich um die Wartung. Die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz hat im vergangenen Jahr 40 Räder gespendet. „Von der sauberen, platzsparenden und leisen Mobilität profitiert der ganze Kiez“, erklärt Regine Günther, Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz das Engagement. Sie hofft, dass damit der Pkw-Verkehr reduziert wird. Eine Umfrage des Berliner ADFC zeigt: Das funktioniert. „40 bis 50 Prozent unserer Nutzer sagen, dass sie damit Autofahrten ersetzen“, erklärt Thomas Bürmann vom Berliner Ortsverband.
Wenn es nach der Senatorin geht, ist auch der Wirtschaftsverkehr bald deutlich klimafreundlicher unterwegs. Das zentrale Problem ist, dass der Online-Handel weiter boomt. In einem Pilotprojekt testete der Senat deshalb mit den fünf Großen der Paketdienstbranche Alternativen zum Sprinter. Am Mauerpark, am Rande des Prenzlauer Bergs, starten seit Frühjahr DHL, DPD, GLS, UPS und Hermes ihre morgendliche Fahrt zum Kunden mit dem Lastenrad statt mit dem Dieseltransporter. Damit das überhaupt funktioniert, brauchen die Dienstleister kleine Zwischendepots im Zustellbezirk. Am Mauerpark hat jeder Lieferdienst zwar eigene Container, aber die Zusteller teilen sich die Lagerfläche. Das gibt dem Projekt auch seinen Namen: Kooperative Nutzung von Mikro-Depots, kurz Komodo. Die Bilanz nach den ersten zwölf Monaten war positiv. Mit ihren elf Cargobikes haben die Fahrer 38.000 Kilometer mit Dieselfahrzeugen ersetzt und damit effektiv elf Tonnen des Treibhausgases CO2 eingespart. Eigentlich war das Projekt nur auf ein Jahr ausgelegt. Aber die Laufzeit wurde immer wieder verlängert, zuletzt bis März 2020. Laut Christian Kaden, der Komodo für die LogisticNetwork Consultants GmbH betreut, soll es noch weitergehen. Allerdings müsse das Container-Dorf umziehen, da der Standort gebraucht wird.

Vision Zero: Safety first

Neben dem Aufbau der Infrastruktur ist „Vision Zero“ ein zentraler Pfeiler des Mobilitätsgesetzes. Das gilt auch für den Rad- und Fußverkehr. Von diesem Ziel ist Berlin bislang allerdings noch weit entfernt. Zwar sind die Zahlen der Verkehrsopfer 2019 leicht zurückgegangen, aber bereits in den ersten sechs Wochen des Jahres sind in der Metropole fünf Radfahrer gestorben. Drei von ihnen wurden von einem abbiegenden Bus beziehungsweise abbiegenden Lkws übersehen, überrollt und getötet, einer von einem Raser. In der Vergangenheit hatten tödliche Unfälle bezogen auf die Infrastruktur selten Konsequenzen. Der Flüssigkeit des Autoverkehrs wurde Priorität vor der Sicherheit zugebilligt. Laut Staatssekretär Streese gilt das in Berlin nicht mehr. „Verkehrssicherheit geht vor Schnelligkeit“, sagt er. Gleich am Tag nach dem tödlichen Unfall am Kottbusser Tor, wo eine 68-jährige Radfahrerin von einem rechtsabbiegenden Lkw-Fahrer mit seinem Fahrzeug überrollt und getötet wurde, prüfte eine Kommission der Berliner Verkehrsbehörde die Verkehrssituation vor Ort. „Infolgedessen haben die Vertreter an dieser Kreuzung Tempo 30 angeordnet“, sagt Streese. Außerdem sollen künftig die Grünphasen für Radfahrer und Kraftfahrzeuge an dieser Ampel getrennt werden. Damit sollen Rechtsabbiegeunfälle komplett ausgeschlossen werden.

Druck aus der Zivilgesellschaft u. a. mit Blumen und Ghostbikes sowie gezielten Aktionen, wie von Changing Cities.

Ziel: neuer Berlin-Standard für sichere Kreuzungen

Viele Kreuzungen sind in der Me­tropole mit dem zunehmenden Auto- und Radverkehr überlastet. Allerdings fehlten bislang Ideen zum Umbau. Deshalb haben sich die Berliner im vergangenen Jahr Rat aus den Niederlanden geholt. Dort werden seit Jahren die sogenannten sicheren Kreuzungen nach einem speziellen Design gebaut. In einem Workshop haben die Planer die verschiedenen Entwürfe diskutiert und eigene Muster-Kreuzungen für die 3,7-Millionen-Einwohner-Metropole entwickelt. Drei bis vier der Entwürfe sollen weiter ausgearbeitet und dann als Pilotprojekte umgesetzt werden. Ziel ist es, mittelfristig neue Standards für sichere Kreuzungen in der Hauptstadt zu entwickeln.

Austausch mit Bürgern: Infravelo stellt jedes Vorhaben in den Bezirken zur Diskussion.

Konflikte zwischen Radaktivisten und Verkehrsplanern

Vielen Radfahrern und Radaktivisten in der Hauptstadt dauern die aktuellen Prozesse zu lange. Ihnen fehlen sichtbare Ergebnisse auf der Straße. Insbesondere den Radaktivisten von Changing Cities. Ohne die Nachfolgeorganisation des Volksentscheids Fahrrad würde es das Mobilitätsgesetz nicht geben. Ihre zehn Forderungen sind das Fundament für den Teil zum Radverkehr. Ihre Sprecherin Ragnhild Sørensen äußert deutlich Kritik: „Was bislang gebaut wurde, schafft ein Planer in einem Jahr“, sagt sie. Tatsächlich erscheint die Ergebnisliste bislang von außen betrachtet relativ kurz: Es gibt gerade mal eine Handvoll Protected Bike Lanes in der Stadt, 21 Kilometer neue grün markierte Radwege und 13.500 neue Fahrradbügel. „Punktuell hat sich etwas verbessert”, sagt sie, doch die meisten Radfahrer auf Berlins Straßen spürten davon kaum etwas.
„Wir sind in der Hochlaufphase, in fünf Jahren sieht die Stadt ganz anders aus“, betont dagegen Jan Thomsen, Sprecher der Verkehrssenatorin Regine Günther. Neben der Planung müssten viele Gespräche geführt werden mit Vereinen, Behörden, Verbänden und Anwohnern. „Für einen sieben Kilometer langen Radfernweg haben wir für die Grundlagenermittlung und Vorbereitungen rund 50 Gespräche organisiert“, erläutert sie. Der Naturschutz, aber auch Verbände wie der Fuß e.V. oder Behördenvertreter, beispielsweise der Denkmalschutz, müssten informiert und gehört werden. „Wir haben in Deutschland geregelte Verfahren, wo alle angehört werden. Das ist ein wertvolles Gut.“

Berliner Initiativen bleiben eine Erfolgsgeschichte

Trotz des verzögerten Starts in Richtung Fahrradstadt sind das Mobilitätsgesetz und die Bewegung Volksentscheid Fahrrad Erfolgsgeschichten. Der neue Verein Changing Cities berät als politisch unabhängige Kampagnenorganisation inzwischen bundesweit über 20 Initiativen, die nach ihrem Vorbild ebenfalls per Volksbegehren die Politik dazu drängen, den Radverkehr auszubauen. Berlin ist in Deutschland aktuell Vorbild und Vorreiter. Hier werden die Grundlagen und Standards für eine moderne Radverkehrsplanung geschaffen. Auch wenn der Weg zur Fahrradstadt noch weit ist.

Tipps und Erfahrungen

von Katja Krause, Leiterin der Berliner Infravelo GmbH

Was raten Sie Ihren Kollegen?
Haben Sie keine Scheu vor komplexen, langwierigen Projekten, sondern starten Sie mit diesen. Wir haben mit der Planung der Radschnellwege begonnen. Inzwischen liegen erste Ergebnisse der Machbarkeitsstudien vor und wir stellen unsere Vorhaben den Anwohnern in den Bezirken vor. So dauert der Planungsprozess am Anfang zwar länger, sichtbare Radinfrastruktur auf die Straße zu bringen, aber im Ergebnis schaffen wir langfristig verbesserte Bedingungen.

Wie kann der Ausbau des Radwegenetzes beschleunigt werden?
In Berlin fehlt uns immer noch Personal. Wir brauchen dringend qualifizierte Bewerber. Gerne auch aus anderen Infrastrukturbereichen wie dem Autobahn- und dem Flughafenbau. Außerdem brauchen wir Planungssicherheit. Das heißt: Die Investitionen sollten kontinuierlich auf einem hohen Niveau bleiben, damit wir Tempo beim Bau der Radinfrastruktur sicherstellen können. Momentan befindet sich ein Großteil unserer Projekte in Planung.

Wie reagiert die Bevölkerung auf den Umbau vor ihrer Haustür?
Das Interesse an den Bürgerveranstaltungen in den einzelnen Bezirken ist stets sehr groß. In der Regel kommen 120 Bürgerinnen und Bürger – die zu Fuß, mit Fahrrad und anderen Verkehrsmitteln unterwegs sind. Sie haben großes Interesse daran, was sich in ihrem Bezirk verändern wird. Die Atmosphäre ist sehr konstruktiv. Wir informieren bereits im Vorfeld, wo zum Beispiel die Radschnellverbindung welchen Verlauf nehmen könnte, und fordern die Bewohnerinnen und Bewohner auf, uns ihre Fragen und Anmerkungen zu geben. Alle Hinweise werden aufgenommen und von den Fachplanungsteams kommentiert und in der Planung berücksichtigt. Außerdem veranschaulichen wir anhand von Schaubildern die Umgestaltung des Straßenraums. Wir wollen den Anwohnern zeigen, dass der Umbau der Straße oder die Umverteilung der Flächen attraktiv sein kann. Das funktioniert gut. Berlin hat ein neues Leitbild zur Mobilität und wir helfen dabei, es umzusetzen.


Bilder: Infravelo, FixmyBerlin, Andrea Reidl, Changing Cities