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Raus aus dem Elterntaxi

Nicht nur gefühlt ist das Elterntaxi vielerorts das meistgenutzte Verkehrsmittel auf dem Schulweg. Das Nachbarschaftsforum Kreis Pinneberg und Hamburg sucht im Reallabor Lösungen, um Kinder wieder mehr zu selbstständigen Mobilitätsformen zu bewegen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Politik und Gesellschaft sind sich eigentlich einig: Kinder sollten allein zur Schule laufen. Das ist gesund und stärkt ihre Selbstständigkeit. Aber viele Kinder werden dennoch regelmäßig mit dem Auto zur Schule gebracht. Das Nachbarschaftsforum Kreis Pinneberg und Hamburg will das nun ändern. Im Rahmen des Reallabors „Schulisches Mobilitätsmanagement“ identifizieren Experten mit Betroffenen systematisch die Gründe für den Fahrdienst der Eltern und testen Lösungen an einzelnen Schulstandorten auf ihre Alltagstauglichkeit.
Das Ziel ist ehrgeizig. Im Jahr 2024 wollen zwölf Bezirke und Kreise in Hamburg und Schleswig-Holstein im Rahmen des Projekts einen Praxisleitfaden präsentieren, der aufzeigt, wie Elterntaxis aus dem Schulumfeld verdrängt werden können. Die Vorschläge sollen auf andere Schulen und Kitas übertragbar sein. Dabei geht es sowohl um bauliche Veränderungen im Schulumfeld als auch um alltagstaugliche Lösungen, die zu Verhaltensänderungen führen. Das Reallabor ist auf insgesamt drei Jahre angelegt und setzt auf den engen Austausch von Verkehrsexperten für schulische Mobilität und den Betroffenen in Kitas und Schulen vor Ort.
Eine erste Online-Befragung an 200 Schulen und sämtlichen Kitas in der Projektregion im Jahr 2021 hatte gezeigt: Das größte Problem ist das Elterntaxi. Eltern kutschieren ihre Kinder aus Sorge oder Bequemlichkeit mit dem Auto bis vors Schultor. Appelle oder Verbote durch die Schule, dies zu unterlassen, zeigen wenig Erfolg oder sind oft nur von kurzer Dauer. Jens Leven kann das verstehen. „Man kann Eltern nicht vergrätzen wie Stadttauben“, sagt der Verkehrsplaner und Experte für schulische Mobilität vom Büro für Forschung, Entwicklung und Evaluation bei der Vorstellung der Ergebnisse. Er empfiehlt, Eltern zu motivieren, ihr Verhalten grundsätzlich zu ändern.

Problemfall: Straße überqueren

Die Voraussetzung dafür ist ein sicherer Schulweg. Die sind jedoch die Ausnahme. Stadt- und Verkehrsplanung haben beim Planen und Bauen von Straßen und Kreuzungen jahrzehntelang die Fähigkeiten und Bedürfnisse von Kindern ignoriert. „Die Infrastruktur und unsere Regelwerke passen nicht zum Mobilitätsverhalten der Kinder“, sagt Leven. Das Problem beginnt beim Überqueren der Straßen. Kinder brauchen dafür deutlich länger als Erwachsene. „Ihnen fehlt die Erfahrung, sie können die Verkehrssituation schlechter einschätzen“, sagt er. Deshalb warten sie länger auf die Lücke zwischen zwei Autos, bevor sie über die Fahrbahn huschen. Weil der Verkehr aber jedes Jahr ein wenig wachse, schrumpfe dieses Zeitfenster langsam, aber stetig.
Die Anordnung von Tempo 30 allein löst das Problem nicht. „Autoschlangen, die sich langsam durch verkehrsberuhigte Straßen schieben, behindern Kinder ebenfalls“, sagt Leven. Ohne Lücke im Verkehr brauchten sie Übergänge wie Zebrastreifen, Ampel, Mittelstreifen oder Mittelinseln. Die Umsetzung guter Überquerungsstellen werde den Kommunen aber durch die Regelwerke oft erschwert.

Standorte brauchen individuelle Lösungen

Eine schnelle Lösung, um die Infrastruktur sicher umzubauen, gibt es nicht. Grundschulen und Kitas sind im Zugzwang, alternative Ideen zu entwickeln. Denn die Zeit, die Kinder in diesen Einrichtungen verbringen, ist zwar nur relativ kurz, aber entscheidend. In der Grundschule sollten Jungen und Mädchen lernen, selbstständig mobil zu sein. Die Fähigkeit wird an den weiterführenden Schulen vorausgesetzt. „Wir müssen ein Umfeld schaffen, in dem die Kinder lernen, sich im Mobilitätsalltag zurechtzufinden, sonst sind sie an der weiterführenden Schule überfordert“, sagt Kreisplaner Hartmut Teichmann, der aus Pinneberg das Projekt des Nachbarschaftsforums koordiniert. Die Einrichtungen benötigten individuelle Lösungen, die schnell umsetzbar sind und in ihr Umfeld passten.
Wie so eine Lösung in einem ersten Schritt aussehen kann, macht Soltau vor. Dort hat die Stadt nach einem Projekt mit Jens Leven innerhalb von fünf Wochen eine Hol- und Bringzone auf einem Supermarktparkplatz eingerichtet. Von dort können die Kinder die verbleibenden 400 Meter zur Grundschule laufen. Einen Straßenabschnitt auf der Strecke hat die Stadt außerdem verkehrsberuhigt und an einer Stelle ein Teil des Pflasters gegen ein anderes ausgetauscht. Dieser optische Kniff animiert die Kinder nun dazu, diesen Abschnitt als Übergang zu nutzen, und bremst die Autofahrer aus.
„Die Möglichkeiten für die Schulen sind vielfältig“, sagt Teichmann. An manchen Schulstandorten sei ein Umsteigen auf den Nahverkehr denkbar. Eine schnelle Lösung, die ohne Umbauten auskomme, sei zudem ein Treffpunkt auf dem Schulweg, von dem Erwachsene die Kinder auf sicheren Wegen zu Fuß zur Schule begleiteten. Wo die Radinfrastruktur es bereits zulasse, könnten auch Fahrradgemeinschaften gebildet werden.

Praxistest zeigt Alltagstauglichkeit

Die Beispiele zeigen, wie unterschiedlich die Lösungen aussehen können. Diese Vielfalt soll der Leitfaden widerspiegeln, der im Jahr 2024 veröffentlicht werden soll. Bis dahin gibt es noch viel zu tun. Der ersten Umfrage im Frühjahr 2022 folgte eine zweite im Herbst 2022. „Wir haben Kinder, Eltern und Beschäftigte von 10 Kitas, 20 Grundschulen und 10 weiterführende Schulen sehr differenziert zu ihrem Mobilitätsverhalten und den subjektiven Verkehrsproblemen befragt“, sagt Teichmann. Die Interviews werden noch ausgewertet. Mit den beiden intensiven Befragungen will das Nachbarschaftsforum die zentralen Verkehrsprobleme an den verschiedenen Standorten identifizieren. Experten und Betroffenen entwickeln anschließend gemeinsam Ideen, um die Verkehrssicherheit an den verschiedenen Standorten zu verbessern. Die Vorschläge werden dann im Laufe des Jahres an zehn Schulen im Kreis Pinneberg und Hamburg im Praxistest auf ihre Alltagstauglichkeit überprüft.
„Sämtliche Maßnahmen, die sich bewähren, werden wir in den Praxisleitfaden aufnehmen, der dann allen Kitas und Schulen zur Verfügung gestellt wird“, sagt Teichmann. Das systematische Vorgehen kostet Zeit. Auf lange Sicht hofft das Nachbarschaftsforum, mit dem Reallabor die Verkehrswende vor Kitas und Schulen zu beschleunigen. Auch wenn jede Schule individuelle Lösung brauche, könnten Standorte in vergleichbaren Problemlagen Ideen und Ansätze übernehmen und an die eigene Situation anpassen, sagt Teichmann.


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