Dr. Uwe Schneidewind ist seit Anfang November 2020 neuer Oberbürgermeister der bergischen Großstadt Wuppertal und hat dafür die Leitung des renommierten Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie aufgegeben. Was es für ihn braucht, ist „Zukunftskunst“. Also die Fähigkeit, kulturellen Wandel, kluge Politik, neues Wirtschaften und innovative Technologien miteinander zu verbinden. Was treibt den hoch angesehenen Vordenker und Transformationsforscher an und was sind seine Ziele im Bereich Verkehrswende? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Herr Dr. Schneidewind, wie geht es weiter in Wuppertal? Sie vertreten ja die grundsätzliche Auffassung, dass man Verkehr vermeiden, verlagern und verbessern müsste.

Das ist ja ein jahrzehntealtes verkehrspolitisches Paradigma im Sinne der grundlegenden Herangehensweise bei einem veränderten Verkehr. In der aktuellen Diskussion geht es vor allem um Verbesserungen, also vor allem Schadstoffe in den Innenstädten und Elektroautos. Aber das Thema ist ja viel grundsätzlicher.

Wo sehen Sie aktuell die eigentlichen Herausforderungen?
Es gilt eine umfassendere Perspektive einzunehmen. Dann werden die Diskussionen schwieriger, aber die Ergebnisse wirkungsmächtiger. Gerade das Thema „Verlagern“ vom Auto hin zu ÖPNV und Radverkehr mit einer anderen Verteilung des Straßenraums führt zu sehr kontroversen Diskussionen, die man aber führen muss. Die Debatte über Vermeidung berührt städtebauliche Strukturen und grundlegende Fragen des Wirtschaftswachstums. Sie ist damit noch langfristiger. Man kann sagen, je grundsätzlicher, aber am Ende auch wirkungsmächtiger, desto schwieriger wird die Diskussion.

Waren die schwierigen Diskussionen ein Grund, warum Sie von der Theorie in die Praxis, sprich in die Politik gewechselt sind?
Ich komme aus der Transformationsforschung, die verstehen will, wie Veränderungsprozesse im politischen und gesellschaftlichen Bereich möglich sind. Dazu gibt es viele Theorien, aber ich habe immer wieder gesehen, wie wenig sich da draußen tatsächlich bewegt. Jetzt die Chance zu haben, in dieses Gefüge einzutauchen und zu sehen, was möglich ist, das war für mich eine große Motivation.

Die mit großem Aufwand erbaute und im Jahr 1901 eröffnete Wuppertaler „Schwebebahn“ ist nicht nur das Wahrzeichen der Stadt, sondern auch die wichtigste Verkehrsverbindung. Auf 13,3 Kilometern führt die denkmalgeschützte Hängebahn, dem Flusslauf der Wupper folgend, durch das Tal.

Die auf der stillgelegten Rheinischen Bahnstrecke errichtete „Nordbahntrasse“ ist ein Magnet für Radfahrer und Fußgänger. Im und am alten Bahnhof Mirke befindet sich heute die „Utopiastadt“ als Ort für kreative Stadtentwicklung.

Spüren Sie aktuell Rückenwind für das Thema Verkehrswende?
Wir merken in der Bevölkerung, dass sich Wertvorstellungen verschieben. Es gibt ein neues Verständnis von qualitätsvollen Innenstädten und von neuen Anforderungen an den städtischen Verkehr. Deutlich wurde das zum Beispiel bei den Wahlen in Hannover, bei denen ein Oberbürgermeister (Anm. d. Red.: Belit Onay, Grüne) ins Amt gewählt wurde, der den Wahlkampf mit dem Versprechen einer autofreien Innenstadt geführt hat. Ähnliches hat sich in diesem November bei den Kommunalwahlen in Aachen und Bonn gezeigt. Wir kennen ja eigentlich seit dreißig Jahren die Konzepte, wie nachhaltiger Verkehr aussehen müsste. Mit der neuen Legitimation werden Ergebnisse plötzlich greifbar.

Eine Ihrer Leitlinien in Bezug auf den Verkehr ist ja, dass Sie die Grabenkämpfe zwischen Autofahrern und Radfahrern oder Radfahrern und Fußgängern beenden wollen.
Wir haben derzeit eine Diskussion, die eine falsche Rahmung hat: Die einen gegen die anderen. Das ist eine schwierige Rahmung für die politische Debatte. Insbesondere, weil eine so geführte Diskussion weit über die sachliche Ebene hinausgeht. Die Beteiligten nehmen das schnell als Kritik am eigenen Lebenskonzept, an eigenen Wertvorstellungen wahr. Immer wenn solche Sachkonflikte zu tiefen Wertkonflikten werden, dann sind sie politisch viel schwerer aufzulösen.

Wie sollte man aus Ihrer Sicht mit tief sitzenden Konflikten umgehen?
Es ist wichtig, eine gemeinsame Wertebasis zu finden, die auch in der Breite geteilt werden kann. Die kristallisiert sich aktuell immer mehr heraus: Lebensqualität in der unmittelbaren Wohnumgebung von Innenstädten. Darauf aufbauend müssen wir uns fragen, was heißt denn das jetzt für die Organisation der unterschiedlichen Mobilitätsformen in einer solchen Stadt? Das kann, so meine feste Überzeugung, den einen oder anderen Konflikt auflösen.

„Es ist wichtig, eine gemeinsame Wertebasis zu finden, die auch in der Breite geteilt werden kann.“

Es tut sich ja gerade international sehr viel. Was kann man aus anderen Städten lernen und wie beeinflussen diese uns hier in Deutschland?
Die Entwicklung in den anderen Städten ist auf unterschiedlichen Ebenen wichtig. Erstens: Es etablieren sich neue Leitbilder für die zukunftsfähige Stadtentwicklung, wie beispielsweise die Formel der „15-Minuten-Stadt“ durch die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Damit entstehen kraftvolle Bilder, die die neue Stadt beschreiben. Zweitens: Viele positive Beispiele anderer Städte stärken die Erfahrung mit erfolgreichen Transformationslogiken und -pfaden. Sie sensibilisieren aber auch für die Zeitspannen, die es dafür braucht. Beispiele wie Kopenhagen, wo sich die Veränderungen über 25 Jahre vollzogen haben, zeigen, dass wir einen langfristigen Kompass brauchen, viel, viel Ausdauer und konsequente Umsetzungsstrategien.

Wie schaut die Radverkehrssituation heute in Wuppertal aus? Was können andere Kommunen potenziell künftig von der Stadt lernen?
Wuppertal ist ja in vielerlei Hinsicht besonders, da es eine besonders autogerechte und fahrradungerechte Stadt ist. Der Fahrradanteil im Modal Split liegt hier, vor allem wegen der engen Bebauung und der schwierigen Topografie mit vielen Hanglagen, bislang im niedrigen einstelligen Bereich. Auf den ersten Blick scheint Wuppertal für eine Verkehrswende komplett ungeeignet. Insofern ist es gut, wenn sich eine Stadt wie Wuppertal jetzt aufmacht und selbst unter widrigsten Bedingungen Veränderungen anstößt. Das ist das Lernexempel, das Wuppertal setzen kann.

Was wollen Sie in Wuppertal im Bereich Verkehr erreicht haben, wenn Sie auf Ihre Amtszeit zurückblicken?
Um die Verhältnisse zu verändern, müssen wir erst einmal neue Angebote schaffen. Es gilt eine grundlegende Fahrradtrassen-Infrastruktur aufzubauen inklusive geeigneter Zuwegungen. Was wir aufbauen, sind Längsachsen entlang der Wupper im Tal und auf den Hängen inklusive Verbindungswegen. Damit entsteht eine Fahrrad-Grundstruktur, die man dann schrittweise ergänzen kann.

„Auf den ersten Blick scheint Wuppertal für eine Verkehrswende komplett ungeeignet. Das ist das Lernexempel, das Wuppertal setzen kann.“

Dr. Uwe Schneidewind, Oberbürgermeister von Wuppertal

Die Topografie ist bei Ihnen im Bergischen Land ja eine ganz besondere Herausforderung.
Deshalb muss es unsere Ambition sein, eine E-Bike-Hauptstadt zu werden. Wenn wir auf die Möglichkeiten des E-Bikes setzen, dann lassen sich relevante Teile der Bevölkerung aufs Rad bekommen. Niemand fährt, selbst wenn er trainiert ist, mit dem Anzug einen Hang mit zehn Prozent Steigung 300 oder 400 Meter hoch und kommt dann komplett durchgeschwitzt ins Büro. Und die meisten haben am Morgen oder nach der Arbeit auch einfach nicht die Lust und die Kraft dazu. So müssen wir aus der Not, was den Fahrradverkehr angeht, eine Tugend machen. Nach Corona lade ich gerne alle Beteiligten aus der Fahrradbranche auf einen E-Bike-Gipfel nach Wuppertal ein.

Wuppertal liegt rund 30 Kilometer östlich von Düsseldorf mitten im Bergischen Land und ist mit rund 350.000 Einwohnern die größte Stadt bzw. Verbindung von ehemals selbstständigen Städten entlang der Wupper. Mit den industriell geprägten Stadtkernen und den bewaldeten Hügeln ringsum gibt es hier ganz besondere Herausforderungen.

Wie wollen Sie Wuppertal mit seinen vielen Unterzentren zu einer weniger autodominierten Stadt machen?
Ich habe in meinem Wahlprogramm deutlich gemacht, dass ich nicht von oben anordnen werde, dieser oder jener Stadtteil wird autoarm. Sondern ich möchte in unserer autogerechten Stadt, wo das Thema bislang emotional sehr aufgeladen ist, „Inseln des Gelingens“ schaffen. Mein Angebot an die Bezirke ist: Wenn ihr mit der Unterstützung aus der Bevölkerung sagt, ihr wollt in eurem Umfeld eine höhere Innenstadtqualität und auch eine andere Form von Mobilität schaffen, dann bekommt ihr die volle Unterstützung aus der Verwaltung. Wir werden das eher als produktiven Wettbewerb ausgestalten mit der Frage, wer von euch hat schon am besten verstanden, was da eigentlich passiert im Hinblick auf neue urbane Qualität; und die, die es gut verstanden haben, haben unsere Unterstützung. Ich bin guter Dinge, dass sich Stadtbezirke finden, die unser Angebot gerne annehmen, und dass man damit eine produktive Dynamik und Spill-Over-Effekte auslöst.

Was machen Sie mit den Stadtteilen, die hier nicht mitziehen?
Wir haben alles Verständnis für die, die noch nicht so weit sind. Aber natürlich laufen sie Gefahr, dass ihre Quartiere künftig nicht mehr in die Zeit passen, weil sie sich der Veränderung verweigern.

Welche Rolle spielt künftig der auch in Wuppertal chronisch defizitäre ÖPNV?
Wie gesagt, bevor man an eine weitergehende Regulierung geht, müssen die Alternativangebote aufgebaut sein und in Wuppertal heißt das, im Modal Split einen noch besseren ÖPNV und seine langfristige finanzielle Stabilisierung. Wir brauchen andere Formen der Nahverkehrsfinanzierung. Wir werden uns zusammen mit den Stadtwerken bemühen, nach der kommenden Bundestagswahl, wenn es neue Finanzierungsinstrumente und Möglichkeiten gibt, dort mit Vorreiter zu sein.

Erwarten Sie Rückenwind durch die große Bürgerbeteiligung für das Fahrradgesetz in Nordrhein-Westfalen?
Der Weg zum Fahrradgesetz ist ja ein enorm wichtiger institutioneller Innovationsprozess gewesen. Die Tatsache, dass wir bürgerschaftliches Engagement nicht nur mobilisieren für Einzelprojekte, sondern für einen gesamten Gesetzgebungsprozess, der dann einen Rahmen schafft. Das ist der große Sprung, den der Berliner Radverkehrsentscheid gebracht hat. Das ist für alle, die in den Städten eine Verkehrswende befördern wollen, ein wichtiger Rückenwind, weil sich Landespolitik dazu verhalten muss, weil sich Akteure über einzelne Städte hinaus vernetzen und man damit einen Raum hat, die Verkehrswende-Diskussion anders zu führen.

Was sind Ihre Forderungen an den Bund?
Mehrere Punkte spielen eine Rolle: Es geht es um Ressourcen und Umschichtungen im Verkehrsetat, um alternative Formen von Mobilität auszubauen. Gerade für stark verschuldete Kommunen, wie beispielsweise Wuppertal, ist das wichtig. Daneben geht es auch um Anpassungen in der Straßenverkehrsordnung, zum Beispiel in Bezug auf Geschwindigkeitsbeschränkungen in den Städten. Wir sind hier ja durch die nationalen Rahmenbedingungen sehr limitiert. Hilfreich wären Experimentierklauseln, Lust auf neue Konzepte und ein gemeinsames Lernen zwischen Kommunen, um Veränderungsprozessen noch mal einen neuen Antrieb zu geben.

Dr. Uwe Schneidewind

ist 1966 in Köln geboren, leitete zehn Jahre das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie als Präsident und wissenschaftlicher Geschäftsführer und zählt nach einem Ranking der FAZ zu den einflussreichsten Ökonomen Deutschlands. Als Mitglied der Grünen trat er bei den Kommunalwahlen in Wuppertal unter dem Motto „Schneidewind verbindet“ für Grüne und CDU an und ist seit dem 1.11.2020 neuer Wuppertaler Oberbürgermeister.

Nach seinem Studium der Betriebswirtschaftslehre war er als Berater bei Roland Berger Consulting tätig, promovierte an der Universität St. Gallen am Institut für Wirtschaft und Ökologie und wurde ab 1998 zum Professor für Produktionswirtschaft und Umwelt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg berufen, die er von 2004 bis 2008 auch als Präsident leitete. Für sein „herausragendes wissenschaftliches Engagement und seine Impulse zur Weiterentwicklung der Nachhaltigkeits- und Transformationsforschung“ wurde er im Juli 2020 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.
Schneidewind ist seit 2011 Mitglied im Club of Rome, Vorstandsmitglied der Vereinigung für ökologische Wirtschaftsforschung und war bis Februar 2020 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen.

In seinem Buch “Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels.” beschreibt er seine Vorstellung von „Zukunftskunst“. Damit ist die Fähigkeit gemeint, kulturellen Wandel, kluge Politik, neues Wirtschaften und innovative Technologien miteinander zu verbinden. So würden Energie- und Mobilitätswende, die Ernährungswende oder der nachhaltige Wandel in unseren Städten möglich. Das Buch ermuntert Politik, Zivilgesellschaft, Unternehmen und jeden Einzelnen von uns, zu Zukunftskünstlern zu werden.


Bilder: Wolf Sondermann, Jan (stock.adobe.com) M. Tausch (stock.adobe.com), Martin Randelhoff (Qimby), S. Fischer Verlage

Wie geht es weiter mit dem Thema Mobilität und Verkehr? Worauf müssen wir uns einrichten, wenn wir langfristig strategisch planen wollen und wohl auch müssen?
Prof. Stephan Rammler gehört in Deutschland zu den profiliertesten Experten für Mobilitäts- und Zukunftsforschung und schlägt im Gespräch den großen Bogen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Herr Professor Rammler, manche Experten sehen mit Corona eine Aufbruchstimmung, andere wenig echte Veränderungen und viele wollen wieder zurück in die gute alte Zeit. Wie sehen Sie die aktuelle Lage?

Wenn ich im Augenblick gefragt werde, wie sieht die Zukunft aus, dann sage ich, dass es gute Gründe gibt, die Zeiten vor und nach Corona zu unterscheiden. Vor Corona war es so, dass die globalen Megatrends wie Urbanisierung, demografisches Wachstum, Nachhaltigkeitstransformation, Individualisierung und die digitale Transformation in ihrem synergetischen Zusammenwirken einen großen Handlungsdruck erzeugt haben, in Richtung Klimaneutralität, Schutz der ökologischen Vielfalt und Schutz der Lebensgrundlagen zu gehen. Allen voran das große fanalhafte Thema Klimawandel und Forderung der Klimaneutralität.

Die Diskussion hat ja auch Kontroversen um die Mobilitäts- und Verkehrswende mit angestoßen.
Das hat insbesondere für die Mobilität Auswirkungen gehabt, weil sie hochgradig fossil gebunden ist. Es gibt eine hohe Transformationsnotwendigkeit, gleichzeitig aber auch große Schwierigkeiten, weil eben so viel davon abhängt und die Mobilität so tief in die lebenspraktischen Notwendigkeiten moderner Alltagskultur eingebettet ist. Wir hatten auch eine starke Dynamik im Sinne von mehr Bewusstheit für das Thema und eine starke Bewegung auf der kommunalen Ebene.

Viele erleben gerade engagierte Bürger und Kommunen als starke Treiber.
In den Kommunen haben viele verstanden, dass es keinen Sinn macht, auf die Landes- oder Bundespolitik zu warten, weil die Menschen vor Ort ihre Probleme erleben und vor Ort auch Lösungen von den lokalen Entscheidern geliefert bekommen möchten. Deswegen ist für mich nach wie vor die kommunale und lokale Ebene der wichtigste Ort für die Verkehrs-politik.

Und die Zeit nach Corona? Was hat sich verändert und wo sehen Sie eine Zäsur?
Die Pandemie hat vor allem die grundsätzliche Frage nach Resilienz aufgerufen. Wenn wir fragen, was hat Corona eigentlich an Veränderungen gebracht, dann können wir als Zwischenfazit sicher sagen: Homeoffice, Telependeln, Restabilisierung des Automobils sowie ein starker Impuls für den Bereich der Lieferlogistik und die Themen Radverkehr und Mikromobilität. Gleichzeitig sehen wir zunehmende Starkwetterereignisse, Brände und Dürren.

Sie sehen uns verschiedenen Krisen ausgesetzt, in unsicheren Zeiten und fordern Strategien, damit umzugehen. Was meinen Sie damit?
Ich arbeitete dabei immer mit dem Begriff der transformativen Resilienz, den wir im IZT (Anm. d. Red.: Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung) geprägt haben. Was ich damit meine, das ist eine Doppelfigur: Wir haben ja in den letzten 30 Jahren ein Narrativ genutzt, dass wir politisch und ökonomisch alles tun müssen, damit wir 1,5 bis 2 Grad mehr als Stabilisierungsziel bis 2050 erreichen und dann ist alles gut. Jetzt sehen wir zwei Dinge: Erstens, dass dieses Versprechen womöglich obsolet wird, je mehr wir verstehen über Kipppunkte und Dynamiken, die, wenn sie erst einmal eintreten, nicht mehr bewältigbar sind. Und zum Zweiten müssen wir festhalten und akzeptieren, dass der Klimawandel bereits hier und heute eintritt.


Prof. Dr. Stephan Rammler

“Die Politik muss den Menschen ehrlich sagen, dass wir den Klimawandel in einem gewissen Grad nicht mehr aufhalten können.”

Was ist aus Ihrer Sicht konkret nötig, um mit diesen enormen Herausforderungen umzugehen?
Wir müssen alles dafür tun, damit der Klimawandel eingehegt und nicht dynamischer wird und gleichzeitig müssen wir strategische Maßnahmen entwickeln, mit den Klimafolgen umzugehen, und Infrastrukturen so umbauen, dass sie resilient werden.

Wo sehen Sie mit Blick auf den Klimawandel wichtige Handlungsfelder?

Die Politik muss den Menschen ehrlich sagen, dass wir den Klimawandel in einem gewissen Grad nicht mehr aufhalten können. Wir müssen versuchen klimaresiliente Landwirtschaftssysteme und Städte zu bauen, die mit Hitzestress und Wasserknappheit umgehen können. Wir müssen an den Küsten neue Infrastrukturen aufbauen, die mit den Anforderungen klarkommen. Und wir brauchen Verkehrssysteme, die Starkwetterereignissen gegenüber resilient und widerstandsfähig sind.

Für viele Menschen klingt das sicher erst einmal eher theoretisch.
Ganz im Gegenteil. Der Klimawandel passiert jetzt schon und wir sind mitten in der Situation, damit umzugehen. Er kommt nicht erst auf uns zu. Die Hitze wird in vielen Häusern unerträglich, das heißt, man braucht eigentlich eine Klimaanlage. Die Bäume, die kürzlich noch Schatten gespendet haben, sind vertrocknet und müssen gefällt werden. Die Solaranlage wird vom Dach geweht, der Keller durch Starkregen geflutet und die Zugverbindungen werden bei Stürmen komplett eingestellt. All das sind Effekte und Folgewirkungen des Klimawandels die ich, wie viele andere, unmittelbar erlebe.

Wie beeinflusst der Klimawandel unsere Mobilität konkret? Was müssen wir tun?
Wir müssen das Verkehrssystem widerstandsfähig machen und grundsätzlich klimaneutral. Wir brauchen eine Gestaltungsstrategie bei der Infrastruktur, dem politischen Rahmen etc., die diese Resilienzanforderungen jetzt schon mitdenkt und umsetzbar macht.

Extremwetterereignisse wie sintflutartige Regenfälle, orkanartige Stürme, Hitzewellen, Dürren oder extremer Schneefall nehmen mit dem Klimawandel deutlich zu. (Bilder: Adobe Stock)

In Bezug auf eine Mobilitätswende herrschte ja eher jahrelang Stillstand. Hat die Pandemie hier Veränderungsimpulse gegeben?
Bei aller Neigung zum Optimismus bin ich der Meinung, dass auch eine Pandemie wie diese nicht einen hinreichenden Impuls gesetzt hat, damit sich alles grundlegend ändert. Als Innovationsökonom arbeitet man gerne mit dem Begriff der Pfadabhängigkeit. All das, was wir in der Vergangenheit entschieden und geschaffen haben, wirkt fort für jede weitere Entwicklung. Die Zukunft und auch wir sind in einem viel größeren Maße, als wir uns das im Allgemeinen vorstellen, durch die Vergangenheit determiniert. Trotzdem hat es durch die Pandemie wichtige Veränderungen gegeben, die meiner Einschätzung nach auch bleiben werden.

Wo sehen Sie Beispiele für Veränderungen durch die Pandemie? Was bleibt und was würden Sie Verkehrsplanern empfehlen?
Im Wesentlichen drei Dinge. Erstens: Setzt auf das Thema Radverkehr und Mikromobilität und macht das auf eine kluge Art und Weise. Nutzt den Impuls von Corona, zum Beispiel mit temporären Radspuren. Mit der Pandemie haben Menschen tatsächlich Veränderungen und Gewohnheitsbrüche erlebt, an die man anschließen kann. Das Ziel: Radverkehr schnell, dynamisch, kommunikativ, konstruktiv und symbolisch überlagert mit guten Geschichten für den Personen-, Privat- und Güterverkehr.
Zum Zweiten sollten sie stark auf das Telependeln setzen, denn auch dieses Thema wird aus ökonomischen Gründen und weil jetzt die Infrastruktur und die Hardware da ist, nicht mehr weggehen. Ich kann damit sehr viel Verkehr und viele Emissionen vermeiden, brauche dafür allerdings auch ein neues Zusammenwirken unterschiedlicher Bereiche und unter anderem neue Immobilien- und Wohnraumkonzepte, für Familien, für Singles oder für Ältere.
Drittens kommt es wesentlich auf die intermodale Vernetzung von Mikromobilität, Zweirad und öffentlichem Verkehr an. Auch der öffentliche Verkehr muss dabei im Hinblick auf Pandemien, aber auch Hitze und Starkwetterereignisse resilient gestaltet werden.

Wie kann der öffentliche Verkehr resilienter werden?
Schon vor 17 Jahren haben wir zum Beispiel im Auftrag eines Verkehrsunternehmens darüber nachgedacht, wie wir Innenräume von Bussen und Bahnen entsprechend gestalten können, zum Beispiel mit besseren Belüftungs- und Klimasystemen, antibakteriellen Oberflächen etc. Es kann und darf auch nicht sein, dass Stürme oder niedrige Temperaturen den Bahnverkehr im ganzen Land lahmlegen.

„Das Eigenheim ist so stark mit dem Auto verknüpft, dass man von einer Eigenheim-Automobilkultur sprechen kann. Suburbia macht ohne Auto auch gar keinen Sinn.“

Prof. Dr. Stephan Rammler

Ist die Bevölkerung aus Ihrer Sicht bereit für eine Mobilitätswende?
Sie ist in den Städten auf jeden Fall weiter als die Bevölkerung auf dem Land. Vor allem aufgrund der strukturellen Zwänge, durch die Angebotsvielfalt, die sich in den letzten zehn Jahren enorm differenziert und digitalisiert hat, und durch innovative lokale Regulierungspolitik in Richtung einer postfossilen und postautomobilen Mobilität. Aber das muss man auch differenziert betrachten und die Lagen und die Milieus berücksichtigen. Außerhalb des S-Bahn-Rings ist die Situation schnell eine völlig andere und je weiter man rausgeht, desto höher wird der Grad der Automobilität und desto geringer ist die soziokulturelle Adressierbarkeit der Milieus, mit denen Sie es zu tun haben. Jede Stadt und jeder Stadtteil ist zudem anders und nicht gleichermaßen progressiv.

Was ist mit der Mobilität auf dem Land? Wie sehen Sie dort mögliche Veränderungen?
Wir haben eine sehr dynamische Suburbanisierungs- und Eigenheimkultur gehabt in der Nachkriegszeit. Das private Auto ist hier mit all seinen Vorteilen nicht zu ersetzen. Wir müssen auf dem Land eine ganz andere Verkehrspolitik betreiben als in den Städten. Das Eigenheim ist so stark mit dem Auto verknüpft, dass man von einer Eigenheim-Automobilkultur sprechen kann. Suburbia macht ohne Auto auch gar keinen Sinn.

Eine Verkehrspolitik für die Städte, eine für das Land? Warum genau? Und wie könnte das aussehen?
Wir haben in den urbanen Kommunen die raumökonomische Debatte und Diskurse über soziale Gerechtigkeit der Mobilität zusammen mit Umweltgerechtigkeit als Treiber. Das ist wichtig. Über die ländliche Mobilität zu reden, ist aber auch sehr wichtig, weil die Hauptemissionen auf dem Land und durch die längeren Distanzen der Berufspendler erzeugt werden. Es ist überhaupt nicht erkennbar, wie finanzschwache Kommunen funktional äquivalente Angebote im Bereich Verkehr anbieten könnten. Zudem sehen wir ja, dass die Pfadabhängigkeit hier weiter gegeben ist und sogar weiter wächst, zum Beispiel durch die Eigenheimpauschale, die Pendlerpauschale und Dieselsubventionen. Das ist natürlich auch in den Köpfen der Babyboomer drin, die jetzt ca. 60 Jahre alt sind. Die haben Zeit, Geld und sind eine in der Wolle gefärbte automobile Generation wie keine vor ihnen und keine nach ihnen.

Ist diese Babyboomer-Generation nicht gleichzeitig auch offen für klimaneutrale Mobilitätsformen wie E-Bikes?
Die Babyboomer können in meinen Augen eine der Pioniergruppen in der weiteren Verbreitung der Pedelec-Kultur sein. Das Pedelec hält die Leute länger auf dem Fahrrad, die es sonst aus Altersgründen nicht mehr tun würden, und es ist sehr wirksam in den Regionen, in denen man aufgrund von Gegenwind oder topografischen Gegebenheiten sonst nicht gerne Fahrrad fährt. Das Pedelec ist in ländlichen Regionen durchaus eine verlässliche und hoffnungsvoll stimmende Verhaltensalternative. Wir gehen ja auch aufgrund des Klimawandels in Zeiten hinein, wo wir fahrradfreundliches warmes und trockenes Wetter haben. Sieben bis acht Monate ist es überwiegend regenfrei. Ich glaube, dass man mit dem Ausbau von Schnellradwegen im ländlichen Raum durchaus attraktive Verhaltensalternativen anbieten kann.

Könnten E-Bikes das Auto ersetzen?
Ich denke die Babyboomer werden sich ein Pedelec eher zusätzlich zum Auto und ein Elektroauto als Zweitwagen anschaffen und für Langdistanzfahrten den fossilen Verbrenner behalten. Wir müssen uns auch klarmachen, dass das ganze Transformieren im Mobilitätsbereich nicht funktioniert, wenn wir nur auf die Freiwilligkeit moralisch hinterlegter Konsumentscheidungen setzen. Es braucht Regulierung und politische Entscheidung, die dazu führen, dass das fossile Auto unattraktiver und teurer wird. Nur so kommen wir aus den Pfadabhängigkeiten raus.

Was müssten Politik und Verkehrsplaner aus Ihrer Sicht ändern, um die alten Pfade zu verlassen und zu einer klimaneutralen Mobilität zu kommen?
Was die Citylagen angeht, würde ich auf das Thema erste und letzte Meile setzen. Das hat im Bereich Ride Hailing beispielsweise mit Moia oder Berlkönig sehr gut funktioniert. Allerdings haben die Systeme ihre Leistungsfähigkeit im Zuge der Pandemie noch gar nicht wirklich zeigen können. Verkehrsplanerisch geht es weiterhin um die Elektrifizierung, unter anderem mit Brennstoffzellen, und wir müssen auch die regulative Praxis mit Blick auf die planerischen Ansätze neu denken. Citymaut-Konzepte sind aus meiner Sicht zum Beispiel der beste Weg, externe Kosten in Sachen Umweltgerechtigkeit, Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit moderner Mobilitätssysteme zu minimieren und gleichzeitig finanzielle Spielräume zur Ertüchtigung von Alternativen zum eigenen Automobil zu erzeugen. Seit diesem Jahr steht auch die Forderung nach einer resilienten Mobilitätspolitik der Zukunft mit auf der Agenda.

Was sind Ihre konkreten Empfehlungen für ländliche Regionen?
Alle Konzepte, die wir für die Städte entwickeln, sollten und werden eigentlich auch auf dem Land funktionieren, mit dem Unterschied, dass wir hier eine starke Dominanz des Automobils haben. Ich würde dort empfehlen, den öffentlichen Verkehr nicht als echte Alternative zum Auto als Strategie zu verfolgen, sondern sagen, wir akzeptieren hier den Bedarf des Autos und setzen auf Elektroautos mit Range Extender, also einem kleinen fossil betriebenen Motor, der unterwegs bei Bedarf Strom produziert und die Reichweite verlängert. Das ist in meinen Augen die beste Technologie, die wir im Moment hätten in ländlichen Regionen.

Wenn Sie von Pfadabhängigkeit sprechen: Kommen wir mit Überlegungen zu einer wieder menschengerechten Stadt nicht auch wieder zurück auf einen bestehenden Pfad?
Dieser Pfad ist verschüttet. Wir haben die Städte ja nach dem Zweiten Weltkrieg autogerecht umgebaut und dort, wo keine Bombenschäden waren, hat die Umorientierung den Städten zum Teil den Rest gegeben, indem Schneisen für Autostraßen geschaffen wurden. Aktuell haben wir durch den Trend der Urbanisierung ein Raumproblem in den Städten und führen damit eine Debatte, die wir früher nicht führen mussten. Die verschiedensten Branchen greifen ja auf die immer knapper werdende Ressource urbaner Raum zu. Das ist auch ein wichtiger Treiber, warum sich die Debatte um automobile Mobilität ein Stück weit geöffnet hat vor Corona. Insofern ja, vielleicht kann man wieder an die alte europäische Funktion der Stadt anschließen.

„Seit diesem Jahr steht auch die Forderung nach einer resilienten Mobilitätspolitik der Zukunft mit auf der Agenda.“

Prof. Dr. Stephan Rammler

Wie sicher sehen Sie Ihre Annahmen in Bezug auf die Zukunft?
Ich denke mit dem skizzierten Setting hätten wir für die Zukunft alle Bestandteile einer zeitgemäßen, ökonomisch durchaus verlässlichen und dennoch nachhaltigen Verkehrspolitik. Wir „sogenannten“ Zukunftsforscher müssen ja immer Aussagen über die Validität unserer Annahmen treffen können. Wir können nur spekulieren auf der bestmöglichen Güte der Daten, aber wir können natürlich keine sicheren Aussagen treffen. Wir dürfen als Zukunftsforscher auch nicht mit sogenannten Wildcards rechnen. Wenn wir Szenarien bauen und Antworten auf die Frage geben wollen, wie wir von A nach B kommen, also welche Transformationspfade es gibt, dann ist es nicht zulässig, mit sogenannten Wildcards zu operieren. Trotzdem müssen wir sie als mögliche Option mitdenken. Die Pandemie hat als Wildcard gewirkt. Sie hat in der Fachwelt einiges an intellektuellen Diskursen fokussiert, dynamisiert und einiges an Einsichten mit sich gebracht.

Trotz aller angesprochener Probleme blicken Sie optimistisch in die Zukunft.
Resilienz bedeutet nicht zurückfedern in einen alten funktional stabilen Zustand, sondern auf sich permanent verändernde Rahmenbedingungen ausgerichtet und eingerichtet zu sein und die krisenhafte Veränderung als normal zu leben. Dazu müssen wir uns klarmachen, dass die Widerstandsfähigkeit der Menschen, mit Krisen umzugehen, Menschen zu dem gemacht hat, was Menschen sind. Die permanente Fähigkeit, auf Krisen zu reagieren und zu innovieren, ist ja in der Geschichte oft genug durch Krisen angetrieben worden. Deshalb bin ich für die Zukunft optimistisch. Wir müssen es nur auch so klar formulieren. Veränderung, Dynamik und Veränderungsbereitschaft sind, so glaube ich, die Mindsets der kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte.

Prof. Dr. Stephan Rammler

ist einer der renommiertesten Vordenker, wenn es um die Mobilität der Zukunft und große Zusammenhänge geht. Der Politikwissenschaftler, Soziologe und Ökonom ist seit 2018 wissenschaftlicher Direktor des IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, einer außeruniversitären Forschungseinrichtung für Zukunftsforschung und Technologiebewertung in Berlin. Er arbeitet in der Mobilitäts- und Zukunftsforschung und forscht insbesondere zu Verkehrs-, Energie- und Innovationspolitik sowie Fragen kultureller Transformation und zukunftsfähiger Umwelt- und Gesellschaftspolitik. Zuvor war er Gründungsdirektor des Instituts für Transportation Design und Professor für Transportation Design & Social Sciences an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Zu aktuellen Fragen bezieht er regelmäßig sehr dezidiert in Interviews und Podcasts Stellung. Viele seiner Grundgedanken findet man auch in seinen Büchern „Schubumkehr – die Zukunft der Mobilität“ (2014) und „Volk ohne Wagen: Streitschrift für eine neue Mobilität“ (2017). Darin entwickelt er Bilder einer Zukunft mit innovativen Technologien, klugen ökonomischen Strategien und einer veränderten politischen Kultur.


Bilder: Armin Akhtar, Adobe Stock, Rolf Schulten, S. Fischer Verlage

Angesichts hoher Todeszahlen im Verkehr einigte man sich Mitte der 1950er-Jahre erstmals auf eine Tempobegrenzung in Ortschaften. Heute stellt sich die Frage, ob Tempo 50 noch zeitgemäß ist. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Viele Städte setzen europaweit inzwischen auf niedrigere Geschwindigkeiten als Tempo 50 und auch die WHO forderte in diesem Jahr Tempo 30 als weltweite Norm. Die Zahlen würden die positiven Effekte untermauern. Das Umweltbundesamt hat sich in einer Broschüre aus dem Jahr 2017 mit den Wirkungen von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen beschäftigt und kommt zum Schluss, dass es überwiegend positive Folgen wie Gewinne bei der Verkehrssicherheit, Lärm- und Luftschadstoffminderung und bei den Aufenthaltsqualitäten, gibt. Gleichzeitig werde die Auto-Mobilität nicht übermäßig eingeschränkt. Das Bundesverkehrsministerium lehnt Tempo 30 innerorts dagegen bislang entschieden ab. Eine Absenkung der Regelgeschwindigkeit in Gemeinden sei „nicht erforderlich und nicht sinnvoll“. Das sehen nicht nur viele Städte und Kommunen inzwischen anders und fordern größere Gestaltungsspielräume zur Verkehrslenkung, zum Beispiel bei der Gestaltung der Gebühren für das Anwohnerparken und eben auch der Abkehr von Tempo 50 als Regelgeschwindigkeit in den Städten. Wie deutlich sich die Einführung von Tempo 30 auf die Unfallzahlen auswirkt, zeigt die Umgestaltung der Kölner Ringe, einer beliebten Flaniermeile, die in der Vergangenheit regelmäßig Raser und Autoposer anzog. Im Jahr 2016 gab es hier laut Polizeistatistik 291 Unfälle mit Verletzten und schwerem Sachschaden. Nach der Einführung von Tempo 30 und der Umwidmung von Teilabschnitten der Fahrbahn in Radwege waren es 2017 nur noch 102 Unfälle und 2019 sogar nur noch 94. Aktuell wird das Projekt, das auf die Initiative #RingFrei zurückgeht, die dafür mit dem Deutschen Fahrradpreis 2019 in der Kategorie Kommunikation ausgezeichnet wurde, Stück für Stück weiter ausgebaut.

EU: Tempobremse ab 2022

Die EU verpflichtet Auto- und Lkw-Hersteller ab 2022 auf eine ganze Reihe von elektronischen Assistenz- und Kon-trollsysteme. Eine „Intelligent Speed Assistance“ soll beispielsweise Fahrzeugführer bei einer dauerhaften Überschreitung des Tempolimits durch akustische und visuelle Signale warnen, dazu soll es eine Tempobremse geben. Weiterhin geplant sind unter anderem Datenrekorder, Alkoholkon-trollsysteme sowie Abbiege-assistenten, Sensoren und Kameras für Lkw.

Die Zukunft des Stadtverkehrs ist langsam und bunt!

Kommentar von Reiner Kolberg

Wir brauchen eine bessere In-frastruktur und ein besseres Verständnis für Radfahrer! Oder doch besser für E-Bike-Fahrer und E-Tretroller-Nutzer? Was ist eigentlich mit E-Cargo-Bikes und mehrspurigen Fahrzeugen wie Pedelcars und neuen 45-km/h-Mobilen wie S-Pedelecs, Motorrollern oder Microcars wie dem Citroën Ami? Ich denke, man lehnt sich angesichts der aktuellen Entwicklungen und künftigen Erfordernisse nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man behauptet, dass die Mobilität des nächsten Jahrzehnts nicht mehr eine Entscheidung zwischen dem eigenen Auto, dem privaten Fahrrad und dem öffentlichen Nahverkehr sein wird. Schon heute ist der Verkehr in Großstädten geprägt von einem bunten Mix aus verschiedensten Mobilitätslösungen, die je nach Verfügbarkeit, Ziel, Fahrtzweck, Wetter und Budget flexibel genutzt werden. Neue nachhaltige, sprich vor allem mit Blick auf die CO2-Bilanz emissionsarme und gleichzeitig erschwingliche Fahrzeugkonzepte passen in eine Zukunft, die die Bevölkerung mit großer Mehrheit will und die nach dem Dafürhalten von Klimaökonomen wohl mittel- und langfristig auch alternativlos ist. Was eher nicht in diese neue Welt passt, sind Mischverkehre mit hohen Geschwindigkeiten, bis auf den letzten Meter zugeparkte Städte und in jeder Hinsicht überdimensionierte Autos, die abseits der Prüfstände die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit in aller Deutlichkeit zeigen. Wer von neuen Technologien redet, mit denen sich die weitere Verschärfung der Klimakrise vermeiden lässt, oder dem Erreichen des gesetzten Ziels Vision Zero kann und darf heute nicht mehr auf Klein-Klein setzen oder auf das übernächste Jahrzehnt verweisen, in dem autonome Fahrzeuge oder Flugtaxis (sic!) die Probleme von heute möglicherweise lösen – ziemlich wahrscheinlich aber eben nicht. Das Momentum für eine aktive Veränderung ist da und auch die nötigen Technologien und Konzepte sind alle vorhanden. Jetzt kommt es auf uns an. Die Zukunft des Verkehrs ist bunt, spannend und sie beginnt genau jetzt. Also, Ärmel hochkrempeln und gerne (nach)machen. Abkupfern von anderen Ländern und Städten ist ausdrücklich erlaubt.


Bild: stock.adobe.com – tanaonte

Mit dem Klimawandel gehen Wissenschaftler davon aus, dass sommerliche Hitzeperioden öfters eintreten, länger dauern und extremer werden. Dazu kommt ein oft unterschätzter Faktor: In den zunehmend verdichteten Städten bilden sich Hitzeinseln, die Menschen nicht nur beeinträchtigen, sondern auch gefährliche bis tödliche Wirkungen entfalten können. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Ist Deutschland auf heiße Sommer vorbereitet? Wenn man in den letzten Hitzeperioden in größeren Städten unterwegs war und mit den Menschen gesprochen hat, dann wohl eher nicht. Ab Mittag fast nicht aushaltbare Temperaturen auf kaum beschatteten Straßen und auch nachts wenig Abkühlung. Fahrradfahren und zu Fuß gehen wird zur Qual, in Bussen und Bahnen sieht es nicht besser aus und die wenigen Plätze, die Abkühlung versprechen, sind schnell überlaufen.

Die gefühlte Realität in Deutschland bestätigen auch aktuelle Untersuchungen von Wissenschaftlern. Im Dezember 2020 im Fachjournal „The Lancet“ veröffentlichte Modellrechnungen zeigen, dass die Zahl der Hitzetoten hierzulande im weltweiten Vergleich weit vorn liegt und in den letzten Jahren stark gestiegen ist. So habe die Zahl der Hitzetoten in den Jahren 2014 bis 2018 in Deutschland im Schnitt bei 12.080 gelegen. Das seien 3.640 Hitzetote mehr als im Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2004. Gründe seien die Zunahme der Hitzetage pro Jahr in Kombination mit dem steigenden Anteil der Bevölkerung über 65 Jahre und zudem auch der hohe Urbanisierungsgrad in Deutschland.

Für die Zukunft rechnen die Forscher mit einer weiteren Verschärfung der Situation. Betroffen von dieser Entwicklung ist aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Mobilität. Auch ohne Studienergebnisse kann man davon ausgehen, dass in Hitzeperioden Mobilitätsformen der Vorzug gegeben wird, die als angenehm empfunden werden. Dazu zählen vor allem klimatisierte oder offene motorisierte Fahrzeuge, die wenig Anstrengung und Fahrtwind garantieren und die keine Schutzkleidung erfordern, also zum Beispiel E-Bikes, E-Tretroller oder Motorscooter.

Mobile Sprühnebel helfen bei Backofentemperaturen als Sofortmaßnahme.

Schweizer Erkenntnisse und Strategien

Nach dem Hitzesommer 2015, in dem die Schweiz Gletscherschmelze, dürre Bodenvegetation, Wasserknappheit und 800 Hitze-Todesfälle mehr als in einem normalen Jahr registrierte, haben die Eidgenossen in einer Studie die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt analysiert und bilanziert.

„Schweizer Städte: Bis zu 7°C höhere Nachttemperaturen als im Umland.“

Fachbericht MeteoSchweiz

Vor allem die Städte seien durch die hohe Bevölkerungs-, Gebäude- und Infrastrukturdichte besonders von der Klimaänderung betroffen. Ohne Anpassungsmaßnahmen führe das zu einer spürbaren Verminderung der Aufenthalts- und Lebensqualität, der Gesundheit und einem höheren Mortalitätsrisiko. Vor allem betroffen waren dabei ältere Menschen. Nötig seien deshalb Hitzepläne zum Schutz der Bevölkerung und der verstärkte Kampf gegen den weiteren Klimawandel.

Kritisch gesehen werden die hohen Tagestemperaturen, aber vor allem auch die fehlende Abkühlung in der Nacht. Damit kommt es in den Städten zu einem Backofeneffekt: Im Maximum wurden an den untersuchten Stationen rund 6 bis 7°C höhere Nachttemperaturen als im Umland verzeichnet. In den wärmsten Nächten sank die Temperatur in den Stadtzentren nicht unter 24 bis 25°C ab. Insgesamt ist die Anzahl der Tropennächte in den Städten deutlich höher als auf dem Land, während die Anzahl der Hitzetage nur wenig erhöht ist. Auch die Stadt Basel geht davon aus, dass die Wärmebelastung weiter zunehmen wird. So bringt selbst der Rhein nachts keine Kühlung, sondern strahlt aufgrund der hohen Wassertemperatur noch zusätzlich Wärme ab. Deshalb setzt Basel auf ein Stadtklimakonzept, mit neuen Grünräumen, einer besseren Luftzirkulation und Zufuhr von Frischluft aus dem Umland.

Simulationen belegen Effekte bekannter Maßnahmen

Für die Zürcher Altstadt wurden Computersimulationen für den dortigen Münsterplatz vorgenommen. Ein Großteil des Platzes ist mit Pflastersteinen bedeckt, der Rand betoniert und es gibt keine Bäume, die Schatten spenden würden. Zudem ist der Münsterhof auf fast allen Seiten von Gebäuden umgeben. Messungen zeigten, dass sich gerade die Fassaden durch die Sonneneinstrahlung beträchtlich erhitzen. Mit vergleichsweise einfachen Maßnahmen lassen sich signifikante Verbesserungen erzielen: Die Temperaturen wären deutlich niedriger, wenn der Platz nicht gepflastert, sondern mit Erde und Gras bedeckt wäre. Schon die Umwandlung eines Viertels der gepflasterten Fläche durch einen anderen Bodenbelag würde gemäß der Simulation ausreichen, um den Backofen zu entschärfen. Noch deutlicher würde das Ergebnis ausfallen, wenn hier Bäume stünden. Durch den Schatten und die Transpiration der Bäume würde die Hitzebelastung erheblich verringert und die gefühlte Temperatur auf weiten Teilen des Platzes um 2 °C und in der Nähe von beschatteten Fassaden sogar um bis zu 4 °C sinken.


Zum Vertiefen:

Untersuchungen und Studien zeigen einen dringenden Handlungsbedarf

The 2020 report of The Lancet Countdown on health and climate change: responding
to converging crises
“ (Dezember 2020).
Die aktuelle Analyse von Klimaveränderungen mit Prognosen für die Zukunft gibt
es nach Registrierung kostenlos zum Download.

Der „Fachbericht MeteoSchweiz Nr. 273, Städtische Wärmeinseln in der Schweiz – Klimatologische Studie mit Messdaten in fünf Städten“ wird ebenfalls zum Download angeboten.


Bilder: stock.adobe.com – Dmitry Vereshchagin / Xato Lux

In den nächsten beiden Jahren wollen Unternehmen mit einem neuen Fahrzeugtyp europäische Straßen und Radwege erobern: Das elektrisch unterstützte Bike mit Dach über dem Kopf – quasi ein „Pedelcar“. Was bedeutet das für die Infrastruktur von heute und morgen? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Laut Gesetzgeber gehören die neuen muskelgetriebenen und motorunterstützten zweispurigen Gefährte zur Klasse der Pedelecs: Man könnte sie Pedelcar nennen. Sie haben drei oder vier Räder, sind meist um die 80 Zentimeter breit und etwa 2 Meter lang und erlauben die Mitnahme von mindestens einer Person. Das Wichtigste: Diese Fahrzeuge geben den Insassen einen Wetterschutz. Schon in den Achtzigerjahren gab es sogenannte Velomobile. Auch sie wurden als Autoersatz entwickelt und manche boten sogar elektrische Unterstützung. Sie gelten aufgrund vieler Besonderheiten aber immer noch als eigensinnige Fahrzeuge für Enthusiasten. Den großen Unterschied soll nun die Praxistauglichkeit machen, die Pedelcars bieten wollen: Wendigkeit für den urbanen Kurzstrecken-Einsatz in der City steht hier im Vordergrund, während die zigarrenförmigen Velomobile vor allem für mittlere Strecken jenseits der Stadt entwickelt wurden. Die neue Klasse bietet viel Komfort, der sich am Auto orientiert, und steht für aktuelles Hightech.

Der CityQ kommt aus Oslo, soll aber bald schon in Deutschland für deutsche Radwege gebaut werden. Wichtig ist den Machern auch hier, dass der Fahrkomfort möglichst nah am Auto liegt und das Design Emotionen anspricht.

Die Grenzen ausloten

„Das neue Fahrzeug muss dem Auto ebenbürtig sein und es substituieren können“, so Martin Halama, CEO und Gründer von Hopper. Zusammen mit einigen Kommilitonen hat er 2019 die Hopper GbR ins Leben gerufen, doch die ursprüngliche Idee geht schon auf seine Masterarbeit 2015 zurück. Sie beschäftigte sich mit der Frage: „Was ist auf dem Radweg möglich?“ Der Name Hopper steht dabei für die besondere Kurzstreckenpraktikabilität des Fahrzeugs – hop on, hop off. Ganz wichtig ist dem Leiter des Augsburger Unternehmens, dass grundsätzlich vom Auto gedacht wurde: „Da unterscheiden wir uns von den Mitbewerbern“, sagt er. „Die Menschen wollen die Vorteile des Autos nutzen, aber sie wollen auch lebenswertere Städte haben.“ Es gibt bereits einige Hopper-Prototypen und auch wenn noch nicht alles bis ins Detail konzipiert oder ausgeführt ist, die primären Dinge sind geklärt: So wird der Kofferraum beispielsweise größer, wenn statt eines Erwachsenen ein Kind mitfährt – dann lässt sich der Schulranzen gut hinter dem Sitz unterbringen. Das Äußere des Hoppers folgt eher der fließenden Formgebung durch einen Autodesigner als dem geraden Ingenieursblick. Die Macher können und wollen die Nähe zu einem Autohersteller der Premiumklasse nicht verhehlen.
Ziemlich einzigartig ist die Steuerung des Hoppers: Gelenkt wird über das angetriebene Hinterrad, was dem Fahrzeug eine hohe Wendigkeit bringt. Wer an enge Radwege oder gar Umlaufgitter denkt, die hierzulande des Öfteren Radfahrer- und Fußgängerbrücken und selbst Radwege begrenzen, der weiß, dass man hier bislang ein wendiges Fahrzeug braucht. Selbst mit normalen Dreirädern ist es gelegentlich schwierig. Auch die Radwegfurten können problematisch werden, denn meist sind die zugehörigen Bordsteine nicht auf Fahrbahnhöhe abgesenkt. Ein mehrspuriges Rad kann man dabei nicht entlasten wie ein normales Zweirad. Daher hat der Hopper eine aufwendige Vollfederung. Das Dreiradkonzept ermöglicht es auch, dass der Hopper mit nur einem Radnabenmotor angetrieben werden kann.

„Die Men­schen wollen die Vorteile des Autos nutzen, aber sie wollen auch lebens­wertere Städte haben.“

Martin Halama, CEO Hopper Mobility

Der Hopper aus Augsburg glänzt mit Integration und flächigem Design. Die Vorderräder können aufgrund der Hinterradlenkung versteckt werden. Sie soll wiederum im Radweg-Dschungel für viel Wendigkeit sorgen.

Neue Herausforderung für Planer

Für Verkehrs- und Städteplaner in Europa dürfte vor allem wichtig sein, wie die Kombination von Pedelcars mit der vorhandenen Infrastruktur künftig funktionieren könnte. „Wir hoffen, dass es in Sachen Radwegnutzung zu keinen Problemen kommen wird“, so Halama. Denn die Einstufung als Pedelec für die Mini-Autos zieht bislang eine Radweg-Benutzungspflicht nach sich – mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen. „Auf lange Sicht werden Fahrzeuge wie der Hopper dazu führen, dass die Infrastruktur angepasst wird. Die Gesellschaft muss schließlich mobil bleiben!“

Pedelcars müssen auf dem Radweg fahren. Ob das so harmonisch wird wie hier dargestellt, ist noch nicht entschieden. Mit Sicherheit muss aber die Infrastruktur verbessert werden.

„Keine Übermotorisierung auf dem Radweg“

Neue Fahrradmobilität, das bedeutet natürlich weniger Autos auf den Straßen, mehr Platz für Radfahrer und Fußgänger. Oder ist das nur Theorie? Stephanie Krone, Pressesprecherin des ADFC meint dazu: „Wir beobachten mit Spannung, wie sich die Welt der Fahrräder und Pedelecs immer weiter ausdifferenziert – und auch für den Wirtschaftsverkehr neue, faszinierende Lösungen hervorbringt. Gut, wenn es dafür jetzt viele neue Konzepte gibt. Aber die Radwege in Deutschland sind schon jetzt viel zu klein – deshalb sagen wir der Verkehrspolitik, dass sie bei der Planung die größeren Fahrzeuge mitdenken muss.“ Es ist also auch die Frage einer leistungsfähigen Rad-Infrastruktur, ob solche Geschäftsmodelle in Zukunft Erfolg haben. Aus Sicht des ADFC sei es aber essenziell, dass „normale Menschen auf normalen Rädern“ weiterhin die erste Geige auf Radwegen spielten. „Wir wollen keine Übermotorisierung in den Städten, auch nicht auf dem Radweg. Alles, was deutlich schneller als ein Radfahrer und nicht muskelbetrieben ist, gehört innerstädtisch nicht auf den Radweg, sondern auf die Fahrbahn.“

Infrastruktur nur für einspurige Fahrzeuge?

Das würde im Umkehrschluss bedeuten: Viele zweispurige Fahrzeuge müssten auf die Fahrbahn und verlören damit ihren wesentlichen infrastrukturellen Vorteil. Das beträfe derzeit besonders viele Lastenräder. Kommt es zu einer weiteren Verschärfung des Kampfes um den Platz auf der Straße? Wie sehen Verkehrsplaner das? Für Johannes Pickert, Raum- und Verkehrsplaner von der Planersocietät Frehn, Steinberg & Partner in Dortmund muss das nicht sein. „Der Radverkehr ist tatsächlich überall auf einem aufsteigenden Ast, aber die vorhandenen Radwege sind meist nur um einen Meter breit.“ Schmale Radwege und große Fahrzeuge – das funktioniere nur begrenzt. Allerdings sei die Perspektive besser als die aktuelle Lage. Derzeit würden grundsätzlich breitere Radwege gebaut, weiß der studierte Raumplaner auch schon aus seinen früheren Erfahrungen als Radverkehrsbeauftragter. „Auf Schutzstreifen auf der Fahrbahn sehe ich da kein großes Problem. Die Protected Bike Lanes, die heute vielfach angestrebt werden, lassen dagegen kaum ein Überholen mit Abstand zu.“ Für ihn stellt sich auch die Frage der grundsätzlichen Vor- und Nachteile dieser Fahrzeuge. „Der Wetterschutz ist wichtig, aber ich kann das Rad nicht mit ins Haus nehmen, und wenn ich mich beispielsweise nicht durch den Verkehr schlängeln kann wie mit dem Zweirad, ist das wieder eine deutliche Einschränkung.“ Vorteile sieht er in schnelleren Varianten, falls es dafür künftig eine gesetzliche Grundlage gäbe. „Auf der Straße mitschwimmen und wenn es eng wird, auf den Radweg ausweichen. Aber dort fehlt dann größenbedingt Flexibilität. Wenn es eng wird, ist ein Einspurer besser.“ Teil der Lösung unserer Mobilitätsprobleme könnten die Pedelcars trotzdem sein. Schon, weil sie eine subjektive Sicherheit der Passagiere böten, die das Fahrrad nicht leiste.

Eine Plattform, mehrere Varianten: Der Bio-Hybrid, bis vor Kurzem ein Kind des Autozulieferers Schaeffler, kann auch als Cargobike mit unterschiedlichen Aufbauten bestellt werden.

Mikromobil vom Autozulieferer

Mit der Bio-Hybrid GmbH ist die frühere Tochter des Autozulieferers Schaeffler ins Rennen um den Radweg eingetreten. Schaeffler, eines der größten Automotive-Unternehmen der Welt, gab Mitte Oktober den vollständigen Verkauf der Sparte an die Micromobility Solutions GmbH bekannt. Seit 2014 bei Schaeffler gewachsen, blickt man bei der Bio-
Hybrid GmbH nicht nur auf viel Erfahrung in Sachen Mobilität, sondern auch auf enormes technisches Know-how im Mutterunternehmen. Begonnen wurde mit einer Problemstellung, nicht mit der Idee eines neuen Fahrzeugs. „Wir haben uns Gedanken zu einer neuen Mobilität gemacht, die helfen kann, Staus zu vermeiden und unsere Städte lebenswerter zu machen“, sagt Patrick Seidel, Leiter Strategie und Unternehmensentwicklung von Bio-Hybrid. „Dazu haben wir viele Gespräche mit Verkehrs- und Städteplanern geführt.“ Dabei ging es um die durchschnittliche Besetzung der Fahrzeuge, Staus und allgemeine Platzprobleme. So hätten sie den Bio-Hybrid quasi als Lücke zwischen Fahrrad und Elektroauto identifiziert. Das entstandene Fahrzeug ist ganzjahrestauglich, mit Dach, Frontscheibe und einer Transportkapazität für den Wocheneinkauf – und im Flächenbedarf sowohl in Bewegung als auch stehend sehr effizient. Die Fahrzeugplattform des Bio-Hybrids soll es als Passagierfahrzeug und als Cargobike in drei Versionen geben. Eine davon kommt mit einem Wechselcontainermodul für Logistiker. Es wird Varianten mit einem oder zwei Akkus geben, Letztere sollten dann bis 120 Kilometer Reichweite haben. Wie sieht man bei der ehemaligen Schaeffler-Tochter die potenziellen Probleme mit der Infrastruktur? Mit Blick auf die Radwegnetze der Städte meint man im Unternehmen, der Platz sei ja da und die Städte gingen den Weg zu mehr Fahrradinfrastruktur ohnehin. Warten, bis die Städte den Wandel zur perfekten Infrastruktur für Mikromobilität vollzogen haben, muss man nach Meinung der Macher nicht. „Wir stellen fest, dass es auch heute schon gut funktioniert“, so der Geschäftsführer. „Man sucht sich ja automatisch andere Strecken, um von A nach B zu gelangen. Man fährt nicht dieselben Wege wie mit dem Auto.“ Aber auch um die Sicherheit bei starkem Verkehr sei es gut bestellt. So sei nach den Erfahrungen des Unternehmens beispielsweise der Überholabstand der Autos zum Bio-Hybrid, im Gegensatz zum Fahrrad, überhaupt kein Thema.

Das Future-Mobility-Projekt des Fahrradherstellers Canyon kommt nicht nur dem klassischen Auftritt eines Autos sehr nahe – es ist technisch auch kein reines Pedelec. Es soll als solches, aber auch als bis 60 km/h zugelassenes Fahrzeug betrieben werden, jeweils mit hybridem Antrieb. Bietet sich in der Rushhour das Fahren auf dem Radweg an, wird der Pedelec-Modus aktiviert, ansonsten kann man im Stadtverkehr mit 50 km/h mitschwimmen.

Aus Norwegen für Deutschland

Auch im Ausland schaut man zuerst Richtung E-Bike-Land Deutschland und seiner Infrastruktur. Morten Rynning vom Unternehmen CityQ sieht in Deutschland sogar schon bald eine mögliche Produktionsstätte seines vierrädrigen Pedelcars mit Business-Chic. Zunächst wird das Fahrzeug aber in seiner Heimat Norwegen gebaut. Bereits 2021 sollen die ersten Exemplare ausgeliefert werden. Auch hier gibt es bei 87 Zentimetern Breite und etwas mehr als 2 Metern Länge Vierradfederung, elektronischen Antrieb mit einem 250-Watt-Motor und etwa 100 Newtonmetern Drehmoment. Gute 70 Kilometer weit soll ein Erwachsener mit zwei Kindern, mit Fracht oder einem zweiten Erwachsenen kommen. Schon der Name erklärt: Es geht um die Innenstadt, also auch hier um die Radweg-Infrastruktur.
Erst seit vier Jahren steht das CityQ (das Q steht für Quattro/Vierrad) im Lastenheft des gleichnamigen Unternehmens. Auch dieses Pedelcar wurde in breiter Expertise angegangen, mit Planern und Stadt-Spezialisten zusammengearbeitet. Und von Anfang an hat man mit dem Vorzeige-Beratungsunternehmen Roland Berger einen Spezialisten für urbane Infrastruktur im Boot. Das Start-up um den CEO Rynning ist seit 2017 enorm gewachsen. Zum Team gehört unter anderem Ketil Solvik Olsen, Norwegens Ex-Verkehrsminister.
In Deutschland sollen nach den Plänen des Unternehmens in Kürze fünf bis zehn eigene CityQ-Stationen für Service und Wartung der Fahrzeuge entstehen. Und die Nachfrage? Bis September 2020 gab es bereits Vorbestellungen im dreistelligen Bereich. Diese Käufer zahlen aktuell 7.400 Euro für ein Fahrzeug. „Das Pricing ist schwierig“, erläutert Rynning. Es gelte aber dem Auto Paroli zu bieten. Mit viel digitalem Komfort wie Tempomat, automatischer Schaltung und einem Schwerlastmodus will man das erreichen. „Der E-Bike-Markt wandelt sich sehr schnell“, sagt Rynning. „Es kommt jetzt darauf an, dabei zu sein!“ Sollten die Pedelcars tatsächlich in den Zwanzigerjahren deutlich zulegen, dürften sie nicht nur den E-Bike-Markt, sondern auch die Vorherrschaft um die urbane Infrastruktur aufmischen. Man darf gespannt sein.

Parken? Kein Problem.

Die neuen zweispurigen Fahrzeuge werden bislang als Pedelecs/E-Bike 25 eingestuft und sind damit Fahrrädern gleichgestellt. Damit sind sie aktuell nicht versicherungspflichtig und dürfen dementsprechend gemäß StVO sowohl auf normalen Parkplätzen abgestellt werden als auch auf dem Gehweg, solange das Gebot beachtet wird, „platzsparend“ zu parken.


Bilder: Bio-Hybrid, CityQ, Hopper Mobility, Bio-Hybrid, Canyon, CityQ

Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in den Städten könnte die Mobilität grundsätzlich verändern. Neue Perspektiven bieten innovative Fahrzeuge: schick, modern, günstig und vor allem schon im jungen Alter zu fahren. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Aus dem Misserfolg des elektrischen Zweisitzers Renault Twizy, der u. a. ohne Fenster und nur mit einem Notsitz für Beifahrer kam, hat der PSA-Konzern gelernt und macht mit dem Citroën Ami einen neuen Anlauf Richtung urbane Mobilität der Zukunft. Der Ami ist zudem prädestiniert für Mobilität on demand: Der Wagen soll künftig per Smartphone geöffnet, per App vernetzt und nahtlos an verschiedene Carsharing-, Abo- und Service-Portale (zum Beispiel Laden, Parkplatzsuche) angedockt werden können. Ein großer Vorteil für Sharing-Anbieter wie Cambio. Laut Cambio-Pressesprecher Arne Frank hat das Unternehmen den Ami für die Erweiterung der Flotte auf dem Plan.

In Frankreich werden großräumige Tempo-30-Zonen gerade Realität. Ein Bürgerrat hat Präsident Emmanuel Macron empfohlen, in allen Städten Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit einzuführen. Paris macht ab 2021 damit ernst und wird zum Reallabor für neue Mobilitätskonzepte. Für das neue Zeitalter kann mal wohl mit einem Boom leichter Fahrzeuge der 45- km/h-Klasse rechnen. Neben neuen E-Motorrollern und schnellen S-Pedelecs (E-Bike 45) könnten auch Microcars eine Renaissance erleben. Aktuell will sich der französische Automobilkonzern PSA mit dem Citroën Ami als Vorreiter positionieren. Der kastenförmige Elektro-Zweisitzer Ami (frz. Freund) ist mit einer Länge von 2,40 Meter und einer Breite von 1,39 Metern noch kleiner als ein Smart Fortwo (2,70 × 1,70 m) und damit ein echtes Mikromobil. Der spartanisch ausgestattete Wagen wiegt 425 kg und soll eine Reichweite von 100 Kilometern bieten. Angetrieben wird er von einem Elektromotor mit sechs Kilowatt, der ihn in zehn Sekunden auf 45 km/h beschleunigt. Dann ist Schluss, denn der Ami ist kein Auto, sondern laut EU-Verordnung ein „Leichtes Vierradmobil für Personenbeförderung der Klasse L6e-BP“. Christopher Rux, Leiter Kommunikation von Citroën, drückt es so aus: „Der Ami ist kein Auto, sondern eine Mobilitätslösung für jeden“. Er darf in Frankreich ab 14 Jahren und in Deutschland mit der Führerscheinklasse AM, je nach Bundesland entweder ab 15 oder 16 Jahren gefahren werden. In Frankreich ist er schon ab 6.000 Euro zu haben oder bei etwas mehr als 2.000 Euro Anzahlung für eine monatliche Leasingrate von 19,99 Euro. „Das ist weniger als ein Handyvertrag“, sagt Rux. Citroën habe das Fahrzeug für alle entwickelt, die in der Stadt leben und eigentlich kein Auto brauchen, die multimodal, also auch per Fahrrad oder E-Scooter unterwegs sind, aber je nach Wetter und Bedarf, zum Beispiel für den Großeinkauf oder das Fahren zu zweit, mehr wollen. Und natürlich für all diejenigen, „für die Busse und Bahnen nicht mehr das präferierte Transportmittel sind“.

„Die ‚autogerecht‘ geplante Stadt macht es den Bewohnern unmöglich, die öffentlichen Räume frei und in Sicherheit zu nutzen und so die Stadt zu beleben.“

Jan Gehl, „Städte für Menschen“

45 km/h reichen aus – eigentlich

Bei ersten Testfahrten in Berlin zeigten sich die Ami-Tester begeistert. Trotz der 45-km/h-Beschränkung fühlten sie sich immer ausreichend schnell, gerade weil in vielen Straßen sowieso häufig langsamer gefahren wird, und auch nie als Verkehrshindernis. Die für ein Kleinstfahrzeug hohe Sitzposition (5 cm höher als ein aktueller VW Golf) ermöglicht einen guten Blickkontakt zu anderen Verkehrsteilnehmern und das sympathische Äußere erhöht die Akzeptanz. Trotzdem bereitet die bestehende Infrastruktur dem Ami und anderen Microcars, die sich anschicken, die Märkte zu erobern, Probleme. Die kennt man auch von anderen Fahrzeugen der 45-km/h-Klasse, wie den beliebten E-Rollern, die es vermehrt als Sharing-Modelle gibt, sowie schnellen S-Pedelecs (E-Bike 45). Hauptproblem sind Kraftfahrstraßen/Schnellstraßen. Sie werden von Navigations-Apps bislang nicht auf Wunsch gefiltert und vielfach gibt es auch keine Alternativen, wie zum Beispiel bei Brücken.

Die EU-Fahrzeugklassen bis 45 km/h

Motorisierte Fahrzeuge mit einer Höchstgeschwindigkeit von 45 km/h fallen gemäß EU-Verordnung in die EG- Fahrzeugklasse L1e bis L6e. Sie sind zulassungs- und steuerfrei und müssen nicht zur Hauptuntersuchung. Nur ein Versicherungskennzeichen ist vorgeschrieben. Fahren darf man sie mit dem Führerschein der Klasse AM oder dem Autoführerschein, Klasse B. Das Mindestalter ist in Europa unterschiedlich, in Frankreich darf man die Klasse bereits mit 14 Jahren fahren.

Smarte 45-km/h-Roller erobern die Städte

Einen einfachen Zugang zu smarter Mobilität, mit der man bequem im Stadtverkehr der Zukunft mitschwimmen kann, versprechen auch die mit Führerschein AM fahrbaren elektrischen Motorroller. Zu den meistverkauften Modellen gehört der Smart Scooter von NIU, der mit Preisen ab 1.800 Euro Keyless Go, GSM-Ortung, eine Wegfahrsperre per App und eine Reichweite von circa 50 Kilometern bietet. Ein Erfolgsmodell in Taiwan, wo Roller das Straßenbild bestimmen, ist das Start-up Gogoro mit der Kombination von Scooter und einem landesweiten Netzwerk aus rund 2.000 systemoffenen Akkuwechselstationen. Bezahlt wird dabei monatlich nach Verbrauch. Solch ein System gibt es in Deutschland bislang noch nicht, aber die Gogoro-Roller gehören inzwischen beim Sharing-Anbieter Tier mit zum Angebot. Auch andere Anbieter, wie lokale Stromversorger, mischen mittlerweile beim E-Roller-Sharing mit. In Köln etwa sind die „Rhingo“-Roller des städtischen Energieversorgers Rheinenergie sehr beliebt. Diesen Sommer wurde die Flotte von 200 auf 400 Roller aufgestockt und das Geschäftsgebiet in Köln erweitert. Die Roller verfügen über zwei Sitze und zwei Helme und kommen damit den Anforderungen gerade von jungen Nutzern entgegen.

Mit moderner Ausrüstung ist die Fahrt auf dem Roller auch bei Kälte und Regen problemlos machbar. Im regenreichen Taiwan, in Italien oder in Frankreich hilft man sich neben wetterfester Kleidung mit großen Windschutzscheiben, fest montierten Decken, Handstulpen oder beheizten Griffen. Bewegung und Wärme von innen bekommt man auf einem schnellen E-Bike 45 (S-Pedelec), bei dem die Reisegeschwindigkeit meist zwischen 30 und 35 km/h liegt.

Tauschen statt laden: In Taiwan, wo Roller das Straßenbild bestimmen, ist die Kombination von Scootern und einem Netzwerk mit systemoffenen Akkuwechselstationen ein Erfolgsmodell.

Tempo 50 zu hoch für eine menschengerechte Stadt

Das Gute an einer niedrig festgelegten maximalen Geschwindigkeit ist, dass sie eine Stadt nach menschlichem Maß ermöglicht. In seinem Buch „Städte für Menschen“ beschreibt der Stadtplaner Jan Gehl, welche Geschwindigkeiten und welche Entfernungen der Wahrnehmung des Menschen entsprechen. Denn im Gegensatz zur Technik habe sich die Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen nicht weiterentwickelt. Am besten funktioniere sie beim Zufußgehen. Auch bei Lauf- oder langsamen Fahrradgeschwindigkeiten von circa 12 km/h sei eine realistische Verarbeitung der Eindrücke noch möglich. Bei höheren Geschwindigkeiten reduzierten sich unsere Sehkapazität und unser Verständnis des Gesehenen erheblich. Auch Verkehrsforscher fordern mit Blick auf Vision Zero seit Langem eine Reduktion der Geschwindigkeiten: Nicht nur aufgrund der drastischen Reduzierung der Unfallfolgen, sondern weil sich bei höherer Geschwindigkeit zum Beispiel auch das Sehfeld verkleinert. Dabei werden periphere Informationen, wie zum Beispiel Fußgänger am Straßenrand, Radfahrer, die überholt werden, oder vorbeifahrende andere motorisierte Verkehrsteilnehmer schlicht ausgeblendet.

Microcars in anderen Ländern

Während in Deutschland die Klasse der Microcars mit unbekannten Herstellern wie Ligier oder Aixam bislang ein Nischendasein fristet, sind sie in Frankreich deutlich populärer. Extrem beliebt sind langsame Elektroautos mit bis zu vier Plätzen in China. Bei Alibaba kann man einfache Modelle schon für unter 1000 Dollar bestellen. Allein im Jahr 2017 sind in China laut Bericht des Wall Street Journal ungefähr 1,75 Millionen dieser Mikroautos, für die man hier keinen Führerschein benötigt, verkauft worden. Vor allem in ländlichen Provinzen.


Bilder: Citroën, Bild: Uber, Klever Mobility, Rheinenergie – Rhingo, Alibaba, Gogoro Network

Die an der niederländischen Grenze gelegene Kleinstadt Nordhorn hat sich hohe Ziele gesetzt. Für 40 Prozent aller Wege nehmen die Menschen hier bereits das Fahrrad. Aber das reicht den Politikern längst nicht mehr. Sie wollen mehr Radverkehr in Nordhorn, viel mehr. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Nordhorns „grünes Radnetz“ verläuft entlang der vielen Kanäle und dem Fluss Vechte. Hier ist Radfahren sicher und komfortabel. Weiterhin verbessert die Stadt fortwährend die Bedingungen für Radler auf dieser Strecke.

Die Nähe zur Radfahrnation hat die Stadt und ihre Bewohner geprägt. „Fietsen“ ist hier selbstverständlich. Noch mehr Radverkehr ist aber gar nicht so einfach. In der 50.000-Einwohner-Stadt gibt es bereits an nahezu allen Hauptverkehrsstraßen straßenbegleitende Radwege und nicht nur ein lückenloses Radwegenetz, sondern gleich zwei. Trotzdem ist das Potenzial an Umsteigern weiterhin hoch. Während die einen Rad fahren, fahren die anderen Auto: immerhin 49 Prozent. Um die Klimaziele zu erreichen und die Luftqualität in der Stadt zu verbessern, sollen zukünftig möglichst viele Autofahrer zum Radfahren verführt werden. Dafür hat sich die Stadt Hilfe geholt. Ein Planungsbüro aus Köln hat 2017 ein Radverkehrskonzept erstellt, das die Verwaltung jetzt nach und nach umsetzt. Dabei zeigt sich: Wer einen Radverkehrsanteil von „40 Prozent plus x“ will, muss in vielen Bereichen umdenken.

„Der Radverkehr wird bei jeder Planung immer mitgedacht.“

Anne Kampert, Klimaschutzmanagerin der Stadt Nordhorn

Kurze Wege für Radfahrer

Eine fahrradfreundliche Infrastruktur beginnt bei der Planung von Wohngebieten. In der Regel entscheide man sich am Morgen für das Verkehrsmittel, das man den Tag über nutzen werde, sagt die Klimaschutzmanagerin Nordhorns, Anne Kampert, die für nachhaltige Mobilität zuständig ist. Für eine Fahrradstadt heißt das: Der Weg von der Wohnung in die Innenstadt muss per Rad unschlagbar schnell sein. Deshalb werden neue Wohngebiete in Nordhorn inzwischen so geplant, dass Radfahrer und Fußgänger Vorrang haben. Während Autofahrer lange Umwege fahren müssen, sind für Radfahrer die kurzen Wege reserviert – zu allen wichtigen Punkten der Stadt. Im Idealfall verlaufen die Routen abseits des Autoverkehrs. Die Ausgangslage dafür ist günstig. Die Strecken vom Stadtrand ins Zentrum sind kaum länger als fünf Kilometer. Die neuen Wohngebiete müssen nur auf dem direkten Weg ans Radwegenetz angeschlossen werden. Davon hat die Wasserstadt gleich zwei. Das grüne Netz verläuft entlang der vielen Kanäle und dem Fluss Vechte, das rote Netz entlang der Hauptverkehrsstraßen. Bevor die Wege entlang der Gewässer zu Radwegen wurden, waren es alte Treidelpfade. Auf ihnen zogen Arbeitspferde schwere Lastkähne über die Kanäle. Seit Jahrzehnten sind hier nun Radfahrer und Fußgänger unterwegs. Jetzt will die Stadt den Standard der Strecken steigern. Das lohnt sich.

Nordhorn hat zwei Kreisverkehre umgebaut. Bodenschwellen bremsen nun den Autoverkehr und Poller zwingen die Fahrer dazu, im rechten Winkel abzubiegen. Seit dem Umbau sind beide Knotenpunkte unauffällig.

Breite Verbindungen und Vorfahrt

Der Radweg „Am Verbindungskanal“ verbindet mehrere Stadtteile und den Norden mit dem Süden der Stadt. Er ist eine der Hauptrouten. Allerdings reichte die Breite von 1,80 Metern für die stetig wachsende Zahl an Radlern kaum noch aus. Weil die angrenzende Lindenallee denkmalgeschützt ist, baute die Stadt einen parallel verlaufenden zweiten Radweg. Außerdem wurden die beiden Kreuzungen auf der Strecke pro Rad umgestaltet. „Zuvor mussten die Radfahrer hier absteigen, die Autofahrer hatten Vorfahrt“, sagt Kampert. Jetzt ist es umgekehrt. Damit die Pkw-Fahrer tatsächlich bremsen, wurde unter anderem die Straßenbreite für Autos an den Kreuzungen mit Blumenbeeten auf die Hälfte verjüngt und rot markiert. Das Vorhaben kam im Vorfeld nicht gut an. „Viele fanden den Umbau für die Radfahrer zu gefährlich“, erinnert sich Anne Kampert. Das ist inzwischen vergessen. Jetzt haben die Radfahrer auf der sieben Kilometer langen Strecke Vorfahrt. Unfälle gab es dort laut Anne Kampert keine und die Rückmeldungen sind positiv.

Duales Netz und Aufklärungskampagnen

Wie alle anderen Städte hat Nordhorn aber auch ein zentrales Problem: Es fehlt der Platz. Breite geschützte Radwege, auf denen selbst Lastenräder einander überholen können, sind kaum machbar. Trotzdem will die Stadt ein Wegenetz schaffen, auf dem sportliche und ungeübte Radfahrer sicher und im eigenen Tempo nebeneinander unterwegs sein können. Eigentlich gibt es das bereits. Anne Kampert erklärt: „Viele der Radwege, die Hauptstraßen begleiten, sind nicht mehr benutzungspflichtig.“ Schnelle Alltagsradler und E-Bike-Fahrer radeln hier im Mischverkehr mit, während Kinder und langsamere Erwachsene gemütlich über den Radweg rollen. Also ist das Problem bereits gelöst? Mitnichten. „Viele Verkehrsteilnehmer kennen die Regeln nicht“, sagt die Klimaschutzmanagerin. Die Folgen sind Streit und Stress zwischen Radfahrern und Autofahrern. Nordhorn will mit einer Aufklärungskampagne gegensteuern. „Wir haben Fahrrad-Piktogramme auf Hauptstraßen aufgebracht, um den Autofahrern zu zeigen: Radfahren auf der Fahrbahn ist hier erlaubt“, sagt sie. Sie nennt das „duales Netz“. Es ist Nordhorns Kniff, die Verkehrsregeln sichtbarer zu machen. Das versucht Anne Kampert auch in Fahrradstraßen. Seit August wird in der Wasserstadt der Asphalt in Fahrradstraßen an ihrer Ein- und Ausfahrt in einem hellen, leuchtenden Grün markiert. Das Signal an alle ist deutlich: „Das Fahrrad ist hier das Verkehrsmittel, für das die Straße da ist“, sagt Anne Kampert. Sie dürfen hier plaudernd nebeneinander fahren. Autofahrer müssen sich ihrer Geschwindigkeit anpassen oder dürfen maximal 30 km/h fahren. Auch diese Regeln sind nicht neu. Damit sich aber alle daran erinnern, hat die Verwaltung ein Banner mit den Regeln neben der neuen Grünmarkierung aufgestellt. Das Fahrradstraßenschild direkt daneben geht dabei fast unter. Überflüssig ist es dennoch nicht. „Die Markierungen auf der Straße werden erst rechtskräftig durch das Verkehrsschild“, sagt Anne Kampert.

Auch in der Fahrradstadt fehlen im Zentrum mancherorts gute Abstellanlagen. Anne Kampert und ihr Team sind dabei, nachzubessern, und haben Parkplätze in Einkaufsstraßen in Parkraum für Fahrräder umgewandelt.

Radverkehr wird von allen getragen

In Nordhorn ist es wie in Holland. Alle fahren Fahrrad. Der Bürgermeister, die Politiker, die Lehrer und die Schüler. Die Politiker nehmen den Ausbau der Infrastruktur ernst. Sie geben Anne Kampert immer wieder Tipps, was man noch besser machen könnte, und beteiligen sich an Aktionen pro Fahrrad. Dafür stehen sie im Winter auch schon mal morgens um 6.30 Uhr an den Hauptradrouten und verteilen Schokoherzen an Radfahrer. „Allerdings nur an die, die mit Licht unterwegs waren“, sagt Anne Kampert. Die „Lichtaktion“ war keine Ausnahme. Auch beim jährlichen Stadtradeln bieten der Bürgermeister, der Stadtbaurat und viele andere bekannte Personen aus der Stadt Radtouren zu ihren Themenschwerpunkten an. Beim Ziel Radverkehrsanteil 40 plus x ziehen Politik und Verwaltung konsequent an einem Strang. Das spiegelt auch das nächste Projekt, dessen Vorplanung gerade anläuft. Auf einer vierspurigen Hauptstraße soll der Platz neu verteilt werden. „Zwei Fahrspuren reichen für den Autoverkehr dort inzwischen aus“, sagt Anne Kampert. Jetzt sollen auf den ehemaligen Pkw-Spuren großzügige Radwege entstehen. Die Planung übernimmt das Straßenbauamt. Einen Radverkehrsplaner hat Nordhorn nicht. „Der Radverkehr wird bei jeder Planung immer mitgedacht“, sagt Anne Kampert. Das gilt für Straßen, Gebäude, Plätze und Wohngebiete. Das hat hier Tradition – wie in den Niederlanden.

Zahlen und Fakten

Die ehemalige Textilstadt Nordhorn liegt westlich von Osnabrück in Niedersachsen, direkt an der Grenze zu den Niederlanden. 2017 wurden in der Stadt 42 Prozent aller Wege mit dem Rad zurückgelegt und 9 Prozent zu Fuß. Der Anteil der Bus- und Bahnfahrer betrug gerade mal 2 Prozent. Das kann sich aber zukünftig ändern. Seit 2019 ist Nordhorn wieder per Bahn erreichbar. Die Bahntrasse soll über die Landesgrenze hinweg in die Niederlande verlängert werden. Nordhorn fördert den Kauf von Lastenrädern mit und ohne Motor mit bis zu 500 Euro. 2020 und 2021 mit insgesamt 20.000 Euro. Die Stadt stellt regelmäßig weitere Fahrradabstellanlagen auf, außerdem sind alle Einbahnstraßen in Gegenrichtung für Radfahrer freigegeben. Auch ein Winterdienst für Radwege ist selbstverständlich. Seit Jahren gibt es einen Plan, der genau festlegt, bis wann die Radwege freigeräumt und gestreut sein müssen. Im Landkreis werden auch die Radwege zwischen den Städten gestreut.


Bilder: Stadt Nordhorn

Superblocks liegen im Trend. Die einfachen Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung haben im dicht bebauten Barcelona, zumindest in den umgebauten Vierteln, für einen Rückgang der Umweltbelastung und enormen Zuwachs an urbaner Lebensqualität gesorgt. Erste Erfahrungen nach der Implementierung zeigen, was bei der Planung und Umsetzung zu beachten ist. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Vorreiter Poblenou: Die Zeiten der Provisorien in Barcelonas erstem Superblock sind längst vorbei. Mit der dauerhaften Einrichtung zum Beispiel von Kinderspielplätzen kam der Erfolg.

Touristisch gilt Barcelona als Highlight. Doch der Alltag in der katalanischen Metropole bedeutet Stress pur. Rechnerisch stehen in der 1,7-Millionen-Einwohner-Stadt (Metropolregion: 5,5 Millionen) jedem Einwohner nur 2,7 Quadratmeter Grün zur Verfügung. Mit ein Grund, warum das City-Thermometer im Vergleich zum Umland an manchen Tagen bis zu neun Grad höher klettert. Auch bei allen anderen Faktoren schnitt die Stadt bislang schlecht ab: Der durchschnittliche Tagesgeräuschpegel von 65,1 Dezibel übersteigt die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen Höchstwerte von 53 Dezibel deutlich. Hinzu kommt die hohe Verkehrsunfallrate: 9.251 allein in 2019. Die konventionell motorisierte Mobilität sorgt für eine hohe NO2– und CO2-Belastung. Mit knapp einem Drittel ist der Straßenverkehr für den höchsten Anteil an Barcelonas Treib-hausgasemissionen verantwortlich.
Anfang 2020 rief die Stadtregierung den Klimanotstand aus und packte 563,3 Millionen Euro in einen Maßnahmentopf, um die CO2-Emissionen bis 2030 zu halbieren. 2050 will die Stadt klimaneutral sein. Zu den Maßnahmen gehört die Niedrigemissionszone, mit der schrittweise mehr Fahrzeugklassen aus der katalanischen Hauptstadt verbannt werden: Vor der Jahrtausendwende gekaufte Autos sowie Diesel, die vor 2006 zugelassen wurden, sind in der Innenstadt bereits tabu. Auch die weiteren Ziele sind ambitioniert: So soll die Zahl der Autos in drei Jahren um 125.000 gesenkt werden und die Luftverschmutzung in vier Jahren um 20 Prozent. Ein Erfolgsmodell sind die Superblocks, die es seit 2015 gibt und die hier „Superilles“ (Katalanisch für „Superinseln“) heißen. Sie sind mittlerweile europaweit Vorbild für eine grünere und vor allem sozialere Gestaltung des öffentlichen Raums.

Lebensqualität und soziale Begegnungen

Mark Nieuwenhuijsen, Direktor der Initiative „Urban Planning, Environment and Health“ des IS Global Barcelona zu den Plänen in der Stadt:

„Indikatoren wie Luftverschmutzung, Lärm, Temperatur, Grünflächen und die körperliche Aktivität wirken sich auf die städtische Gesundheit aus. Bis zu 20 Prozent der Belastung entfallen auf eine suboptimale Stadt- und Verkehrsplanung. Auch psychische Probleme werden durch weniger Lärm und mehr Grünflächen reduziert. Würde man das Superblock-Konzept komplett umsetzen, könnte es mindestens 667 Todesfälle pro Jahr verhindern. Und es gibt Annahmen, dass die Luftverschmutzung bis zu 30 Prozent reduziert werden könnte. In San Antoni sehen wir jetzt mehr Fußgänger. Es gibt Bänke, auf die sich Leute setzen können. Das alles führt zu mehr Interaktion auf der Straße. Und das Straßenleben ist für die Menschen hier sehr wichtig, weil die Wohnungen oft klein sind. So ist auch mehr körperliche Aktivität möglich.
Aber es reicht nicht aus, die Straßen einfach von Autos zu befreien. So entstehen Ghostlands, wie in den USA. Man benötigt schon eine gewisse Dichte, Aktivität oder Läden. Und man braucht eine entschlossene Stadtverwaltung. Aber die Leute müssen in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Was anstelle der Autos kommt, hängt von den Anwohnern ab: Mehr Läden? Grünflächen oder vielleicht Kunst? Der Mensch ist ein soziales Wesen. Eine der Hauptfunktionen von Städten ist es, Menschen zusammenzubringen. Das sollten wir nicht aus dem Auge verlieren.“

Blaupause für dichte Stadtbebauungen

Obwohl die Ausgangslage oft wenig Platz bietet, profitiert das Grundprinzip von der vorwiegend als Schachbrettraster angelegten Stadtarchitektur. Nach der ursprünglichen Planung bestehen Superilles aus einem Raster von Grundstraßen in der Größe von etwa 400 mal 400 Metern. Dabei fasst man vier (2×2) oder neun (3×3) Häuserblocks samt Straßen zu einem Superblock zusammen. Der Innenraum ist für die meisten motorisierten Fahrzeuge gesperrt und auch Parkplätze sucht man hier vergeblich. Ausnahmen gelten für Anwohner- sowie Lieferverkehr, bei einem durchgängigen Tempolimit von 10 km/h. Einzelne Häuser innerhalb eines Superblocks können weiterhin von jedem Fahrzeug erreicht werden. Allerdings ist das Befahren mit dem Auto nur in Schleifen um je einen Block möglich. So können Autofahrer die Wege nicht mehr für Durchgangsfahrten nutzen. Neu gestaltete Freizeitzonen oder Poller fungieren dabei als Diagonalsperren und sind nur durchlässig für Fußgänger und Radfahrer.

Vorher-Nachher: Der vom Durchgangsverkehr geplagte Innenraum eines 3×3-Superblocks wird für Autos gesperrt. Der Verkehr zirkuliert außen. Neue Räume entstehen für Fußgänger und Radfahrer.
Der Nachfolger in Sant Antoni: In dem neuen Superblock um die Markthalle sank der Durchgangsverkehr um satte 82 Prozent. Auch die Schadstoffbelastung sowie die Lärmbelastung nahmen ab.

Für mehr Lebensqualität

Innerhalb des Superilles werden Straßen rückgebaut zugunsten von Radwegen, Grünflächen, Spiel- und Sportplätzen. Gemeinschaftliches Turnen auf der Straße, Sitzgruppen oder eine Laufbahn mitten auf der Fahrbahn führen zu einem Plus an sozialem Miteinander. Auf Nachfrage teilt die Stadtverwaltung Barcelona erste Zahlen für den Superblock Sant Antoni mit: 23.000 Quadratmeter wurden dort vorrangig für Fußgänger freigegeben und 556 Sitzgelegenheiten kamen neu hinzu. Entsprechend stieg die Zahl der Fußgänger und Freizeitnutzer um 28 Prozent. Zugleich nahm der Durchgangsverkehr um 82 Prozent ab, was 6.000 weniger Fahrzeuge pro Tag bedeutet. Die Schadstoffbelastung sank um ein Drittel. Außerdem verringerte sich die Lärmbelastung um fünf Dezibel. Dazu kommt eine Verbesserung der Nachtruhe um zehn Prozent.
„Indikatoren wie Luftverschmutzung, Lärm, Temperatur, Grünflächen und die körperliche Aktivität wirken sich auf die städtische Gesundheit aus“, sagt der Forscher Mark Nieuwenhuijsen vom IS Global Barcelona. Das Institut prognostiziert in einer Studie, dass dank der Superilles jährlich 667 vorzeitige Todesfälle vermieden werden und die durchschnittliche Lebenserwartung der Stadtbewohner um rund 200 Tage steigen könnte. Verringerte Stickstoffdioxid-Werte (NO2), weniger Verkehrslärm, sinkende Hitze und mehr Stadtgrün gehen dabei Hand in Hand. Der Ausstoß von Stickstoffdioxid, das tief in die Lunge eindringt, die Schleimhäute reizt und Entzündungen auslösen kann, könnte außerdem von aktuell 47 Mikrogramm pro Kubikmeter auf 36 Mikrogramm reduziert werden. Würden die Anwohner auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad fahren, könnte die Gesamtzahl der Fahrten mit Privatfahrzeugen um 1,19 Millionen auf 230.000 pro Woche sinken, so die Macher der Studie. Sie setzen dabei voraus, dass stadtweit alle 503 geplanten Superblocks realisiert werden. Bis dahin ist es aber noch weit: Denn in Publikationen werden manchmal die in den 1980er-Jahren verkehrsberuhigten Viertel wie Gràcia und Born mitgezählt. Verwirklicht sind bisher nur die drei Superblocks in Poblenou, Sant Antoni und Horta.

„Menschen fühlen sich sicherer,
Plätze werden attraktiver.“

Catherine Pérez, Gesundheitsamt Barcelona

„Zu den vier Zielen des Superblock-Konzepts gehören die bürgergerechte Belebung öffentlicher Plätze, nachhaltige Mobilität, mehr Grünflächen und Teilhabe. Im 2018 eingeweihten Sant-Antoni-Superblock wurden Anwohner befragt, wie sie das neue Areal wahrnehmen. Dabei wurde positiv hervorgehoben, dass es mehr Platz für Fußgänger als für Autos gibt. Menschen fühlen sich jetzt sicherer, empfinden die Plätze attraktiver. Man schätzt den sozialen Austausch auf den Terrassen. Auch eine verbesserte emotionale Gesundheit und die Schlafqualität wurden gelobt.“

Stadtweite Anreize bieten, Netzwerkeffekte nutzen

Ausschlaggebend für den Erfolg ist der Mut zu einer stadtweiten Implementierung. Die Erfahrungen mit den ersten Superblocks zeigen, worauf es bei der Umsetzung ankommt. So greift es zu kurz, einen Superblock isoliert zu denken. Umliegende Straßen müssen mit einbezogen werden, damit es dort nicht zu einer Mehrbelastung mit Autoverkehr kommt. Lösungsansätze rufen die Reduzierung des Autoverkehrs in der gesamten Stadt auf den Plan. Sie ergeben sich aus der Summe mehrerer Anreize: Darunter eine fahrrad- und fußgängerfreundliche Infrastruktur und ein gut ausgebauter ÖPNV. So gehört es zu den Zielvorgaben in Barcelona, dass die nächste Busstation für jeden Superblock-Bewohner in einem maximalen Umkreis von 250 Meter liegt. Und die Busse sollen im Sechs-Minuten-Takt fahren. Hinzu kommen getrennte Radwege rund um die Superilles. Seit 2015 wurden 250 Kilometer neue Radwege geschaffen und bestehende ausgebaut. Die Stadt setzt zudem auf das nur von Anwohnern und nicht Touristen nutzbare Fahrrad-Sharing-System „Bicing“. Neben solchen Anreizen können Superblocks selbst eine flächendeckende Absenkung des Autoverkehrs bewirken. Denn liegen mehrere Superblocks in der Nachbarschaft, dann kommt es zu Netzwerkeffekten: Anstatt mit dem Auto über lange Umwege zum benachbarten Superblock zu fahren, kommt man etwa mit dem Fahrrad deutlich schneller und ohne Parkplatzproblem quer durch alle Diagonalsperren. Je mehr Superblocks es gibt, desto mehr attraktive Radverkehrswege entstehen also. Davon profitieren dann auch die umliegenden Hauptstraßen.

„Eine der Hauptfunktionen von Städten ist es, Menschen zusammenzubringen. Das sollten wir nicht aus dem Auge verlieren.“

Mark Nieuwenhuijsen, Direktor Initiative „Urban Planning, Environment and Health“ des IS Global Barcelona

Anfangs gab es noch Bürgerproteste in Poblenou. Mit der Einbeziehung bei der Planung änderte sich das. Heute genießen die Anwohner des Superblocks die Freizeit- und Sportmöglichkeiten vor der Haustüre.

Learning: Anwohner frühzeitig einbeziehen

Als die Bewohner des ersten Superblocks Poblenou im September 2016 aus den Ferien zurückkamen, waren Straßen für den Durchgangsverkehr gesperrt und die neuen, damals „radikalen“ Tempolimits eingeführt. Einige Kreuzungen wurden von Architekturstudenten bemalt, Reifen für Spielbereiche abgelegt und Bäume in Töpfen als Straßenmarkierungen aufgestellt. Diese Verkehrsrestriktionen samt Provisorien führten zu einer Protestwelle gegen den Superblock. Denn wahrgenommen wurden zunächst nur die Einschränkungen. Ein Lehrbeispiel dafür, wie es nicht funktioniert. Daraus hat man gelernt und die Stadtverwaltung betont, dass die Einbeziehung der betroffenen Community mit an erster Stelle steht. Catherine Pérez vom Gesundheitsamt in Barcelona sagt: „Heute schlägt ein Team aus technischen Stadtplanern vor, welche Maßnahmen aus ihrer Sicht sinnvoll wären. Diesen Plan diskutieren sie aber erst einmal mit den betroffenen Anwohnern. Im Zuge eines langen Diskussionsprozesses kommt es häufig zu Änderungen der ersten Vorschläge. Erst danach wird endgültig entschieden, was umgesetzt wird.“ Und in Poblenou? Hier schätzen Anwohner mittlerweile die Rückgewinnung des öffentlichen Raums sehr. Notwendig dafür war nicht allein eine intensiv geführte Diskussion, sondern auch dauerhafte strukturelle Veränderungen der neu gewonnenen Flächen. Nicht zuletzt fürchteten lokale Geschäfte in Poblenou einen Kundenrückgang durch wegfallenden Autoverkehr. Eingetreten ist der umgekehrte Effekt: Heute gibt es dort 30 Prozent mehr lokale Unternehmen als zuvor. Denn wo mehr Fußgänger und Radfahrer das Straßenbild bestimmen, profitiert der Handel. Ein Grund dafür ist, dass regelmäßig viele Kunden aus der Nachbarschaft kommen. Parkplätze in Geschäftsnähe werden dagegen oft nicht von Kunden, sondern durch andere genutzt. Ein Pro-blem ist aktuell, dass es aufgrund der gehobenen Wohnqualität zu einer Verdrängung von alteingesessenen Anwohnern durch Mietpreissteigerungen kommen kann. Damit umweltgerechte Stadtplanung nicht zum Nachteil für Geringverdiener und mittelständische Haushalte in den neuen Superblocks wird, müssen der soziale Wohnungsbau sowie unterschiedliche Mietkontrollinstrumente im Blick bleiben. Gegensteuern könnte auch hier eine möglichst breitflächige Einführung von Superblocks.

Kiez wird Superinsel:
„Der Aufwand-Nutzen-Faktor ist riesig.“

Hans Hagedorn, Changing Cities Berlin

„In Deutschland haben wir insofern eine komplexere Planungssituation, als dass die Städte selten so geometrisch angelegt sind wie in Barcelona. Bei uns in Berlin-Pankow gibt es in Sachen Kiezblocks zwei Fraktionen: Die eine möchte zuerst nur auf die Verkehrsführung schauen. Denn wenn wir Poller setzen, damit sich Diagonal- oder Quersperren ergeben, können wir schon sehr viel erreichen. Der Aufwand-Nutzen-Faktor ist riesig. Es gibt minimale Planungs- und Baukosten. Damit können wir die Verkehrsströme ändern und den Durchgangsverkehr rausnehmen. Die andere Fraktion möchte beim Schaffen eines Kiezblocks von vornherein die Aufenthaltsqualität mit sehen. Was machen wir mit den Straßen, wenn der Durchgangsverkehr wegfällt? Bauen wir Parkplätze ab? Wo schaffen wir urbanes Leben im Kiez? Meine Einstellung zu den beiden Philosophien: Das eine ist der erste Schritt, das andere der zweite. Dabei ist es wichtig zu vermitteln, dass man weiterhin alle Straßen mit allen Verkehrsmitteln erreichen kann. Autos werden in Schleifen um einen Block geführt. Wenn wir auf diese Weise den Durchgangsverkehr aus einem Wohngebiet rausbekommen, findet das selbst in konservativen Milieus Akzeptanz.“

Barcelona als Blaupause?

Inzwischen sind die Superblocks auch in Deutschland angekommen. In Berlin heißen sie Kiezblocks. Nach dem Beschluss eines Modellprojekts zur Verkehrsberuhigung setzte auch der Bezirk Pankow auf die Zusammenarbeit mit Verkehrsinitiativen. Anwohner erarbeiteten unter anderem mit dem Verein Changing Cities detaillierte Pläne aus für insgesamt 18 Kiezblocks. An erster Stelle steht das Ziel, den Durchgangsverkehr aus den Wohngebieten zu bekommen. Mit Einbahnstraßen, Einfahrtsperren und Diagonalsperren werden Autos so geführt, dass sie in Schleifen auf der gleichen Seite wieder herauskommen, wo sie hineingefahren sind. Dass dabei Anlieger weiterhin jedes Haus erreichen können, sorgt für eine hohe Akzeptanz. An zweiter Stelle steht die Idee, mehr urbane Aufenthaltsqualität zu schaffen, oder der Rückbau von Parkplätzen. Rückenwind bekommen die Superblock-Projekte vor allem durch eine hervorragende Relation von Aufwand und Nutzen. Um angesichts der akuten Probleme noch schneller eine Mobilitätswende einzuleiten, lassen sich die Grundprinzipien auch mit etwas weniger Stringenz umsetzen. So arbeitet man in Barcelona aktuell mit neuen Konzepten: Priorisiert wird nun, dass eine von drei Straßen verkehrsberuhigt wird. Diese sogenannten grünen Achsen sollen eine maximale Kontinuität in der Stadtstruktur aufweisen. Anstelle komplett verkehrsberuhigter Superblocks, die jedoch nicht miteinander verbunden sind, entsteht auf diese Weise ein Netzwerk verkehrsberuhigter Straßen mit größerer Reichweite. Die Verantwortlichen in Barcelona haben sich vorgenommen, so noch rascher voranzukommen mit der Verkehrswende in der Stadt.

Superinseln als Idee für deutsche Städte?

Wir fragen nach bei der Berliner Fahrrad- und Mobilitätsexpertin Isabell Eberlein, die u. a. beim Verein „Changing Cities“ aktiv ist, sich im Netzwerk „Women in Mobility“ engagiert und als Teil der Berliner Agentur Velokonzept unter dem Namen „Okapi“ Unternehmen und öffentliche Verwaltungen mit Blick auf ein zukunftsfähiges Mobilitätsmanagement berät.

Berlin baut nach dem Vorbild aus Barcelona Kiezblocks. Ein Erfolgsmodell?
Das Thema Kiezblocks nimmt in Berlin Fahrt auf. Für 2021 will der Verein Changing Cities e. V. 180 Kiezblocks in 12 Bezirken auf den Weg bringen. In anderen Städten werden ähnliche Konzepte geprüft.

Warum sind Kiezblocks wichtig?
Kiezblocks zeigen, dass Menschen eine neue Stadt oder ein neues Quartier brauchen. In Paris ist es die Stadt der 15 Minuten. Das heißt, alle wichtigen Institutionen Wohnen, Arbeit, Einkaufen, Gesundheit sind innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar. Kiezblocks verändern mit Quartiersumgestaltungen nicht allein den Verkehr, sondern verbessern die Daseinsvorsorge und erhöhen die Aufenthaltsqualität.

Wie reagiert die Politik?
Anfang 2020 versammelten sich die verkehrspolitischen Sprecher der Berliner rot-rot-grünen Landesregierung und bestärkten ihr großes Interesse an den Kiezblocks. Nun wollen sie Wissens-transfer unter den Bezirken herstellen, um so die Initiativen berlinweit ausrollen zu können.

Was sagen die Anwohner*innen?
Bisher erhalten die Kiezblocks viel Zuspruch. Die einfachen Maßnahmen mit Pollern halten in erster Linie den Durchgangsverkehr aus den Quartieren heraus. Als weiterer Schritt muss die Aufenthaltsqualität durch Begrünung oder Sitzmöglichkeiten weiter gesteigert werden.

Warum ist das Thema aus weiblicher und Familiensicht besonders wichtig?
Das Quartier soll ein Ort für alle sein. In Berlin sehe ich in sogenannten Spielstraßen nie spielende Kinder, weil das zwischen den parkenden Autos viel zu gefährlich ist. Eine feministische und diverse Perspektive auf Mobilität versucht die Bedürfnisse aller zu integrieren. Wenn wir dabei an die Schwächsten denken, also an Kinder und Senior*innen und die Städte nach ihren Bedürfnissen gestalten, machen wir das Quartier besser für alle. Ein Kiezblock schafft Sicherheit im öffentlichen Raum, erhöht die Aufenthaltsqualität und ermöglicht wieder soziale Begegnungen.


Bilder: ADFC – Timm Schwendy, Josep Maria de Llobet, IS Global, Catherine Pérez, Barcelona City Hall, Josep Maria de Llobet, Manuela Kettenbach, elkjefoto

In die Metropolregion Hamburg sollen künftig deutlich mehr Menschen aus den umliegenden Bundesländern mit dem Rad pendeln. Mit einem 270 Kilometer langen Radschnellwegenetz will man vor allem für Pendler aus ländlichen Regionen ein neues, attraktives Angebot schaffen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


In den Niederlanden längst Standard, in Hamburg noch Vision: Für Pendler im Umland soll es künftig ein Netz von Radschnellwegen geben.

Berufspendler brauchen häufig gute Nerven. Besonders, wenn sie in den ländlichen Regionen rund um eine prosperierende Großstadt wie Hamburg leben. Aus dem Alten Land, der Marsch und der Heide fahren jeden Morgen mehr als 300.000 Pendler in die Hamburger Innenstadt. Spätestens an der Landesgrenze stehen sie im Stau oder drängen in überfüllte Busse und Bahnen. Zu den Stoßzeiten hat das Straßen- und Schienennetz der Hansestadt sein Limit längst erreicht. 2019 war Hamburg die Stauhauptstadt Deutschlands. Zur Staubekämpfung baut man in den Niederlanden seit Jahrzehnten Radschnell-wege. Das will die Metropolregion Hamburg jetzt auch versuchen, und zwar in großem Stil. Ein Netz aus sieben Routen soll in naher Zukunft sternförmig aus allen Himmelsrichtungen in die Hafenstadt führen.

„Noch ist das Netz aus Radschnellwegen ein Versprechen.“

Susanne Elfferding, Projektkoordinatorin

Das Projekt ist ehrgeizig

Die kürzeste Route von Ahrensburg zur Stadtgrenze ist immerhin 8,5 Kilometer lang. Die beiden längsten Strecken im Hamburger Südwesten und Südosten bringen es sogar auf über 50 Kilometer. Sie führen von Lüneburg und Stade durch viele kleine Ortschaften zu den Elbbrücken. Wenn alle Routen fertig sind, soll im Hamburger Umland ein 270 Kilometer langes Premiumnetz für Fahrradfahrer die Straßen vom Autoverkehr entlasten und für Klimaschutz und bessere Luft sorgen. Allerdings wird das noch dauern. „Noch ist das Netz aus Radschnellwegen ein Versprechen, noch bauen wir nicht“, betont Susanne Elfferding, die für die Metropolregion das Projekt koordiniert. Die Partner sind die Hansestadt Hamburg und über 1.000 Orte, 20 Landkreise und kreisfreie Städte aus den Ländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Diese Zusammenarbeit über vier Landesgrenzen hinweg ist einzigartig. Neben den sieben Radschnellwegen, die auf Hamburg zulaufen, sind auch noch zwei im Norden von Schleswig-Holstein geplant.

„Ich finde den Begriff Radboulevard treffender.“

Hartmut Teichmann, Stadtplaner

Basis: Gute Planung und gute Kommunikation

„Ende des Jahres sollen die Machbarkeitsstudien für die neun Routen fertig sein“, erläutert Susanne Elfferding. Die Technische Universität Hamburg hatte zuvor das Potenzial von über 30 Strecken ermittelt. Ausschlaggebend war schlussendlich, wie viele Arbeitsplätze, Schulen, Supermärkte und Bahnhöfe die Menschen auf den jeweiligen Routen innerhalb von 15 Radminuten erreichen könnten. Dabei zeigte sich: Die Bürger im schleswig-holsteinischen Kreis Pinneberg würden von ihrer 32 Kilometer langen Radschnellstrecke wahrscheinlich am meisten profitieren. „Etwa 70.000 Pendler fahren täglich Richtung Hamburg und rund 30.000 in die Gegenrichtung“, sagt Hartmut Teichmann, Stadtplaner des Kreises. Er erwartet, dass viele von ihnen das Auto gegen das Fahrrad oder E-Bike tauschen, wenn die Strecke fertig ist, und rechnet mit einem Anstieg des Radverkehrsanteils von 16 auf 25 Prozent. Bis es so weit ist, müssen er und seine Kollegen jedoch vor allem noch viel Aufklärungsarbeit leisten. Die verschiedenen Bürgerbeteiligungen haben Teichmann beispielsweise gezeigt: Die Bezeichnung Radschnellweg irritiert viele Anrainer. Sie fürchten, dass rasende Radfahrer seltene Vogelarten vertreiben, ihre Kinder anfahren oder die Fußgänger stören, die im Moor spazieren gehen. „Ich finde den Begriff Radboulevard treffender“, sagt Teichmann. Damit ließen sich viele Vorurteile von vornherein ausräumen. Bis zum Baubeginn ist dafür noch jede Menge Zeit. Wenn Ende des Jahres alle Machbarkeitsstudien fertig sind, muss beispielsweise erst noch geklärt werden, wer die Trägerschaft der Radschnellwege übernimmt und wer sie bezahlt. Der Bund beteiligt sich mit durchschnittlich 75 Prozent an den Kosten für die Planung und den Bau. Allerdings bundesweit nur mit 25 Millionen Euro. Die reichen für die geplanten 270 Kilometer nicht aus. Aber Radschnellwege werden auch nicht ausgerollt wie Rollrasen. Zunächst werden Teilstücke gebaut. Teichmann rechnet mit einem positiven Effekt in der Bevölkerung, wenn der erste Abschnitt fertig ist. Denn Fotos und Imagefilme würden die Vorteile der Premiumrouten nur eingeschränkt abbilden. „Die Menschen müssen es selbst erfahren“, sagt er. Dann werde die Planung und Umsetzung der anderen Abschnitte leichter. Aber auch das wird seine Zeit dauern. Stadtplaner Teichmann sagt: „Wenn alles gut läuft, wird der erste Abschnitt Mitte der 20er-Jahre fertig sein.“


Bilder: M. Zapf – MRH, Metropolregion Hamburg

Der Klimawandel ist in Wien schon spürbar. Die Stadt baut um und schafft mit „coolen Straßen“ erfrischende Oasen für die Bewohner vor der Haustür. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Temperaturen über 30 Grad sind im Sommer in Wien keine Seltenheit mehr. Mit zusätzlichen Sitzgelegenheiten, Trinkbrunnen und Sprühnebel schafft die Stadt kühle Orte zum Aufhalten im Freien

Seit Jahren landet Wien bei Rankings lebenswerter Städte auf den vordersten Plätzen. Das hat einen Grund. Die Politik räumt dem eine hohe Priorität ein und treibt unter anderem den Umbau der autogerechten Stadt zur „Smart City“ massiv voran. Und der Druck auf die Politik bleibt hoch. Der Klimawandel setzt den Einwohnern, wie in anderen Städten, mehr und mehr zu. Im Sommer 2019 wurde hier bereits an über 40 Tagen die 30-Grad-Marke geknackt. Jeden Tag heizt sich die Stadt in diesen Perioden weiter auf und es bilden sich Hitzeinseln. Mit gezielten Pop-up-Projekten versucht Birgit Hebein, bis November 2020 Wiener Vizebürgermeisterin und Stadträtin für Stadtentwicklung, Verkehr, Klimaschutz, Energieplanung & BürgerInnenbeteiligung, die Hitzeinseln im Zentrum zu entschärfen und den Menschen gleichzeitig mehr Platz im öffentlichen Raum zu schaffen. Ein nachahmenswertes Beispiel sind die „coolen Straßen“ in Wohngebieten.

So lässt es sich aushalten: Der Sprühnebel sorgt für Erfrischung und kühlt gleichzeitig die Umgebung. Die Stelen stehen an Plätzen und in Straßen, die sich besonders stark aufheizen und wo außerdem viele Kinder und Senioren leben.

Coole Straßen als Erfrischungszonen

„Coole Straßen“ sind autofrei. Selbst das Parken ist dort verboten. Die Anwohner können den Platz mit Liegestühlen, Planschbecken, Spielen oder Grünpflanzen frei gestalten. Die Stadt steuert Pflanzen bei und installiert Stelen, die mit Sprühnebeln für Erfrischung sorgen. Der Testlauf im vergangenen Jahr in drei Straßen kam so gut an, dass das Projekt für Juni 2020 auf 18 Straßen ausgedehnt wurde. Rückblickend war das ein Glücksgriff. Denn aufgrund der Corona-Pandemie haben viele Wiener den Sommer in der Stadt verbracht. Die Standorte für mögliche Erfrischungszonen im Stadtzentrum hatte die Verwaltung bereits im vergangenen Jahr anhand von Hitzekarten festgelegt. „Es wurden die Stellen in der Stadt identifiziert, die sich besonders stark aufheizen und wo außerdem viele Kinder und Senioren leben“, sagt Kathrin Ivancsits, Sprecherin der Mobilitätsagentur der Stadt Wien. Kleinkinder und ältere Menschen leiden besonders unter den lang anhaltenden hohen Temperaturen. Selbst in der Nacht, weil die Betonschluchten die Hitze speichern und noch viele Stunden nach Sonnenuntergang abgeben.
Der neu gewonnene Platz wurde bestens angenommen. „Die Kinder eignen sich die Flächen sofort an“, sagt Kathrin Ivancsits. Erwachsene brauchten ihrer Erfahrung nach manchmal etwas länger, um sich den öffentlichen Raum tatsächlich zurückzuerobern. Aber von Juni bis September nutzten die Anwohner in fast allen „coolen Straßen“ den neu entstandenen Park vor der Haustür intensiv zum Klönen, um Zeitung zu lesen oder einfach nur um ihrer aufgeheizten Wohnung zu entfliehen. Die Erfrischungszonen vor der Haustür machten es ihnen leichter, die Hitze in der Stadt zu ertragen.

Per App zur Stadterfrischung

175 Nebelduschen, 1.000 Trinkbrunnen, 22 coole Straßen und rund 1.000 Parks gibt es mittlerweile in Wien. Seit ein paar Monaten kann man sich per App auf den kürzesten Weg zu den Plätzen navigieren lassen. Die App „Cooles Wien“ hat die Umweltstadträtin Ulli Sima initiiert. Für sie ist klar, dass jede Maßnahme für sich nur wenig bewirkt. In ihrer Gesamtheit machten sie vielen Stadtbewohnern den Alltag bei Hitze aber deutlich leichter.

Erfolgreiche Pilotprojekte machen Lust auf mehr

Die Messungen der Stadt haben gezeigt, dass die Temperaturen in den coolen Straßen um bis zu fünf Grad sanken. Die größte Abkühlung bringen die Sprühnebel. Inzwischen wurden vier dauerhafte „Coole Straßen Plus“ eingerichtet. In den Straßen oder Straßenabschnitten ist nun der Verkehr beruhigt; es wurden neue Bäume gepflanzt, Wasserspiele, Trinkbrunnen und Nebelduschen installiert und Sitzmöglichkeiten geschaffen. Wo es möglich ist, sollen noch Teile der Fassaden begrünt werden. Die coolen Straßen passen gut ins Konzept der Stadt, den Platz neu zu verteilen. Seit Jahren baut Wien den Verkehrsraum strategisch in Freiräume für Menschen um. Das berühmteste Beispiel ist die Mariahilfer Straße. Sie war über Jahrzehnte eine Hauptverkehrsader für Autofahrerinnen vom Westbahnhof in die Innenstadt. 2015 hat die Stadt ein 1,8 Kilometer langes Teilstück in eine Begegnungszone umgebaut. Seitdem sind dort Auto-, Rad- und Rollerfahrer sowie Fußgänger gleichberechtigt. Das heißt: Alle müssen aufeinander Rücksicht nehmen. In dem Maß, wie in der Mariahilfer Straße Wege und Parkplätze für Autos verringert wurden, wurde hier mehr Platz für Menschen geschaffen. In regelmäßigen Abständen wurden in der Begegnungszone Bänke, Sitzgruppen und Spieltische aufgestellt. Sie sind teilweise überdacht, damit die Menschen bei Regen und Sonnenschein Schutz finden.

Zu Beginn der Corona-Pandemie hat Wien sogenannte Bewegungszonen eingerichtet. Sie sollten Fußgänger zum Spazierengehen einladen und gleichzeitig das Abstandhalten dort leicht machen, wo die Gehwege schmal sind.

Corona ändert die Platzverteilung

„Die Corona-Krise hat uns noch deutlicher vor Augen geführt, dass der Raum in Wien ungleich verteilt ist: Zwei Drittel des Platzes ist durch parkende Autos belegt, für die Menschen wird es an manchen Orten zu eng“, sagt Birgit Hebein. Die Fußwege sind mancherorts so eng, dass die Menschen die Abstandsregeln nicht einhalten konnten. Damit sie sich dort trotzdem sicher bewegen konnten, hatte die Vizebürgermeisterin seit April 26 „temporäre Begegnungszonen“ eingerichtet. Für einige wurde die Laufzeit bis Ende Oktober immer wieder verlängert. Die Regeln dort schränken Autofahrer ein. Für sie gilt Tempo 20 und sie müssen auf Fußgänger Rücksicht nehmen. Diese sind dort gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer und dürfen auch auf der Fahrbahn gehen.

Wien misst seit 25 Jahren die Lebensqualität

Seit 1995 erstellt die Stadt Wien zusammen mit der Universität Wien alle fünf Jahre eine Lebensqualitätsstudie als sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung. Der Vorteil der wiederkehrenden Befragungen ist, dass auch Veränderungen im Zeitverlauf sichtbar gemacht werden. Der letzte Bericht aus dem Jahr 2018 beschäftigt sich vertiefend mit den Themen Stadtentwicklung, Mobilität und Umwelt – Themen, die laut den Machern von großer gesellschaftlicher Brisanz sind. Ein erster Themenblock befasst sich mit der Frage, wie in Wien lebende Personen die Tatsache beurteilen, dass Wien eine wachsende Stadt ist. Dabei wird genauer beleuchtet, wie sich verschiedene Einflussfaktoren wie etwa Geschlecht, Einkommen oder Migrationshintergrund auf die Einstellung gegenüber Wiens Stadtwachstum auswirken.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Lebensqualität in Wiens Wohngebieten. Dabei werden besonders die Zufriedenheiten bestimmter Teilbereiche der Lebensqualität genauer betrachtet. Im dritten Kapitel geht es um die Mobilität mit Blick auf die Entwicklung der Verkehrsmittelnutzung, die Fragestellung, welche Faktoren die Einstellung zum Auto und zu verschiedenen Maßnahmen im Bereich Mobilität beeinflussen, und die Parkplatzsituation in den verschiedenen Bezirken.

Informationen und Download unter

https://www.wien.gv.at/stadt entwicklung/grundlagen/stadt forschung/soziologie-oekono mie/lebensqualitaetsstudien/


Bilder: Christian Fürthner ­– Mobilitätsagentur Wien, PID – Christian Fürthner