Mit ihrem Projekt „Besitzbare und bespielbare Stadt“ will das nordrhein-westfälische Brühl die Lust am Zufußgehen wecken und vergrößert den Aktionsradius ihrer jüngeren und älteren Verkehrsteilnehmenden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)
Für Menschen, die schlecht zu Fuß sind, ist die Liblarer Straße in Brühl eine echte Herausforderung. Hunderte von Schritten müssen sie auf der schnurgeraden Straße gehen, bis sie den Marktplatz erreichen oder die Tramhaltestelle im Zentrum. Cafés und Geschäfte fehlen entlang der Strecke, weshalb das Laufen vorbei an parkenden Autos und Häuserfronten schnell langweilig wird. Damit sich ältere Menschen, die in den Seitenstraßen oder den Senioreneinrichtungen leben, trotzdem zu Fuß auf den Weg machen, hat die Verwaltung in den vergangenen Jahren verschiedene Objekte zum Sitzen oder Anlehnen in der Liblarer Straße installiert. Mit diesen Pausenpunkten wollen sie den Aktionsradius ihrer älteren Stadtbewohner und -bewohnerinnen erhalten und ausdehnen.
Rund 200 Objekte hat die Verwaltung im Stadtzentrum der 40.000- Einwohner-Stadt aufgestellt. Sie gehören zum Projekt „Besitzbare und bespielbare Stadt“ und sollen Senioren und Kinder animieren, ihre Wege selbstständig zu Fuß zurückzulegen. Während die Älteren Plätze zum kurzen Verweilen auf den Wegen brauchen, sind für Kinder vor allem Anreize notwendig, damit sie allein oder mit Freunden zur Schule gehen.
Das Konzept für das Projekt und viele der Objektideen hat Bernhard Meyer entwickelt. Die erste „bespielbare Stadt“ realisierte der inzwischen emeritierte Professor für Sozialplanung, Gemeinwesenarbeit und Pädagogik bereits 1999 in Griesheim im Speckgürtel Darmstadts. Der Clou seiner Objekte ist, dass sie multifunktional nutzbar sind. Sie eignen sich sowohl zum Spielen als auch zum Sitzen. Meyer nennt das definitionsoffen. Der Klassiker eines solchen Objekts ist der Findling. Auf ihm können Kinder herumklettern oder herumlaufen, Erwachsene sich setzen oder anlehnen.
Neu in Brühl ist der erweiterte Fokus auf die älteren Stadtbewohner und -bewohnerinnen. Beide Zielgruppen und ihre Interessenvertreter*innen haben in Workshops und Gesprächsrunden über die Vor- und Nachteile der Alltagswege diskutiert und Ideen entwickelt, die sie verschönern.
Die Stadt ist ein Ort der Begegnung. Das Projekt „Bespielbare und besitzbare Stadt“ macht Brühl für Kinder und Ältere attraktiv.
Kinder von Gefahren weglotsen
Die Dritt- und Viertklässler der Brühler Sankt-Franziskus-Grundschule waren an der Kartierung der Schulwege beteiligt. Im Rahmen des Workshops markierten sie an einem Tag mit Kreide ihren Heimweg. „Die Markierungen zeigten den Planern sehr detailliert, welche Wege die Kinder nutzen, wo sie die Straßen queren oder welche Seite des Gehwegs sie nutzen“, sagt Annegret Neumann, die vom Kinderschutzbund das Projekt begleitete. Auf diese Weise konnten die Planer*innen kritische Situationen identifizieren und entschärfen, wie die Ausfahrt einer Parkgarage. „Um Kinder vor den ein- und ausfahrenden Autos zu schützen, werden sie inzwischen mit den Spielobjekten frühzeitig auf den gegenüberliegenden Gehweg gelotst“, sagt Annegret Neumann.
Dazu gehören Zahlen- oder Buchstabenraupen, die aufs Pflaster geklebt werden, bunte Hüpfekästchen oder Querbalken zum Balancieren. „Bei den verschiedenen Elementen hat sich die Stadt von den Empfehlungen der Kinder inspirieren lassen“, sagt Annegret Neumann.
Die Objekte haben eine Doppelfunktion. Zum einen sollen sie dafür sorgen, dass die Kinder sich mehr bewegen und gern auf ihren Schul- und Freizeitwegen unterwegs sind. „Früher fanden die Kinder deutlich mehr Spielmöglichkeiten vor der Haustür oder auf dem Weg zur Schule als heute“, sagt Henning Korte, Abteilungsleiter ÖPNV, Mobilität und Verkehr in Brühl. Zum anderen sind die Installationen ein Signal an die Eltern, dass ihre Kinder auf diesen Wegen sicher zur Schule oder nachmittags zum Sport kommen. „Wir platzieren die Spielobjekte in Nebenstraßen und lotsen die Kinder auf diese Weise gezielt weg von den viel befahrenen Hauptverkehrsstraßen“, erklärt Korte.
„Die Kommunen beginnen den Fußverkehr zu fördern.
Uta Bauer, Deutsches Institut für Urbanistik
Der Verbesserungsbedarf ist immens.“
Die bunten Fußspuren sind echte Hingucker. Stellenweise werden Rätsel- oder Spielobjekte mit Sitzgelegenheiten für Senioren kombiniert.
Tempo 30 für sichere Schulwege
Aus Sicht von Uta Bauer, Teamleiterin im Forschungsbereich Mobilität am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu), reichen die Spielobjekte jedoch allein nicht aus, um die Alltagsmobilität von Kindern zu verändern. „Die Mobilität von Kindern im Vorschulalter oder in den ersten Grundschulklassen ist eng mit den Mobilitätsmustern ihrer Eltern verknüpft“, sagt sie. Für viele von ihnen sei das Auto das Verkehrsmittel der Wahl, mit dem sie die meisten Wege zurücklegen. „Das ist ein internationaler Trend“, betont die Difu-Expertin. Weltweit brächten immer mehr Eltern ihre Kinder morgens mit dem Auto zur Schule oder nachmittags zu Freizeitveranstaltungen und holten sie auch anschließend wieder mit dem Auto ab. Gründe dafür seien einerseits die Bequemlichkeit der Erwachsenen, aber auch ihre Sorge um die Sicherheit ihrer Kleinen. „Sie trauen ihnen nicht zu, bei dem starken Autoverkehr ihre Wege allein zu bewältigen“, sagt sie. Wirkungsvoll gegensteuern könnten Kommunen mit der Anordnung von Tempo 30 und der Sperrung von Straßen für den Autoverkehr im Schulumfeld. „Diese Maßnahmen verbessern die Verkehrssicherheit in der Fläche und nicht nur auf bestimmten Routen“, sagt sie. „Im Idealfall werden aber beide Maßnahmen miteinander verknüpft.“
In Brühl wird das vielerorts bereits umgesetzt. Tempo 30 ist im Zentrum an vielen Stellen mittlerweile die Regelgeschwindigkeit. Immer wieder müssen Autos sogar auf Schrittgeschwindigkeit abbremsen, weil Tempo 10 angeordnet ist.
„Eine Bank oder eine Sitzgruppe kann zum kommunalen Kino werden“
Henning Korte, Stadt Brühl
Alltagsmobilität von Seniorinnen fördern
Die Verwaltung hat den ersten Schritt gemacht und die multifunktionalen Objekte installiert. Jetzt muss sich zeigen, ob die Idee aufgeht und sich nicht nur die Situation für die Kinder verbessert, sondern sich auch der Aktionsradius der Seniorinnen erweitert – oder sie zumindest möglichst lange selbstständig mobil bleiben.
„Wenn die Älteren auf dem Weg zum Markt oder in die Fußgängerzone ausreichend Plätze zum Verweilen finden, machen sie sich auf den Weg“, sagt Korte. Gibt es die nicht, lassen sich die Seniorinnen den Einkauf nach Hause bringen. Das Angebot halte Ältere länger mobil, sowohl körperlich als auch geistig. „Eine Bank oder eine Sitzgruppe kann zum Treffpunkt werden oder auch zum kommunalen Kino“, sagt Korte. Manche Seniorinnen beobachten gern allein das Treiben auf der Straße, andere kommen dort mit Passanten ins Gespräch. Ein Beispiel dafür sind die drei Sitzinseln auf dem Balthasar-Neumann-Platz zwischen Amtsgericht und Tramhaltestelle. Dort wurden 2018 drei große ellipsenförmige Sitz-inseln aus Holz aufgestellt, mit vereinzelten Rückenlehnen. Jetzt bietet jede von ihnen mehr als zwei Dutzend Menschen Platz zum Sitzen. Mittlerweile sind sie beliebte Treffpunkte besonders beim Wochenmarkt Dienstag, Donnerstag oder Samstag. Wer dann dort Platz nimmt, ist mitten im Geschehen.
Neben den großzügigen Bänken wurden aber auch viele Bügel, Poller zum Sitzen oder Flächen zum Anlehnen auf wichtigen Fußwegen installiert. In der Liblarer Straße etwa im Nord-Süd-Weg entlang der Tramlinie. Außer den typischen Bänken und kleinen Hockern gibt es dort für die kurze Verschnaufpause hüfthohe leicht schräg gestellte Sitzflächen oder Bügel mit einem handbreiten Sitzbrett. Der Bügel soll den Sitzenden das Aufstehen erleichtern. Radfahrende verwechseln sie manchmal mit einem Fahrradständer und schließen ihr Rad dort an. Nicht so die Zielgruppe. Die Senior*innen erkennen schnell die Vorteile der neuen Objekte. Außerdem haben viele von ihnen über die Standorte der verschiedenen Ruhe- und Bewegungsangebote mitentschieden.
Stadt mit Charme: Die vielen Gelegenheiten zum Verweilen und Bewegen machen Brühl für die Anwohner lebenswert.
Mittlerweile gibt es viele Gelegenheiten für eine kurze Pause im Zentrum. Oft reicht ein Bügel oder ein Brett zum Anlehnen, damit Ältere ihre Wege zu Fuß erledigen.
Mobilitätsbedürfnisse im Wandel
Trotz der großen Beteiligung gibt es aber auch immer wieder Kritik aus der Bevölkerung. Manche Anwohn-erinnen lehnen den Aufbau eines Objekts vor ihrer Haustür ab, andere zweifeln an der Notwendigkeit. Der Ideengeber des Projekts, Bernhard Meyer, kennt das aus seiner Heimatstadt Griesheim. Dort unterhält er sich regelmäßig auch mit den Kritikerinnen. „Ein älteres Ehepaar fand die Sitz- und Spielobjekte in der Stadt lange Zeit überflüssig“, sagt er. Das änderte sich, als der Mann starb. Mit seinem Tod änderten sich die Gewohnheiten und damit auch das Mobilitätsmuster seiner Witwe. „Sie geht nun regelmäßig zum Friedhof und nutzt auf dem Weg einen Querbalken für eine kurze Pause“, sagt Meyer. Kürzlich erklärte sie ihm, dass ihr eine Sitzgelegenheit in Grabnähe fehle.
Für Meyer ist das ein wichtiges Signal. „Es zeigt, dass sich die Bedürfnisse der Menschen stetig ändern“, sagt er. Das gilt für Seniorinnen ebenso wie für Kinder und auch für die Stadt. Neubaugebiete altern mit ihren Bewohnerinnen, gleichzeitig entstehen neue Wohngebiete oder neue Wohn- oder Begegnungsstätten für Seniorinnen. Deshalb sollte aus seiner Sicht das Projekt besitzbare und bespielbare Stadt rund alle vier Jahre aktualisiert werden. Das kostet Zeit und Geld. „Die Umsetzung ist sehr arbeitsintensiv“, sagt Korte. Für jedes Objekt muss vor Ort geprüft werden, ob der Gehweg breit genug ist, ein Fallschutz eingerichtet werden sollte oder ob sich der Standort auf Privatbesitz befindet. Aus seiner Sicht hat sich der Aufwand aber dennoch gelohnt. „Die Rückmeldungen sind gut und die Nachfrage ist groß“, sagt Korte. Weitere Schulen fragten bereits an, wann das Konzept in ihren Ortsteilen ausgerollt werde. Die ersten Vorbereitungen dafür laufen bereits. In kleineren Kommunen wie Brühl und Griesheim hat das Projekt laut Uta Bauer durchaus Potenzial, von den Stadtbewohnerinnen gut angenommen zu werden. In größeren Kommunen fehlt aus ihrer Sicht oft der Platz, um ein Spiel- oder Sitzobjekt auf dem Fußweg unterzubringen. Innovativ und entscheidend ist für sie der Fokus der Brühler Verwaltung auf den Fußverkehr. „Zu Fuß gehen ist Basismobilität“, sagt sie. In vielen Städten liege der Anteil des Fußverkehrs deutlich über dem des Radverkehrs. Aber lange wurden die Fußwege vernachlässigt. Das führt dazu, dass sie vielerorts langweilig oder unattraktiv sind, weil Zufußgehende umgeben sind von Autolärm und schlechten Gerüchen. Sie sagt: „Das Umdenken in den Kommunen hat begonnen. Die Kommunen beginnen den Fußverkehr zu fördern. Der Verbesserungsbedarf ist immens.“
Bilder: Andrea Reidl