Critical Mass, die kritische Masse, steht bereits seit rund drei Jahrzehnten für eine anarchische und viel beachtete Form des Protests für eine bessere Fahrradinfrastruktur. Seit wenigen Jahren gibt es mit der Kidical Mass quasi einen Ableger, der in Deutschland und einigen anderen Ländern die Verkehrswende aus Kinder- und Familienperspektive befeuert. Der Erfolg der jungen Bewegung ist beachtlich. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


„Kinder dürfen nicht mit dem Rad zur Schule kommen“, als Line Jungbluth das Schreiben der zukünftigen Grundschule ihrer Kinder in den Händen hielt, konnte sie es kaum glauben. Jahrelang war sie mit ihren Kindern per Fahrrad und Laufrad zur Kita gefahren – auf Gehwegen oder geschützten Radwegen. Seit ihrem Umzug von Hannover zurück in ihre Heimatstadt Remscheid im Bergischen Land war das nicht mehr so einfach. In Remscheid sind Radwege Mangelware und Fußwege häufig von Autos zugeparkt. Kindern fehlt zum Radfahren oftmals der Platz. Dass es ihnen zusätzlich auch noch verboten wird, wollte die Ärztin nicht hinnehmen. Mit einer Gruppe von Eltern und Radfahrenden hat sie im Frühjahr 2022 zur ersten Kidical Mass in Remscheid aufgerufen, einer Familien-Fahrraddemo mit Kindern.
Die Remscheider Gruppe gehört zu einer weltweiten Bewegung, die ihren Namen Kidical Mass bei den Fahrradaktivisten der Critical-Mass-Bewegung angelehnt hat. An 200 Orten stiegen im vergangenen Jahr 90.000 Erwachsene, Kinder und Jugendliche aufs Rad, um für eine bessere Verkehrsinfrastruktur für Minderjährige zu demonstrieren. Die Jüngsten der Gesellschaft trifft die jahrzehntelange Verkehrsplanung pro Auto besonders – in kleinen Gemeinden ebenso wie in Großstädten. Das zeigt der Blick auf die Teilnehmenden. In Bad Boll in Baden-Württemberg (5.000 Einwohner) gingen 130 Radfahrende zur „Kidical Mass“ auf die Straße, in Remscheid 250 und in Köln 2000. Gemeinsam fordern sie ein reformiertes Straßenverkehrsrecht, das die Sicherheit von Kindern in den Mittelpunkt stellt.
„Seit Jahren wird von der Verkehrswende geredet, doch es passiert viel zu wenig. Wir passen unsere Kinder an eine Umwelt mit immer mehr Autos an und stecken sie in Warnwesten, anstatt die Infrastruktur zu verbessern und unsere Straßen an die Bedürfnisse der Kinder anzupassen“, sagt Simone Kraus. Diesen Missstand wollte sie nicht länger hinnehmen. Mit ihrem Partner Steffen Brückner war die Kölnerin 2020 eine der Mitbegründerinnen des bundesweiten Kidical-Mass-Aktionsbündnisses.

„Wir passen unsere Kinder an eine Umwelt mit immer mehr Autos an und stecken sie in Warnwesten.“

Simone Kraus, Kidical Mass Köln

Den deutschen Fahrradpreis haben Simone Kraus und Steffen Brückner für ihre Aktion „Platz da für die nächste Generation“ bekommen.

Forderung nach Pollern & Co.

Zunächst engagierten sich die beiden bei „Aufbruch Fahrrad“, der Initiative, die in Nordrhein-Westfalen das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz auf den Weg gebracht hat. Aber das reichte ihnen bald nicht mehr. „Wir begannen den Radverkehr zunehmend aus Kinderperspektive zu betrachten“, sagt Simone Kraus. Für diese Zielgruppe sei die neue Radin-frastruktur, die aktuell vielerorts gebaut werde, oft nicht sicher genug. Als Beispiel nennt sie den neuen Radweg entlang der Kölner Ringe. Dort entsteht auf einer Strecke von sieben Kilometer auf der Fahrbahn ein Radweg in Kfz-Spurbreite. „Das ist ein riesiger Erfolg“, sagt sie. Aber bevor Kinder und Jugendliche dort allein unterwegs sein könnten, sei eine bauliche Trennung vor dem Autoverkehr notwendig. Etwa in Form von Pollern, handhohen Bauelementen oder einer Art Bordstein.
Die Radinfrastruktur, die die vierfache Mutter fordert, ist in Kopenhagen seit Jahrzehnten Standard und wird auch vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) als Ideal-lösung beschrieben. Die Philosophie hinter der physischen Trennung ist: eine Radinfrastruktur für 8- bis 80-Jährige zu planen, die Fehler verzeiht und auch das Nebeneinanderfahren ermöglicht. „Wenn Kinder auf ihrem Rad allein durch die Stadt fahren können, ist die Radinfrastruktur für alle sicher“, sagt Simone Kraus. In Köln sei das bislang in keinem Quartier möglich.
Neben der fehlenden Radinfrastruktur sind auch Falschparker ein massives Problem für Kinder. „Die Autos blockieren die Gehwege, die sie zum Radfahren oder zum Zufußgehen nutzen“, sagt Simone Kraus. Sie versperrten Ladeflächen, parkten weit in die Kreuzungen hinein und gefährdeten die Kinder beim Überqueren der Straßen. „Die Stadt Köln hat das Problem zwar erkannt, aber es mangelt an Umsetzungswillen, um die Situation zu ändern“, sagt sie.

Der Anblick ist selten Remscheid: Mit lautem Klingeln radeln Kinder und Erwachsene bei der „Kidical Mass“ über die Straßen im Bergischen Land.

Gehwege freiräumen

Vielerorts ist das Problem allerdings auch hausgemacht. Etwa, wenn die Verwaltung das sogenannte aufgesetzte Parken anordnet. Das war lange in der Hans-Potyka-Straße im Stadtteil Lennep in Remscheid der Fall. Die Straße verbindet auf direktem Weg ein Neubaugebiet mit drei Schulen, zwei Kindergärten und einem Sportzentrum. Den parallel verlaufenden Gehweg konnten die Kinder auf einer Seite jedoch nicht nutzen, weil die Verwaltung ihn zum Parken freigegeben hatte. Stoßstange an Stoßstange standen dort Pkw. „Was an Platz übrig blieb, reichte für die Kinder nicht aus, noch nicht mal, wenn sie hintereinander herliefen“, sagt Line Jungbluth. Als sie auf das Problem hinwies, riet die Verwaltung, auf den gegenüberliegenden Gehweg auszuweichen. Dafür mussten die Kinder aber die Straße queren. „Das war gefährlich, weil ein Zebrastreifen oder eine Verkehrsinsel fehlt“, sagt die Ärztin. Ein Jahr lang schrieb sie Mails an die Verwaltung, um eine Lösung zu finden. Schließlich schaffte die Verwaltung das aufgesetzte Parken in der Hans-Potyka-Straße ab.
Als Kidical-Mass-Mitorganisatorin setzt sie sich nun dafür ein, dass die Gehwege für Kinder konsequent freigehalten werden und die Radinfrastruktur ausgebaut wird. „Damit die Kinder überhaupt eine Chance haben, selbstständig zur Schule oder zu ihren Freunden zu gehen oder zu fahren“, sagt sie. Als sie selbst noch in Remscheid zur Schule ging, hatten sie und ihr Freundeskreis diese Freiheit.

Schulstraßen für Autos sperren

Vor ihrer ersten Fahrraddemo im Frühjahr 2022 hat sich das Remscheider Team Tipps bei der Kidical Mass in Köln geholt. Simone Kraus und Steffen Brückner bieten regelmäßig Online-Workshops an, in denen sie über die Ziele informieren und wie eine Kidical Mass organisiert wird.
Bei ihrer ersten eigenen Familien-Fahrraddemo im Herbst 2018 in Köln hatte es in Strömen geregnet. Trotzdem kamen 100 Teilnehmende zu der Ausfahrt. Ein halbes Jahr später waren es 700 und im Herbst 2020 bereits 1500.
Achtmal sind sie im vergangenen Jahr mit Eltern und Kindern durch Köln gefahren. Mal über die Rheinbrücken, mal durch die Innenstadt. Die Ausfahrt ist für das Kidical-Mass-Team nur eine Maßnahme von vielen, um die Situation für Kinder vor Ort zu verbessern. Im Sommer 2021 hat die Initiative das Wiener Modell der „Schulstraße“ in die Stadt gebracht und im Herbst eine Woche lang mit Eltern und Lehrern an der Vincenz-Statz-Grundschule ausprobiert. Das Konzept ist einfach: Die Straße vor einer Schule wird 30 Minuten vor Unterrichtsbeginn und -ende für den motorisierten Verkehr per Baustellenbake oder Schrankenzaun komplett gesperrt. Auch Anwohner dürfen nicht passieren. „An der Vincenz-Statz-Grundschule hat die Sperrung die Situation im direkten Umfeld der Schule für Kinder, Eltern und Lehrer*innen enorm entspannt“, sagt Simone Kraus. In der Straße seien stets viele Pkw unterwegs, weil sie die Strecke als Abkürzung zwischen zwei Hauptverkehrsstraßen nutzen.

Kidical-Mass-Aktionen in Köln: Die Politik sollte die Kinder nicht unterschätzen. Sie wissen genau, wie sichere Schul- und Radwegen aussehen können

Politik gibt Rückenwind

Sieben Schulstraßen-Aktionen an sechs Grundschulen hat Kidical Mass in Köln in den vergangenen eineinhalb Jahren durchgeführt. Manche als Tagesaktion, andere im Rahmen einer Aktionswoche. Zu den Abschlussveranstaltungen luden sie die politischen Vertreterinnen und Vertreter der demokratischen Parteien des Bezirks ein, die auch kamen. „Die Rückmeldungen aus der Politik sind durchweg positiv“, sagt Simone Kraus. Verschiedene Bezirke wollen an ausgewählten Schulen oder bezirksweit nun Schulstraßen nach Wiener Vorbild einführen. Die Stadt Köln hat das Konzept aufgegriffen und wird bald erste Pilotprojekte zur Schulstraße in der Domstadt starten.
Für die Aktivistin ist das nur ein erster Schritt. Sie fordert die Stadt Köln auf, dauerhaft autofreie Schulstraßen einzuführen und ein zusammenhängendes Kinderradwegenetz. Das soll die einzelnen Schulstandorte miteinander verbinden und viele Freizeitwege der Kinder einbeziehen. Aus ihrer Sicht wäre das der Grundstein für ein lückenloses Radnetz, das alle Menschen nutzen können.
Die Kidical-Mass-Bewegung agiert lokal und bundesweit. Im vergangenen Jahr hat das Bündnis rund 87.000 Unterschriften für die Petition gesammelt „Uns gehört die Straße! Wir fordern ein kinderfreundliches Straßenverkehrsrecht“. Die Unterschriften hat Simone Kraus mit ihren Mitstreitenden sowohl dem Bundesverkehrsminister Volker Wissing übergeben als auch den Verkehrs-ministerinnen der Länder. Das zeigte Wirkung. „Wir haben es geschafft, dass ‚Mobilität von Kindern‘ ein Tagesordnungpunkt bei der Verkehrsministerkonferenz im Herbst 2022 war“, sagt sie. Die Diskussion wurde allerdings auf die nächste Sitzung im März 2023 vertagt. Dann treffen sich die Verkehrsminister und Verkehrsministerinnen in Aachen, 75 Kilometer von Köln entfernt. Simone Kraus sagt: „Wir werden dort sein, um die Politikerinnen an unsere Forderungen zu erinnern.“

Importiert aus Amerika

Die Idee zur Kidical stammt aus den USA und ist ein Ableger der Critical Mass (kritische Masse). 1992 startete die erste Critical Mass in San Francisco. Die Radfahrenden treffen sich scheinbar zufällig und unorganisiert und fahren gemeinsam durch die Stadt. Ziel ist es, auf die Radfahrenden als Verkehrsteilnehmerin-nen hinzuweisen. In Deutschland gelten Radfahrende, wenn sie mit 16 oder mehr Personen gemeinsam unterwegs sind, als Verband und dürfen zu zweit nebeneinander als Kolonne auf der Straße fahren, selbst wenn parallel ein benutzungspflichtiger Radweg verläuft. Die Critical Mass findet inzwischen weltweit statt. Vielerorts starten sie am letzten Freitagabend eines Monats. Ihr Ziel ist es, als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmerinnen wahrgenommen zu werden. Inzwischen ist daraus eine weltweite Bewegung geworden.
In der Stadt Eugene, etwa 160 Kilometer südlich von Portland, gingen 2008 erstmals Radfahrer*innen mit ihren Kindern auf die Straße. Die Idee hatte der Fahrradaktivist Shane Rhode, der in Eugene für einen Bezirk das Programm „Sichere Schulwege“ leitet. Jonathan Maus zitiert ihn auf seinem Blog „Bike Portland“ dazu: „Die Fahrradbewegung (Critical Mass) ist erwachsen geworden, und jetzt hat sie auch Kinder!“


Bilder: Amrei Kemming, verenafotografiert, Hermann Jungbluth, Stefan Flach, stock.adobe.com –Belikova Oksana

Bewegungsräume im urbanen Umfeld werden immer wichtiger für unsere bewegungsarme Gesellschaft. Sie sind heute auch Wegbereiter für die Mobilitätswende, vor allem, was die Flächen für Kinder und Jugendliche betrifft. Ein Erfahrungsüberblick über Bedürfnisse, Chancen und Möglichkeiten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Urbane Bewegungsräume werden oft unterschätzt oder missverstanden. Besonders Flächen, auf denen Kinder und Jugendliche sich in verschiedenen Sportarten austoben können, sind in vielerlei Hinsicht wichtig für die Gesellschaft und deren Gesundheit. Mittelbar sogar auch für die Mobilitätswende, wie noch zu sehen sein wird. Daher fordern Experten mehr solche urbanen Areas wie Skateparks oder Pumptracks oder die Kombinationen von möglichen Formen. Im September 2022 veranstaltete das Mountainbike-Tourismus-Forum zu diesem Thema ein digitales Fachpanel „Biken Urban“, um den Blick für die Zusammenhänge zu schärfen, ihre Chancen und Möglichkeiten auszuloten und Praxis-erfahrungen zu teilen. Dabei waren Vertreterinnen von Wissenschaft und Planungsbüros sowie Entschei-derinnen und Planer*innen aus Gemeindeämtern sowie der Chefredakteur von Veloplan, Markus Fritsch. Die eingebrachten Expertisen und Erfahrungen konnten wir als Grundlage für diesen Beitrag nutzen.

Ein Skateplatz ist ein niederschwelliges Bewegungsangebot. Kinder und Jugendliche müssen keinem Verein beitreten oder sich anmelden, um sich hier sportlich auszutoben.

Warum sind Pumptracks wichtig?

Für den Veranstalter Mountainbike-Tourismus-Forum war es naheliegend, sich mit Urban Biking zu beschäftigen. „78 Prozent der deutschen Bevölkerung leben in Städten. Menschen müssen sich aber wohnortnah erholen können, was diese Bewegungsräume ermöglichen. Auch soziale Aspekte sind aber nicht zu vernachlässigen. Pumptrack und Co. stellen für junge Menschen sozial gerechte Möglichkeiten dar, sich zu entwickeln, denn mit ihnen sind Kinder und Jugendliche von Vereinsstrukturen unabhängig“, erklärt Nico Graaff, Geschäftsführer des Forums. „Für uns ist es ein wichtiges Anliegen, zu zeigen, was diese Bewegungsräume können und wie die Kommunen sie realisieren können.“
Dass Bewegung an sich ein wesentlicher Grundpfeiler unseres Lebens und der Gesellschaft ist, ist unbestritten. Bewegung unterstützt die körperliche wie mentale Gesundheit und ermöglicht, wie schon vor Jahrzehnten bestätigt, auch schon in jungen Jahren erhöhte Lern- und Aufnahmefähigkeit. Ganz wesentlich ist aber auch, dass diese Bewegungsräume für junge Menschen soziale Fähigkeiten trainieren. Pumptracks, Skater- und Rollparks sind Orte, an denen Spaß gemeinsam erlebt wird, an denen aber auch Social Skills wie gegenseitiger Respekt und Rücksichtnahme praktisch erlernt werden.
Und der Bezug zur Mobilitätswende? „Spaß am Fahrradfahren und Mobilitätswende sind verknüpft“, erklärt Markus Fritsch von Veloplan. „Wer als Kind oder Jugendlicher mit dem Rad aufwächst, wird auch als Erwachsener eher das Fahrrad nutzen.“ Dazu kommt: Heute bekämen Kinder das Radfahren als bedrohlich vermittelt. Wer jedoch durch den Fahrspaß auf dem Pumptrack oder anderen Rad-Parcours sein Fahrrad spielerisch beherrscht, der oder die lernt dadurch auch für die sichere und selbstbewusste Radbeherrschung auch im Straßenverkehr.
Dass es nötig ist, Kinder nicht nur ans Radfahren zu führen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, dabeizubleiben, erklärt Ulrich Fillies, Gründer und Beiratsvorsitzender der Aktion Fahrrad, die sich um mehr Radfahr-Initiativen in den weiterführenden Schulen bemüht. Die Kinder machten in der Grundschule den Fahrradführerschein, „doch dann verschwindet das Fahrrad wieder aus dem Blickfeld“. Wie auch die Schulen das Fahrrad in den Unterricht implementieren können, ohne auf diese Areale zurückgreifen zu können, dafür hat er als Gründer der Aktion Fahrrad jede Menge Tipps für Lehrer. Der Verein hat die Schulmeisterschaften aufgebaut, aber auch Geschicklichkeitswettbewerbe lassen sich gut an Schulen organisieren. Und mit den Klimatouren regt Aktion Fahrrad zum Fahrradpendeln zur Schule an, bei dem Kilometer gesammelt und in CO2-Ersparnis umgerechnet werden.

Herausforderung Realisation

Doch warum ist es so schwer, Bewegungsräume zu planen und einzurichten? Oft sind die Bedürfnisse den Entscheiderinnen in den Gemeinden gar nicht bewusst, weiß Stephan Schlüter aus eigener Anschauung. Er ist Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr in Kempten. Schließlich haben die Youngster kaum eine Lobby, ganz im Gegensatz zu den Fußball- oder sonstigen Vereinen anderer Sportarten. Hier fehlt die Vertretung, und daher auch langjährige Erfahrung der Menschen in den Ämtern, die mit ihnen zu tun haben. Welcher Bedarf bei den jungen Menschen da ist, muss erst kommuniziert werden (s. Kasten), und dazu fehlen derzeit feste Strukturen. Umgekehrt helfen beispielsweise auch Rennradvereine nicht weiter, wenn es um Pumptracks geht. Auch in diesen Vereinen kennt man die Bedürfnisse der jungen Radfahrer und Radfahrerinnen nicht, die jenseits von schmalen Rennradreifen unterwegs sind und Radsport eher als spielerische Artistik erleben, wie auf dem BMX-Rad. Auch Jan Kähler, Leiter der Sportentwicklungsplanung und Bereichsleiter Sport der Landeshauptstadt Hannover meint, „die Bedürfnisse der einzelnen Gruppen sind bei den Gemeindeämtern unbekannt“. Sie wissen nicht, wie viele Menschen Rad fahren oder Radsport betreiben. Das Thema Bewegung zu platzieren, sei immer schwierig. Schlüter hat viel Erfahrung mit diesen Herausforderungen und fordert Entscheiderinnen und Planer*innen auf: „Bezieht die Menschen mit ein, macht Öffentlichkeitsarbeit, geht raus auf die Straße und lasst euch sagen, was die Leute wirklich brauchen.“
Noch ein Widerstand, wenn auch diesmal ein innerer, steht den Bewegungsräumen entgegen: Während den Sportvereinen meist eindeutige Entscheidungs- und Planungsabteilungen in den Gemeinden zugeordnet sind, sieht das bei genannten Projekten, die meist auch ungewohnt und fremd für die Administration sind, anders aus. Hier hilft „die gleiche Kaffeemaschine auf dem Flur“, so Schlüter: der vor allem in kleineren Behörden einfache, direkte Dienstweg und die aktive Vernetzung.

„Wir sollten nicht nur die Sportstätte promoten, sondern vor allem auch die Bewegungsflächen“

Stephan Schlüter, Stadt Kempten

Der Skatepark in Gersthofen wurde im Zuge der Sanierung einer existierenden Anlage als langlebige Ortbetonanlage errichtet. Statt aufgestellter Elemente werden Tables & Co. dabei mit dem Untergrund in Betonbauweise modelliert.

In Flächen-Konkurrenz zur Shopping-Mall

Schließlich ist da, vor allem in der Großstadt, auch die Flächenkonkurrenz. Ein Projekt, zu dem die Entscheider in den Ämtern wenig Bezug haben, hat es da grundsätzlich etwas schwerer, seine Fläche zur Verfügung zu bekommen. Denn womit man Erfahrung hat, das lässt sich gut einschätzen, man ist mit seinen gemachten Erfahrungen, etwa mit Turnhallen, auf der sicheren Seite. Auch hier zählt Aufklärungsarbeit in Sachen Pumptrack und Skatepark. Aber andererseits können diese Areale auch einfacher in vorhandene Strukturen eingefügt werden. Eine Möglichkeit ergibt sich, wie der Hannoveraner Kähler betont, gelegentlich in multifunktionaler Nutzung: die Schulhöfe nach Schulschluss öffentlich zugänglich machen und hier entsprechende Optionen zur Verfügung zu stellen. Doch grundsätzlich hängt auch die Wahrnehmung von solchen Möglichkeiten nach wie vor von einzelnen Personen in den Ämtern ab.
Überhaupt, so weiß auch Veloplan-Herausgeber Markus Fritsch: Manche planen und handeln sehr schnell, andere brauchen Jahre für eine Realisation. „Man hat in unterschiedlichen Städten doch auch immer unterschiedliche Ausgangssituationen, das bemerken wir auch am Feedback, dass wir von den Lesern und Leserinnen zurückbekommen.“ Die Strukturen für Entscheidungen für ein Projekt sind nie dieselben – wie eben auch die Menschen, die an den entscheidenden Positionen sitzen.

Bedenken ausräumen

Bleibt eine konkrete Herausforderung, die es Bedenkenträger*innen oft leicht macht: die Kosten. Doch Zahlen helfen da weiter, sie zu überzeugen: Kai Siebdrath vom Bauunternehmen Schneestern, das viel Erfahrung mit der Planung und Realisation von Bewegungsräumen wie Skateparks hat, rechnet vor: „Der Durchschnitts-Pumptrack hat etwa 500 Quadratmeter reine Baufläche und kostet um die 200.000 Euro.“ Ein vergleichsweise niedriger Betrag, der Projektgegnern wenige Argumente geben dürfte.
Aber auch jenseits vom Geld gibt es, nach Schneestern, überzeugende zielführende Argumente. Bei durchschnittlicher Nutzerzahl ergeben sich im Jahr unzählige Stunden, in denen die Kids nicht auf ein Handydisplay gucken und stattdessen beim Spiel Millionen von Kalorien verbrauchen, was ihrer Gesundheit zugutekommt. In größeren Städten könne man sogar mit dreimal so viel Nutzungsintensität rechnen wie in kleinen Gemeinden.

Ein Urban Sports Park, wie hier in Salem, ist ein vielseitiges Rollsportangebot für alle Altersgruppen.

Förderung derzeit einfach

Professor Robin Kähler ist Vorsitzender der IAKS (International Association for Sports and Leisure Facilities). Das ist ein internationaler Verband aus Unternehmen, Kommunen, Vereinen und Dienstleistern, die sich für Sportstätten und Bewegungsräume auf vielerlei Ebenen einsetzen. Kähler weiß: Momentan werden Sportstätten und Bewegungsräume sehr gut gefördert. Allerdings gibt es bei Letzteren mehr Erklärungsbedarf, weil, wie wir schon gesehen haben, Skateparks und Pumptracks bei den Entscheider*innen noch nicht so präsent sind.
Dabei müsste Radfahren aber als Ganzes umfassender gefördert werden, fordert Kähler. Wichtig sei es, Institutionen wie den ADFC mit einzubinden. „Ein Netzwerk hilft da weiter“, sagt er.
Ein wesentlicher Punkt in der deutschen Administration: Es gibt bislang keine einheitlichen Förderstrukturen für Skate-Anlagen, Dirtparks oder Pumptracks. Das muss aber nicht nur von Nachteil sein, meint Projektleiter Schlüter aus Kempten. „Sprecht immer mit den zuständigen Leuten“, erklärt er. Kommunikation mit den direkten Ansprechpartnern, auch jenseits der üblichen Instanzen, zählt besonders da, wo feste Förderungsstrukturen nicht vorhanden sind und Förderung davon abhängt, wie klar die Wichtigkeit des Projekts zu erkennen ist.

Städteplanung ist kein Wunschkonzert? Manchmal doch!

Wünsche können in Erfüllung gehen, auch was den städtischen Raum anbelangt: „Wir brauchen eine Jumpline für Kids!“ schrieben zwei Schulkinder in Kempten an den Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr, Stephan Schlüter. Gemeint ist dabei ein Mountainbike- oder BMX-Rad-Parcours mit Sprunghügel für Kinder. Schlüter wollte das Projekt ausführen, andere Stellen hatten Gründe dagegen. Der Oberbürgermeister der Stadt, selbst Lehrer und mit dem Bewegungsdefizit der Schülerinnen vertraut, wusste: Die jungen Menschen in Stadt brauchen einen solchen Park. Innerhalb weniger Monate wurde ein entsprechender Park mit Jumpline umgesetzt. „Das konnten wir“, erzählt der Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr, „weil wir visionär gearbeitet haben“. Soll heißen: Eine erste Planung für urbane Bike-Angebote lag im Tiefbauamt, dessen Ent-scheiderinnen einen entsprechenden Bedarf schon geahnt hatten, bereits in der Schublade und konnte den entsprechenden Gremien rasch vorgelegt werden. Dazu kommt: Schlüters Abteilung sitzt im Tiefbauamt Kempten. „Wir können vieles bereits auf dem kurzen Dienstweg klären.“

In Zukunft wird noch mehr gepumpt

„Grundsätzlich hat sich die Einstellung von Kommunen zu Anlagen wie Pumptracks und Rollsport-Flächen klar zum Positiven verändert“, erklärt Dirk Scheumann, Gründer und CEO des Unternehmens Schneestern, das Action Sports Parks plant und baut oder bei solchen Projekten unterstützt. Dass diese Bewegungsräume in den letzten Jahren einen Boom erfuhren, sieht er als logisch an, unabhängig von zeitweiligen Einflüssen wie der Corona-Pandemie. „Da sind auch ein paar technische Entwicklungen zusammengekommen“, sagt er und verweist beispielhaft auf den Scooter, mit dem die Kids ihre Tricks machen – ein Produkt, das so vielleicht zehn Jahre alt ist. Dazu kommen die verschiedensten Versionen des Fahrrads von BMX bis zum Dirt Bike. Scheumann glaubt, dass sich die positive Entwicklung zu mehr Flächen für die Jugendlichen und Kinder noch verstärken wird. Zum einen durch das wachsende allgemeine Verständnis, dass auch diese Bewegungsräume gebraucht werden, zum anderen, weil auch eine Weiterentwicklung dieser Flächen ansteht: „Heute treffen im Skatepark Biker oder Skater auf spielende Kinder“, erklärt er. „Da gibt es durchaus Konfliktpotenzial.“ Für eine breitere Nutzung müssen auch für die jüngeren Nutzerinnen bedarfsgerechtere Möglichkeiten geschaffen werden. Dazu will Schneestern schon bald ein neues Produkt vorstellen, das zusammen mit Wissenschaftlerinnen entwickelt wurde. Denn klar ist: Je jünger die Menschen sind, die den Spaß an der Bewegung erleben können, umso gesünder wird und bleibt unsere Gesellschaft. Und desto besser stehen die Chancen für ein Gelingen der Mobilitätswende.


Bilder: Matthias Schwarz, Vanessa Zeller, Janik Steiner, Matthias-Schwarz

E-Scooter leisten einen größeren Beitrag zur Verkehrswende, als ihr Ruf es erahnen lässt. Dennoch ziehen sie viel Kritik auf sich und schüren Konflikte. Um diesen zu begegnen, gibt es diverse Stellschrauben, für Politik, Verwaltung und die Anbieter selbst. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


„Städte machtlos gegen urbane Seuche“ – worum mag es in dem so betitelten Artikel in einer deutschen Tageszeitung gehen? Um einen Pest-ausbruch im Mittelalter? Um einen Abgesang auf den letzten fragwürdigen Modetrend? Falsch, es geht um E-Scooter. Das Beispiel mag extrem sein. Doch in der journalistischen Berichterstattung und der öffentlichen Wahrnehmung zu der jungen Mikromobilitätslösung findet sich viel Kritik. Die elektrisch unterstützten Tretroller dürfen seit mittlerweile vier Jahren deutsche Straßen und Fahrradwege befahren. Die Branche ist also weder alteingesessen noch ganz unerfahren.
Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) haben Ende des vergangenen Jahres einen Praxisleitfaden entwickelt, in dem es um kommunale Steuerungsmöglichkeiten und die Nutzung der E-Scooter geht. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Konflikten.

E-Scooter sollten nach Möglichkeit auf speziellen Abstellflächen stehen. Wer sie auf dem Gehweg parkt, sollte das so platzsparend wie möglich tun.

Problem oder Lösung?

Aber zunächst mal zum Positiven: Fast ein Viertel der Sharing-Scooter-Fahrten ergänzt Fahrten mit dem Öffentlichen Nahverkehr. Elf Prozent ersetzen Fahrten mit dem Auto. Fast 30 Millionen Autofahrten unter zwei Kilometer und noch mal rund 30 Millionen Autofahrten unter fünf Kilometer tätigen die Deutschen jeden Tag. Die reale Auswirkung der Scooter-Fahrten ist also schon jetzt präsent. Das Potenzial ist riesig.
Real ist aber auch das Konfliktpotenzial, das die Scooter im derzeitigen Verkehrssystem bergen. Jeder sechste Zufußgehende gab im Leitfaden von Difu und DLR an, bereits über geparkte E-Tretroller gefallen oder gestolpert zu sein. Geparkte E-Scooter verursachen mitunter mehr Konflikte als solche, die gerade gefahren werden. Besonders groß ist das Problem für blinde und eingeschränkt sehende Menschen. Von den Befragten aus dieser Gruppe gaben 97 Prozent an, schon mal einen Konflikt in Zusammenhang mit einem E-Scooter erlebt zu haben. 68 Prozent bestätigten, bereits mit einem geparkten Fahrzeug zusammengestoßen zu sein oder über ein solches gestürzt zu sein. Gegenüber der Gesamtgruppe der Zufußgehenden war dieser Anteil vier Mal so hoch. Für diese Gruppe ist das Problem so groß, dass der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) versucht, mit Musterklagen durchzusetzen, dass die E-Tretroller nur noch auf ausgewiesenen und abgegrenzten Abstellflächen abgestellt werden. Diese sollen kontrastreich markiert und per Blindenstock ertastbar sein. Ein besonderes Problem sind rücksichtlos abgestellte oder liegende E-Scooter aber nicht nur für blinde und sehbehinderte Menschen. Auch Rollstuhlfahrerinnen, Eltern mit Kinderwagen und älteren Menschen können sie ein Hindernis sein. Interessant ist, dass die Probleme eher mit Sharing-Scootern als -Fahrrädern verbunden werden. „E-Scooter sind immer noch ein Hot-Topic“, sagt Patrick Grundmann. Er ist Pressesprecher bei Tier Mobility. Der Ton sei allerdings negativer geworden, was Grundmann zum Teil berechtigt und zum Teil übertrieben findet. „Ich bekomme jeden Tag kritische Anfragen zum Thema E-Scooter, aber nie zu unseren Fahrrädern.“ Tier Mobility hatte im November 2021 den Sharing-Anbieter Nextbike übernommen. Mit Blick auf das Fahrverhalten gibt es zwischen den Nutzerinnen von E-Tretrollern und Fahrrädern keinen Unterschied, attestiert das Difu in der zuvor erwähnten Veröffentlichung. Auch Fahrräder gibt es in manchen Städten im Free-Floating-, also stationslosen Ausleihsystem.
Bei den E-Scootern geht viel Verdruss von umgefallenen Rollern aus. Patrick Hoenninger von der Stadt Duisburg gibt für diese etwas zu bedenken: „Die besonders störenden liegenden Roller fallen nicht von selbst oder witterungsbedingt um, sondern werden von Menschen bewusst umgestoßen.“
In der Stadt Duisburg sind derzeit drei Anbieter mit insgesamt 2200 Rollern aktiv. Zwei von ihnen reduzieren ihre Flotten im Winter. Seit dem ersten Marktauftritt eines Anbieters vor rund drei Jahren sind rund 100 Beschwerden bei der Stadt eingegangen. Nicht nur geparkte E-Scooter verursachen diese. „Bürgerseitig wird neben dem Abstellen auch das Befahren nicht zulässiger Bereiche kritisiert, vor allem in der City-Fußgängerzone.“

„Wir haben kein Interesse daran, dass ein Scooter im Weg steht, und tun bereits eine Menge, um falschem Parkverhalten vorzubeugen. Die öffentliche Aufmerksamkeit auf dem Thema kann aus unserer Sicht nur helfen. Ich würde mir eine konstruktive Debatte um die Raumnutzung in den Städten wünschen.“

Sonya Herrmann, Voi Technology

Raum anbieten und sensibilisieren

Das rechtswidrige Fahren in Bereichen, die für den Fußverkehr bestimmt sind, betrifft auch Bürgersteige. Was passieren muss, damit die E-Scooter-Nutzerinnen nicht mehr auf diesen fahren, ist aber vergleichsweise eindeutig. Eine Zählung in der Stadt Portland im US-Bundesstaat Oregon ergab 2019, dass 39 Prozent der Menschen den Bürgersteig nutzten, wenn es keine Radinfrastruktur gab. Existierte ein Radfahrstreifen, fiel der Wert auf 21 Prozent und war dieser sogar geschützt, schrumpfte der Anteil auf 8 Prozent. In Fahrradstraßen nutzte niemand den Fußweg. Die restlichen Nutzerinnen, die trotz guter Radinfrastruktur auf dem Fußweg verbleiben, gilt es durch Sensibilisierung und Information abzuholen. Das weiß auch das Team des Anbieters Voi. Unter ridelikevoila.com bietet das Unternehmen eine Online-Fahrschule an, in der Verkehrsregeln aufgefrischt werden. Außerdem lernen die Nutzerinnen, wie richtiges Abstellen und Fahren funktioniert. Für die Fahrschule hat Voi sich Feedback von der Deutschen Verkehrswacht und der Aktion Mensch eingeholt. Zudem ist sie incentiviert. Das heißt, Nutzerinnen, die eins der fünf Fahrschulkapitel bearbeiten, bekommen Credits im Wert von einem Euro gutgeschrieben. Voi ist auch an der Kampagne „Rollen ohne Risiko“ des deutschen Verkehrssicherheitsrats beteiligt. „Wir haben kein Interesse daran, dass ein Scooter im Weg steht, und tun bereits eine Menge, um falschem Parkverhalten vorzubeugen“, sagt Sonya Herrmann. Sie arbeitet im Public Policy Management beim Sharing-Anbieter Voi Technology.
Auch Medienberichte und Diskussionen helfen dabei, die Menschen für einen guten Umgang mit den Scootern und dem öffentlichen Raum zu sensibilisieren. „Die öffentliche Aufmerksamkeit auf dem Thema kann aus unserer Sicht nur helfen. Ich würde mir eine konstruktive Debatte um die Raumnutzung in den Städten wünschen“, so Herrmann. Öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt die Firma mitunter auch selbst. In britischen Städten, in denen der Anbieter aktiv ist, bietet er zum Beispiel Fahrsicherheitstrainings an. Wenn eine neue Stadt anvisiert wird, sucht das Voi-Team den Austausch mit den Bürgerinnen. Vor allem auch Menschen, die keine Nutzerinnen sind oder sein werden, wollen sie einbinden.

Straßenraum aktiv aufteilen

Eng mit den städtischen Verwaltungen zusammenzuarbeiten, sei sehr wichtig, so Herrmann. „Wir gehen von Anfang an in einen offenen Dialog mit unseren Partnerstädten. Dass auf einmal Scooter über Nacht auftauchen, das gibt es bei uns nicht.“ In Berlin etwa funktioniere die Zusammenarbeit sehr gut. Mit Mitarbeiter*innen von der Berliner Mobilitäts-App Jelbi unternimmt Voi Ortsbegehungen, um Stellplätze zu identifizieren. Solche Kooperationen sind beidseitig vorteilhaft. Die große Datenbasis, mit der die Anbieter arbeiten, kann in Infrastrukturvorschlägen Verwendung finden.
Auch das Difu und das DLR appellieren in ihrem Leitfaden an die Städte. Sie sollen den Straßenraum aktiv gerechter aufteilen. Außerdem gehören die neuen Verkehrsmittel in verkehrspolitische Strategien integriert. Schließlich können sie zu wichtigen Zielen der Stadtentwicklung beitragen. „Das Problem ist, dass für E-Scooter immer noch kein Platz zur Verfügung steht“, bemängelt Patrick Grundmann von Tier. Doch der Austausch ist da und wird immer intensiver. Sogenannte Regional-Manager verwalten die Parkverbotszonen, welche die Städte aussprechen. Diese werden kontinuierlich angepasst. „In den meisten Städten ist es so, dass wir von der Stadt eine Parkfläche zugewiesen bekommen und dann x Tage Zeit haben, die in unserer App zu integrieren“, so Grundmann. Um die Parkflächen herum ist dann die sogenannte No-Parking-Zone. Auch temporäre Anpassungen sind möglich. Während des Karnevals im Rheinland konnten etwa ganze Bezirke ausgesetzt oder Parkverbotszonen erweitert werden.

Für blinde und seheingeschränkte Menschen sind falsch abgestellte E-Scooter ein besonderes Problem. In einer nicht repräsentativen Umfrage gaben 97 Prozent der Befragten in dieser Gruppe an, schon mal einen Konflikt in Zusammenhang mit einem E-Scooter erlebt zu haben.

Uneinheitliche Rechtspraxis

Insgesamt gehen die Städte mit dem jungen Mobilitätsangebot sehr unterschiedlich um. Einen speziellen Weg geht die Stadt Leipzig. Diese lässt E-Scooter-Verleihsysteme nur auf stationsbasierten Abstellzonen an ÖPNV-Haltestellen und Mobilitätsstationen zu. Gegenüber dem Anbieter Tier wurden mehr Parkflächen in Aussicht gestellt, die aber nur sehr langsam umgesetzt wurden. Zusätzlich gab es eine Maximalzahl an Scootern, die auf jeder Abstellfläche stehen durften. „Dadurch ist es eigentlich nie dazu gekommen, dass es sich da wirklich entwickelt, obwohl Leipzig zu den zehn größten Städten Deutschlands zählt“, meint Patrick Grundmann.
Berlin und Düsseldorf setzen auf viele Ständer, andere Verwaltungen tun sich damit schwer. „Manche Städte sagen: ‚Die Scooter dulden wir so gerade noch, aber jetzt noch Abstellmöglichkeiten zu schaffen, das sehen wir nicht‘“, beschreibt Sonya Herrmann die gegensätzliche Herangehensweise. „Diese Haltung ist problematisch, weil die bestehenden Flächenkonflikte damit nicht gelöst werden.“
Im Leitfaden des Difu und des DLR sind verschiedene Strategien verglichen worden. Als die E-Scooter aufkamen, hatten einige Städte mit den Anbietern relativ schnell freiwillige Selbstverpflichtungsvereinbarungen erarbeitet. Andere Kommunen, heißt es in der Veröffentlichung, ließen sich mit der Regulierung mehr Zeit, agieren dafür jetzt umso strenger. Die Selbstverpflichtungsvereinbarungen haben sich nicht bewährt.
Dass die Städte so verschieden mit den E-Scootern umgehen, liegt auch an rechtlichen Ungenauigkeiten. Allgemein stellt sich die Frage, ob die Tretroller als erlaubnisfreier Gemeingebrauch einzuordnen sind oder ob sie als Sondernutzung laufen und damit genehmigungspflichtig sind. Derzeit plane die Mehrzahl der Kommunen, nicht weiter auf freiwillige Selbstverpflichtungen oder Kooperationsvereinbarungen zu setzen, sondern öffentlich-rechtliche Verträge mit Sondernutzung einzuführen. Sind die Scooter als Sondernutzung eingeordnet, können die Städte Gebühren erheben und bestimmte Nutzungsregeln vertraglich festlegen. Die Gebühren sollen die Städte etwa für den Aufwand entschädigen, den sie betreiben, um die Einhaltung der Regeln zu überprüfen.
Bei dieser Praxis zeigen sich starke Unterschiede, vor allem bei der Höhe der Gebühren. In Solingen müssen die Anbieter 10 Euro pro Fahrzeug und Jahr zahlen, in Münster sind es 50. Köln verlangt in den Außenbezirken 85 und in der Innenstadt 130 Euro. Die Stadt möchte damit die Fahrzeuganzahl indirekt begrenzen.
Eine Sonderform ist die Sondernutzungserlaubnis mit Auswahlverfahren. „Das ist ein Trend, den wir sehen und den wir auch begrüßen“, so Sonya Herrmann, die die Kölner Gebührenordnung hingegen eher kritisch betrachtet. Über diese Ausschreibungsverfahren können Städte über die straßenrechtlichen Belange hinaus Einfluss nehmen. Es ist zum Beispiel möglich, die Anzahl der Fahrzeuge oder Anbieter zu begrenzen oder auch ökologische Auswahlkriterien und Sozialstandards zur Bedingung für die Sondernutzung zu machen.
Hinsichtlich des Stellplatzproblems kommen das Difu und das DLR zu einer bemerkenswerten Einschätzung. Lediglich eine der untersuchten Städte habe eine zufriedenstellende Lösung gefunden. In Paris gibt es ein festes System an Abstellflächen in geringen Abständen zueinander. Im Einklang mit dem Praxisleitfaden empfiehlt Patrick Grundmann von Tier, Zweirad-Parkflächen an Kreuzungen zu installieren. „Es würde ja ein Stellplatz an jeder Straßenecke reichen, dann wissen die Leute, dass sie nur bis zur nächsten Ecke fahren müssen und können da ihren Scooter oder ihr Fahrrad abstellen.“ Ein weiterer Vorteil bestünde darin, dass Verkehrsteilnehmerinnen besser über die niedrigen Verkehrsmittel hinwegsehen könnten und einander an Kreuzungen früher wahrnehmen. Als Faustregel empfehlen die Autorinnen des Praxisleitfadens, dass die Stellflächen in zwei bis drei Minuten zu Fuß erreichbar sein sollten.

E-Tretroller in Städten – Nutzung, Konflikte und kommunale Handlungsmöglichkeiten

Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) untersuchten für diesen Praxisleitfaden, wie E-Scooter bisher typischerweise genutzt werden und welche Konflikte im Zusammenhang mit ihnen auftreten. Der Leitfaden wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr erarbeitet und mit Mitteln des Nationalen Radverkehrsplans gefördert. Die Autor*innen erläutert, wie Verwaltungen das Thema steuern und Gestaltungsspielräume nutzen können.
Die Veröffentlichung steht unter folgendem Link zum Download bereit: www.difu.de/17572

Technischer Spielraum

Als weitere Stellschraube, um Konflikten vorzubeugen, wirkt die Technik der Roller. Über die GPS-Ortung lassen sich bereits weitgehend präzise Parkverbotszonen einrichten. „Von der Alarmanlage bis zum Geofencing haben wir verschiedene technische Lösungen, die verhindern, dass Scooter zur Barriere werden“, meint Sonya Herrmann. Auch hier wiederum gibt es regulatorischen Spielraum. In Großbritannien und der Schweiz sei Geofencing normal. Durch diese Technik kann zum Beispiel das Tempo gedrosselt werden, wenn Nutzerin-nen widerrechtlich in eine Fußgängerzone hineinfahren. In Deutschland wird das als Eingriff in die Autonomie der Fahrerinnen gewertet. Es bräuchte also eine Entscheidung auf Bundesebene.
Zukünftige Roller- und App-Generationen dürften immer besser darin werden, potenzielle Konfliktsituationen zu vermeiden. Wer einen E-Scooter parkt, muss schon jetzt meist ein Foto oder Video der Umgebung mit dem Smartphone aufnehmen. Noch in diesem Jahr möchte Tier eine Innovation vorstellen. Derzeit testet der Anbieter Sensoren in den Scootern, die zeigen sollen, ob diese liegen oder stehen.
Auch wenn derartige Lösungen noch nicht das Problem lösen, so zeigen sie dennoch, dass es erkannt wurde. In einem Punkt scheinen sich die Anbieter von Sharing-Scootern aber einig zu sein. E-Scooter als Sündenbock für das Problem der Flächenkonkurrenz zu opfern, das funktioniere nicht. Diese Debatte, so nimmt Grundmann es wahr, erhält immer mehr Aufwind. Die Debatte um die Platzproblematik im öffentlichen Raum hat zugenommen und wird dadurch ganz anders geführt als 2019, als wir gestartet sind.“ Faktisch betrachtet passen auf einen Kfz-Parkplatz mindestens zwölf E-Scooter. Für diese Form der Mikromobilität keinen Platz schaffen zu können, dürfte also kaum ein haltbares Argument sein. „In Deutschland wird oft mit zweierlei Maß gemessen: Der Scooter schafft ein Platzproblem, während die unzähligen Autos in der Innenstadt übersehen werden.“ E-Scooter und die damit verbundenen Konflikte müssten als Teil einer größeren Debatte betrachtet werden. Sie als urbane Seuche zu verunglimpfen, hilft nicht.


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Die Vision der autogerechten Stadt drückt dem aktuellen Verkehrsrecht immer noch ihren Stempel auf. Verkehrsexperten und kommunale Entscheider fordern schon lange eine Reform von Straßenverkehrsgesetz (StVG) und Straßenverkehrsordnung (StVO), um die darin enthaltenen Blockaden für einen nachhaltigeren Verkehr zu lösen. Der Experte für Umweltrecht Prof. Dr. Stefan Klinski hat nun einen kleinen Eingriff mit großer Wirkung ins Spiel gebracht. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Seit Jahren blockiert das Verkehrsrecht nach gängiger Meinung den Umbau von Straßen für mehr Klimaschutz und nachhaltigeren Verkehr. Bürgermeisterinnen, Verbandsvertreterinnen und anderen Verkehrsexpert*innen warten deshalb schon länger auf einen Reformvorschlag zum Straßenverkehrsgesetz (StVG) und zur Straßenverkehrsordnung (StVO). Vor Kurzem hat nun Prof. Dr. Stefan Klinski als einer der führenden Rechtsexperten auf dem Gebiet einen Regulierungsvorschlag veröffentlicht, der mit vergleichsweise wenigen Worten beschreibt, was sich in StVG und StVO ändern sollte, damit Länder und Kommunen zügig die Rahmenbedingungen für einen nachhaltigen Verkehr schaffen können. Der entscheidende Hebel ist dabei aus Sicht von Prof. Dr. Klinski, den Aspekt der „Prävention“ im StVG zu verankern. „Das wäre ein Richtungswechsel in der Verkehrspolitik“, sagt der Experte für Umweltrecht. Prävention, also die vorsorgende Verkehrsplanung bedeutet, dass Planer frühzeitig Maßnahmen ergreifen können, um mögliche Gefahren abzuwenden, die der Autoverkehr verursacht. Das betrifft Unfälle, aber auch Schäden, die Autos durch ihren Platzverbrauch, Lärm oder Emissionen verursachen, sowie mögliche Folgeschäden fürs Klima, die Umwelt oder die Gesundheit. Hinzu kommt, dass die Verkehrsbehörden damit auch die Weichen für den nichtmotorisierten Verkehr stellen können. Etwa indem sie Busspuren einrichten oder bedarfsgerechte Radnetze entwerfen. Auch städtebauliche Belange gehören laut Klinski zu einer vorsorgenden Verkehrsplanung, wie die Umwandlung von Stellflächen in Grünanlagen, um einzelne Standorte besser an die Folgen des Klimawandels anzupassen.
All das sei bislang nicht möglich, weil der fließende Verkehr immer Vorrang hat. „Das Verkehrsrecht von heute entspringt den Visionen der autogerechten Stadt der 1950er- Jahre“, sagt Klinski. „Es ist konsequent darauf ausgerichtet, auf den Straßen möglichst viel Autoverkehr zu ermöglichen“. Diese Philosophie der Verkehrsplanung wurde bereits in den 1980er-Jahren kritisiert. In dieser Zeit setzten erste Initiativen Spielstraßen und verkehrsberuhigte Zonen durch. Ende der 1990er-Jahre wurde die Entwicklung eines beruhigteren Verkehrs immer wichtiger. „Im Jahr 2011 hat der Verordnungsgeber dann den existierenden Paragrafen 45 Absatz 9 StVO verschärft“, sagt Klinski. Seitdem darf der fließende Autoverkehr nur beschränkt werden, wenn eine ganz besondere Gefahrenlage vorliegt, die zudem belegt werden muss.

Schneller zu mehr Busspuren, zusammenhängenden Radnetzen und mehr Grün in der Stadt. Eine vorsorgende Verkehrsplanung macht das möglich.

§ 6 Absatz 1 StVG

(1) Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur wird ermächtigt, soweit es zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen erforderlich ist, Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates über Folgendes zu erlassen:

(4) Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 2, 5 und 8 oder Absatz 2, jeweils auch in Verbindung mit Absatz 3, können auch erlassen werden

1. zur Abwehr von Gefahren, die vom Verkehr auf öffentlichen Straßen ausgehen,

2. zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen, die von Fahrzeugen ausgehen, oder

3. zum Schutz der Verbraucher.

Vorrangstellung des Autos beenden

In Kombination mit besagtem Paragrafen der Straßenverkehrsordnung wird das Straßenverkehrsgesetz vielerorts zum Knebel für die Verkehrsplanung. „Das Straßenverkehrsrecht zielt momentan allein auf die Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs“, sagt Klinski (siehe Kasten § 6 Absatz 1 StVG, einleitende Formel). Wollen die Planer an Hauptstraßen beispielsweise lokal begrenzt Tempo 30 anordnen, um die Sicherheit von Radfahrenden, Fußgängerinnen oder Kindern zu erhöhen, scheitern sie an der Rechtslage. „Es ist momentan nicht möglich, in den Verkehrsfluss einzugreifen, wenn mit besonderen Gefahren zu rechnen ist, sondern nur, wenn die Gefahrenlage bereits besteht“, sagt der Rechtsexperte. Es müssen also schwere Unfälle stattgefunden haben, um nachträglich regelnd eingreifen zu können. „Die Flüssigkeit des Verkehrs wird damit im Einzelfall über die Sicherheit und über die Sicherheitsvorsorge gestellt“, so Klinski. Um diese Verkehrspolitik pro Auto aufzubrechen, schlägt er vor, den § 6 StVG anzupassen. Normalerweise regelt ein Gesetz die wesentlichen Grundzüge eines Rechtsbereichs. Anders § 6 StVG: Dort werde nicht festgelegt, was den Straßenverkehr ausmachen soll, sondern er enthalte eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Verordnungsermächtigungen, die sich auf Fahrerlaubnis, Fahrzeugtechnik und das Verkehrsgeschehen beziehen. Obwohl erst im Jahr 2021 angepasst, ist der Paragraf sehr unübersichtlich. Seitdem regelt der erste Absatz ausschließlich das Interesse von Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs. Interessant ist für den Rechtsexperten § 6 Absatz 4 StVG: Dort geht es erstmals auch um die Auswirkungen des Verkehrs auf andere Belange. „Allerdings in sehr schwach ausgeprägter Form“, sagt Klinski. An dieser Stelle will der Rechtsexperte den Hebel ansetzen. Werde hier der Aspekt der Vorsorge systematisch ergänzt, entfalte er schnell eine weitreichende Wirkung. Beispielsweise könnten die Kommunen an Hauptstraßen Tempo 30 anordnen, wenn die Geschwindigkeit zu mehr Lärm, Abgasen oder Unfällen führt. „Der Alexanderplatz in Berlin ist einer der Unfallschwerpunkte der Hauptstadt“, sagt Prof. Klinski. Tempo 30 würde die gesamte Verkehrssituation dort entspannen. Aber momentan ist es laut StVO nicht möglich, an Hauptstraßen im Kreuzungsbereich Tempo 30 anzuordnen. Den Ver-kehrsplanerinnen sind die Hände gebunden. Ebenso bei Busspuren: „Momentan dürfen sie nur angeordnet werden, wenn mindestens 18 Busse pro Stunde eine Stelle passieren“, sagt er. Mit einer vorsorgenden Verkehrsplanung könnte der Busverkehr vor einem Bahnhof oder einem Einkaufszentrum priorisiert und der Autoverkehr ausgesperrt werden.
Der Professor weiß, für Laien klingt die Platzierung der Änderungen in § 6 Absatz 4 StVG unspektakulär. Dort werden nur die sogenannten „Nebenzwecke“ der StVO behandelt. Aber deshalb werden sie nicht unbedeutender. Im Gegenteil. Dort platziert seien sie deutlich wirkungsvoller, als in die Allgemeinklausel des § 6 zu schreiben „sämtliche Absätze dienen auch dem Klimaschutz“. Davor warnt er. „Das klingt zwar gut, hat aber keine unmittelbare Wirkung“, sagt Klinski. Das Verkehrsministerium könnte auf die Antriebswende verweisen und sämtliche weiteren Änderungen ablehnen.
Klinskis Vorschlag dagegen wirke sofort. „Die Regelung kann bereits auf die bestehende StVO ergänzend angewandt werden“, sagt er. § 45 Absatz 9 StVO, der bislang alle vorsorgenden Maßnahmen blockiert, würde mit einer neuen Formulierung im § 6 Absatz 4 StVG wirkungslos. Die Straßenbehörden könnten eine Mobilitätswende beschleunigen, die aktive Mobilität, den Umweltverbund und klimagerechte Straßen fördert.

§ 6 Absatz 4 StVG

Änderungsvorschlag vom Prof. Dr. Stefan Klinski

Rechtsverordnungen nach Absatz1 Satz 1, durch die oder auf deren Grundlage durch Anordnungen der zuständigen Straßenverkehrsbehörde bestimmt wird, wie öffentliche Straßen benutzt werden können, dienen auch

1. zur Minderung von nachteiligen Auswirkungen durch die Benutzung von Fahrzeugen im Straßenverkehr auf die Umwelt einschließlich des Klimas sowie auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Menschen, insbesondere im räumlichen Umfeld der Straßen,

2. zur Schaffung günstiger Bedingungen im Straßenverkehr für einen künftig zunehmenden nichtmotorisierten Verkehr, insbesondere für die Nutzung von Fahrrädern sowie für die Mobilität zu Fuß und für Menschen mit Beweglichkeitseinschränkungen,

3. zur Sicherstellung eines flüssigen, erforderlichenfalls vorrangigen Verkehrs mit öffentlichen Verkehrsmitteln,

4. zur zeitlich und räumlich differenzierenden Ordnung des Verkehrs in Rücksichtnahme auf Bedürfnisse der Nacht-, Feiertags- und Sonntagsruhe, auf Ferienzeiten und auf kulturelle, sportliche, religiöse oder sonstige nicht verkehr-liche Anlässe sowie

5. zur Berücksichtigung städtebaulicher Belange auf Initiative der Gemeinde, auch bezogen auf einzelne der in Nummer 1 bis 5 angesprochenen Zwecke und Maßnahmen, und können durch die zuständigen Straßenverkehrsbehörden ohne weitere Voraussetzungen für Anordnungen auf Grundlage der Rechtsverordnungen angewendet werden, soweit dies im Einzelfall zu einem dieser Zwecke erforderlich ist und Belange der Sicherheit des Verkehrs oder zwingende sonstige öffentliche oder private Belange nicht entgegenstehen. Für Anordnungen im Sinne von Satz 2 ist in den Rechtsverordnungen vorzusehen, dass Gemeinden Anträge auf solche Maßnahmen stellen können und diese pflichtgemäß zu
bescheiden sind.

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Die Generation Z denkt ökologisch – und handelt pragmatisch. Flexibel, schnell und bequem soll ein Verkehrsmittel sein. Unterschiede im Mobilitätsverhalten sind erkennbar. Aber wie groß sind sie wirklich? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Mobilitätsentscheidungen Jugendlicher fallen unterschiedlich aus: abhängig von der speziellen Altersgruppe und der sozialen Lage, von Bildungsgrad, Verkehrsprägung in der Kindheit durch das Elternhaus, Stadt oder Land. Zur aktuellen Generation Z (Gen Z), den sogenannten Post-Millennials, gehören junge Menschen, die zwischen 1997 und 2012 geboren sind. In diversen Studien werden manchmal frühere Jahrgänge angesetzt. Zu den jüngeren Befragungen über das Verkehrsverhalten der Gen Z gehört die „Mobility Zeitgeist“-Studie von 2020. Sie wurde für Ford vom Zukunftsinstitut erstellt.

Für junge Erwachsene verbindet sich Mobilität mit dem Wunsch nach Autonomie. Zugleich werden die kostengünstigeren Verkehrsmittel bevorzugt.

Führerscheinfrage: Weniger Bock auf den Lappen?

Die pauschale Aussage, der Führerschein würde unter jungen Erwachsenen an Bedeutung verlieren, stimmt nur teilweise. Nach der Ford-Studie besitzen in der Gen Z (18 bis 23 Jahre) nur noch 72 Prozent einen Pkw-Führerschein. Zum Vergleich: In der Gen Y (24 bis 39 Jahre) waren es noch 87 Prozent. Das Deutsche Kraftfahrtbundesamt veröffentlicht in seinem Zentralregister (ZFER) jährliche Bestandszahlen auch nach Alterskohorten. Während der Führerscheingesamtbestand bei Menschen bis 17 Jahren von 2013 (270.526) bis 2022 (126.953) rückläufig ist, liegt er unter den 21- bis 24-Jährigen in den letzten Jahren konstant bei knapp 2,6 Millionen. Bei der Interpretation der Zahlen gilt zu beachten: Gleichzeitig sank der Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung. Das Statistische Bundesamt gibt an, dass zum Jahresende 2021 etwa 8,3 Millionen Menschen 15 bis 24 Jahre alt waren. Das entspricht einem Anteil von 10 Prozent an der Gesamtbevölkerung. 2013 lag sie noch bei 10,8 Prozent. Zudem gibt das ZFER keine Auskunft über die Ursache rückläufiger Zahlen bei den Erstanwärter*innen auf den Führerschein. Möglicherweise verfahren jüngere potenziell Berechtigte nach dem Motto „aufgeschoben ist nicht aufgehoben“. Dr. Juliane Stark vom Institut für Verkehrswesen an der Uni Wien sagt für das Nachbarland: „Dass das Führerscheineintrittsalter gestiegen ist, lässt sich signifikant an Zahlen belegen. Für Österreich verschiebt sich der Führerschein von 18,5 auf 20 Jahre.“


Jugendmobilität der Generation Z in Zahlen

10 % (8,3 Millionen) der deutschen Bevölkerung sind 15 bis 24 Jahre alt *

55 % der 14- bis 29-Jährigen in Deutschland sorgen sich um den Klimawandel **

72 % der Gen Z besitzen einen Führerschein ***

87 % der Gen Y besitzen einen Führerschein ***

58 % der Gen Z besitzen ein Auto (Gen Y: 71 Prozent) ***

46 % der jungen Erwachsenen in der Stadt besitzen ein Auto ***

71 % der jungen Erwachsenen auf dem Land besitzen ein Auto ***

32 % leihen sich lieber ein Auto in der Familie ***

29 % suchen lieber nach Mitfahrgelegenheiten ***

04 % nutzen eine Autovermietung oder Carsharing ***

18 % sehen das Auto als Top-Konsumentscheidung ***

30 % präferieren das Reisen als Top-Konsumentscheidung ***

23 % sehen ein Studium im Ausland als Top-Konsumentscheidung ***

22 % verzichten aus Umweltgründen aufs Auto ***

27 % zählen das Fahrrad zu den am häufigsten genutzten Verkehrsmitteln ***

20 % nutzen Sharing-E-Scooter ***

14 % nutzen Sharing-Bikes ***

48 % der 20- bis 29-Jährigen interessieren sich für Pedelcs ****

78 % der 14- bis 29-Jährigen würden auf ausgebauten Radschnellwegen häufiger pendeln ****

70 % wünschen sich bessere Mobilitätsangebote im ländlichen Raum ***

56 % fordern den Ausbau von Radwegen sowie mehr Stellflächen für Fahrräder ***

63 % wünschen sich zukünftig hohe Umweltstandards, Ressourcen- und Klimaschutz ***

61 % wünschen sich die Verbindung von individueller Mobilität und ÖV ***

* Statistisches Bundesamt – 2021, ** Jugend in Deutschland – Sommer 2022, *** Zeitgeist-Studie, **** Fahrradmonitor 2021


Lieber Reisen, Auslandsstudium oder ein Fahrrad

Klar scheint indes: Der Führerscheinerwerb steht bei den jüngsten Anwerbern nicht an erster Stelle. Das mag am Budget liegen. Immerhin kostet ein Führerschein Klasse B mittlerweile bis zu 3500 Euro. Zugleich steigt die Gen Z später in Beruf und Verdienstmöglichkeiten ein als frühere Generationen. So muss der Führerschein hinter anderen Konsumwünschen anstehen. Schon länger wird beobachtet, dass sich die Präferenzen verschieben: „Jung, deutsch, autolos“, brachte vor wenigen Jahren die Deutsche Welle das gesunkene Jugendinteresse am Auto auf den Punkt. Dort sagte der Wirtschaftssoziologe Holger Rust: „In den Wirtschaftswunderjahren war die individuelle Motorisierung so etwas wie das eingelöste Versprechen der Nachkriegsdemokratie. Beruflicher und persönlicher Erfolg zeigten sich in der Wahl des Autos. Über die Jahrzehnte hat das Auto dann als Statussymbol langsam seine Bedeutung verloren.“ Nach Rust zeigen junge Menschen ihre Milieuzugehörigkeit übers Smartphone, ein bestimmtes Fahrrad oder die Einrichtung ihrer Wohnung. Entsprechend die Ergebnisse der Zeitgeist-Studie: Unter den Top-Konsumentscheidungen rangiert das Auto nur bei 18 Prozent. Bevorzugt genannt werden Reisen oder ein Auslandsstudium. Besaßen in der Gen Y noch 71 Prozent ein Auto, sinkt die Zahl innerhalb der nachfolgenden Gen Z auf 58 Prozent.

Mieten statt Besitzen liegt bei der Gen Z voll im Trend: Die flexiblen E-Scooter sind mittlerweile das am häufigste genutzte Sharing-Modell.

Sharing statt Besitz – außer auf dem Land

Der Trend geht also vom Besitz zum Sharing. So leihen sich 32 Prozent ein Auto lieber innerhalb der Familie. 29 Prozent suchen nach Mitfahrgelegenheiten. Lediglich 4 Prozent nutzen eine Autovermietung oder Car-sharing. Dabei fällt auf, dass das Auto dann als Alternative genannt wird, wenn es an der Infrastruktur hapert. Tenor: „Wenn ich schnell mal irgendwo hinkommen muss und öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad zu langsam oder zu umständlich sind.“
Dies betrifft besonders ländliche Verkehrsräume mit infrastruktureller, aber auch tradierter Fixierung auf das Auto, die von Kindheit an geprägt wird. Hinzu kommt ein schlecht ausgebauter öffentlicher Verkehr. Auf einen beachtlichen Unterschied zwischen Stadt und Land verweist die Zeitgeist-Studie auch beim Autobesitz: Demnach geben 46 Prozent der Befragten aus der Gen Z in der Stadt an, ein eigenes Auto zu besitzen. Auf dem Land hingegen sind es noch 71 Prozent.
Mobilitätsforscher Weert Canzler schreibt in einem Beitrag für den Datenreport 2021: „Ein Hinweis auf die sich öffnende Schere zwischen Stadt und Land sowie zwischen Jung und Alt könnte sich in der Entwicklung des Pkw-Besitzes von 2002 bis 2017 zeigen. In allen Regionstypen mit Ausnahme der Metropolen ist in diesem Zeitraum der Pkw-Besitz bezogen auf 1000 Einwohnerinnen und Einwohner gestiegen. Das Wachstum ist in den dörflichen und kleinstädtischen Räumen am stärksten. Ein wichtiger Grund dafür dürften fehlende digital unterstützte intermodale Verkehrsangebote sein.“ Die Ursache für eine Negativspirale: „Wo es keine Bus- und Bahnanbindungen mehr gibt, werden beispielsweise auch keine Mietrad- oder E-Scooter-Angebote installiert, wie man sie in fast allen großen Städten kennt. Das bedeutet zugleich, dass die Abhängigkeit vom Auto weiter steigt.“

Zukunftswünsche der Post-Millennials: Mobilitätslücken auf dem Land und für Pendler*innen schließen, klimafreundliche Fahrzeuge, E-Tanken gratis.

Klimakrise nicht die einzige Sorge

Umgekehrt lädt eine entsprechend entwickelte Infrastruktur auch Jugendliche zur Nutzung klimafreundlicher Verkehrsmittel ein. Die Ford-Studie fragt nach den Verkehrsmitteln, die am häufigsten an einem Tag genutzt werden. Unter den umweltfreundlichen liegt das Zufußgehen mit knapp 60 Prozent an erster Stelle. Es folgen der ÖPNV mit 47 Prozent und das Fahrrad, das von einem knappen Drittel genutzt wird. Unter den Sharing-Modellen stehen E-Scooter mit 20 Prozent an erster Stelle. Leihfahrräder werden von 14 Prozent, Cargo Bikes von 6 Prozent genutzt.
Laut der Trendstudie „Jugend in Deutschland – Sommer 2022” der Jugendforscher Simon Schnetzer und Klaus Hurrelmann sorgen sich 55 Prozent der 14- bis 29-Jährigen in Deutschland um den Klimawandel. Dazu passt, dass 58 Prozent laut Ford-Umfrage ein „ökologisch nachhaltiger, sozial verantwortungsvoller“ Lebens- beziehungsweise Konsumstil wichtig ist. Trotzdem steht unter den fünf häufigsten Gründen, warum die Gen Z kein Auto nutzt, die Klimakrise nicht an erster Stelle. Nur 22 Prozent geben an, aus Umweltgründen aufs Auto zu verzichten. Weitere 13 Prozent sagen, sie verzichten „aus Überzeugung“. Mehr als die Hälfte, 56 Prozent, nutzt stattdessen öffentliche Verkehrsmittel. Rund ein Drittel fährt lieber Fahrrad oder geht zu Fuß. Abschreckend wirken Anschaffung und Unterhalt. Mit 31 Prozent geben ein knappes Drittel an, dass ihnen die Kosten zu hoch sind.
„Jedes Verkehrsmittel hat seine Vor- und Nachteile. Als ,idealʹ wird oft pragmatisch das Verkehrsmittel genannt, das am besten in die derzeitige Lebenssituation der Jugendlichen passt.“ Zu diesem Schluss kommt die Sinus-Jugendstudie, die sich 2016 noch explizit mit der Mobilität von 14- bis 17-Jährigen beschäftigte. Weiter heißt es dort: „Vorteile des Fahrrads sind, dass es (fast) nichts kostet, nicht von einem Fahrplan abhängt und schneller sein kann, da es nicht anfällig für Staus und Streiks ist. Welches Verkehrsmittel am besten ,passtʹ, hängt vom Reisezweck ab.“
Juliane Stark weist darauf hin, dass Flexibilität, Schnelligkeit und Bequemlichkeit eine sehr große Rolle spielen: „Da hat das Fahrrad natürlich einen großen Vorteil.“ Isoliert von individueller Abhängigkeit kann die Motivation zur Verkehrsmittelwahl nicht betrachtet werden. Insbesondere bei den jüngeren Altersgruppen stellt sich die Frage, wie autonom Verkehrsentscheidungen überhaupt getroffen werden können, wenn sie von den Eltern fremdbestimmt sind.

Die Studie fragte nach den 5 am häufigsten genutzten Verkehrsmitteln an einem normalen Tag. In der Grafik fehlt der Favorit: 56 Prozent gehen zu Fuß.

Selbst wenn man die Beifahrer*innen einbezieht, rangiert das Auto nicht mehr unter den Top-Favoriten bei der individuellen Verkehrsmittelwahl.

Gesundheitsfaktor Bewegung

Dabei hat die Verkehrsmittelwahl Auswirkungen auf die Gesundheit junger Menschen. Lediglich ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland erreichen die Bewegungsempfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. Untersuchungen zeigen, dass gleichzeitig die Raten von Fettleibigkeit in jungen Altersgruppen steigen. Mehr als 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind übergewichtig. Juliane Stark konstatiert eine zunehmende Institutionalisierung der Jugendorte.
Ebenso wenig außer Acht gelassen werden kann die Verkehrssicherheit Jugendlicher: Häufiger als andere Altersgruppen verunglücken die 18- bis 24-Jährigen mit dem Auto. Das Statistische Bundesamt spricht in diesem Zusammenhang von den sieben risikoreichsten Jahren. Schlüsselt man die Todesopfer im Verkehr 2020 nach Verkehrsbeteiligung auf, verunglückten rund 63,4 Prozent der jungen Erwachsenen als Pkw-Insassen. 23.791 dieser jungen Menschen waren Fahrerinnen und 8.030 Mitfahrerinnen. Unter den Ursachen liegt eine „nicht angepasste Geschwindigkeit“ vorn.

Wünsche für die Zukunft

Die Forscherinnen des Sinus-Fahrradmonitors 2021 fragten die Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen, welche Verkehrsmittel sie in Zukunft gerne häufiger nutzen würden. Die Hälfte der Befragten nannte das Fahrrad und das Pedelec an erster Stelle. Mit Blick auf Veränderungswünsche für die Zukunft sprachen sich in der Ford-Studie 56 Prozent für eine Stärkung des Radverkehrs durch den Ausbau von Radwegen sowie mehr Stellflächen für Fahrräder aus. 45 Prozent teilten die Ansicht, es sollte in den Metropolen mehr autofreie Zonen geben, die mehr Raum für Fahrradfahrende und Fußgängerinnen bieten. Der Fahrradmonitor erkundete auch das Pendelpotenzial durch Radschnellwege unter den 14- bis 29-Jährigen, die das Fahrrad für den Weg zur Schule, Uni oder zu ihrer Ausbildungsstätte nutzen. Im Ergebnis können sich satte 78 Prozent vorstellen, die Strecke mit dem Rad häufiger als bisher zurückzulegen.
Von der Gen Z wird eingefordert, bestehende Mobilitätsdefizite zu schließen. Auf die Frage „Wo ist Ihrer Meinung nach der Bedarf zur Verbesserung der Mobilität am größten?“, antworten 54 Prozent „im ländlichen Raum“, 46 Prozent „beim Pendeln zwischen Umland und Städten“. 30 Prozent sehen Bedarf bei der „Mobilität innerhalb der Stadt“.
Schließlich halten junge Erwachsene die Multimodalität im Sinne einer Vernetzung der Verkehrsmittel für zukunftsfähig. So sprechen sich 56 Prozent für Mobilitätssysteme aus, „die automatisch für eine schnellere, reibungslose Mobilität mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln sorgen“. Die Hälfte wünscht sich Mobilitätsservices, die selbstständig Verkehrsmittel und Mobilitätsoptionen kombinieren, sodass sie problemloser von Haustür zu Haustür unterwegs sein können.

„Von einem altersgerechten Verkehrssystem profitieren am Ende alle“

Interview mit Dr. Juliane Stark, Institut für Verkehrswesen, BOKU Wien

Frau Stark, welche Motivationen haben Jugendliche, klimafreundliche Verkehrsmittel wie das Fahrrad zu nutzen?
Mehr als jeder zweite Jugendliche sagt, die Klimakrise ist das größte Problem, das wir jetzt haben. Daraus leitet sich ein erhöhtes Umweltbewusstsein ab. Aber was bei Jugendlichen nach unseren eigenen Erhebungen bei der Verkehrsmittelwahl eine große Rolle spielt, ist Flexibilität, Schnelligkeit und Bequemlichkeit. Da hat das Fahrrad natürlich seinen großen Vorteil.
Wenn wir Jugendliche betrachten, müssen wir auch immer zurückschauen: Wachse ich im Kindesalter in einer nicht fahrradaffinen Familie auf? Dann entwickelt sich das als Jugendlicher nicht noch mal von alleine anders. Verkehrsverhalten ist ein habitualisiertes Verhalten. Hat man im Kindesalter schon verloren, kommt da nicht mehr viel. Da kann ich erst wieder ran, wenn sich ein Lebensumbruch ergibt. Zum Beispiel, dass sie selbst Kinder bekommen oder einen neuen Job starten und umziehen.

Ist der Führerschein unter jungen Menschen out?
Man muss ein bisschen aufpassen mit der Aussage: Wir haben hier einen Trend, die Zahl der Führerscheinneulinge sinkt, wenn alles nach hinten raus kompensiert wird. Dass das Führerscheineintrittsalter gestiegen ist, lässt sich signifikant an Zahlen belegen. Für Österreich verschiebt sich der Führerschein von 18,5 auf 20 Jahre. Leider schleicht sich der coole Effekt dann aus. Es macht auch einen Unterschied, ob ich in der Stadt bin oder auf dem Land. In der Stadt mache ich den Führerschein später. Hauptsache, ich habe meine Mobilität. Aber wenn junge Erwachsene auf dem Land ihre Ausbildung anfangen, sind sie eher affin für den motorisierten Individualverkehr.

Der E-Scooter scheint in der Altersgruppe besonders beliebt zu sein …
Junge Erwachsene sind viel offener für Sharing-Angebote, dieses Nutzen statt Besitzen. Für die E-Roller und Scooter, die ganze Mi-kromobilität. Auch wenn ich kein großer Fan bin, weil sie sich nicht bewegen, wenn sie da draufstehen: Gleichzeitig ist es ein erweitertes Mobilitätsangebot. Es erhöht ihren Aktionsradius. Sie können selbstständig unterwegs sein. Das ist etwas, was extrem zurückgegangen ist: eigenständige Mobilität. Gerade für die letzte Meile ist das sehr wichtig geworden. Von der U-Bahn nach Hause. Aber die Sharing-Angebote sind auch nicht billig. Für alle Wege den Scooter – das machen Jugendliche deshalb sicher nicht.

Welche Herausforderungen besitzt Jugendmobilität unter Gesundheitsaspekten?
80 Prozent der Jugendlichen erfüllen die WHO-Bewegungsempfehlungen nicht. Heute haben die Heranwachsenden teilweise eine geringere Lebensqualität als ihre Eltern. Dabei spielen verschiedene Trends eine Rolle: Dazu gehört die Verhäuslichung, also eher drinnen zu bleiben. Man spricht auch von der Institutionalisierung der Kindheit. Alles ist durchgetaktet. Es fehlen diese Zwischenverbindungen, die man früher einfach mal zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt hat. Wenn sie nur einen Standort haben, da hingebracht und abgeholt werden, verlieren sie den Bezug zwischen Räumen. Dabei spielt das Smartphone ebenso eine große Rolle. Viele Dinge werden jetzt im Sitzen oder Liegen durchgeführt.

Wie können Jugendliche in der Verkehrsplanung berücksichtigt werden?
In einem Vortrag habe ich kürzlich gesagt: „Jeder Weg ist eigentlich ein Schulweg.“ Denn diese Strecke sollte nicht allein hervorgehoben werden. Wie ich aus eigenen Datenerhebungen beobachtet habe: Der Schulweg wird oft brav zurückgelegt mit dem Umweltverbund. Schüler sind aber sehr viel in ihrer Freizeit unterwegs. Ist das Angebot nicht so flexibel, werden sie oft mit dem Elterntaxi kutschiert. Da sehe ich ein großes Potenzial, die Freizeitwege mit einzubeziehen. Die sollten mehr mit dem Rad zurückgelegt werden.
Wichtig ist es, das Verkehrssystem so zu gestalten, dass es kinder- und jugendfreundlich ist. Dabei spielen drei Punkte eine wesentliche Rolle: Die Verkehrsgeschwindigkeit muss runter. Weiter müssen die Sichtbeziehungen gewährleistet sein. Drittens geht es um die Verkehrsmenge des motorisierten Individualverkehrs.
Dann sollten Verkehrsplaner daran denken, Jugendliche auch an Planungsprozessen zu beteiligen. Weil sie eine relativ große Menge der Bevölkerung bilden und ein Recht darauf haben. Jugendliche wollen auch viel Grün, sie haben einen großen Anspruch auf Aufenthaltsqualität, wo sie herumspazieren oder chillen. Habe ich so ein altersgerechtes Verkehrssystem, profitieren davon am Ende alle.
Mit unseren 12- bis 14-Jährigen haben wir geschaut: Wenn ich bewusstseinsbildende Maßnahmen mache und ihnen sage, wie gesund das ist, wie umweltfreundlich und bequem: „Schau mal, diesen Weg könntest du auf jeden Fall mit dem Fahrrad fahren, dann sind schon die Bewegungsempfehlungen der WHO erfüllt.“ Doch ob das überhaupt etwas bringt? Wenn wir in solche weichen Maßnahmen wie Flyer und Hochglanzbroschüren investieren, dann habe ich das Problem, dass es kaum Evaluierungen dazu gibt. Käme später heraus, dass das nicht so viel bringt? Dann sollte ich besser das Geld nehmen und einen Radweg bauen, damit die Infrastruktur attraktiv ist.

Info:

Ford Mobility Zeitgeist 2020

https://media.ford.com/content/fordmedia/feu/de/de/news/2020/09/30/mobility-zeitgeist–ford-studie-untersucht-die-mobile-generation.html

Fahrrad-Monitor Deutschland 2021

https://bmdv.bund.de/SharedDocs/DE/Anlage/StV/fahrrad-monitor-2021.pdf

Jugend in Deutschland – Trendstudie: Sommer 2022

Bilder: iStock – RossHelen, Grafiken: Zukunftsinstitut GmbH, Ford-Werke GmbH 2020, Juliane Stark

Radfahren wird im politischen und gesellschaftlichen Kontext vor allem als verkehrstechnische Chance und Herausforderung behandelt. Das Potenzial des Fahrrads zur Eindämmung vieler Volkskrankheiten wird hingegen in der öffentlichen Diskussion seltener beachtet. Daran ist auch das Ressortdenken in Politik und Verwaltung mitschuldig. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Das von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlene Mindestmaß an Bewegung liegt bei 150 Minuten intensiver Bewegung bei gleichzeitig zweimaligem Krafttraining pro Woche. In Deutschland erreichen nur 20 % der erwachsenen Bevölkerung dieses Ziel im Alltag. Bei Kindern und Jugendlichen sieht es kaum besser aus. Schon vor der Covid-19-Pandemie bewegten sich zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen nicht genug. Seit 2020 hat sich die Situation noch verschärft: Im vergangenen Jahr stellten verschiedene Studien fest, dass sich die Hälfte der Kinder noch weniger bewegt als vor der Pandemie, 25 % essen mehr Süßigkeiten, jedes sechste Kind leidet unter Gewichtszunahme.
Welche Konsequenzen die Bewegungsarmut der nachwachsenden Generationen für die Zukunft der Gesellschaft haben wird, ist in der Gesamtheit bisher kaum abzuschätzen. Aktuelle Studien zu den geschätzten Folgekosten oder zum volkswirtschaftlichen Nutzen von Sport und Bewegung im Allgemeinen gibt es kaum. Der „Global Status Report on Physical Activity“ der WHO von 2022 geht jedoch davon aus, dass in der aktuellen Dekade weltweit 500 Millionen Menschen unter Zivilisationskrankheiten leiden werden. Dabei geht die WHO von Folgekosten in Höhe von 27 Mrd. US-Dollar für die Behandlung unter anderem von Herz-Kreislauf-Leiden, Adipositas und Diabetes aus, welche hauptsächlich für die entwickelten Industrieländer anfallen werden. Wissenschaftler*innen mahnen schon seit Jahren, dass es eines Paradigmenwechsels hin zu mehr Bewegung bedarf.

Dienstrad-Leasing schafft nicht nur zusätzliche Anreize für Arbeitnehmer*innen, sondern zahlt positiv auch unmittelbar auf die Krankheitstage der Beschäftigen ein.

Politik und Bewegung

Verkehrspolitik sei bislang sehr technisch geprägt, sagt die Bundestagsabgeordnete Swantje Michaelsen. Die Grünen-Politikerin ist Co-Vorsitzende des Parlamentskreises Fahrrad im Bundestag und Mitglied des Verkehrsausschusses. Das Fahrrad als Querschnittsthema habe es schwer in einem von Ressortdenken geprägten System. Die engen festgelegten Zuständigkeiten erschweren eine ressortübergreifende Zusammenarbeit. Dies sehe sie auch im Gesundheitsbereich, in dem wiederum das Thema Alltagsmobilität zu kurz käme. Um in diesem politischen Koordinatensystem systemische Veränderungen zu initiieren, bedürfe es einer enormen Anstrengung. Auf Initiative einiger fahrradaffiner Gesundheitspolitiker*innen wird nun die nächste Sitzung des überparteilichen Parlamentskreises zu dem Thema „Fahrrad und Gesundheit“ ausgerichtet. Anzeichen für ein Umdenken also. Offenbar auch seitens des Bundesministers für Gesundheit – zugesagt hat auch Sabine Dittmar, parlamentarische Staatssekretärin des Ministers.

Die Sportwissenschaftlerin Susanne Tittlbach hat zusammen mit Kollegen ermittelt, dass ein per Rad zurückgelegter Arbeitsweg das Gesamtmortalitätsrisiko im Vergleich zum Gehen um mehr als das Doppelte reduziert.

Fahrradfahren als Beitrag zum Kampf gegen Bewegungsarmut

In einem demnächst erscheinenden Artikel haben sich die wissenschaftler*innen Professorin Susanne Tittlbach, Dr. Julia Lohmann und Professor Peter Kuhn mit dem Thema „Bewegung, Gesundheit und Nachhaltigkeit“ auseinandergesetzt. Sie beschäftigen sich auch mit dem Thema Fahrradmobilität als Verknüpfung von Bewegung, Gesundheit und Nachhaltigkeit. In der mit dem Fahrrad praktizierten aktiven Mobilität sehen sie eine große Chance für die Bekämpfung von Bewegungsarmut.
Sowohl aus der Perspektive der Public Health als auch der Global Health könne man auf eine Reihe positiver Faktoren verweisen. Auch wenn das Radfahren im Alltag das Krafttraining als einen Teil der WHO-Bewegungsempfehlungen nicht ersetzen kann, wäre der Aspekt der ausdauerorientierten Aktivität der WHO-Bewegungsempfehlung über die Woche allein über die Arbeitswege erreichbar, wenn an fünf Tagen ein je 15-minütiger Hin- und Rückweg zur Arbeit aktiv mit dem Rad zurückgelegt würde.
„Ein per Rad zurückgelegter Arbeitsweg senkt das Gesamtmortalitätsrisiko um mehr als das Doppelte im Vergleich zum Gehen. Zusätzlich sind weitere Präventionseffekte möglich, beispielsweise auf Diabetes- oder Krebsrisiko, auf welches ausschließliches Gehen im Alltag keine signifikanten Effekte aufweisen konnte“, heißt es in dem zuvor erwähnten Artikel. Infrastrukturelle Voraussetzungen für einen Arbeitsweg per Fahrrad zu verbessern, lohnt sich also auch aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Hinzu kommt der positive Einfluss auf die mentale Gesundheit. Laut Tittlbach, Lohmann und Kuhn zeigen sich in den wenigen vorhandenen Studien dazu „positive Assoziationen von aktiver Mobilität mit mentaler Gesundheit, kognitiven Fähigkeiten und geringer wahrgenommenem Stress“. Dies können Fahrradfahrende leicht aus eigener Erfahrung bestätigen. Mit dem Rad ließen sich also die gesellschaftlichen Folgekosten von Bewegungsarmut buchstäblich „runterfahren“.

Initiativen wie die Aktion Fahrrad wollen das Fahrrad an den Schulen nicht nur als Verkehrsmittel, sondern auch als Sportgerät stärker verankern.

Das Fahrrad in der Bildung

„Bildungspolitik ist die beste Sozialpolitik. Sie ist auch die beste Wirtschaftspolitik, die beste Klimaschutzpolitik“, sagte die Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) Jutta Allmendinger jüngst im Interview. Ebenso wie Gesundheitspolitik, könnte man ergänzen. Doch gerade im Bildungsbereich hat Bewegung in Form des Sportunterrichtes eine schwache Position. Schulen haben zum Teil keine benutzbare Sporthalle, oft wird der Unterricht von fachfremden Lehrerinnen ausgeübt. Es verwundert kaum, dass sich das im gesundheitlichen Status von Kindern und Jugendlichen niederschlägt. Die Active Healthy Kids Global Alliance, eine internationale Vereinigung von Wissenschaftlerinnen, hat in der Global Matrix 4.0 den Status der körperlichen Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen untersucht und konnte trotz relativ guter Voraussetzungen hinsichtlich der Rahmenbedingungen hierzulande nur die Note 4 vergeben.
Verkehrsverbände wie der VCD und der ADFC und auch einige Krankenkassen haben sich auf die Förderung aktiver Mobilität auf dem Schulweg der Kinder konzentriert. Diesen mit dem Fahrrad zu erfahren, verringert nicht nur die durch Elterntaxis verursachten Autounfälle. Positive Gesundheitswirkungen sind auch im physischen und psychosozialen Bereich nachweisbar, etwa im Hinblick auf körperliche Fitness, der kognitiven Leistungsfähigkeit und dem Sozialverhalten. Signifikant ist auch die damit einhergehende Abnahme von Verkehrsunfällen und verunfallten Kindern in der Nähe von Schulen.
Man könnte jedoch mit dem Fahrrad auch direkt in die Schule vordringen: Eine Integration des Fahrrades in den Sportunterricht würde gesundheitspolitisch ebenso wie verkehrstechnisch positive Effekte haben. Radfahren als Kulturtechnik ist ebenso wie Schwimmen enorm wichtig. Ihm komme für die Ausprägung einer Bewegungskompetenz eine große Bedeutung zu, so Professor Tittlbach im Interview. Doch das Fahrradfahren sei zwar als Wahlfach sehr beliebt, im Sportartenkanon aber nicht obligatorischer Bestandteil der Lehrerinnenausbildung. In Berlin kann man inzwischen an einigen Schulen bereits Radfahren als Abiturfach belegen. Weiteres Potenzial für die Integration des Fahrrades in den schulischen Bereich könnte auch über das Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) erschlossen werden, welches ab 2026 schrittweise rechtskräftig werden wird. In der Umsetzung stellt das Gesetz die Schulbetreiber vor enorme Herausforderungen. Ohne externe Partnerinnen wird eine hochwertige Einbindung von Bewegungskonzepten in den Ganztagsbereich kaum möglich sein. Hier sind zum einen die Radsportverbände gefragt, welche ohnehin über Nachwuchssorgen klagen. Aber auch der VCD könnte hier seine Erfahrung in der Mobilitätsbildungsarbeit einbringen, so Anika Meenken vom VCD. Die dringend nötige personelle Unterstützung könnte aber auch aus der fahrradaffinen Zivilgesellschaft kommen. Je nach geografischer Verortung ist eine Heranführung ans Mountainbike oder ans BMX auch unter dem Aspekt der Ausbildung zukünftiger Olympioniken vielversprechend. Eine Einbindung des Einrades oder von Mannschafts-Ballsportarten wie Radball oder Radpolo könnte auch der Popularität der Radsportarten nutzen. Denkbar ist auch eine Kooperation mit der Fahrradwirtschaft, immerhin ist ein Heranführen von Kindern an das Fahrrad auch für sie nicht unwichtig. E-Scooter und andere relativ neue Formen der Mikromobilität stehen ebenfalls bereit, den Kund*innen von morgen flexible Mobilität zu ermöglichen.

Projekte zur Stärkung des Fahrradfahrens für Kinder und Jugendliche

Das Projekt „Zu Fuß und mit dem Fahrrad zur Schule und zum Kindergarten“ ist eine Mitmachaktion für Kinder, die seit knapp 20 Jahren vom Deutschen Kinderhilfswerk und dem VCD durchgeführt wird. Jeden September werden Schulklassen und Kindergartengruppen zu Aktionen aufgerufen, bei denen sie lernen, den Weg zum Kindergarten oder zur Schule selbst zurückzulegen.

www.zu-fuss-zur-schule.de

„FahrRad! Fürs Klima auf Tour“ ist ein Fahrradkilometer-Wettbewerb für Jugendgruppen. Ziel ist es, gemeinsam möglichst viele Fahrradkilometer zu sammeln. Jeder geradelte Kilometer wird zusammengerechnet und ins Internet übertragen.

www.klima-tour.de

Der VCD Bildungsservice bietet umfangreiche Lehr- und Lernmaterialien rund um das Thema nachhaltige Mobilität vom Kindergarten bis zur Berufs- und Hochschule und für außerschulische Bildungseinrichtungen.

bildungsservice.org

Eine weitere Aktion ist die Kidical Mass, die zweimal jährlich von einem breiten Aktionsbündnis, dem auch ADFC und VCD angehören, organisiert wird.

kinderaufsrad.org

Außerdem gibt es die AKTIONfahrRAD , die gemeinsam mit Partnerinnen aus der Fahrradwirtschaft deutschlandweit (Schul-)Projekte wie beispielsweise die Schoolbikers umsetzt, Schulen Fahrräder zur Verfügung stellt und sich in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen engagiert.

www.aktionfahrrad.de

Gesunde Arbeitnehmer*innen

Schon 2016 belegte eine Studie, wie sehr Radfahrende im ökonomischen Interesse von Arbeitgeberinnen liegen. Menschen, die ihren Arbeitsweg ganzjährig zu Fuß oder mit dem Rad zurücklegen, wiesen durchschnittlich zwei Krankheitstage weniger auf, haben einen niedrigeren BMI-Wert, sind zufriedener und bleiben länger arbeitsfähig. Den Grünen Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar veranlasste diese positive Bilanz zu der Forderung nach einem zusätzlichen Urlaubstag für alle, die regelmäßig mit dem Rad zur Arbeit fahren. Seine Forderung wurde damals auch aus Angst vor einer „Gesundheitspolizei“ abgewiesen. In Anbetracht einer längeren Lebensarbeitszeit und des demografischen Wandels wird das Thema Gesundheit im Arbeitskontext jedoch weiter an Bedeutung gewinnen.
Der Gesetzgeber hat in den letzten Jahren eine Reihe von steuer- und beitragsfreien Zuschüssen zur Gesundheitsförderung von Beschäftigten ins Leben gerufen. Diese Präventionsmaßnahmen und finanziellen Anreize kommen aber der Bewegungsförderung mit dem Fahrrad nicht zugute. Hier wäre ein Inspirationsschub in Richtung Fahrrad für die Politik hilfreich.
Die gängigste Maßnahme, die Arbeitgeberinnen zur Förderung des Fahrrades zur Hand haben, ist das Dienstrad-Leasing. Mit ihm wird betriebliche Mobilität ebenso wie der Verkauf hochwertiger Fahrräder gefördert. Doch nur 4 Prozent der Bevölkerung können bislang von entsprechenden Angeboten profitieren. Betrachtet man es genau, ist ein klarer Objektfokus auf das Fahrrad erkennbar; die Gesundheit der Fahrradfahrenden steht dabei nicht im Mittelpunkt. Wie oft das geleaste Rad am Ende tatsächlich bewegt wird, ist weder für den Gesetzgeber und Arbeitgeberinnen noch für die Fahrradwirtschaft entscheidend. Technisch betrachtet wäre die Erfassung der real gefahrenen Kilometer durchaus machbar und beispielsweise als Grundlage für Boni der Krankenkassen denkbar.

Ein praktischer Blick nach vorn

Für Kommunen ergäbe sich durch die Wertschätzung der bewegungsfördernden Effekte des Fahrrades eine zusätzliche Motivation und Argumentation für den Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur. Auch neue Fördertöpfe ließen sich durch einen Fokus auf den Bereich Gesundheit und Bewegungsförderung bereitstellen oder zielführend abschöpfen. Ebenso sollten strategische Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention Fahrradmobilität mit einbinden. Ein Beispiel hierfür ist der Entwicklungsplan Sport, in dem das Potenzial des Fahrrades unbedingt sichtbar sein sollte.
Die Fahrradwirtschaft hätte die Option, ihren Beitrag zur Bewegungsförderung jenseits des Verkaufens von Fahrrädern auszuweiten. Eine Möglichkeit hierfür wäre etwa eine Verstärkung des kommunalen Engagements, beispielsweise durch Aktionen pro Fahrrad in Schulen und Sportvereinen. Auch ehrenamtliches Engagement, das im Bereich „Sport und Bewegung“ auf eine lange Tradition zurückblicken kann, würde das Fahrrad als Thema stärken und Kinder bewegen. Da in den Kommunen die tatsächliche Förderung von Bewegung und der Ausbau von Radwegen geschieht, lohnt sich hier ein Kulturwandel hin zu einer aktiveren Stärkung des Themas Fahrrad absolut.
Letztendlich muss es darum gehen, die große Gruppe der potenziell Interessierten aber durch die schlechte Infrastruktur vom Radfahren abgehaltenen Menschen zur (häufigeren) Nutzung des Fahrrades zu motivieren. Unter dieser Zielsetzung sind Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und auch kreative Köpfe gefragt. Ein moralischer Zeigefinger wird niemanden auf das Rad bringen; hier braucht es eine gute Story, weiterhin einen interdisziplinären Ansatz, gute Zusammenarbeit der Stakeholder und Geld. Eine Einbeziehung des gesundheitsfördernden Aspektes in die Arbeit pro Fahrrad könnte einen Beitrag für diesen Paradigmenwechsel leisten.


Bilder: stock.adobe.com – Kara, Jobrad, Stefan Dörfler, Aktion Fahrrad, Grafik Quelle: Institut für Generationenforschung

Online-Beteiligung hat gerade durch die Corona-Pandemie viel Aufwind erhalten. In den kommenden Jahren dürften bestehende und neue Methoden ihre Wirkung entfalten und Verwaltungen noch näher mit den Bürger*innen zusammenbringen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Ein Radwegenetz zu entwickeln kann echte Kleinstarbeit sein. Auch wenn dieses Netz instand gehalten werden soll, zeigen sich manchmal viele kleine Schwierigkeiten. Damit ein Radweg im täglichen Leben seine volle Wirkung entfaltet, muss er sich in ein Geflecht aus sozialen Gewohnheiten und baulichen Strukturen einfügen. Diese lassen sich vom planerischen Reißbrett aus nur bedingt überblicken. Umso nützlicher ist es, in der Planung nah an den Bürgerin-nen zu handeln. Bürgerbeteiligungen können Kommunen helfen, dieses Wissen zu heben und daran anzuknüpfen. „Die Radfahrer, die dort jeden Tag langfahren, wissen natürlich genau, wo es hakt“, sagt Christin Pfeffer. „Sie kennen die Schlaglöcher und Stolperstellen und wissen auch genau, wo noch Entwicklungsbedarf bei der Radmobilität besteht.“ Pfeffer ist für die Wer denkt was GmbH tätig. Das Darmstädter Unternehmen bietet unter anderem Partizipationsmaßnahmen an. Die gelebte Expertise der Menschen, die ein Wegenetz tagtäglich nutzen, lässt sich gerade durch bestimmte Online-Werkzeuge gut und niedrigschwellig nutzbar machen. Dazu zählen zum Beispiel sogenannte Mängelmelder. Das sind Online-Plattformen, auf denen Bür-gerinnen einer Stadt auf Mängel im Bestand hinweisen können. Das können etwa Glasscherben oder Schlaglöcher auf einer Strecke sein, die den Weg qualitativ abwerten. Die Lösung mängelmelder.de von Wer denkt was ist auch als App verfügbar. Sie ist nicht nur für den Radverkehr hilfreich, sondern steht den Bürger*innen als allgemeines Sprachrohr zur Verfügung. Auf der Karte lassen sich auch Einträge für illegal entsorgten Müll oder defekte Straßenbeleuchtung erstellen und mit einem Foto und dem genauen Standort des Mangels einreichen. Auf der Website sind Zuständigkeiten für bestimmte Ortsabschnitte oder organisatorische Bereiche hinterlegt. „Niemand muss die Anliegen einzeln sichten und entscheiden, ob für diesen Fall Kollege A, B oder C zuständig ist. Das wird alles im Rahmen der Einführung einer solchen Plattform definiert und im System hinterlegt. So erfolgt die Zuordnung anhand von Kategorie, Ortsposition etc. automatisch und das beschleunigt die internen Abläufe bei der Bearbeitung erheblich“, so Pfeffer.

Kartenbasierte Beteiligungsplattformen erlauben es, schnell Mängel zu erkennen und auf diese zu reagieren. Städte können sie aber auch für neue Planungen einsetzen.

Hinweisen und kommentieren

Mit Dialogplattformen können Städte einen anderen Fokus setzen, denn diese dienen eher dem Austausch. „Die Dialogplattform dient vor allem der Diskussion von Vorhaben oder der Ideensammlung für zukünftige Planungen. Hier geht es also um politische Entscheidungsprozesse. Die Mängelmeldeplattform dient dagegen der unmittelbaren Bearbeitung eines Anliegens und zielt auf direktes Verwaltungshandeln ab. Jede Meldung ist mit einer direkten Aktion in der Verwaltung verbunden. Es werden somit unterschiedliche Ebenen angesprochen. Das ist der große Unterschied“, erklärt Christin Pfeffer.
Auf dieser Art Online-Plattform können die Radfahrerinnen dann einbringen, wo sie schwer einsehbare Stellen wahrnehmen oder wo es immer wieder zu brenzligen Situationen mit Autofahrerinnen kommt. Während ein Mängelmelder meist auf unbestimmte Zeit zur Verfügung steht, ist eine Dialogplattform üblicherweise nur ein paar Wochen oder Monate offen. Nach Ende dieses Beteiligungszeitraums werden die Hinweise und Kommentare ausgewertet. Den Dialog können Planerinnen suchen, um Meinungen zu bereits geplanten Strecken einzuholen. Alternativ ist die Methode auch geeignet, um Meinungen zu sammeln und sie anschließend in ein Konzept zu überführen. Wie erfolgreich eine Beteiligungsphase abläuft, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Pfeffer erzählt von einem Beispiel aus Wuppertal, bei dem in drei Wochen Laufzeit 400 Beiträge und 1700 Bewertungen zustande kamen. Dieses Ergebnis sei relativ gut. Das hänge aber auch damit zusammen, dass Online-Beteiligungen dieser Art in der Stadt kein Novum mehr sind. Die Bürgerinnen kennen die Methode und konnten Vertrauen in das Verfahren entwickeln. Allgemein müssten Beteiligungen einen thematischen Nerv treffen, so Pfeffer. Wenn eine Idee dann doch nicht umgesetzt wird, sollte das ebenfalls erklärt werden. Das beeinflusse dann, wie die nächste Beteiligung läuft.

„Die Radfahrer, die dort jeden Tag langfahren, wissen natürlich genau, wo es hakt. Sie kennen die Schlaglöcher und Stolperstellen und wissen auch genau, wo noch Entwicklungsbedarf bei der Radmobilität besteht.“

Christin Pfeffer, Wer denkt was GmbH

Kommunikation ist Handarbeit

Besonders wichtig ist, dass die Bürgerschaft überhaupt mitbekommt, dass eine Beteiligung stattfindet. Maßnahmen sollten schon im Vorfeld angekündigt werden. Diese Informationen breit zu streuen, bedarf einigen Aufwands, weiß auch Hanna Kasper. Sie ist Geschäftsführerin des Unternehmens Translake GmbH, das sich mit Bürgerbeteiligung befasst. „Das ist auch ein bisschen Handarbeit, dass man das in die Stadtgesellschaft hineinverteilt“, so Kasper. Translake begleitet die Kommunikationsstrategien der Kommunen, die am besten breit aufgestellt sein sollten und viele Kanäle nutzen.
Geeignete Kommunikationswege gibt es viele, darunter Plakate, soziale Medien, Zeitungsbeiträge oder auch Aufkleber auf der Straße. Neben der breit gestreuten Kommunikation an die Bürgerschaft sollten bestimmte Akteure auch direkt angesprochen werden. „Die Stakeholder sind den Planungsorganisationen eigentlich immer schon bekannt“, meint Kasper. Dazu zählen Naturschutzverbände, die Landwirtschaft, Interessensvertretungen wie ADFC und VCD ebenso wie Unternehmen, die an der geplanten Strecke liegen.
Als sehr gelungen wertet Kasper die Beteiligungsprozesse zum Radverkehrsnetz in Tübingen. Dort begleitete Translake die Fortschreibung des bestehenden Radverkehrskonzepts unter anderem mit einer Beteiligungsstrategie und der digitalen Beteiligungskarte Mitmap. Auf dieser konnten Bürger*innen vier Wochen lang Ideen und Vorschläge für Routen, Radabstellplätze und zum Thema Sicherheit in die Planung einbringen. „Wir halten dann die Bürgerinnen und Bürger auf dem Laufenden. Bei einem Hinweis wird der Umsetzungsfortschritt angezeigt. Da reicht ein Zeitungsbericht nicht. Wenn wir die Leute schon dabeihaben, sollten wir sie einbinden.“ In Tübingen kamen dabei rund 3000 Feedbacks zusammen. Jeweils zur Hälfte handelte es sich dabei um Hinweise, zur anderen Hälfte um Kommentare. Besonders gut habe die Stadt Tübingen die Partizipationsformate kommuniziert.

Crowdmapping nutzt das Wissen der Bürger*innen. Diese sind sich nicht immer einig, können sich in den Kommentarspalten zu einzelnen Hinweisen aber austauschen.

Online-Beteiligungen mit einer Auftakveranstaltung zu beginnen, erzeugt einen Spannungsbogen, meint Hannna Kasper. Sie ist Geschäftsführerin des Unternehmens Translake GmbH.

Beteiligungswege kombinieren

Für die Plattformen gab es eine digitale Auftaktveranstaltung, an der rund 100 Bürgerinnen teilnahmen. „Dass man so einen gemeinsamen Auftakt hat, schafft in gewisser Weise einen Spannungsbogen und auch noch mal Aufmerksamkeit in den Medien“, erklärt Hanna Kasper. Auch in den Auftaktveranstaltungen können die Bürgerinnen das Crowdmapping direkt nutzen und die Beiträge sofort sehen. „Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass die Hinweise auf der Karte auch gleich zu sehen sind, weil das motiviert, wenn man sieht, was andere da gedacht haben. Man kann sich auch ein Bild machen, wie unterschiedlich die Perspektiven auf ein Thema sind. Eine leere Karte motiviert nicht zum Mitmachen.“
Dass passive Beteiligungsportale durch solche Begleitveranstaltungen nicht der einzige Partizipationsweg sind, hat gute Gründe. Selbst bei einer gelungenen Kommunikationsstrategie spricht Online-Partizipation Menschen, die nicht digitalaffin sind, einfach nicht an. Gleichzeitig haben Online-Formate ihre eigene Zielgruppe. „Leute in Schichtarbeit oder Familien mit kleinen Kindern, Leute, die man sonst nie bei Beteiligungen bekommt, die erreicht man hier eher“, so Kasper.
Unterschiedliche Formate haben ohnehin ihre spezifischen Eigenschaften. Beteiligungskarten sind zeit- und ortsunabhängig. Dadurch können die von einer Planung betroffenen Menschen sie flexibler nutzen. Eine Veranstaltung hingegen, egal ob online, vor Ort oder hybrid, gibt den Bürgerinnen die Möglichkeit, die Planungsvorhaben mit einem Gesicht zu verbinden. Außerdem können die Verwaltungen dort Input in die Bürgerschaft geben. Für gute Veranstaltungen, insbesondere im digitalen Raum, braucht es kurze, knackige und gut gebriefte Beiträge. Eine Schlüsselrolle komme außerdem der Moderation und dem Zeitmanagement zu. Komplexe Themen sollten die Referentinnen verständlich vermitteln können, so Kasper. Zugute kommt den digitalen Formaten sicher, dass die Abstandsregeln der Corona-Pandemie diese normalisiert und als Katalysator für sie gewirkt haben. „Online-Beteiligung gibt es schon länger. Aber mit dem Start der Pandemie ist das Interesse an digitalen Formaten spürbar angestiegen“, meint Christin Pfeffer.
Dass die Menschen in Zukunft noch digitalaffiner werden, ist ein realistisches Szenario. Neuere, verbesserte technische Möglichkeiten dürften dann auch in der Partizipation Einzug erhalten. Im Kontext des Smart-City-Trends dürften Crowdmappings in Zukunft mehr Daten einbeziehen, schätzt Christin Pfeffer. In den Karten ließe sich dann auch die Luftqualität und Verkehrsflüsse darstellen. Auch die sogenannte Gamification, also der Versuch, Prozesse spielerischer zu gestalten, dürfte vor Beteiligungsprozessen nicht Halt machen. „Ziel ist es, Bürgerinnen und Bürger zu motivieren und insbesondere schwierig zu erreichende Zielgruppen zu aktivieren“, erklärt Pfeffer. In einem Forschungsprojekt der TU Darmstadt, in welches auch die Wer denkt was GmbH eingebunden ist, wird zudem erforscht, wie Künstliche Intelligenz dazu beitragen kann, Sprachbeiträge auf crowd-basierten Plattformen automatisch zu verarbeiten und zu erstellen. Hier gibt es besonders im englischsprachigen Raum große Durchbrüche. Mit der deutschen Sprache scheinen diese noch etwas auf sich warten zu lassen.

„Der digitale Zwilling ist sehr breit aufgestellt. Wir haben begonnen mit dem Thema Mobilität, sind aber auch beim Thema Energie- und Wärmeplanung, Circular Economy und generell Stadtentwicklung und Stadtplanung längst angekommen.“

Markus Mohl, Kompetenzzentrum Digitaler Zwilling

Neben Filmen und einer Web-Anwendung kann die Münchner Kommunalverwaltung den digitalen Zwilling auch einsetzen, um Planungsvorhaben in der virtuellen oder erweiterten Realität zu zeigen.

Der digitale Zwilling ist mehr als ein 3D-Modell. Die Stadt setzt die „digitale Infrastruktur auf dem Weg zu einer klimaneutralen Stadt“ auch in der Planung ein.

Mehr als ein 3D-Modell

In drei deutschen Großstädten wird ein Teil der zukünftigen Entwicklungen bereits heute erprobt. 2021 begann das Pilotprojekt Connected Urban Twins, an dem neben den Städten Leipzig und Hamburg auch München beteiligt ist. Zum Einsatz kommt die Methode eines digitalen Zwillings. Dabei handelt es sich um ein virtuelles Abbild der Stadt, das deutlich über die Funktionen eines 3D-Modells hinausgeht. Der Münchener Projektleiter Markus Mohl erklärt, was dieses Modell besonders macht. „Digitaler Zwilling heißt eben noch viel mehr. Das bedeutet, wir rechnen damit auch Analysen und Simulationen, zum Beispiel Luft-Schadstoff-Modellierungen. Der digitale Zwilling ist sehr breit aufgestellt. Wir haben begonnen mit dem Thema Mobilität, sind aber auch beim Thema Energie- und Wärmeplanung, Circular Economy und generell Stadtentwicklung und Stadtplanung längst angekommen.“ Der Stadtrat sieht den Zwilling als digitale Infrastruktur, die München auf dem Weg zu einer klimaneutralen Stadt begleiten soll. „Wichtig dabei ist, dass der digitale Zwilling nutzerzentriert ist. Das sind natürlich bei der Öffentlichkeitsbeteiligung die Bürgerinnen und Bürger, aber es geht genauso auch um die Fachbereiche in der Verwaltung. Die sollen unterstützt werden, um ihr Vorhaben, das sie präsentieren möchten, besser darstellen zu können und auch besser intern darüber sprechen zu können.“
Bei Beteiligungsverfahren kommt das Modell als Web-Anwendung zum Einsatz. Es können aber auch Filme produziert werden, die zum Beispiel den Bestand und eine geplante Veränderung im Überflug nebeneinanderstellen. Ein Vorteil, so Mohl, ist, dass die gezeigten Bilder realistischer sind als sonstige Visualisierungen. „Es sind keine Pläne von einer Agentur, sondern es sind die Daten, mit denen die Verwaltung tatsächlich arbeitet“, erklärt er.
Der digitale Zwilling erlaubt es der Stadt München, bei der Öffentlichkeitsbeteiligung auch Augmented Reality (AR – erweiterte Realität) und insbesondere Virtual Reality (VR – virtuelle Realität) einzusetzen. Mohl erzählt von einem Beispiel aus dem vergangenen Sommer. „Es gab eine Informationsveranstaltung und wir sind mit VR-Brillen und Tablets rausgegangen und die interessierte Anwohnerschaft konnte die Brillen aufsetzen, sich ein wenig orientieren, wie es jetzt aussieht und dann umschalten, wie so eine Vision aussehen könnte.“ Die neue Technik steigere die Akzeptanz für Baustellen und rege den Austausch an, so Mohl. „Erst mal ist es natürlich auch nur Technik, aber es regt dazu an, darüber zu diskutieren, weil man es auch schnell versteht.“ Weitere Funktionen des digitalen Zwillings sollen in Zukunft ausgerollt werden. Denkbar ist viel, zum Beispiel könnte sich die Berufsfeuerwehr auf dem Weg zum Einsatz schonmal mit der Situation vor Ort vertraut machen. Zunächst scheint das Modell sich positiv auf den Planungsalltag und Beteiligungsprozesse auszuwirken. Bei einem Stadtteilfest im neu entstehenden Münchner Stadtteil Freiham brachten Mohl und seine Kolleg*innen drei VR-Brillen mit. „Die Bürgerinnen und Bürger haben sich bei uns bedankt, weil sie gesagt haben: ‚Okay, jetzt kann ich mir endlich mal vorstellen, was hier alles entsteht, weil ich sehe nur Baustelle“, erklärt Mohl.


Bilder: Stadt Tübingen, griesheim-gestalten.de, Wer denkt was GmbH, Landeshauptstadt München

Die Verkehrserziehung ist seit vielen Jahren ein fester Teil der Schulbildung in Deutschland. Expert*innen kritisieren jedoch den darin enthaltenen Ansatz, den Kindern die Verantwortung für ihre Verkehrssicherheit in die Hände zu legen. Das noch junge Konzept der Mobilitätsbildung setzt deshalb weitergehende Aspekte, wie beispielsweise die Einbindung der Kinderperspektive bei der Verkehrsplanung. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Um die Notwendigkeit einer Verkehrswende in die breite Gesellschaft zu tragen, ist es wichtig, bereits bei den Jüngsten anzusetzen. Das Thema Verkehr ist seit Jahrzehnten in der Grundschule verankert, wurde jedoch lange auf das Erlernen von Regeln und Verhaltensweisen reduziert. Inzwischen haben einige Bundesländer, darunter Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, ein umfassenderes Verständnis entwickelt und sich Mobilitätsbildung auf die Fahnen geschrieben. In Berlin hat es Mobilitätsbildung sogar in das Mobilitätsgesetz geschafft, das 2018 verabschiedet wurde und den Umweltverbund fördern soll. Demnach soll Mobilitätsbildung alle Bewohnerin-nen dazu befähigen „ihre Mobilitätsbedürfnisse sicher, verantwortungsbewusst, selbstbestimmt, stadt-, umwelt- sowie klimaverträglich ausgestalten zu können“. Mobilitätsbildung geht weit darüber hinaus, was herkömmlich unter dem Schlagwort „Verkehrserziehung“ in der Schule behandelt wurde. Dringender Reformbedarf ergibt sich daraus auch für das Kernelement der schulischen Beschäftigung mit Verkehr: die Radfahrausbildung im vierten Schuljahr. Die Radfahrausbildung setzt sich in ganz Deutschland aus einem theoretischen sowie einem praktischen Anteil zusammen. Der Fahrradexperte Dr. Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule bezeichnet die Radfahrausbildung als ein „schulisches Highlight“, dennoch äußern er und weitere Expertinnen Kritik. Sie bemängeln den späten Zeitpunkt, die geringe Fahrpraxis, den Prüfungscharakter und bezeichnen die Ausbildung als wenig kindgerecht.

Ein Radverkehr-Check, wie er im Projekt durchgeführt wurde, könnte als Teil einer umfassenderen Mobilitätsbildung eine neue inhaltliche Dimension bewirken. Die Kinder setzen sich dabei nicht nur mit Verkehrsregeln und Verhaltensweisen
auseinander, sondern auch mit ihren Bedürfnissen und Ideen für eine fahrradfreundliche Kommune.

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen

Höchst problematisch ist zudem der Fokus auf das sichere Verhalten von Kindern, das gilt nicht nur für die Radfahrausbildung, sondern allgemein für die Verkehrssicherheitsarbeit. Von Kindern wird im Straßenverkehr ein Verhalten erwartet, das sie aufgrund ihrer noch nicht ausgereiften motorischen und kognitiven Fähigkeiten gar nicht leisten können. Die Verantwortung für Verkehrssicherheit kann somit nicht in die Hände von Kindern gelegt werden. Das verkehrssichere Kind gibt es nicht, „wohl aber die Möglichkeit, die Verkehrsinfrastruktur so zu gestalten, dass Kinder sowie alle anderen Menschen sich sicher und gerne bewegen können“, betont Oliver Schwedes, Gastprofessor für Integrierte Verkehrsplanung und -politik an der TU Berlin.
Maßnahmen zur Schulwegsicherheit sollen dafür sorgen, dass Kinder sicher und selbstständig zur Schule kommen. Dabei erhält der Radverkehr, vor allem im Grundschulbereich, bislang wenig Aufmerksamkeit. Oft wird angenommen, dass Kinder erst mit Abschluss der Radfahrausbildung in der vierten Klasse das Fahrrad als Transportmittel und nicht nur als Spielgerät nutzen. Teilweise wird ihnen die frühere Nutzung sogar explizit durch die Schulleitung untersagt. Analysen zum Mobilitätsverhalten in Deutschland zeigen, dass elf Prozent der Wege von Kindern im Alter von sechs bis neun Jahren mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. In den Niederlanden sind es hingegen rund ein Drittel – am Alter allein kann es also nicht liegen, dass nicht noch mehr Kinder Fahrrad fahren. Diese Zahlen zeigen, dass wir dringend kinderfreundlichere Radinfrastruktur benötigen. Denn Mobilitätsgewohnheiten werden früh gebildet: Wer schon als Kind das Rad nutzt, wird dies eher auch im Erwachsenenalter tun.
Die Bedürfnisse von Kindern gehen über die Bedürfnisse manch anderer Radfahrender hinaus. Komplexe Handlungsabläufe sind für sie herausfordernder. Verkehrsschilder und -regeln zu erfassen und angemessen darauf zu reagieren, braucht längere Zeit und kann überfordern. Auch die nonverbale Kommunikation, die im Straßenverkehr eine wesentliche Rolle spielt, müssen Kinder erst erlernen. Unvorhergesehene Situationen, wie ein im Weg stehendes Auto, können schnell zu viel sein. Sie eignen sich Verhaltensweisen an, indem sie Routinen in einer vertrauten Umgebung erlernen. Versperrt ein Auto ihren Weg, wissen sie unter Umständen nicht, wie sie mit dieser unerwarteten Situation umgehen sollen. Durch ihre besonderen Bedürfnisse bereitet ihnen zum Beispiel das Fahren im Mischverkehr oder auf Busspuren größere Schwierigkeiten. Stress und Unsicherheit sind die Folge. Hinzu kommt, dass sie durch ihre geringe Körpergröße leichter übersehen werden.
Für Kinder ist deshalb eine sichere, intuitive und fehlertolerante Verkehrsinfrastruktur wichtig. „Radwege müssen gut geschützt und gleichzeitig deutlich erkennbar sein, Kreuzungen übersichtlich gestaltet, Geschwindigkeiten reduziert und Verkehrsregeln klar kommuniziert werden. Sichtbeziehungen spielen eine zentrale Rolle, damit Kinder die Möglichkeit haben, den Verkehr zu überblicken, und von anderen Verkehrsteilnehmenden gesehen werden“, so Oliver Schwedes.

Für viele bedeutet die Fahrradstraße entspanntes Radfahren, doch die Grundschüler*innen sehen auch negative Aspekte. Anstelle der Querungsmöglichkeit, haben sich die Kinder einen Zebrastreifen gewünscht, damit sie sicher über die Straße kommen können. In der Schulumgebung gibt es zudem viele Straßen mit Kopfsteinpflaster.

Kindgerechte Infrastruktur durch Beteiligung

Die Einbindung von Kindern in Planungsprozesse ermöglicht, ihre Bedürfnisse stärker zu beachten. Angeregt durch die Frage, wie Mobilitätsbildung konkret umgesetzt werden kann, führen das Fachgebiet für Integrierte Verkehrsplanung der Technischen Universität Berlin sowie der Arbeitsbereich Sachunterricht und seine Didaktik der Humboldt-Universität zu Berlin seit 2020 gemeinsam ein Forschungs- und Umsetzungsprojekt zum Thema durch. Dabei wurde die Partizipation der Kinder als ein wesentliches Kernelement der Mobilitätsbildung identifiziert.
Um Praktikerinnen eine Methode an die Hand zu geben, Kinder aktiv einzubinden, wurde von den Forscherinnen ein Radverkehr-Check entwickelt. Ziel ist es dabei, die Qualität der Radverkehrsinfrastruktur aus Sicht der Kinder zu bewerten. Projekttage zum Thema Fahrrad an einer Grundschule boten die Chance, das Konzept zu testen. Ausgestattet mit Kamera, Klemmbrett und Zollstock zogen die Kinder los, um die Umgebung der Schule zu untersuchen. Besonders die neu eingerichtete Fahrradstraße direkt vor ihrer Schule erhielt ihre Aufmerksamkeit.
Zuvor gab es dort für den Radverkehr wenig Platz. Sie mussten sich mit einem schmalen Streifen neben dem Gehweg begnügen. Die Umwidmung zur Fahrradstraße wurde von Radfahrenden begrüßt: Endlich geht die Mobilitätswende voran, der Radverkehr wird ernst genommen und ihnen mehr Platz und Sichtbarkeit zugeteilt. Anlieger dürfen die Fahrradstraße weiterhin mit dem Auto befahren, allerdings nur in eine Richtung. Eine Durchfahrtsperre soll den Autoverkehr weiter reduzieren. Auf dem alten Radweg wurden Bäume gepflanzt. Die Viertklässler*innen der anliegenden Grundschule jedoch hatten gemischte Gefühle. Einige sagten, sie mochten den alten Radweg auch gerne. Dort fühlten sie sich geschützter. „Manche Kinder wollen nicht so gerne auf der Straße fahren, weil da immer noch Autos fahren. Die müssen jetzt um die Menschen auf dem Gehweg herumfahren. Da ist aber gar nicht mehr genug Platz dafür, dass man da mit dem Fahrrad fährt“, erklärte ein Mädchen. Mehrmals täglich müssen die Kinder die Straße überqueren, um Schulgebäude auf der anderen Seite zu erreichen. Deshalb hatten sie sich für einen Zebrastreifen eingesetzt. Im Zuge der Umwidmung wurde zwar eine ausgewiesene Querungsmöglichkeit eingerichtet, doch das reicht ihnen nicht. Die Radfahrenden übersehen die Kinder, halten nicht an und das Überqueren der Straße bleibt eine Herausforderung.

„Die Verkehrsinfrastruktur so gestalten, dass Kinder sowie alle anderen Menschen sich sicher und gerne bewegen können“

Prof. Dr. Oliver Schwedes, Technische Universität Berlin

Kinder als Qualitätsmaßstab

Die Gedanken der Kinder zur neuen Fahrradstraße zeigen, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse gehört werden müssen, damit kinderfreundliche Infrastruktur entstehen kann. Die Beteiligung von Kindern in Planungsprozessen stellt auch eine große Chance dar, die Ansprüche weiterer Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen. Eine Einteilung in vier verschiedene Radfahrtypen in Portland/Oregon (USA) hat ergeben, dass etwa zwei Drittel der Befragten zur Gruppe derjenigen gehört, die „interessiert, aber besorgt“ sind. Diese haben grundsätzlich Interesse am Fahrradfahren, würden gerne öfter das Rad nehmen, trauen sich aber nur auf besonders sicheren Radwegen zu fahren. Radfahrinfrastruktur, die die Bedürfnisse von Kindern berücksichtigt, wird auch den hohen Anforderungen dieses Typs gerecht. Kinder können damit der Maßstab für die Qualität der Radverkehrsanlagen sein. Wer Verkehrsinfrastruktur kindgerecht gestaltet, baut somit nicht nur für Kinder, die vermehrt auch im Erwachsenenalter das Fahrrad nutzen, sondern auch für all diejenigen, die sich heute (noch) nicht auf das Fahrrad trauen. Daher können Kinder stellvertretend für die Gruppe der „Interessierten, aber Besorgten“ sprechen, die in Beteiligungsprozessen mitunter schwer zu erreichen sind.
Um die Bedürfnisse von Kindern bei der Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur stärker in den Blick zu nehmen, bietet schulisches Mobilitätsmanagement Raum. Dabei geht es nicht nur um die Verbesserung der Verkehrssicherheit. Ziel schulischen Mobilitätsmanagements ist es auch, nachhaltiges Mobilitätsverhalten zu fördern und motorische, kognitive sowie psycho-soziale Kompetenzen der Kinder zu stärken.
Die Verkehrsplanerin Katalin Saary, die Erfahrungen in der Erarbeitung und Umsetzung von Schulmobilitätsplänen hat, bezeichnet schulisches Mobilitätsmanagement als einen wichtigen Baustein der Verkehrswende. Da Kinder noch nicht Auto fahren können, sind sie auf das Rad, den ÖPNV und das Zufußgehen angewiesen, wenn sie selbstständig unterwegs sein wollen. Das bedeutet, dass Verkehrsplanung, die sich an Kindern orientiert, immer eine Förderung des Umweltverbunds beinhaltet. Als Voraussetzung sieht sie allerdings, dass schulisches Mobilitätsmanagement als Instrument ernst genommen wird: „Damit Kinder selbstständig mobil sein können, muss der öffentliche Raum entsprechend ertüchtigt werden. Wenn die Kommunen sich dieser Aufgabe annehmen, dann wären wir bei der Verkehrswende erfolgreich. Kinder haben keine Alternative als Fuß, Rad und ÖPNV. Das heißt, ich muss eine für sie geeignete Verkehrsinfrastruktur gestalten, das Auto eingrenzen und schaffe so dann auch gleich die Voraussetzungen, dass auch alle anderen sicher unterwegs sein können.“
Planungsbüros werden beim schulischen Mobilitätsmanagement involviert, um sichere Schulwege zu planen, bestehende Konzepte an die Besonderheiten der Schulumgebung anzupassen und umzusetzen. Dieser Rahmen eignet sich gut, um Kinder in die Planung einzubeziehen. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise ein Radverkehr-Check während der Radfahrausbildung, wie er im Forschungsprojekt durchgeführt wurde. Dabei erhält einerseits die Radfahrausbildung eine neue inhaltliche Dimension. Die Kinder setzen sich nicht nur mit Verkehrsregeln und Verhaltensweisen auseinander, sondern auch mit ihren Bedürfnissen und Ideen für eine fahrradfreundliche Kommune. Idealerweise können sie erleben, wie sie durch ihre aktive Mitwirkung ihre Umgebung mitgestalten können. Dadurch kann die Radfahrausbildung im Sinne einer umfassenden Mobilitätsbildung aufgewertet werden. Auf der anderen Seite werden auf der Planungsebene wertvolle Informationen gesammelt, wie die Radinfrastruktur vor Ort gestaltet werden muss, damit sich auch die Schwächsten der Verkehrsteilnehmenden auf das Rad trauen.
Schulisches Mobilitätsmanagement hat in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebt und wird in immer mehr Bundesländern angewandt. Aktuell erarbeiten sowohl Hamburg als auch Berlin neue Konzepte für schulisches Mobilitätsmanagement. In Berlin wurde der Ansatz in das Mobilitätsgesetz aufgenommen. Darin wird hervorgehoben, dass die Perspektiven der Kinder Beachtung finden sollen. Es wird klar: Eine kindgerechte Verkehrsinfrastruktur nimmt einen immer höheren Stellenwert ein. Sie sollte nicht nur als Pflichtprogramm für die Verkehrssicherheit der Kinder gesehen werden, sondern als Chance für qualitativ hochwertige Infrastruktur, die deutlich mehr Menschen als bisher auf das Rad locken kann.

Über das Projekt

Im Forschungsprojekt „Mobilitätsbildung – Entwicklung und Umsetzung von Lehr- und Lernansätzen zur Förderung des Umweltverbundes bei Kindern und Jugendlichen und der Qualifikation von (zukünftigen) Lehrkräften und Erzieherinnen“ der Humboldt-Universität zu Berlin und der Technischen Universität Berlin werden Bildungsmaterialien und Konzepte zum Thema Mobilitätsbildung entwickelt. Außerdem wurden Interviews mit Lehrkräften, Pädagoginnen und verschiedenen Expert*innen geführt. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) aus Mitteln zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans gefördert.

Mehr Informationen finden sich auf dem Forschungsblog:
https://mobild.hypotheses.org/.


Bilder: stock.adobe.com – D. Ott, www.pd-f.de – Luka Gorjup, TU Berlin

Nicht nur gefühlt ist das Elterntaxi vielerorts das meistgenutzte Verkehrsmittel auf dem Schulweg. Das Nachbarschaftsforum Kreis Pinneberg und Hamburg sucht im Reallabor Lösungen, um Kinder wieder mehr zu selbstständigen Mobilitätsformen zu bewegen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Politik und Gesellschaft sind sich eigentlich einig: Kinder sollten allein zur Schule laufen. Das ist gesund und stärkt ihre Selbstständigkeit. Aber viele Kinder werden dennoch regelmäßig mit dem Auto zur Schule gebracht. Das Nachbarschaftsforum Kreis Pinneberg und Hamburg will das nun ändern. Im Rahmen des Reallabors „Schulisches Mobilitätsmanagement“ identifizieren Experten mit Betroffenen systematisch die Gründe für den Fahrdienst der Eltern und testen Lösungen an einzelnen Schulstandorten auf ihre Alltagstauglichkeit.
Das Ziel ist ehrgeizig. Im Jahr 2024 wollen zwölf Bezirke und Kreise in Hamburg und Schleswig-Holstein im Rahmen des Projekts einen Praxisleitfaden präsentieren, der aufzeigt, wie Elterntaxis aus dem Schulumfeld verdrängt werden können. Die Vorschläge sollen auf andere Schulen und Kitas übertragbar sein. Dabei geht es sowohl um bauliche Veränderungen im Schulumfeld als auch um alltagstaugliche Lösungen, die zu Verhaltensänderungen führen. Das Reallabor ist auf insgesamt drei Jahre angelegt und setzt auf den engen Austausch von Verkehrsexperten für schulische Mobilität und den Betroffenen in Kitas und Schulen vor Ort.
Eine erste Online-Befragung an 200 Schulen und sämtlichen Kitas in der Projektregion im Jahr 2021 hatte gezeigt: Das größte Problem ist das Elterntaxi. Eltern kutschieren ihre Kinder aus Sorge oder Bequemlichkeit mit dem Auto bis vors Schultor. Appelle oder Verbote durch die Schule, dies zu unterlassen, zeigen wenig Erfolg oder sind oft nur von kurzer Dauer. Jens Leven kann das verstehen. „Man kann Eltern nicht vergrätzen wie Stadttauben“, sagt der Verkehrsplaner und Experte für schulische Mobilität vom Büro für Forschung, Entwicklung und Evaluation bei der Vorstellung der Ergebnisse. Er empfiehlt, Eltern zu motivieren, ihr Verhalten grundsätzlich zu ändern.

Problemfall: Straße überqueren

Die Voraussetzung dafür ist ein sicherer Schulweg. Die sind jedoch die Ausnahme. Stadt- und Verkehrsplanung haben beim Planen und Bauen von Straßen und Kreuzungen jahrzehntelang die Fähigkeiten und Bedürfnisse von Kindern ignoriert. „Die Infrastruktur und unsere Regelwerke passen nicht zum Mobilitätsverhalten der Kinder“, sagt Leven. Das Problem beginnt beim Überqueren der Straßen. Kinder brauchen dafür deutlich länger als Erwachsene. „Ihnen fehlt die Erfahrung, sie können die Verkehrssituation schlechter einschätzen“, sagt er. Deshalb warten sie länger auf die Lücke zwischen zwei Autos, bevor sie über die Fahrbahn huschen. Weil der Verkehr aber jedes Jahr ein wenig wachse, schrumpfe dieses Zeitfenster langsam, aber stetig.
Die Anordnung von Tempo 30 allein löst das Problem nicht. „Autoschlangen, die sich langsam durch verkehrsberuhigte Straßen schieben, behindern Kinder ebenfalls“, sagt Leven. Ohne Lücke im Verkehr brauchten sie Übergänge wie Zebrastreifen, Ampel, Mittelstreifen oder Mittelinseln. Die Umsetzung guter Überquerungsstellen werde den Kommunen aber durch die Regelwerke oft erschwert.

Standorte brauchen individuelle Lösungen

Eine schnelle Lösung, um die Infrastruktur sicher umzubauen, gibt es nicht. Grundschulen und Kitas sind im Zugzwang, alternative Ideen zu entwickeln. Denn die Zeit, die Kinder in diesen Einrichtungen verbringen, ist zwar nur relativ kurz, aber entscheidend. In der Grundschule sollten Jungen und Mädchen lernen, selbstständig mobil zu sein. Die Fähigkeit wird an den weiterführenden Schulen vorausgesetzt. „Wir müssen ein Umfeld schaffen, in dem die Kinder lernen, sich im Mobilitätsalltag zurechtzufinden, sonst sind sie an der weiterführenden Schule überfordert“, sagt Kreisplaner Hartmut Teichmann, der aus Pinneberg das Projekt des Nachbarschaftsforums koordiniert. Die Einrichtungen benötigten individuelle Lösungen, die schnell umsetzbar sind und in ihr Umfeld passten.
Wie so eine Lösung in einem ersten Schritt aussehen kann, macht Soltau vor. Dort hat die Stadt nach einem Projekt mit Jens Leven innerhalb von fünf Wochen eine Hol- und Bringzone auf einem Supermarktparkplatz eingerichtet. Von dort können die Kinder die verbleibenden 400 Meter zur Grundschule laufen. Einen Straßenabschnitt auf der Strecke hat die Stadt außerdem verkehrsberuhigt und an einer Stelle ein Teil des Pflasters gegen ein anderes ausgetauscht. Dieser optische Kniff animiert die Kinder nun dazu, diesen Abschnitt als Übergang zu nutzen, und bremst die Autofahrer aus.
„Die Möglichkeiten für die Schulen sind vielfältig“, sagt Teichmann. An manchen Schulstandorten sei ein Umsteigen auf den Nahverkehr denkbar. Eine schnelle Lösung, die ohne Umbauten auskomme, sei zudem ein Treffpunkt auf dem Schulweg, von dem Erwachsene die Kinder auf sicheren Wegen zu Fuß zur Schule begleiteten. Wo die Radinfrastruktur es bereits zulasse, könnten auch Fahrradgemeinschaften gebildet werden.

Praxistest zeigt Alltagstauglichkeit

Die Beispiele zeigen, wie unterschiedlich die Lösungen aussehen können. Diese Vielfalt soll der Leitfaden widerspiegeln, der im Jahr 2024 veröffentlicht werden soll. Bis dahin gibt es noch viel zu tun. Der ersten Umfrage im Frühjahr 2022 folgte eine zweite im Herbst 2022. „Wir haben Kinder, Eltern und Beschäftigte von 10 Kitas, 20 Grundschulen und 10 weiterführende Schulen sehr differenziert zu ihrem Mobilitätsverhalten und den subjektiven Verkehrsproblemen befragt“, sagt Teichmann. Die Interviews werden noch ausgewertet. Mit den beiden intensiven Befragungen will das Nachbarschaftsforum die zentralen Verkehrsprobleme an den verschiedenen Standorten identifizieren. Experten und Betroffenen entwickeln anschließend gemeinsam Ideen, um die Verkehrssicherheit an den verschiedenen Standorten zu verbessern. Die Vorschläge werden dann im Laufe des Jahres an zehn Schulen im Kreis Pinneberg und Hamburg im Praxistest auf ihre Alltagstauglichkeit überprüft.
„Sämtliche Maßnahmen, die sich bewähren, werden wir in den Praxisleitfaden aufnehmen, der dann allen Kitas und Schulen zur Verfügung gestellt wird“, sagt Teichmann. Das systematische Vorgehen kostet Zeit. Auf lange Sicht hofft das Nachbarschaftsforum, mit dem Reallabor die Verkehrswende vor Kitas und Schulen zu beschleunigen. Auch wenn jede Schule individuelle Lösung brauche, könnten Standorte in vergleichbaren Problemlagen Ideen und Ansätze übernehmen und an die eigene Situation anpassen, sagt Teichmann.


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Viele Kommunen in Deutschland wollen ihre Radverkehrsnetze ausbauen. Doch welche Routen eignen sich dabei am besten? Das Fehlen von festgelegten Prinzipien zur Bewertung von Radrouten erschwert bisher die entsprechende Planungsarbeit. In Bremen wurde nun ein niederländischer Ansatz verfolgt, um eine bessere Radinfrastruktur für die Vernetzung des jungen Stadtviertels Überseestadt mit dem nahen Stadtzentrum zu planen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Das auf dem ehemaligen Überseehafen errichtete Bremer Stadtviertel Überseestadt bietet Platz für gegenwärtig rund 2300 Wohnungen und über 1100 Unternehmen mit rund 20.000 Beschäftigten. Bis 2030 soll sich die Zahl der Einwohner*innen noch nahezu verdoppeln.

Empfehlungen für die Planung der Breiten und der Art der Radverkehrsinfrastruktur existieren in Deutschland bereits. Sie sind in technischen Regelwerken der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) beschrieben. Jedoch fehlt es an einer gängigen Bewertungsgrundlage für Radrouten, welche sich nicht nur auf die technische Machbarkeit fokussiert. Das Fahrrad zu nutzen, spricht schließlich vor allem dann an, wenn Routen auch komfortabel und attraktiv sind. Das Ziel von Radverkehrsinfrastruktur ist es nicht nur, das Radfahren überhaupt zu ermöglichen und sicher zu machen, sondern auch mehr Menschen für das Radfahren zu begeistern. Nur elf Prozent der Wege in Deutschland werden mit dem Fahrrad zurückgelegt. Zudem fahren weniger Frauen als Männer mit dem Fahrrad und immer mehr Kinder werden mit dem Auto chauffiert, wie beispielsweise die Studie Mobilität in Deutschland zuletzt 2017 feststellte. Die Qualitätskriterien für Radwege zu erweitern, könnte helfen, solche Gruppen anzusprechen.
Eine entsprechende Bewertungsgrundlage wurde nun in einem Projekt für Radverkehrsverbindungen zwischen zwei Gebieten für die Freie Hansestadt Bremen ausgearbeitet. Ziel war, attraktive Radverkehrsrouten für Pendlerinnen zu entwickeln, um den Modal Shift vom motorisierten Individualverkehr (MIV) zum Fahrrad zu unterstützen. Planerinnen in den Niederlanden können bereits seit 1993 auf derartige Gestaltungsprinzipien zurückgreifen. Diese wurden damals im Gestaltungshandbuch für Radverkehr im Rahmen des Radverkehrsmasterplans (Masterplan Fiets program von CROW) dargelegt. CROW ist eine Technologieplattform für Verkehr, Infrastruktur und öffentlichen Raum. Der letzte Stand datiert aus dem Jahr 2017.
Die Europäische Kommission empfiehlt die CROW-Gestaltungsprinzipien jenen EU-Mitgliedsstaaten, die noch keine eigenen Standards, Richtlinien oder Prinzipien für Radverkehrsanlagen entwickelt haben. Die CROW-Prinzipien könnten auch bestehende Richtlinien ergänzen. Diese Prinzipien basieren nicht nur auf objektiver, sondern auch auf subjektiver Sicherheit. Es spielt außerdem eine Rolle, wie komfortabel, kohärent und attraktiv die Routen sind. Auch zugänglich und direkt sollen die Routen laut der CROW-Zielstellung sein. Bewertet wird somit beispielsweise, wie entspannt das Radfahren ist und wie viel Freude es bereitet. Dies ist ein entscheidender Ansatz gemäß den dänischen Verkehrsforscherinnen Mette Møller und Tove Hels. Sie stellten 2008 in der Studie „Cyclists’ perception of risk in roundabouts“ fest, dass „Radfahrende eine Straßengestaltung bevorzugen, die das Verhalten der Verkehrsteilnehmer klar regelt“. Dies führe dazu, dass mehr Menschen häufiger und auf längeren Strecken Rad fahren.

Niederländische Prinzipien

In den Niederlanden bilden die folgenden fünf Prinzipien die Grundlage fast aller Fahrradprojekte. Planer*in-nen berücksichtigen sie, wenn sie Netze planen, fehlende Verbindungen mit Direktheitsanalysen identifizieren oder die Routenwahl bewerten.

Sicherheit:

Sie ist die Grundvoraussetzung für den Radverkehr. Radfahrende sind insbesondere an Kreuzungen gefährdet. Auch fühlen sie sich im Längsverkehr gefährdet, wenn sie gemeinsam mit dem Kfz auf der Fahrbahn geführt werden. Dies ist bedingt durch die Geschwindigkeitsunterschiede, die Fahrzeuggröße oder das Verkehrsaufkommen.

Direktheit:

Direkte Fahrradrouten, reduzierte Entfernungen, Fahrzeiten und Wartezeiten an Lichtsignalanlagen (LSA), das heißt Ampeln, erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit des Fahrrads gegenüber dem motorisierten Verkehr.

Kohärenz und Zugänglichkeit:

Die Routen sollten zusammenhängend und zugänglich sein, sodass Menschen, die mit dem Fahrrad fahren, problemlos ihre Ziele erreichen können. Es wird empfohlen, dass Menschen in städtischen Gebieten nicht mehr als etwa 250 Meter zurücklegen müssen, um das Fahrradnetz, das heißt, entweder Neben-, Hauptrouten oder Radschnellverbindungen/Premiumrouten, zu erreichen. Somit führen die zu bewertenden Routen im besten Fall an Ziel- und Startpunkten vorbei (Umkreis von 250 Metern) oder haben eine gute und direkte Anbindung zu den Routen über das Neben- und Hauptroutennetz. Fahrradrouten sollten auch Verbindungen mit dem öffentlichen Verkehrsnetz beinhalten, um Wegeketten zu optimieren (Intermodalität).

Attraktivität:

Die Menschen werden zum Radfahren ermutigt, wenn sie sich sicher fühlen und die Infrastruktur und die Route sich in einer attraktiven und abwechslungsreichen Umgebung befinden.

Komfort:

Das Radfahren sollte angenehm, reibungslos und entspannt sein, um den Komfort der Radfahrenden zu maximieren. Eine angenehme Fahrbahnoberfläche und geringe Lärmemissionen steigern das Komfortgefühl beim Radfahren.

Neben den Prinzipien, welche die Qualität von Radverkehrsverbindungen berücksichtigen, sind auch Herausforderungen zu bewerten. Damit ist gemeint, wie gut ein Vorhaben technisch machbar ist und welche Flächen und welches Budget verfügbar sind. Wichtig ist auch die Planung der Anlagen (Fahrradstraße vs. Fahrradbrücke) und ob bereits eine Radverkehrsanlage vorhanden ist, die zumindest teilweise genutzt werden kann.
Dieser Ansatz wurde in Bremen genutzt und ausgearbeitet. Dort sollen zukünftig besonders intuitive und attraktive Routen entstehen, die zum Radfahren zwischen der Bahnhofsvorstadt und der Überseestadt einladen und so zu einer Verlagerung vom MIV auf das Fahrrad beitragen.

24,8 %

Fast ein Viertel aller Wege werden in Bremen
mit dem Fahrrad zurückgelegt.
Die Hansestadt hat damit den höchsten Radverkehrsanteil
unter den deutschen Großstädten.

Die Tabelle zeigt das Ergebnis der in Bremen entwickelten Prinzipien mit den entsprechenden Kriterien. Die Prozentsätze stellen die Gewichtungen der jeweiligen Prinzipien und Kriterien dar.

Bewertet und gewichtet

Um zu überprüfen, wie die CROW-Prinzipien umgesetzt wurden und wirken, sind für jedes Prinzip verschiedene Kriterien zu erfüllen. Diese wurden im Rahmen eines Workshops mit der Bremer Verwaltung diskutiert und priorisiert. Hierdurch wurden die Kriterien für das deutsche, im Speziellen das Bremer Umfeld überprüft. Anschließend wurden in einer sogenannten Multikriterienanalyse die Kriterien gewichtet, um die Relevanz der Prinzipien (z. B. Sicherheit vor Attraktivität) abbilden zu können. Zusätzlich zu den Prinzipien, welche die Qualitäten aus Sicht der Radfahrenden widerspiegeln, wurden mögliche Herausforderungen definiert. Die Qualitäten sowie die Herausforderungen stehen im gleichen Verhältnis zueinander, das heißt, die Summe aller qualitativen Prinzipien wird im gleichen Maße gewichtet wie die Summe aller Herausforderungen.

Fakten zum Projekt

  • Das Projekt war eine Maßnahme aus dem Integrierten Verkehrskonzept (IVK) Überseestadt.
  • Bereits zum aktuellen Entwicklungsstand weist das Verkehrssystem für Kraftfahrzeuge der Überseestadt täglich mehrfach verkehrliche Überlastungserscheinungen auf.
  • Es werden weitere Pendelbeziehungen zwischen dem Bremer Hauptbahnhof und der Überseestadt erwartet.
Ziele des IVKs:
  • Die verkehrliche Erschließung und Anbindung des Gebietes, insbesondere an das Rad- und ÖPNV-Netz
  • Förderung der Verlagerung auf den Umweltverbund
Projektbearbeitung:
  • Goudappel BV gemeinsam mit Fair Spaces GmbH (damals AEM Accessible Equitable Mobility GmbH)
  • Im Auftrag der Wirtschaftsförderung Bremen GmbH (WFB) unter besonderer Mitwirkung durch die Senatorin für Klimaschutz, Umwelt, Mobilität, Stadtentwicklung und Wohnungsbau – Team Nahmobilität erarbeitet
  • Mittelzuwendung: Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE)

Praktische Anwendung in Bremen

Sechzehn Routen wurden im Rahmen des Projektes als Optionen zur optimierten Anbindung der Überseestadt an den Hauptbahnhof identifiziert und ausgearbeitet. Aufgrund der Größe des Gebietes wurde es in vier Regionen aufgeteilt: die Bahnhofsvorstadt, Überseeinsel/Süden der Überseestadt, Mitte der Überseestadt und Norden der Überseestadt. Anders als die Überseestadt ist die Bahnhofsvorstadt ein bereits entwickeltes und stark verdichtetes Gebiet mit einem hohen Verkehrsaufkommen. Der Doppelknoten Doventor ist ein etwa 90 Meter langer Straßenabschnitt mit zwei Knotenpunkten im Süden sowie Norden und bildet in vielen Fällen den Drehpunkt zwischen der Bahnhofsvorstadt und den drei Regionen in der Überseestadt. Somit verlaufen die meisten Routen durch die Bahnhofsvorstadt bis zum Gebiet des Doventors sowie vom Doventor in die verschiedenen Regionen der Überseestadt. Die Routen, die nicht über das Doventor laufen, nutzen Wege nördlich des Straßenabschnitts sowie über eine bisher noch nicht vorhandene Brücke.
In einem nächsten Schritt wurden die Routen mit den entwickelten Prinzipien und Kriterien bewertet, um die optimalen Routen zu ermitteln. Im Ergebnis wurden drei Routen in der Bahnhofsvorstadt als Vorzugsvariante ausgewiesen, wobei die dritte Route als langfristiges Projekt zu sehen ist, da hier ein aufwendiges Brückenbauwerk entlang der Bahnlinie notwendig wäre. Für die Abschnitte zu den drei Bereichen der Überseestadt konnte jeweils eine Vorzugsvariante identifiziert werden. Außerdem wurden Verbindungsstücke zwischen den verschiedenen Regionen in der Überseestadt entwickelt und bewertet. Für die Routen zur Überseestadt Süd wurden die Routen, die entlang der Weser verlaufen, nicht als Vorzugsvariante identifiziert, um Konflikte zwischen Fuß- und Radverkehr zu vermeiden.
Völlig problemfrei war die Arbeit mit dem Bewertungsraster nicht. Bereits bestehende beziehungsweise vergangene und zukünftige Routen zu vergleichen, ist manchmal schwer möglich. So wurden zum Beispiel Routen schlechter bewertet, die derzeit mehr Unfälle aufweisen. Routen, die noch nicht existieren, können dagegen nur mit ihrem zukünftigen Zustand bewertet werden und schneiden daher im rein theoretischen Vergleich zu Bestandsrouten im ursprünglichen Zustand bei der Bewertung besser ab. Es ist wichtig, sich genau zu überlegen, welche Situation für welches Kriterium zu bewerten ist, und dies sollte konsequent umgesetzt werden, um ein in sich schlüssiges Ergebnis zu erhalten. Idealerweise sollten alle Kriterien auf die aktuelle oder zukünftige Situation übertragen werden.

Auf dem 300 Hektar großen Areal des früheren Überseehafens in Bremen entstand in den vergangenen 20 Jahren der neue Ortsteil Überseestadt. Für dessen Anbindung mit dem Fahrrad an das nahe gelegene Stadtzentrum der Hansestadt wurden im Rahmen des Projekts 16 optionale Routen ausgearbeitet.

Kriterien unterschiedlich bewertet

Die Bahnhofsvorstadt ist ein dicht besiedeltes Gebiet mit einem engmaschigen Straßenverkehrsnetz. Die Führungen der Routen und deren Bewertung sind hier um einiges komplizierter als in den Gebieten, die zur Überseestadt führen. Das Beispiel zeigt die Bewertung der Routen in der Bahnhofsvorstadt für das Prinzip Attraktivität. Hierzu gehören die Kriterien

Grüne Route:

Routen, die durch viel Begrünung gekennzeichnet sind

Leuchtturmprojekt:

Radverkehrsverbindung und/oder Ausstattung der Radverkehrsinfrastruktur ist außergewöhnlich

Spaß:

Es gibt schöne Aussichten entlang der Fahrt, Menschen, zum Beispiel in Parks, können beobachtet werden, Route führt entlang von Sehenswürdigkeiten

Soziale Sicherheit:

Wege, die beleuchtet sind und wo sich viele Personen im öffentlichen Raum aufhalten – insbesondere bei Dunkelheit

Die Routen, die entlang der grünen Wallanlagen führen, erhalten die höchsten Bewertungen in dieser Kategorie. Die soziale Sicherheit wiederum ist an belebten Straßen höher als an Abschnitten mit wenig Verkehr und wenigen Menschen auf Geh- und Radwegen. Der Faktor Spaß ist hoch an grünen Abschnitten, an Routen mit geringem Kfz-Verkehr oder auch mit wenig Gegenverkehr. Dasselbe gilt für das Kriterium „Leuchtturmprojekt“: Die Radfahrer*innen sollen die Strecke als attraktiv empfinden und sie als Sehenswürdigkeit mit positiven Gefühlen besetzen. Das gilt auch für die Routen, welche den Fly-over Am Wall der gerade geplanten Premiumrouten von Bremen nutzen. Der Fly-over wird eine Brücke sein, die es Radfahrenden ermöglicht, die Straße ohne Wartezeiten zu überqueren.

Feinabstimmung möglich

Das Beispiel aus Bremen dürfte auch auf andere Gebiete übertragbar sein. So wurden Punkte wie geringe Steigungen in die Bewertung aufgenommen, wohl wissend, dass es in Bremen kaum Steigungen gibt. Der Ansatz kann zudem nicht nur Verwendung finden, um Routenverbindungen zu vergleichen und Vorzugsvarianten zu identifizieren. Das Tool ist auch dafür nutzbar, Radverkehrsnetze und neue Wegeverbindungen mit den Prinzipien und Kriterien zu überprüfen. So können
beispielsweise Schwachstellen des Netzes oder der Route rechtzeitig vor Planungen evaluiert werden. Der niederländische CROW-Ansatz trägt dazu bei, die Radverkehrsinfrastruktur in einem ganzheitlicheren Ansatz zu betrachten. Dies ist ein Schlüsselelement, um zukünftig einen höheren Radverkehrsanteil zu erreichen. Wer den Ansatz lokal anwenden muss, sollte die Situation vor Ort, politische Leitziele und aktuelle Trends betrachten. Die Gewichtung erlaubt dann ein Fein-Tuning auf die jeweiligen Bedürfnisse.

Link zur Studie

WFB Wirtschaftsförderung Bremen GmbH (2022): Machbarkeitsstudie, Standort- und Potenzialanalyse – Radverkehrsverbindung Überseestadt – Bahnhofsvorstadt sowie Fahrradparken in der Überseestadt in Bremen, abrufbar über:

https://sd.bremische-buergerschaft.de/vorgang/?__=UGhVM0hpd2NXNFdFcExjZVDgiAohC_SiABC2zFa4w4M

(Hinweis: AEM Accessible Equitable Mobility GmbH heißt nun Fair Spaces GmbH)


Bilder: stock.adobe.com – Witalij Barida, Fair Spaces – Goudappel, Quelle Tabelle: WFB Wirtschaftsförderung Bremen GmbH (2022)