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Schilder aufstellen reicht nicht

Fahrradstraßen sind ein wichtiges Instrument für die Verkehrswende, weil sie das umweltfreundlichere Verkehrsmittel begünstigen. Unklare Designs oder fehlende Modalfilter erschweren mitunter das Vorrangprinzip. Autobesitzer beklagen Parkplatzverluste. Die Herausforderungen und gute Lösungen zeigen die Beispiele von drei Berliner Bezirken. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Die Stadt Berlin besitzt nicht nur ein Mobilitätsgesetz, das Fahrradstraßen ausdrücklich vorsieht. Es gibt auch einen eigenen Leitfaden für deren Umsetzung. Mit solchen Qualitätsstandards könnten Verkehrsplanerinnen und Bezirksämter sofort loslegen. Wären nicht die Bedenken durch Anwohnerinnen. Aktuelles Beispiel für eine solche Hürde ist die geplante Fahrradstraße in der Handjerystraße im bürgerlichen Wohnbezirk Friedenau.

Oben: Regelquerschnitt für eine Fahrradstraße mit Längsparkständen Unten: Empfohlene Mindestbreiten für eine Fahrradstraße, wenn die verfügbaren Breiten für Regelmaße nicht ausreichen, geringe Verkehrsstärken und gute Sichtbeziehungen vorhanden sowie nur wenige Parkwechselvorgänge bei Anwohnerparken zu erwarten sind (aus dem Leitfaden Fahrradstraßen).

Handjerystraße: Konflikt um gefühltes Parkrecht

Hier stimmen alle Voraussetzungen: Nach einer Verkehrszählung passieren vier Mal so viele Radfahrende wie Kraftfahrzeuge die Handjerystraße. Ist das Fahrrad schon oder „alsbald“ die vorherrschende Verkehrsart, weisen auch die Verwaltungsvorschriften (VwVStVO) Fahrradstraßen den Weg. Zudem ist die Straße Teil des Berliner Radverkehrsnetzes. Sie stellt eine wichtige Verbindung zum Nachbarbezirk dar. Der logische Beschluss der Bezirksverordneten, die Handjerystraße zur Fahrradstraße zu machen, geht bereits auf das Jahr 2015 zurück. Dagegen lief zuletzt der Bundestagsabgeordnete Jan-Marco Luczak (CDU) Sturm. Im Januar verteilte seine Partei in Friedenau rund 4300 Fragebögen im Kiez. Ergebnis: „65 Prozent und damit zwei Drittel sprachen sich gegen eine Fahrradstraße aus, wenn dadurch Parkplätze verloren gehen“, so Luczak. Er fordert: Fahrradstraße ja, aber Erhalt der Stellplätze.
Der Wegfall von gut einem Drittel der Parkplätze schafft gerade die Basis für eine Fahrbahngasse zwischen 4 und 4,5 Metern. Damit können Radfahrende wie in Fahrradstraßen vorgesehen sicher nebeneinander fahren oder sich gegenseitig überholen. Hinzu kommt noch ein Abstand zu parkenden Autos zur Prävention von Dooring-Unfällen. Der Berliner Leitfaden gibt einen 0,75 Meter breiten Sicherheitstrennstreifen zur Fahrgasse vor. Luczak stellt diese Logik der Unfallverhütung auf den Kopf und sagt: „Wenn die Straße plötzlich vier Meter breit wird, fürchte ich, dass es zu mehr riskanten Überholmanövern und zu Rasereien kommt.“
Dass hinter allem Furor über vernünftige Fahrradstraßen in erster Linie die Sorge um den Wegfall angestammter Parkplätze steht, sieht Changing-Cities-Sprecherin Ragnhild Sørensen. Sie nennt das einen „Kulturschock“: „Seit 80 Jahren ist klar: Ich kann mein Auto kostenlos vor der Haustür parken. Es wurde suggeriert, es gäbe dieses Recht. Selbst wenn es nirgendwo steht. Wenn alle Bürger 400 Meter bis zum nächsten Mobilitätsangebot gehen müssen, ist Autobesitzern die gleiche Strecke zum nächsten Parkplatz zumutbar. Da existiert ein Ungleichgewicht. Aber das muss man auch mitkommunizieren.“
Vor dem Hintergrund solcher Widerstände empfiehlt der Berliner Leitfaden eine Öffentlichkeitsarbeit schon im Zuge der Planungen, vor und bei Einrichtung einer Fahrradstraße: darunter Flyer, Plakate, öffentliche Informationsveranstaltungen sowie Eröffnungsfeiern. Damit kann zugleich Aufklärungsarbeit zu den Verkehrsregeln in Fahrradstraßen erfolgen.
Sollen Fahrradstraßen erfolgreich vermittelt werden, sind jedoch nicht nur Verkehrsplaner gefragt. Seitens der Politik müssen komplexe Zusammenhänge erklärt werden, die weit über die eigene Haustür hinaus reichen. Im Pandemiejahr 2021 hat der Verkehrssektor drei Millionen Tonnen mehr Treibhausgase verursacht als vom Klimaschutzgesetz vorgegeben. Deshalb müssen klimaschädliche Verkehrsarten wie das Auto weiter reduziert werden. Sørensen kritisiert eine fehlende entsprechende Kommunikation: „Auch diesen großen Kontext muss man mit kommunizieren. Die Politik muss sagen, dass wir diesen Weg gehen müssen. Was dazu führt, dass wir weniger Parkplätze haben. Weil sich das sonst für Autofahrer anfühlt, als werden sie nur angegriffen und müssen verzichten.“

Auch als Fahrradstraße herrscht in der Stargarder Straße noch eine hohe Pkw-Dichte. Der Radverkehr muss sich in der Fahrradstraße deshalb oft an querparkenden Fahrzeugen vorbeidrängeln.

Stargarder Straße: Schilder reichen nicht

Eine gute Nachricht vorneweg: In der Stargarder Straße im Prenzlauer Berg wirkte sich eine Maßnahme verkehrsentlastend aus, die selten im Fokus steht. Sie wird auch nicht von Verkehrsplaner*innen, sondern von der Google-Community gesteuert: Das kostenlose Navigationssystem Google Maps ist wegen der genauen Abbildung aktueller Verkehrslagen beliebt bei Autofahrern. Neben Echtzeitinfos über freie, zähflüssige oder Stauabschnitte, werden Vorschläge zur Stauumfahrung ausgegeben. Melden viele Nutzende dem Unternehmen, dass es sich bei einem angebotenen Schleichweg um eine nicht durchgängig befahrbare Fahrradstraße handelt, wird er nicht mehr angezeigt. Ragnhild Sørensen weist darauf hin, dass zahlreiche Nutzermeldungen den Kfz-Verkehr in der Stargarder Straße bereits reduziert haben.
Trotzdem herrscht in der Fahrradstraße eine immer noch hohe Dichte an Pkw- und Lieferantenverkehr. Hinzu kommt das Querparken zu beiden Seiten. Dabei sieht der Berliner Leitfaden schon aus Sicherheitsgründen das Längsparken vor. Und die Regeln der Straßenverkehrsordnung sind eindeutig: Fahrradstraßen sind dem Radverkehr vorbehalten. Kfz, Lkw und Motorräder dürfen hier nicht fahren. Ausgenommen, sie sind für Anlieger freigegeben. Radfahrerende nutzen die gesamte Fahrbahnbreite, dürfen nebeneinander fahren und geben die Geschwindigkeit vor. Für alle gilt Tempo 30 km/h. Das soll dem Auto die weithin praktizierte Vorrangstellung nehmen. Im Alltag sieht das oft anders aus. Obwohl sie eine Fahrradstraße befahren, drängen sich in der Stargarder Straße nicht wenige Radfahrende rechts an den Randstreifen. Gefährlich nah an den dort quer parkenden Autos. Ein Grund dafür dürfte die regelwidrige Präsenz von Pkws sein.
Immer wieder zeigen Untersuchungen, unter anderem der Unfallforschung der Versicherer (UDV), dass Autofahrende die Regeln in Fahrradstraßen ignorieren. UDV-Leiter Siegfried Brockmann sagte gegenüber dem rbb24 (27.05.22), „dass sehr viele Autofahrer den Bedeutungsinhalt des Schildes ‚Fahrradstraße‘ nicht kennen oder zumindest nicht alle Inhalte“. Deshalb ist eine entsprechende Aufklärungsarbeit zum Verkehrszeichen 244.1, am besten zeitgleich mit der Einrichtung der Fahrradstraße unumgänglich.
Ebenso erschwert die verbreitete Uneinheitlichkeit des Fahrradstraßendesigns eine intuitive Wiedererkennung im bundesweiten Verkehrssystem. Mangels Ausführungen in den knappen Regelwerken „hat sich deutschlandweit mittlerweile ein ‚bunter Strauß‘ an Fahrradstraßen entwickelt“, heißt es etwa im Fahrradstraßen-Leitfaden der Uni Wuppertal und des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu). Im Beispiel Stargarder Straße kommt ein weiteres Dilemma hinzu. Sørensen sagt: „Wegen Lieferschwierigkeiten wurden nur kleine Schilder aufgestellt.“ Bis Autofahrende nacheinander die kleinen Schildchen „Vorfahrtsstraße“, „Abbiegepfeile“ und „Anwohner frei“ registriert haben, haben sie die Kreuzung längst passiert. Selbst wenn die Verkehrszeichen in einer Fahrradstraße gut sichtbar montiert sind: Allein mit dem Aufstellen von Schildern ist es noch nicht getan. Der häufig noch vorhandene Durchgangs-Autoverkehr sollte zusätzlich durch bauliche Maßnahmen verhindert werden. Stichwort: Modale Filter.

Wenn Fahrradstraßen gebaut werden, dürfen kommunikative Maßnahmen nicht zu kurz kommen.

Erst bauliche Maßnahmen haben das Weigandufer bei Radfahrenden deutlich populärer werden lassen.

Weigandufer: Lösungen mit Modalfilter

Dass Autofahrende wie im Prenzlauer Berg die Fahrradstraße missachten, kannte man auch in Neukölln. Noch 2019 berichtete Michael Ihl vom Netzwerk Fahrradfreundliches Neukölln dem Tagesspiegel: „Das Weigandufer wird aktuell als Rennstraße genutzt. Wir werden weggehupt, Motoren brausen auf, es kommt täglich zu krassen Eskalationen.“
Erst mit der Umsetzung baulicher Maßnahmen wurde die beabsichtigte Verkehrsteuerung verbessert. Die Fahrradstraße gewann bei Radfahrenden rasch an Popularität. Die Leitfäden empfehlen Quer- und Diagonalsperren oder eine neue Platzgestaltung. Modalfilter (Poller) lassen Fahrräder passieren, stoppen aber Autos oder zwingen die Fahrer*innen an Kreuzungen zum Abbiegen, was in der Stargarder Straße noch vielfach vom Durchgangsverkehr ignoriert wird. So wurde mit dem teilweisen Rückbau der Fahrbahn zwischen Wildenbruchstraße und Innstraße in Neukölln der Autoverkehr mit modalen Filtern ferngehalten. Auch Gehwege wurden neu bebaut und begrünt.
Die Fahrradstraße erstreckt sich heute über knapp 1,6 km. Kraftfahrzeuge sind innerhalb der Fahrradstraße Weigandufer nur als Anlieger zugelassen. An Kreuzungen wurde die Vorfahrtsregelung zugunsten der Fahrradstraße geändert. Das Autoparken an Stellen durch Fahrradbügel ersetzt, die ebenfalls von rotweißen Pollern begrenzt werden. Damit wurde auch eine bessere Sichtbeziehung für eine Unfallprävention an Knotenpunkten umgesetzt. Ergebnis: Heute wird das Weigandufer größtenteils nicht mehr als Schleichweg genutzt, um die Sonnenallee zu umfahren. Deutlich sichtbar sind dort Eltern und Kinder auf ihren Fahrrädern unterwegs am Uferweg, der ein beliebtes Erholungsgebiet ist.

Statt Parkplatz auf ÖPNV und Rad umsteigen

Noch einmal zurück zur Handjerystraße in Frohnau. Trotz Bürgerprotesten geht es dort im Herbst nun zunächst an die Umsetzung des nördlichen Teilstücks der neuen Fahrradstraße. Dafür werden Beschilderungen wie das Fahrradstraßenschild mit „Anlieger frei“ und Tempo 30 eingerichtet sowie die Vorfahrtsregelung für die Fahrradstraße angepasst. Zudem wird die Markierung für den Sicherheitsstreifen zum ruhenden Verkehr angebracht. Wo Parkplätze die Mindestbreite der Fahrbahngasse von vier Metern nicht erlauben, werden sie wechselseitig weggenommen. Das Parken wird nur noch einseitig möglich sein.
Das ersatzlose Streichen von Parkplätzen befürwortet auch die Changing-Cities-Sprecherin Sørensen. Denn: „Was sollte man den Parkenden anbieten? In Berlin haben wir einen guten ÖPNV. Den sie sicherlich auch nutzen. Denn man sieht ja die Fahrzeuge herumstehen. Was man weiter anbieten kann, sind die Vorteile, für die, die aufs Fahrrad umsteigen können. Außerdem gibt es umweltfreundliche Car-Sharing-Angebote. Und was wäre die Alternative? Wir werden die Klimaziele nie erreichen, wenn wir die ganze Zeit über diese Kleinigkeiten sprechen. Und dann haben wir ein Riesenproblem: Wir haben einfach keine Zeit mehr.“  


„Es fehlt das übergreifende Design“

Interview mit Ragnhild Sørensen, Sprecherin von Changing Cities e. V.

Welche Bedeutung haben Fahrradstraßen für die Verkehrswende?
Fahrradstraßen sind wichtig, weil sie das Vorrangsprinzip auf den Kopf stellen. Und sie lassen sich mit wenigen Mitteln umsetzen: Im Vergleich zum Pollern ganzer Hauptverkehrsstraßen ist der Aufwand geringer.

Was ist gesellschaftlich das Haupthindernis?
Die Parkplätze! Das ist ein Kulturschock: Seit 80 Jahren ist klar, ich kann mein Auto vor der Haustür parken. Und zwar kostenlos. Auch wenn es nirgendwo steht, wurde suggeriert, dass es dieses Recht gibt. Wenn man jetzt sagt, alle Bürger müssen 400 Meter bis zum nächsten Mobilitätsangebot gehen, kann man diese Strecke auch den Autobesitzern bis zum nächsten Parkplatz zumuten. Da existiert ein Ungleichgewicht. Aber das muss man auch mitkommunizieren.

Was könnte man den Autobesitzer*innen anbieten?
Wir müssen uns an dieser Stelle ehrlich machen. Den gemeinsamen Raum, den wir dort draußen haben, packen wir zu mit Autos. Die stehen 23 von 24 Stunden herum. Solche Stehzeuge können wir uns auf Dauer nicht leisten. Aus der Gewohnheit heraus ist das für viele bitter. Aber was sollte man ihnen anbieten? In Berlin haben wir gute ÖPNV- und Car-Sharing-Angebote. Nicht zuletzt geht es um die Vorteile für alle, die aufs Fahrrad umsteigen können. Und die Erfahrung aus anderen Ländern zeigt: Die Leute nehmen nicht den längeren, sondern den kürzeren Weg. Also steigen sie auf andere Verkehrsmittel um.

Woran hapert es sonst bei Einrichtung von Fahrradstraßen?
Im Berliner Leitfaden für Fahrradstraßen ist das Querparken nicht vorgesehen, weil es zu gefährlich ist. Trotzdem wird es gemacht. Dieser Leitfaden wird je nach Bezirk anders ausgelegt. Die einen nehmen großzügig Parkplätze weg. Andere behalten sie. Die einen malen großflächig auf dem Asphalt, anderen reicht eine Beschilderung. Im Prinzip ist das nichts anderes als Kommunikation: Man muss den Verkehrsteilnehmern kommunizieren, wie sie sich zu verhalten haben. Sind Sprache und Zeichen nicht eindeutig, entstehen die Probleme.

Welche Lösung schlagen Sie vor?
Es fehlt das übergreifende Design. Wo sich die Expertinnen und Experten hinsetzen und sagen: Wie kommunizieren wir das so eindeutig, damit Verkehrsteilnehmer überall dieselben Zeichen vorfinden? Wir brauchen überall denselben farblichen Untergrund. Jetzt müssen wir Schilder lesen. Und Schilder lesen ist unpraktisch im Verkehr. Mit der Uneindeutigkeit fehlt die Orientierung.

Warum sind Modalfilter dabei unverzichtbar?
Solange wir keine physischen Barrieren hinstellen, existieren Fahrradstraßen in den Köpfen der Autofahrer noch nicht. Wenn man sich später an die Transformation der Stadt gewöhnt hat, kann man sie wieder wegnehmen. Aber für den Anfang müssen wir Poller setzen. So kommen Autofahrer in einer Straße fast überall hin, werden aber auch hinausgeführt. Arbeitet man mit absenkbaren Modalfiltern, sodass auch ÖPNV-Busse durchkommen, wird es richtig spannend.

Wie sieht es mit den Lieferverkehren aus?
Die basale Lösung sind ausgewiesene Lieferzonen. Das hat in Holland oder in Kopenhagen prima funktioniert und bedeutet: Extraparkplätze für Lieferanten. Außerdem kann man es zeitlich begrenzen. Nur vormittags oder nachmittags. In der Schönhauser Allee wird auch geschützter Radweg gebaut werden, da gibt es dann Lieferzonen. Das heutige Bild, dass sie in der zweiten Reihe direkt davor parken, geht ja eigentlich nicht. Was wir auch wissen: Lieferanten sind mit zu großen Wagen unterwegs, die nur halb vollgeladen sind. Das ließe sich effizienter organisieren: Die letzte Meile mit dem Lastenrad. Und würde man alles konsequent durchdigitalisieren, könnte man vorhandene Transportwege für den Lieferverkehr nutzen. Vielleicht könnten auch Taxifahrer mitliefern. Oder die U-Bahn, wenn sie nachts nicht fährt.


Bilder: SenUMVK – R.Rühmeier, wscher, Kristina Bröhan, BUW/SVPT, Norbert Michalke