Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club e.V. (ADFC) hat Ende April die Ergebnisse des zehnten Fahrradklimatests veröffentlicht. Die Stimmung hat sich in den Metropolen leicht verbessert und stagniert im ländlichen Raum. Doch auch dort gibt es Positivbeispiele.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)
Etwa 245.000 Menschen haben Ende vergangenen Jahres darüber abgestimmt, wie zufrieden sie mit dem Fahrradklima vor Ort sind. So viele Teilnehmer und Teilnehmerinnen gab es beim ADFC-Fahrradklimatest noch nie. Dadurch kamen 1114 Städte in die Wertung und erzielten im Schnitt eine Note von 3,96. Die 25 fahrradfreundlichsten Städte in verschiedenen Größenordnungen wurden in Berlin unter anderem von Bundesverkehrsminister Dr. Volker Wissing ausgezeichnet.
Diese Städte belegten in den jeweiligen Größenklassen die Plätze 1 bis 3 im ADFC-Fahrradklimatest 2022:
„Ich gratuliere den Gewinner-Städten und appelliere an alle, die noch aufholen müssen: Nutzen Sie unsere Förderangebote und investieren Sie in den Radverkehr. Wir unterstützen Sie weiterhin gerne. Im Juli starten wir einen neuen berufsbegleitenden Lehrgang ‚Einladende Radverkehrsnetze planen und umsetzen‘, damit sich die Fachkräfte in den Kommunen weiterbilden können und die Kompetenz für den Radverkehr vor Ort weiter gestärkt wird. Der heutige Termin soll auch signalisieren: Wir stehen gemeinsam an Ihrer Seite, damit überall in Deutschland die Menschen gerne aufs Rad steigen“, so Bundesminister Wissing. In der Pressekonferenz Ende April bedankte er sich außerdem für das Engagement und den Sachverstand, mit dem der ADFC zur Verbesserung des Radverkehrs beitrage. Der Fahrradklimatest sei auch für die Förderprogramme des Bundes sehr wichtig.
Aufholer und Gesamtsieger
Ausgezeichnet wurden neben den besten Städten jeder Größenklasse auch die Aufholer, also Städte, die ihr Ergebnis im Vergleich zum letzten Fahrradklimatest am meisten verbessern konnten. Die stärksten Aufholer in ihrer jeweiligen Ortsgrößenklasse sind:
Die Gewinner-Kommune in diesem Jahr ist die Kleinstadt Wettringen in Nordrhein-Westfalen. Sie erhielt mit 2,0 die beste aller Gesamtwertungen und zusätzlich den Sonderpreis „Radfahren im ländlichen Raum“. Neben einem über 20 Jahre alten Radwegenetzplan und einem Plan für Schulwege führt der Bürgermeister Berthold Bültgerds den Erfolg auch auf komfortable Radwege in die Nachbarorte zurück. Die Auszeichnung freut Bültgerds auch deshalb besonders, weil sie von den Bürgerinnen und Bürgern und nicht von einem Gremium kommt.
Test zeigt, wo Luft nach oben ist
Im Schnitt kamen die kleinen Orte und Gemeinden im ländlichen Raum auf eine Note von 3,8. Nur 44 Prozent von den dortigen Umfrageteilnehmern gaben an, Nachbarorte direkt und komfortabel erreichen zu können. Eine große Rolle kommt im ländlichen Raum Pedelecs zu. In Orten unter 20.000 Einwohnern und Einwohnerinnen nutzen diese 42 Prozent der Befragten. Auch in der Gesamtsicht zeigt der Fahrradklimatest Handlungsfelder auf. 80 Prozent finden die Radwege zu schmal, 72 Prozent sind mit den Falschparkkontrollen auf Radwegen unzufrieden und 70 Prozent fühlen sich beim Radfahren nicht sicher. „Der ADFC-Fahrradklimatest ist ein echtes Stimmungsbarometer“, sagt dazu ADFC-Bundesvorsitzende Rebecca Peters. „Radfahrende wünschen sich bessere und breitere Radwege, weniger Konflikte mit Autofahrenden, weniger Falschparkerinnen auf Radwegen und sichere Baustellenumleitungen. Einige Großstädte haben investiert und konnten sich verbessern. Auf dem Land hingegen tut sich nicht viel, obwohl es auch hier großes Potenzial und viele Möglichkeiten zur Förderung des Radverkehrs gibt. Viele Radfahrende sind unzufrieden. Wir alle wollen, dass sich das ändert. Damit beim nächsten Fahrradklimatest das Gesamtergebnis endlich besser wird, müssen alle an einem Strang ziehen und jetzt gemeinsam in die Pedale treten.“ Der ADFC richtet einen Appell an die Kommunen, die Förderprogramme des Bundes zu nutzen, Schnellbaumethoden einzusetzen und die Bürger und Bürgerinnen partizipieren zu lassen. „Dass die Gesamtnote bei 3,96 liegt, ist noch nicht zufriedenstellend“, fasst Ann-Kathrin Schneider zusammen. Insgesamt sei die Umfrage aber ein Kontext, in dem die führenden Fahrradstädte Deutschlands auch gefeiert werden sollten. Die Umfrage ergab stellenweise auch vergleichsweise hohe Zufriedenheitswerte. Die Erreichbarkeit von Stadtzentren und die Öffnung von Einbahnstraßen für Radfahrende landeten bei 2,7. Die Möglichkeiten zum zügigen Radfahren wurden mit 3,1 bewertet. Die Umfrage des ADFC ist teilnahmeoffen, aber speziell an Radfahrende gerichtet. Sie ist aufgrund der hohen Teilnehmerinnenzahl zwar aussagekräftig, allerdings nicht repräsentativ für die Bevölkerung. Die Ergebnisse im Detail hat der ADFC online veröffentlicht.
https://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2023/06/fkt_2022_keyvisual_desktop_neg-scaled.jpg19202560Sebastian Gengenbachhttps://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2019/08/veloplan-340x156-300x138.pngSebastian Gengenbach2023-06-15 11:11:502023-09-26 11:41:36Fahrradklimatest zeigt viel Schatten und wenig Licht
Mit ihrem Projekt „Besitzbare und bespielbare Stadt“ will das nordrhein-westfälische Brühl die Lust am Zufußgehen wecken und vergrößert den Aktionsradius ihrer jüngeren und älteren Verkehrsteilnehmenden.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)
Für Menschen, die schlecht zu Fuß sind, ist die Liblarer Straße in Brühl eine echte Herausforderung. Hunderte von Schritten müssen sie auf der schnurgeraden Straße gehen, bis sie den Marktplatz erreichen oder die Tramhaltestelle im Zentrum. Cafés und Geschäfte fehlen entlang der Strecke, weshalb das Laufen vorbei an parkenden Autos und Häuserfronten schnell langweilig wird. Damit sich ältere Menschen, die in den Seitenstraßen oder den Senioreneinrichtungen leben, trotzdem zu Fuß auf den Weg machen, hat die Verwaltung in den vergangenen Jahren verschiedene Objekte zum Sitzen oder Anlehnen in der Liblarer Straße installiert. Mit diesen Pausenpunkten wollen sie den Aktionsradius ihrer älteren Stadtbewohner und -bewohnerinnen erhalten und ausdehnen. Rund 200 Objekte hat die Verwaltung im Stadtzentrum der 40.000- Einwohner-Stadt aufgestellt. Sie gehören zum Projekt „Besitzbare und bespielbare Stadt“ und sollen Senioren und Kinder animieren, ihre Wege selbstständig zu Fuß zurückzulegen. Während die Älteren Plätze zum kurzen Verweilen auf den Wegen brauchen, sind für Kinder vor allem Anreize notwendig, damit sie allein oder mit Freunden zur Schule gehen. Das Konzept für das Projekt und viele der Objektideen hat Bernhard Meyer entwickelt. Die erste „bespielbare Stadt“ realisierte der inzwischen emeritierte Professor für Sozialplanung, Gemeinwesenarbeit und Pädagogik bereits 1999 in Griesheim im Speckgürtel Darmstadts. Der Clou seiner Objekte ist, dass sie multifunktional nutzbar sind. Sie eignen sich sowohl zum Spielen als auch zum Sitzen. Meyer nennt das definitionsoffen. Der Klassiker eines solchen Objekts ist der Findling. Auf ihm können Kinder herumklettern oder herumlaufen, Erwachsene sich setzen oder anlehnen. Neu in Brühl ist der erweiterte Fokus auf die älteren Stadtbewohner und -bewohnerinnen. Beide Zielgruppen und ihre Interessenvertreter*innen haben in Workshops und Gesprächsrunden über die Vor- und Nachteile der Alltagswege diskutiert und Ideen entwickelt, die sie verschönern.
Die Stadt ist ein Ort der Begegnung. Das Projekt „Bespielbare und besitzbare Stadt“ macht Brühl für Kinder und Ältere attraktiv.
Kinder von Gefahren weglotsen
Die Dritt- und Viertklässler der Brühler Sankt-Franziskus-Grundschule waren an der Kartierung der Schulwege beteiligt. Im Rahmen des Workshops markierten sie an einem Tag mit Kreide ihren Heimweg. „Die Markierungen zeigten den Planern sehr detailliert, welche Wege die Kinder nutzen, wo sie die Straßen queren oder welche Seite des Gehwegs sie nutzen“, sagt Annegret Neumann, die vom Kinderschutzbund das Projekt begleitete. Auf diese Weise konnten die Planer*innen kritische Situationen identifizieren und entschärfen, wie die Ausfahrt einer Parkgarage. „Um Kinder vor den ein- und ausfahrenden Autos zu schützen, werden sie inzwischen mit den Spielobjekten frühzeitig auf den gegenüberliegenden Gehweg gelotst“, sagt Annegret Neumann. Dazu gehören Zahlen- oder Buchstabenraupen, die aufs Pflaster geklebt werden, bunte Hüpfekästchen oder Querbalken zum Balancieren. „Bei den verschiedenen Elementen hat sich die Stadt von den Empfehlungen der Kinder inspirieren lassen“, sagt Annegret Neumann. Die Objekte haben eine Doppelfunktion. Zum einen sollen sie dafür sorgen, dass die Kinder sich mehr bewegen und gern auf ihren Schul- und Freizeitwegen unterwegs sind. „Früher fanden die Kinder deutlich mehr Spielmöglichkeiten vor der Haustür oder auf dem Weg zur Schule als heute“, sagt Henning Korte, Abteilungsleiter ÖPNV, Mobilität und Verkehr in Brühl. Zum anderen sind die Installationen ein Signal an die Eltern, dass ihre Kinder auf diesen Wegen sicher zur Schule oder nachmittags zum Sport kommen. „Wir platzieren die Spielobjekte in Nebenstraßen und lotsen die Kinder auf diese Weise gezielt weg von den viel befahrenen Hauptverkehrsstraßen“, erklärt Korte.
„Die Kommunen beginnen den Fußverkehr zu fördern. Der Verbesserungsbedarf ist immens.“
Uta Bauer, Deutsches Institut für Urbanistik
Die bunten Fußspuren sind echte Hingucker. Stellenweise werden Rätsel- oder Spielobjekte mit Sitzgelegenheiten für Senioren kombiniert.
Tempo 30 für sichere Schulwege
Aus Sicht von Uta Bauer, Teamleiterin im Forschungsbereich Mobilität am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu), reichen die Spielobjekte jedoch allein nicht aus, um die Alltagsmobilität von Kindern zu verändern. „Die Mobilität von Kindern im Vorschulalter oder in den ersten Grundschulklassen ist eng mit den Mobilitätsmustern ihrer Eltern verknüpft“, sagt sie. Für viele von ihnen sei das Auto das Verkehrsmittel der Wahl, mit dem sie die meisten Wege zurücklegen. „Das ist ein internationaler Trend“, betont die Difu-Expertin. Weltweit brächten immer mehr Eltern ihre Kinder morgens mit dem Auto zur Schule oder nachmittags zu Freizeitveranstaltungen und holten sie auch anschließend wieder mit dem Auto ab. Gründe dafür seien einerseits die Bequemlichkeit der Erwachsenen, aber auch ihre Sorge um die Sicherheit ihrer Kleinen. „Sie trauen ihnen nicht zu, bei dem starken Autoverkehr ihre Wege allein zu bewältigen“, sagt sie. Wirkungsvoll gegensteuern könnten Kommunen mit der Anordnung von Tempo 30 und der Sperrung von Straßen für den Autoverkehr im Schulumfeld. „Diese Maßnahmen verbessern die Verkehrssicherheit in der Fläche und nicht nur auf bestimmten Routen“, sagt sie. „Im Idealfall werden aber beide Maßnahmen miteinander verknüpft.“ In Brühl wird das vielerorts bereits umgesetzt. Tempo 30 ist im Zentrum an vielen Stellen mittlerweile die Regelgeschwindigkeit. Immer wieder müssen Autos sogar auf Schrittgeschwindigkeit abbremsen, weil Tempo 10 angeordnet ist.
„Eine Bank oder eine Sitzgruppe kann zum kommunalen Kino werden“
Henning Korte, Stadt Brühl
Alltagsmobilität von Seniorinnen fördern
Die Verwaltung hat den ersten Schritt gemacht und die multifunktionalen Objekte installiert. Jetzt muss sich zeigen, ob die Idee aufgeht und sich nicht nur die Situation für die Kinder verbessert, sondern sich auch der Aktionsradius der Seniorinnen erweitert – oder sie zumindest möglichst lange selbstständig mobil bleiben. „Wenn die Älteren auf dem Weg zum Markt oder in die Fußgängerzone ausreichend Plätze zum Verweilen finden, machen sie sich auf den Weg“, sagt Korte. Gibt es die nicht, lassen sich die Seniorinnen den Einkauf nach Hause bringen. Das Angebot halte Ältere länger mobil, sowohl körperlich als auch geistig. „Eine Bank oder eine Sitzgruppe kann zum Treffpunkt werden oder auch zum kommunalen Kino“, sagt Korte. Manche Seniorinnen beobachten gern allein das Treiben auf der Straße, andere kommen dort mit Passanten ins Gespräch. Ein Beispiel dafür sind die drei Sitzinseln auf dem Balthasar-Neumann-Platz zwischen Amtsgericht und Tramhaltestelle. Dort wurden 2018 drei große ellipsenförmige Sitz-inseln aus Holz aufgestellt, mit vereinzelten Rückenlehnen. Jetzt bietet jede von ihnen mehr als zwei Dutzend Menschen Platz zum Sitzen. Mittlerweile sind sie beliebte Treffpunkte besonders beim Wochenmarkt Dienstag, Donnerstag oder Samstag. Wer dann dort Platz nimmt, ist mitten im Geschehen. Neben den großzügigen Bänken wurden aber auch viele Bügel, Poller zum Sitzen oder Flächen zum Anlehnen auf wichtigen Fußwegen installiert. In der Liblarer Straße etwa im Nord-Süd-Weg entlang der Tramlinie. Außer den typischen Bänken und kleinen Hockern gibt es dort für die kurze Verschnaufpause hüfthohe leicht schräg gestellte Sitzflächen oder Bügel mit einem handbreiten Sitzbrett. Der Bügel soll den Sitzenden das Aufstehen erleichtern. Radfahrende verwechseln sie manchmal mit einem Fahrradständer und schließen ihr Rad dort an. Nicht so die Zielgruppe. Die Senior*innen erkennen schnell die Vorteile der neuen Objekte. Außerdem haben viele von ihnen über die Standorte der verschiedenen Ruhe- und Bewegungsangebote mitentschieden.
Stadt mit Charme: Die vielen Gelegenheiten zum Verweilen und Bewegen machen Brühl für die Anwohner lebenswert.
Mittlerweile gibt es viele Gelegenheiten für eine kurze Pause im Zentrum. Oft reicht ein Bügel oder ein Brett zum Anlehnen, damit Ältere ihre Wege zu Fuß erledigen.
Mobilitätsbedürfnisse im Wandel
Trotz der großen Beteiligung gibt es aber auch immer wieder Kritik aus der Bevölkerung. Manche Anwohn-erinnen lehnen den Aufbau eines Objekts vor ihrer Haustür ab, andere zweifeln an der Notwendigkeit. Der Ideengeber des Projekts, Bernhard Meyer, kennt das aus seiner Heimatstadt Griesheim. Dort unterhält er sich regelmäßig auch mit den Kritikerinnen. „Ein älteres Ehepaar fand die Sitz- und Spielobjekte in der Stadt lange Zeit überflüssig“, sagt er. Das änderte sich, als der Mann starb. Mit seinem Tod änderten sich die Gewohnheiten und damit auch das Mobilitätsmuster seiner Witwe. „Sie geht nun regelmäßig zum Friedhof und nutzt auf dem Weg einen Querbalken für eine kurze Pause“, sagt Meyer. Kürzlich erklärte sie ihm, dass ihr eine Sitzgelegenheit in Grabnähe fehle. Für Meyer ist das ein wichtiges Signal. „Es zeigt, dass sich die Bedürfnisse der Menschen stetig ändern“, sagt er. Das gilt für Seniorinnen ebenso wie für Kinder und auch für die Stadt. Neubaugebiete altern mit ihren Bewohnerinnen, gleichzeitig entstehen neue Wohngebiete oder neue Wohn- oder Begegnungsstätten für Seniorinnen. Deshalb sollte aus seiner Sicht das Projekt besitzbare und bespielbare Stadt rund alle vier Jahre aktualisiert werden. Das kostet Zeit und Geld. „Die Umsetzung ist sehr arbeitsintensiv“, sagt Korte. Für jedes Objekt muss vor Ort geprüft werden, ob der Gehweg breit genug ist, ein Fallschutz eingerichtet werden sollte oder ob sich der Standort auf Privatbesitz befindet. Aus seiner Sicht hat sich der Aufwand aber dennoch gelohnt. „Die Rückmeldungen sind gut und die Nachfrage ist groß“, sagt Korte. Weitere Schulen fragten bereits an, wann das Konzept in ihren Ortsteilen ausgerollt werde. Die ersten Vorbereitungen dafür laufen bereits. In kleineren Kommunen wie Brühl und Griesheim hat das Projekt laut Uta Bauer durchaus Potenzial, von den Stadtbewohnerinnen gut angenommen zu werden. In größeren Kommunen fehlt aus ihrer Sicht oft der Platz, um ein Spiel- oder Sitzobjekt auf dem Fußweg unterzubringen. Innovativ und entscheidend ist für sie der Fokus der Brühler Verwaltung auf den Fußverkehr. „Zu Fuß gehen ist Basismobilität“, sagt sie. In vielen Städten liege der Anteil des Fußverkehrs deutlich über dem des Radverkehrs. Aber lange wurden die Fußwege vernachlässigt. Das führt dazu, dass sie vielerorts langweilig oder unattraktiv sind, weil Zufußgehende umgeben sind von Autolärm und schlechten Gerüchen. Sie sagt: „Das Umdenken in den Kommunen hat begonnen. Die Kommunen beginnen den Fußverkehr zu fördern. Der Verbesserungsbedarf ist immens.“
https://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2023/06/Besitzbare-Bespielbare-Stadt-sitzen5.jpg17722362Andrea Reidlhttps://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2019/08/veloplan-340x156-300x138.pngAndrea Reidl2023-06-15 11:11:072023-09-26 11:42:38Schluss mit der Langeweile
Heute oder morgen können sie geschehen: Die Akkuforschung veröffentlicht seit Jahr und Tag immer wieder neue Erfolgsmeldungen. Einige davon könnten noch für die E-Bike-Welt relevant werden. Die Frage ist wie immer, wann das der Fall sein könnte. Ein Überblick.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)
Über die Jahre hat man sich daran gewöhnt, dass die berichteten vermeintlichen Durchbrüche und spektakulären Leistungsdaten allzu oft vor allem geschicktes Marketing sind. Unterhalb des Sensationellen geschehen dennoch bemerkenswerte Entwicklungen, die das Zeug haben, schon bald spürbare Veränderungen zu bewirken.
Natrium-Batterien
Ein heißes Thema, das in jüngster Zeit durch die Fach- und sonstige Presse ging, sind die Fortschritte bei Natrium-Batterien. Die Situation im Moment ist nach wie vor so, dass sie weder die Energiedichte noch die gleiche Zahl an Ladezyklen der eta-blierten Lithium-Ionen-Akkus erreichen. Ihre Haltbarkeit ist also geringer und dabei sind sie auch noch größer und schwerer. Warum also diese Begeisterung? Das sind die anderen Eigenschaften, mit denen Natrium-Batterien punkten: Zum einen lädt dieser Akkutypus enorm schnell, schneller als es mit Li-Ion-Technik möglich ist, sie sind kaum kälteempfindlich, nicht brennbar und vor allem ist es der denkbare Preis dieser Technik, der die Fantasie des Marktes anregt. Natrium ist ein überall verfügbares, enorm günstiges Element, das dementsprechend zu minimalen Kosten zu haben ist. Zumindest bei entsprechenden Fertigungszahlen würden also die Preise schnell sinken. Gesprochen wird von der Hälfte des Preises von Li-Ion-Akkus und im Automobilbereich von Fahrzeugpreisen, die deutlich unter denen von Verbrennern lägen. Zudem brauchen diese Akkus dann keine seltenen Erden oder andere kostbare Metalle, deren Abbau die Umwelt belastet und auch zu politischen Abhängigkeiten führt. „Unter den aktuellen globalen Gesichtspunkten können wir uns die Abhängigkeit von Nickel und Kobalt nicht mehr leisten. Dies führt zu starken Änderungen in den strategischen Ausrichtungen der jeweiligen Hersteller und damit zu einer stark beschleunigten Entwicklung in unserem Bereich“, verdeutlicht etwa Matthias Behlke, Geschäftsführer des E-Bike-Ausrüsters AES Akku Energie Systeme. Sollte diese Technologie in absehbarer Zeit in größeren Stückzahlen verfügbar werden, dann würde das ziemlich sicher auch in der Fahrradwirtschaft Folgen haben. Zu denken ist an das Einstiegssegment im E-Bike-Markt, in dem plötzlich ganz andere Preispunkte erreichbar sind. Nun hat man vollmundige Versprechungen aus der Akku-Entwicklung schon ein paar Mal gehört, sodass Marktbeobachter*innen in der Regel bei solchen vermeintlichen Technologiesprüngen nicht mehr so schnell in Verzückung geraten. In diesem Fall könnte das mit der Serienreife mehr oder weniger weit weg sein: In China wurde ein neues Elektroauto namens Sehol E10X vorgestellt, das vor allem dadurch auffällt, dass es eben der erste Pkw mit einer Natrium-Ionen-Batterie ist. Diese soll also innerhalb von 15 Minuten auf 80 Prozent geladen werden können und auch bei minus 10 Grad Celsius noch 90 Prozent ihrer Energie zur Verfügung stellen. Noch ist der Wagen aber in der Erprobung, andere Hersteller wollen schon im zweiten Quartal 2023 nachziehen und ähnliche Akkus und Autos herstellen. Andere Quellen erwarten aber erst ab 2026 massenverfügbare Produkte. Autohersteller JAC stattete den Kleinwagen Sehol mit Natrium-Eisen-Mangan-Kupfer-Kathoden aus, der gesamte Akkupack verspricht laut den bisher bekannten Angaben eine Energiedichte von 140 Wattstunden pro Kilogramm, was noch recht weit weg ist von den hochwertigen Li-Ion-Akkus, die inzwischen nochmals deutlich darüber liegen. Allerdings liegen mit diesen Werten Lithium-Eisenphosphat-Akkus gar nicht mehr so weit über denen der Natrium-Pendants. Aber auch deren Entwicklung geht rasch voran.
„Für die ,Mikromobilität‘ wird es tatsächlich starke Veränderungen innerhalb der nächsten 12 bis 18 Monate geben.“
Matthias Behlke,
AES, Akku Energie Systeme
Lithium-Eisenphosphat-Akkus
Statt in mehr oder weniger ferner Zukunft sind Lithium-Eisenphosphat-Akkus heute schon verfügbar und gewinnen schnell an Marktanteilen, auch in der Fahrradwelt. Die Entwicklung bleibt nicht stehen, wie Batteriehersteller Matthias Behlke erklärt. „Natrium hat leider eine viel zu geringe Energiedichte. Im Moment sind die stärksten Zellen bei unter 100 Wattstunden pro Kilogramm (Wh/kg). Dies wird sich leider auch nicht zeitnah wesentlich verbessern.“ Dennoch sieht er gravierende Veränderungen an der Akkufront auf die Fahrradbranche zukommen: „Zum Thema Zukunft der Zellchemie für die ,Mikromobilitätʹ wird es tatsächlich starke Veränderungen innerhalb der nächsten 12 bis 18 Monate geben. Hier hat sich und wird sich vieles stark verändern.“ Noch vor zehn Jahren lag die Energiedichte von Lithium-Eisenphosphat-Akkus dort, wo heute Natriumzellen sind, bei 90 bis 100 Wh/kg. „Wir sind aktuell bei 150 bis 180 Wh/kg was ein enormer Fortschritt zu vor zehn Jahren ist.“ Doch das ist noch nicht die spektakuläre Nachricht: „Mit dem Verlauf dieses Jahres werden wir Energiedichten von 200 bis 220 Wh/kg erreichen“, erklärt Behlke. Damit macht diese Zellkategorie einen großen Sprung, der sich unmittelbar in der Praxis niederschlagen wird. „Dies bedeutet zum Beispiel, dass unser SuperPack und PowerPack plus dann von 1,44 kWh auf ca. 2 kWh springen werden. Dies erreichen wir überwiegend durch die Integration von sogenannten Nanotubes und die Beimengung von Mangan (LiFeMnPo4).“
Lithium-Ionen-Akkus
Bei all den rasanten Entwicklungen bleiben die aktuellen Lithium-Ionen-Akkus natürlich der Gradmesser der Technik, denn auch hier steht das Rad nicht still. „Wir sind dabei, Zellen mit ca. 10 Prozent höherer Energiedichte in den Markt zu bringen. Bei einer 21700er-Zelle (TerraE 55E) springen wir von 5 auf 5,5 Amperestunden, um im gleichen Bauraum mehr Reichweite zu ermöglichen“, erklärt Ale-xander Dautfest, der bei Akkuspezialist BMZ den Bereich Innovation & Research verantwortet.
Feststoffbatterien
Sie werden als „heiliger Gral der Batterieforschung“ bezeichnet, als Game changer, die Zukunft der Elektromobilität, als Innovationschance der hiesigen Industrie und noch vieles mehr. Es geht um Feststoffbatterien, denen immer wieder Wundereigenschaften zugesprochen werden und die damit das Feld der E-Mobilität aufrollen könnten. Das Problem? Wie allen Wunderdingen gemeinsam ist, existieren diese noch nicht wirklich beziehungsweise können nur in mehr oder weniger experimentellen Kleinserien gebaut werden. Auch wenn oft so getan wird, als habe man ein fertiges Produkt, das nun in industriellem Maßstab produziert werden könne, ist das bisher nicht wirklich der Fall. Am nächsten dran schien Quantum-scape zu sein, die bisher ankündigen, ab 2024 diesen Akkutyp in großen Stückzahlen produzieren zu können. Allerdings ist das gleiche Unternehmen vor zwei Jahren zur Zielscheibe eines Shortsellers geworden, der behauptete, dass die Technologie nicht funktioniere. Diese Behauptung steht immer noch im Raum, während inzwischen auch andere Unternehmen eine Produktion für 2024 ankündigen. Der Unterschied zu den bestehenden Lithium-Ionen-Batterien (LIB) besteht darin, dass es keinen flüssigen, brennbaren Elektrolyten mehr im Akku gibt. Sie sind damit schon prinzipiell sicherer und sollten höhere Energiedichten ermöglichen. Allerdings geben die Experten inzwischen zu bedenken, dass jedes Jahr auch die heute genutzten Li-Ion-Akkus immer besser werden. Es ist nicht klar, ob die Vorteile am Ende so groß ausfallen werden, dass Feststoffakkus die aktuellen Produkte wirklich ausstechen können.
Leistungsstarke Akkupacks finden heute vielfältige Einsatzmöglichkeiten. Im gewerblichen Einsatz kommen die größten Energiespeicher zum Einsatz.
Superkondensatoren
Eine ebenfalls aktuell sehr gehypte Technologie sind Superkondensatoren, ein Technologiefeld, auf dem Elon Musk persönlich einst eine Doktorarbeit begann, bevor er sich dazu entschied, Unternehmer zu werden. Kondensatoren sind aus dem Feld der Elektronik schon lange bekannt. Dort wirken sie beispielsweise gegen Spannungsänderungen, und als Speicher für elektrische Ladung sind sie im Kern eine Form von Batterie. Das „Super“ vor dem Namen verdienen sie sich, wenn sie besonders große Ladungsmengen besonders schnell aufnehmen können, also ihre Batteriefunktion betonen oder wenn im praktischen Einsatz besonders oft Schaltvorgänge vorkommen. Bisher kannte man die Technik am ehesten aus der Formel 1, inzwischen findet ein neuer Anlauf statt, Superkondensatoren in Alltagsprodukten einzusetzen, allen voran im Auto, aber in Zukunft auch am Fahrrad. Das Ziel der aktuellen Entwicklungen ist es, diese Kondensatoren mit aktueller Akkutechnik zu verbinden. Im Ergebnis könnten dann auch Mikromobilitätsprodukte aller Art von dieser Art von Rekuperation profitieren. Ein schöner Nebeneffekt ist, dass die Akkuzellen in der Nutzung weniger strapaziert werden und höhere Zyklenzahlen erreichen könnten. Wann diese Technik dann tatsächlich in der Breite verfügbar sein wird, steht aber einmal mehr in den Sternen. Ganz große Sprünge durch neue Zellchemien sind weiter weg, wie Ali Şahin, Teamleiter in der Gruppe Innovation & Research Projects bei BMZ erklärt: „Neue Zellchemien wie Lithium-Schwefel oder Lithium-Luft mit sehr hohen Energiedichten im Vergleich zu Lithium-Ionen-Zellen befinden sich aktuell in der Grundlagenforschung. Diese Zellchemien müssen dann im nächsten Schritt noch in großem Maßstab industrialisiert werden, sodass sie kommerziell mit den Lithium-Ionen-Zellen konkurrieren können. Natrium-Ionen-Zellen werden aufgrund ihrer niedrigeren Energiedichte im Vergleich zu Lithium-Ionen-Zellen ihre Anwendung eher im stationären Bereich finden.“
Batteriesicherheit
So wie die Reichweitenangst ist auch die Angst vor einem brennenden Akku eher ein psychologisches Pro-blem, als dass die Daten hier eine erhöhte Gefahr hergeben. Bekanntermaßen brennen zumindest am Pkw die Verbrenner deutlich häufiger als Elektrofahrzeuge, allerdings schaffen es nur Letztere regelmäßig in die regionalen und überregionalen Medien. Bei Fahrrädern ist die Situation allerdings anders, denn Fahrräder ohne Antrieb kommen bisher nicht im Entferntesten als Brandquelle in Betracht. Mit einem E-Bike hat man nun eine zusätzliche Gefahrenquelle im Haus, sei sie auch noch so gering. Nicht zuletzt deswegen steht an dieser Front die Entwicklung nicht still. So wird schon seit geraumer Zeit daran gearbeitet, das „thermische Durchgehen“, also die schließlich unkontrollierbare Erhitzung des Akkus, die am Ende zum Brand führt, in den Griff zu bekommen. Zellhersteller Farasis hat hier eine Lösung vorgestellt, die einen solchen Worst Case auf eine einzelne Zelle begrenzt. Im Falle einer Beschädigung oder eines Defekts soll künftig also nur ein kleiner Teil des Akkupacks „abrauchen“, während die umgebenden Zellen ausreichend Kühlung erhalten, um ein Durchgehen abzuwenden. Solche Lösungen werden, sobald sie verfügbar sind, sicher auch ihren Weg ans Fahrrad finden. Überhaupt ist die reine Zelltechnologie nicht allein ausschlaggebend. Bevor ein Akkupack fertig ist, müssen noch viele andere Fragen beantwortet werden. Dazu gehört auch die nach der verwendeten Systemspannung. „Auf Produktebene sehen wir einen Trend zu 48-Volt-Technik. Dies ermöglicht es, in Kombination mit höherer Energiedichte der Zellen auch stärkere Anwendungen zu realisieren, wie zum Beispiel Lastenräder mit BMZ-Rs-Motor und BMZ-V10-13S-Akku“, erklärt BMZ-Entwickler Dautfest anschaulich. Die Wunder, sie bleiben also selten; wenn man aber betrachtet, wo die Akkutechnik noch vor zehn oder zwanzig Jahren stand, dann ist die Entwicklung schon unglaublich. Würde man von dem Jahr 2000 aus in die heute Gegenwart schauen, dann würde sich vielleicht doch das Gefühl des Wunders einstellen. Wunder brauchen manchmal eben etwas länger.
https://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2023/06/AdobeStock_505504669-scaled-e1686730831494.jpg10362560Daniel Hrkachttps://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2019/08/veloplan-340x156-300x138.pngDaniel Hrkac2023-06-15 11:11:072023-09-26 11:43:01Akkuwunder gibt es immer wieder
„Batteriezellen für leichte Verkehrsmittel müssen von unabhängigen Wirtschaftsakteuren entfernt und ausgetauscht werden können.“ Dieser Satz im Entwurf zu einer neuen EU-Verordnung versetzt gegenwärtig die Fahrradbranche in Alarmstimmung. „Aus unserer Sicht widerspricht das dem aktuellen Stand der Sicherheitstechnik“, sagt Tim Salatzki, Leiter Technik und Normung beim Zweirad-Industrie-Verband (ZIV).(erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)
Bereits seit 2020 arbeiten EU-Kommission und -Parlament an einer Novelle der Richtlinie 2006/66/EC, die künftig als Batterieverordnung mit dem Aktenzeichen 2020/0353/COD unter anderem die Wiederverwertbarkeit und den ökologischen Fußabdruck von Energiespeichern in der EU regulieren soll. Eine wesentliche Neuerung ist dabei neben technischen Details die Umwidmung von einer Richtlinie zu einer Verordnung. Während die EU-Mitgliedsstaaten bei einer Richtlinie, im Fachjargon auch Direktive genannt, noch gewisse Freiheiten bei der Umsetzung in nationales Recht besitzen, ist eine Verordnung ab dem Moment ihrer Veröffentlichung in der gesamten EU rechtlich bindend. Nicht nur deshalb schauen gegenwärtig insbesondere die Marktteilnehmer der Fahrradindustrie auf die bislang in einem Entwurf enthaltenen Änderungen, denn neben den Kategorien Industriebatterien (unter die bisher auch E-Bike-Batterien fielen) und Gerätebatterien will die EU-Kommission eine neue zusätzliche Kategorie für E-Bikes und E-Scooter einführen, sogenannte LMT-Batterien (LMT: Light Means of Transport). Bis Ende letzten Jahres befand sich die Verordnung im sogenannten Trilog von EU-Kommission und -Parlament sowie dem Rat der Europäischen Union. Noch im Juni soll die neue Verordnung von Rat und Parlament nun final bestätigt werden, bereits einen Monat später könnte sie in Kraft treten. Nach aktuellem Stand enthält die Verordnung für LMT-Batterien unter anderem einen Passus, demzufolge künftig die einzelnen Akkuzellen eines E-Bike-Akkupacks von „unabhängigen Wirtschaftsakteuren“, also somit nicht nur von deren Herstellern, entnehmbar und austauschbar sein müssen. Für Tim Salatzki vom Zweirad-Industrie-Verband wäre diese Änderung der geltenden Rechtslage nicht nur mit den Regelungen der Vereinten Nationen für Gefahrgut unvereinbar, sondern schlicht auch technisch unsinnig: „Die Akkuzellen in einer E-Bike-Batterie sind üblicherweise wassergeschützt eingebaut und fest miteinander verbunden. Damit wird die nötige Standfestigkeit und somit Sicherheit im E-Bike-Betrieb gewährleistet. Diese Verbindungen lassen sich nicht so einfach lösen, ohne den Akkupack zu beschädigen. Darüber hinaus gibt es bei den E-Bike-Batterien praktisch kein Einzelversagen von Akkuzellen, sodass die Austauschbarkeit einzelner Zellen schon deswegen keinen Sinn machen würde“, erklärt der Technikexperte des Branchenverbands. „Das ist eine Lösung für ein Problem, das nicht existiert.“
„Das ist eine Lösung für ein Problem, das nicht existiert.“
Tim Salatzki, Zweirad-Industrie-Verband
Sammelquote bildet den Markt nicht ab
Ein weiterer Punkt, der in der Fahrradindustrie für einiges Kopfzerbrechen sorgt, sind die neu formulierten Anforderungen an die Sammelquote von E-Bike-Batterien an deren Lebensende, um diese dem Recycling zuzuführen. „Was das einheitliche Rücknahmesystem für Batterien angeht, da waren wir als Fahrradbranche bisher schon führend. Aber die neue, von der EU geplante Berechnungsmethode für die Sammelquote kann schlicht nicht funktionieren“, sagt ZIV-Mann Salatzki. Auch wenn noch nicht alle Details im Entwurf der Verordnung ausgestaltet seien, wäre absehbar, dass die EU in einer ersten Stufe erreichen will, dass eine Quote von 51% der durchschnittlich in den letzten drei Jahren in Verkehr gebrachten E-Bike-Batterien verbindlich wieder dem Recycling zugeführt werden müssen. Ab 2029 soll die Quote dann auf 61 % steigen. „Eine E-Bike-Batterie hat typischerweise eine Lebensdauer von sieben bis zehn Jahren, bei guter Pflege auch deutlich länger“, erklärt Salatzki. Eingedenk der starken Zuwächse im Absatz der letzten Jahre sei die von der EU geforderte Quote rein rechnerisch nicht umsetzbar, denn die allermeisten der im Markt befindlichen Batterien werden erst in der kommenden Dekade für das Recycling zur Verfügung stehen. Einige weitere Inhalte der neuen Verordnung sind aus Sicht der Fahrradindustrie zwar mitunter anspruchsvoll in der Umsetzung, aber technisch machbar und aus Gründen der Nachhaltigkeit auch sinnvoll. So sollen beispielsweise künftig Quoten festgelegt werden, wie viel recyceltes Material, also zum Beispiel wiedergewonnenes Nickel oder Lithium, in neuen Zellen enthalten sein muss. Auch die CO2-Bilanz einer E-Bike-Batterie soll für die Verbraucherinnen künftig transparenter dargestellt werden. Denkbar sei eine verbindliche entsprechende Kennzeichnung mit einem QR-Code, hinter dem sich dann weitergehende Verbraucherinformationen zu den Eigenschaften und Inhaltsstoffen der jeweiligen Batterie verbergen. Die genaue Ausgestaltung der entsprechenden Regelungen sollen der Verordnung in den kommenden 12 bis 18 Monaten noch nachgeschoben werden. Ein weiterer Punkt, der im Fahrradsegment bisher zwar schon marktüblich ist, aber noch nicht verbindlich geregelt wurde, ist eine Ersatzteilverfügbarkeit für E-Bike-Batterien von mindestens fünf Jahren nach dem Inverkehrbringen der letzten Einheit eines Bautyps. Unterdessen laufen hinter den Kulissen nicht nur beim ZIV einige Anstrengungen, um die (bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch) offenbar unlösbaren Bestandteile der neuen Verordnung an die Realitäten von Technik und Markt anzupassen. Bei der jüngsten Mitgliederversammlung des ZIV am 21. April in Berlin sagte jedenfalls auch die Radverkehrsbeauftragte im Bundesministerium für Digitales und Verkehr Karola Lambeck den anwesenden Branchenvertreterinnen ihre Unterstützung zu, die aus ihrer Sicht nicht umsetzbaren Punkte der neuen Verordnung noch zu ändern.
Auszüge aus dem Entwurf
der neuen EU-Batterieverordnung:
„Batterien, die für die Traktion in leichten Verkehrsmitteln wie E-Bikes und E-Scooter verwendet werden, (…) haben aufgrund ihres zunehmenden Einsatzes in der nachhaltigen urbanen Mobilität einen erheblichen Marktanteil. Es ist daher angemessen, diese Batterien (…) als neue Kategorie von Batterien einzustufen, nämlich als Batterien für leichte Verkehrsmittel.“
„Bis zum 1. Januar 2024 müssen in Geräte eingebaute Gerätebatterien und Batterien für leichte Verkehrsmittel so konstruiert sein, dass sie mit einfachem und allgemein verfügbarem Werkzeug leicht und sicher entfernt und ausgetauscht werden können, ohne das Gerät oder die Batterien zu beschädigen. Gerätebatterien müssen vom Endnutzer entfernt und ausgetauscht werden können, und Batterien für leichte Verkehrsmittel müssen während der Lebensdauer des Geräts, spätestens aber am Ende der Lebensdauer des Geräts vom Endnutzer oder unabhängigen Wirtschaftsakteuren entfernt und ausgetauscht werden können, wenn die Lebensdauer der Batterien kürzer ist als die des Geräts. Batteriezellen für leichte Verkehrsmittel müssen von unabhängigen Wirtschaftsakteuren entfernt und ausgetauscht werden können.“
„Gerätebatterien und Batterien für leichte Verkehrsmittel müssen mindestens zehn Jahre lang nach dem Inverkehrbringen der letzten Einheit des Modells zu einem angemessenen und nichtdiskriminierenden Preis für unabhängige Wirtschaftsakteure und Endnutzer als Ersatzteile für die von ihnen betriebenen Ausrüstungen erhältlich sein.“ Anm. der Redaktion: Laut ZIV wurde diese Frist auf fünf Jahre geändert.
„Die Hersteller bzw. die in ihrem Namen handelnden Organisationen (…) müssen mindestens die folgenden Sammelziele für Batterien für leichte Verkehrsmittel erreichen und jährlich erfüllen, die als Prozentsatz der Mengen an Batterien für leichte Verkehrsmittel errechnet werden, die von dem betreffenden Hersteller oder kollektiv von den durch eine Organisation zur Herstellerverantwortung vertretenen Herstellern erstmals in einem Mitgliedstaat auf dem Markt bereitgestellt wurden: 75 % bis 31. Dezember 2025; 85 % bis 31. Dezember 2030.“ Anm. der Redaktion: Laut ZIV wurden diese Quoten zwischenzeitlich auf 51 % bis 2028 bzw. 61 % bis 2031 angepasst.
Die Leitmesse der Fahrradbranche ist an ihrem neuen Standort Frankfurt angekommen. Das lässt sich mit Blick auf die erwartete Ausstellerzahl der Eurobike (21. bis 25. Juni 2023) wohl durchaus im Brustton der Überzeugung sagen. Knapp 2000 Aussteller, 400 mehr als im Vorjahr, sind in diesem Jahr dabei. Doch neben vielen Neuheiten bei Produkten und Dienstleistungen ist die Leitmesse der Fahrradbranche auch der Ort, an dem die (Fahrrad-)Mobilität der Zukunft diskutiert wird. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)
„Trotz eines für viele Akteure herausfordernden Makro-Umfeldes ist die Perspektive intakt. Bei den gesellschaftlichen Megatrends Klima, Gesundheit und Energie sind Fahrrad, Pedelec und Light Electric Vehicles (LEV) ein nicht mehr wegzudenkender Baustein für die Verkehrswende und damit nichts weniger als die Zukunft. Das Hersteller-, Marken- und Produktangebot der Eurobike 2023 ist in seiner Vielfalt, Innovationskraft und Internationalität einzigartig. Unsere Vision, Mobilität vom Fahrrad und LEV aus neu zu denken, startet voll durch“, sagt Eurobike-Geschäftsführer Stefan Reisinger im Vorfeld der diesjährigen Messe. Der Nationale Radverkehrskongress, der nahezu zeitgleich am 20. und 21. Juni 2023 im Kongresshaus (Kap Europa) der Messe in Frankfurt stattfindet, bringt die kommunalen Entscheider mit der Fahrradbranche zusammen und in den Austausch über die Mobilitätslösungen der Zukunft. Diskussionen rund um eine bessere Infrastruktur werden mit praktischen Beispielen in den verschiedenen Ausstellungsbereichen kombiniert. Gleichzeitig erweitern viele Anbieter aus den Bereichen Dienstleistung und Service ihren Eurobike-Auftritt. Für die Fahrrad- und Leicht-Elektro-Mobilitäts-Welt zusätzlich positiv: Nach dem Fall der coronabedingten Reisebeschränkungen ist ein großer Zuspruch aus Fernost zu spüren und das befeuert die globale Leitmesse weiter. Die wachsende Ausstellerzahl bedingt ein weiteres Flächenwachstum in der bewährten Hallenkonstellation im Westkomplex des Frankfurter Messegeländes. Ganz neu ist die Hallenebene 9.2, hier findet die Supplier Area ihren Platz. Dieser Bereich wird nur an den ersten drei Messetagen (21. bis 23. Juni) genutzt und ist speziell den Zulieferern und Komponentenherstellern vorbehalten. Hintergrund ist eine Verbesserung des B2B-Austausches fernab des restlichen Messeprogramms. Besonders viel Input zu Mobiltitäts-Trends verspricht zudem Future Mobility Halle 8 mit Start-ups & Innovationen, LEVs, Infrastruktur, Cargo-Area sowie Sharing- und Dienstleistungsangeboten. Die Eurobike ist von Mittwoch, 21. bis Sonntag, 25. Juni 2023 jeweils von 9 bis 18 Uhr geöffnet. Die ersten drei Messetage sind den Fachbesuchern vorbehalten, an den Festival Days Samstag und Sonntag ist die Messe dann für alle Fahrradinteressierten geöffnet.
Das Rahmenprogramm der Eurobike ist ebenfalls prall gefüllt.
Seit seiner Premiere vor 14 Jahren hat sich der Nationale Radverkehrskongress (NRVK) des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) zu einem der wichtigsten Termine für Experten rund um die Themen Radverkehr und Mobilität entwickelt. Im zeitlichen und räumlichen Umfeld der Eurobike startet der NRVK nun zu seiner achten Auflage. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)
Frankfurt ist in vielerlei Hinsicht ein passender Veranstaltungsort für die achte Auflage des Nationalen Radverkehrskongresses. Die Main-Metropole ist seit vergangenem Jahr Heimat der Branchenleitmesse Eurobike und nach Bremen die fahrradfreundlichste Stadt in Deutschland mit über 500.000 Einwohnern.
Der 8. Nationale Radverkehrskongress (NRVK) findet am 20. und 21. Juni 2023 im Kap Europa, dem Kongresshaus der Messe Frankfurt, statt. Auf Deutschlands größtem und wichtigstem Kongress für den Radverkehr treffen sich Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen und Ebenen der Planungspraxis, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft und diskutieren die Fragen rund um die Umsetzung des Radverkehrs. Ausgerichtet wird der Nationale Radverkehrskongress durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) und das Hessische Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen (HMWEVW) in Zusammenarbeit mit der Stadt Frankfurt am Main. Der im zweijährigen Turnus stattfindende Kongress wird nach der virtuellen Veranstaltung 2021 in diesem Jahr wieder physisch und erstmals im zeitlichen und räumlichen Umfeld der Eurobike abgehalten. Durch die Verknüpfung der zwei großen Fachveranstaltungen können unterschiedliche Sichtweisen ausgetauscht und gemeinsam neue Lösungswege für den Radverkehr gefunden werden. Das breit gefächerte Programm soll informieren, inspirieren und zum Austausch anregen. An den zwei Kongress-tagen werden die relevanten Themen, aktuelle Herausforderungen und Zukunftsideen für den Radverkehr diskutiert. Im Zentrum der Fachforen stehen der Nationale Radverkehrsplan 3.0 (NRVP 3.0) und seine Umsetzung. Das Programm orientiert sich an den vier Säulen des NRVP 3.0: Fahrrad & Politik, Fahrrad & Infrastruktur, Fahrrad & Mensch sowie Fahrrad & Wirtschaft. Austausch- und Netzwerkmöglichkeiten stehen im Vordergrund der Side Events. Mit einer Vielzahl von Exkursionen werden interessante Infrastruktur-, Kampagnen- und Projektbeispiele in Frankfurt, Darmstadt, Offenbach, Kelsterbach und im Kreis Groß-Gerau vorgestellt. In Zusammenarbeit mit der Eurobike werden Rundgänge zu Trendthemen der Fahrradwelt über die Messe angeboten. Ein weiterer Höhepunkt wird die festliche Verleihung des 23. Deutschen Fahrradpreises sein.
Im neuen Podcast-Format Radwissen destillieren zwei Expertinnen vom Radverkehrsunternehmen Fair Spaces die Erkenntnisse wissenschaftlicher Studien und Projekte. Das Ergebnis sind rund 45 Minuten lange verständliche und spannende Folgen voller Radverkehrsförderung für die Ohren.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)
Im Podcast Radwissen stellen Carolin Kruse und Elena Steinrücke aktuelle wissenschaftliche Studien und Forschungsprojekte aus dem Radverkehrskosmos vor. Der Podcast verfolgt das Ziel, deren Erkenntnisse leicht verständlich zu kommunizieren und damit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wichtige Akteure der Radverkehrsförderung können damit wichtige Informationen erhalten und die Projekte und Studien bekommen die angemessene öffentliche Wahrnehmung. Die porträtierten Projekte bringen Praxis und Wissenschaft zusammen. Der Podcast Radwissen ist ein Projekt des Unternehmens Fair Spaces und wird durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr aus Mitteln zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans (NRVP) gefördert. Pro Folge behandeln die Moderatorinnen und ihre Gäste eine bis vier Studien und diskutieren deren Ergebnisse mitunter kontrovers. Die Einstiege in die diversen Themen gestalten sie dabei durch spannende Fragen sehr kurzweilig. Die Hörerinnen lernen auch Konzepte hinter den Studien und Projekten kennen, die im Alltag hilfreich sein können. In der ersten Folge geht es um temporäre Maßnahmen. Im Kontext des Projekts „Autofreie Sommerstraße Barbarossa“ etwa bringen die Podcast-Macherinnen das Konzept der planetaren Gesundheit unter und erklären es einfach und nachvollziehbar. Drei Folgen Radwissen sind zum Zeitpunkt dieser Ausgabe bereits veröffentlicht worden. Alle drei bis vier Wochen soll eine nächste erscheinen. 20 Folgen soll die Wissensdatenbank zum Hören in Zukunft umfassen. Die verschiedenen Folgen ergeben eine Reise durch diverse Orte in Deutschland. Die zweite Folge mit dem Schwerpunkt Governance fokussiert das Projekt KoRa zu Umsetzungshemmnissen in der kommunalen Radverkehrsplanung und nimmt die Hörerinnen unter anderem mit nach Frankfurt am Main. Folge drei trägt den Titel „Alle mitdenken!“. Auch das vierte Thema steht bereits fest: Die kommende Folge dreht sich um Wirtschafts- und Lieferverkehr.
Elena Steinrücke hat Geografie studiert und arbeitet als Projektmitarbeiterin bei Fair Spaces unter anderem zu den Schwerpunkten urbaner Räume und nachhaltiger Mobilität.
Carolin Kruse ist Gründerin und Geschäftsführerin von Fair Spaces. Die Betriebswirtin und Verkehrswissenschaftlerin setzt ihren inhaltlichen Fokus auf die kommunale Mobilität sowie die Themen Beteiligung und Bildung.
Podcast Radwissen | Fair Spaces | zu hören bei Spotify, Apple Podcasts und AntennaPod | mehr Informationen unter fair-spaces.de/radwissen
Bewegungsräume im urbanen Umfeld werden immer wichtiger für unsere bewegungsarme Gesellschaft. Sie sind heute auch Wegbereiter für die Mobilitätswende, vor allem, was die Flächen für Kinder und Jugendliche betrifft. Ein Erfahrungsüberblick über Bedürfnisse, Chancen und Möglichkeiten.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)
Urbane Bewegungsräume werden oft unterschätzt oder missverstanden. Besonders Flächen, auf denen Kinder und Jugendliche sich in verschiedenen Sportarten austoben können, sind in vielerlei Hinsicht wichtig für die Gesellschaft und deren Gesundheit. Mittelbar sogar auch für die Mobilitätswende, wie noch zu sehen sein wird. Daher fordern Experten mehr solche urbanen Areas wie Skateparks oder Pumptracks oder die Kombinationen von möglichen Formen. Im September 2022 veranstaltete das Mountainbike-Tourismus-Forum zu diesem Thema ein digitales Fachpanel „Biken Urban“, um den Blick für die Zusammenhänge zu schärfen, ihre Chancen und Möglichkeiten auszuloten und Praxis-erfahrungen zu teilen. Dabei waren Vertreterinnen von Wissenschaft und Planungsbüros sowie Entschei-derinnen und Planer*innen aus Gemeindeämtern sowie der Chefredakteur von Veloplan, Markus Fritsch. Die eingebrachten Expertisen und Erfahrungen konnten wir als Grundlage für diesen Beitrag nutzen.
Ein Skateplatz ist ein niederschwelliges Bewegungsangebot. Kinder und Jugendliche müssen keinem Verein beitreten oder sich anmelden, um sich hier sportlich auszutoben.
Warum sind Pumptracks wichtig?
Für den Veranstalter Mountainbike-Tourismus-Forum war es naheliegend, sich mit Urban Biking zu beschäftigen. „78 Prozent der deutschen Bevölkerung leben in Städten. Menschen müssen sich aber wohnortnah erholen können, was diese Bewegungsräume ermöglichen. Auch soziale Aspekte sind aber nicht zu vernachlässigen. Pumptrack und Co. stellen für junge Menschen sozial gerechte Möglichkeiten dar, sich zu entwickeln, denn mit ihnen sind Kinder und Jugendliche von Vereinsstrukturen unabhängig“, erklärt Nico Graaff, Geschäftsführer des Forums. „Für uns ist es ein wichtiges Anliegen, zu zeigen, was diese Bewegungsräume können und wie die Kommunen sie realisieren können.“ Dass Bewegung an sich ein wesentlicher Grundpfeiler unseres Lebens und der Gesellschaft ist, ist unbestritten. Bewegung unterstützt die körperliche wie mentale Gesundheit und ermöglicht, wie schon vor Jahrzehnten bestätigt, auch schon in jungen Jahren erhöhte Lern- und Aufnahmefähigkeit. Ganz wesentlich ist aber auch, dass diese Bewegungsräume für junge Menschen soziale Fähigkeiten trainieren. Pumptracks, Skater- und Rollparks sind Orte, an denen Spaß gemeinsam erlebt wird, an denen aber auch Social Skills wie gegenseitiger Respekt und Rücksichtnahme praktisch erlernt werden. Und der Bezug zur Mobilitätswende? „Spaß am Fahrradfahren und Mobilitätswende sind verknüpft“, erklärt Markus Fritsch von Veloplan. „Wer als Kind oder Jugendlicher mit dem Rad aufwächst, wird auch als Erwachsener eher das Fahrrad nutzen.“ Dazu kommt: Heute bekämen Kinder das Radfahren als bedrohlich vermittelt. Wer jedoch durch den Fahrspaß auf dem Pumptrack oder anderen Rad-Parcours sein Fahrrad spielerisch beherrscht, der oder die lernt dadurch auch für die sichere und selbstbewusste Radbeherrschung auch im Straßenverkehr. Dass es nötig ist, Kinder nicht nur ans Radfahren zu führen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, dabeizubleiben, erklärt Ulrich Fillies, Gründer und Beiratsvorsitzender der Aktion Fahrrad, die sich um mehr Radfahr-Initiativen in den weiterführenden Schulen bemüht. Die Kinder machten in der Grundschule den Fahrradführerschein, „doch dann verschwindet das Fahrrad wieder aus dem Blickfeld“. Wie auch die Schulen das Fahrrad in den Unterricht implementieren können, ohne auf diese Areale zurückgreifen zu können, dafür hat er als Gründer der Aktion Fahrrad jede Menge Tipps für Lehrer. Der Verein hat die Schulmeisterschaften aufgebaut, aber auch Geschicklichkeitswettbewerbe lassen sich gut an Schulen organisieren. Und mit den Klimatouren regt Aktion Fahrrad zum Fahrradpendeln zur Schule an, bei dem Kilometer gesammelt und in CO2-Ersparnis umgerechnet werden.
Herausforderung Realisation
Doch warum ist es so schwer, Bewegungsräume zu planen und einzurichten? Oft sind die Bedürfnisse den Entscheiderinnen in den Gemeinden gar nicht bewusst, weiß Stephan Schlüter aus eigener Anschauung. Er ist Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr in Kempten. Schließlich haben die Youngster kaum eine Lobby, ganz im Gegensatz zu den Fußball- oder sonstigen Vereinen anderer Sportarten. Hier fehlt die Vertretung, und daher auch langjährige Erfahrung der Menschen in den Ämtern, die mit ihnen zu tun haben. Welcher Bedarf bei den jungen Menschen da ist, muss erst kommuniziert werden (s. Kasten), und dazu fehlen derzeit feste Strukturen. Umgekehrt helfen beispielsweise auch Rennradvereine nicht weiter, wenn es um Pumptracks geht. Auch in diesen Vereinen kennt man die Bedürfnisse der jungen Radfahrer und Radfahrerinnen nicht, die jenseits von schmalen Rennradreifen unterwegs sind und Radsport eher als spielerische Artistik erleben, wie auf dem BMX-Rad. Auch Jan Kähler, Leiter der Sportentwicklungsplanung und Bereichsleiter Sport der Landeshauptstadt Hannover meint, „die Bedürfnisse der einzelnen Gruppen sind bei den Gemeindeämtern unbekannt“. Sie wissen nicht, wie viele Menschen Rad fahren oder Radsport betreiben. Das Thema Bewegung zu platzieren, sei immer schwierig. Schlüter hat viel Erfahrung mit diesen Herausforderungen und fordert Entscheiderinnen und Planer*innen auf: „Bezieht die Menschen mit ein, macht Öffentlichkeitsarbeit, geht raus auf die Straße und lasst euch sagen, was die Leute wirklich brauchen.“ Noch ein Widerstand, wenn auch diesmal ein innerer, steht den Bewegungsräumen entgegen: Während den Sportvereinen meist eindeutige Entscheidungs- und Planungsabteilungen in den Gemeinden zugeordnet sind, sieht das bei genannten Projekten, die meist auch ungewohnt und fremd für die Administration sind, anders aus. Hier hilft „die gleiche Kaffeemaschine auf dem Flur“, so Schlüter: der vor allem in kleineren Behörden einfache, direkte Dienstweg und die aktive Vernetzung.
„Wir sollten nicht nur die Sportstätte promoten, sondern vor allem auch die Bewegungsflächen“
Stephan Schlüter, Stadt Kempten
Der Skatepark in Gersthofen wurde im Zuge der Sanierung einer existierenden Anlage als langlebige Ortbetonanlage errichtet. Statt aufgestellter Elemente werden Tables & Co. dabei mit dem Untergrund in Betonbauweise modelliert.
In Flächen-Konkurrenz zur Shopping-Mall
Schließlich ist da, vor allem in der Großstadt, auch die Flächenkonkurrenz. Ein Projekt, zu dem die Entscheider in den Ämtern wenig Bezug haben, hat es da grundsätzlich etwas schwerer, seine Fläche zur Verfügung zu bekommen. Denn womit man Erfahrung hat, das lässt sich gut einschätzen, man ist mit seinen gemachten Erfahrungen, etwa mit Turnhallen, auf der sicheren Seite. Auch hier zählt Aufklärungsarbeit in Sachen Pumptrack und Skatepark. Aber andererseits können diese Areale auch einfacher in vorhandene Strukturen eingefügt werden. Eine Möglichkeit ergibt sich, wie der Hannoveraner Kähler betont, gelegentlich in multifunktionaler Nutzung: die Schulhöfe nach Schulschluss öffentlich zugänglich machen und hier entsprechende Optionen zur Verfügung zu stellen. Doch grundsätzlich hängt auch die Wahrnehmung von solchen Möglichkeiten nach wie vor von einzelnen Personen in den Ämtern ab. Überhaupt, so weiß auch Veloplan-Herausgeber Markus Fritsch: Manche planen und handeln sehr schnell, andere brauchen Jahre für eine Realisation. „Man hat in unterschiedlichen Städten doch auch immer unterschiedliche Ausgangssituationen, das bemerken wir auch am Feedback, dass wir von den Lesern und Leserinnen zurückbekommen.“ Die Strukturen für Entscheidungen für ein Projekt sind nie dieselben – wie eben auch die Menschen, die an den entscheidenden Positionen sitzen.
Bedenken ausräumen
Bleibt eine konkrete Herausforderung, die es Bedenkenträger*innen oft leicht macht: die Kosten. Doch Zahlen helfen da weiter, sie zu überzeugen: Kai Siebdrath vom Bauunternehmen Schneestern, das viel Erfahrung mit der Planung und Realisation von Bewegungsräumen wie Skateparks hat, rechnet vor: „Der Durchschnitts-Pumptrack hat etwa 500 Quadratmeter reine Baufläche und kostet um die 200.000 Euro.“ Ein vergleichsweise niedriger Betrag, der Projektgegnern wenige Argumente geben dürfte. Aber auch jenseits vom Geld gibt es, nach Schneestern, überzeugende zielführende Argumente. Bei durchschnittlicher Nutzerzahl ergeben sich im Jahr unzählige Stunden, in denen die Kids nicht auf ein Handydisplay gucken und stattdessen beim Spiel Millionen von Kalorien verbrauchen, was ihrer Gesundheit zugutekommt. In größeren Städten könne man sogar mit dreimal so viel Nutzungsintensität rechnen wie in kleinen Gemeinden.
Ein Urban Sports Park, wie hier in Salem, ist ein vielseitiges Rollsportangebot für alle Altersgruppen.
Förderung derzeit einfach
Professor Robin Kähler ist Vorsitzender der IAKS (International Association for Sports and Leisure Facilities). Das ist ein internationaler Verband aus Unternehmen, Kommunen, Vereinen und Dienstleistern, die sich für Sportstätten und Bewegungsräume auf vielerlei Ebenen einsetzen. Kähler weiß: Momentan werden Sportstätten und Bewegungsräume sehr gut gefördert. Allerdings gibt es bei Letzteren mehr Erklärungsbedarf, weil, wie wir schon gesehen haben, Skateparks und Pumptracks bei den Entscheider*innen noch nicht so präsent sind. Dabei müsste Radfahren aber als Ganzes umfassender gefördert werden, fordert Kähler. Wichtig sei es, Institutionen wie den ADFC mit einzubinden. „Ein Netzwerk hilft da weiter“, sagt er. Ein wesentlicher Punkt in der deutschen Administration: Es gibt bislang keine einheitlichen Förderstrukturen für Skate-Anlagen, Dirtparks oder Pumptracks. Das muss aber nicht nur von Nachteil sein, meint Projektleiter Schlüter aus Kempten. „Sprecht immer mit den zuständigen Leuten“, erklärt er. Kommunikation mit den direkten Ansprechpartnern, auch jenseits der üblichen Instanzen, zählt besonders da, wo feste Förderungsstrukturen nicht vorhanden sind und Förderung davon abhängt, wie klar die Wichtigkeit des Projekts zu erkennen ist.
Städteplanung ist kein Wunschkonzert? Manchmal doch!
Wünsche können in Erfüllung gehen, auch was den städtischen Raum anbelangt: „Wir brauchen eine Jumpline für Kids!“ schrieben zwei Schulkinder in Kempten an den Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr, Stephan Schlüter. Gemeint ist dabei ein Mountainbike- oder BMX-Rad-Parcours mit Sprunghügel für Kinder. Schlüter wollte das Projekt ausführen, andere Stellen hatten Gründe dagegen. Der Oberbürgermeister der Stadt, selbst Lehrer und mit dem Bewegungsdefizit der Schülerinnen vertraut, wusste: Die jungen Menschen in Stadt brauchen einen solchen Park. Innerhalb weniger Monate wurde ein entsprechender Park mit Jumpline umgesetzt. „Das konnten wir“, erzählt der Projektleiter im Amt für Tiefbau und Verkehr, „weil wir visionär gearbeitet haben“. Soll heißen: Eine erste Planung für urbane Bike-Angebote lag im Tiefbauamt, dessen Ent-scheiderinnen einen entsprechenden Bedarf schon geahnt hatten, bereits in der Schublade und konnte den entsprechenden Gremien rasch vorgelegt werden. Dazu kommt: Schlüters Abteilung sitzt im Tiefbauamt Kempten. „Wir können vieles bereits auf dem kurzen Dienstweg klären.“
In Zukunft wird noch mehr gepumpt
„Grundsätzlich hat sich die Einstellung von Kommunen zu Anlagen wie Pumptracks und Rollsport-Flächen klar zum Positiven verändert“, erklärt Dirk Scheumann, Gründer und CEO des Unternehmens Schneestern, das Action Sports Parks plant und baut oder bei solchen Projekten unterstützt. Dass diese Bewegungsräume in den letzten Jahren einen Boom erfuhren, sieht er als logisch an, unabhängig von zeitweiligen Einflüssen wie der Corona-Pandemie. „Da sind auch ein paar technische Entwicklungen zusammengekommen“, sagt er und verweist beispielhaft auf den Scooter, mit dem die Kids ihre Tricks machen – ein Produkt, das so vielleicht zehn Jahre alt ist. Dazu kommen die verschiedensten Versionen des Fahrrads von BMX bis zum Dirt Bike. Scheumann glaubt, dass sich die positive Entwicklung zu mehr Flächen für die Jugendlichen und Kinder noch verstärken wird. Zum einen durch das wachsende allgemeine Verständnis, dass auch diese Bewegungsräume gebraucht werden, zum anderen, weil auch eine Weiterentwicklung dieser Flächen ansteht: „Heute treffen im Skatepark Biker oder Skater auf spielende Kinder“, erklärt er. „Da gibt es durchaus Konfliktpotenzial.“ Für eine breitere Nutzung müssen auch für die jüngeren Nutzerinnen bedarfsgerechtere Möglichkeiten geschaffen werden. Dazu will Schneestern schon bald ein neues Produkt vorstellen, das zusammen mit Wissenschaftlerinnen entwickelt wurde. Denn klar ist: Je jünger die Menschen sind, die den Spaß an der Bewegung erleben können, umso gesünder wird und bleibt unsere Gesellschaft. Und desto besser stehen die Chancen für ein Gelingen der Mobilitätswende.
Radfahren wird im politischen und gesellschaftlichen Kontext vor allem als verkehrstechnische Chance und Herausforderung behandelt. Das Potenzial des Fahrrads zur Eindämmung vieler Volkskrankheiten wird hingegen in der öffentlichen Diskussion seltener beachtet. Daran ist auch das Ressortdenken in Politik und Verwaltung mitschuldig. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)
Das von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlene Mindestmaß an Bewegung liegt bei 150 Minuten intensiver Bewegung bei gleichzeitig zweimaligem Krafttraining pro Woche. In Deutschland erreichen nur 20 % der erwachsenen Bevölkerung dieses Ziel im Alltag. Bei Kindern und Jugendlichen sieht es kaum besser aus. Schon vor der Covid-19-Pandemie bewegten sich zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen nicht genug. Seit 2020 hat sich die Situation noch verschärft: Im vergangenen Jahr stellten verschiedene Studien fest, dass sich die Hälfte der Kinder noch weniger bewegt als vor der Pandemie, 25 % essen mehr Süßigkeiten, jedes sechste Kind leidet unter Gewichtszunahme. Welche Konsequenzen die Bewegungsarmut der nachwachsenden Generationen für die Zukunft der Gesellschaft haben wird, ist in der Gesamtheit bisher kaum abzuschätzen. Aktuelle Studien zu den geschätzten Folgekosten oder zum volkswirtschaftlichen Nutzen von Sport und Bewegung im Allgemeinen gibt es kaum. Der „Global Status Report on Physical Activity“ der WHO von 2022 geht jedoch davon aus, dass in der aktuellen Dekade weltweit 500 Millionen Menschen unter Zivilisationskrankheiten leiden werden. Dabei geht die WHO von Folgekosten in Höhe von 27 Mrd. US-Dollar für die Behandlung unter anderem von Herz-Kreislauf-Leiden, Adipositas und Diabetes aus, welche hauptsächlich für die entwickelten Industrieländer anfallen werden. Wissenschaftler*innen mahnen schon seit Jahren, dass es eines Paradigmenwechsels hin zu mehr Bewegung bedarf.
Dienstrad-Leasing schafft nicht nur zusätzliche Anreize für Arbeitnehmer*innen, sondern zahlt positiv auch unmittelbar auf die Krankheitstage der Beschäftigen ein.
Politik und Bewegung
Verkehrspolitik sei bislang sehr technisch geprägt, sagt die Bundestagsabgeordnete Swantje Michaelsen. Die Grünen-Politikerin ist Co-Vorsitzende des Parlamentskreises Fahrrad im Bundestag und Mitglied des Verkehrsausschusses. Das Fahrrad als Querschnittsthema habe es schwer in einem von Ressortdenken geprägten System. Die engen festgelegten Zuständigkeiten erschweren eine ressortübergreifende Zusammenarbeit. Dies sehe sie auch im Gesundheitsbereich, in dem wiederum das Thema Alltagsmobilität zu kurz käme. Um in diesem politischen Koordinatensystem systemische Veränderungen zu initiieren, bedürfe es einer enormen Anstrengung. Auf Initiative einiger fahrradaffiner Gesundheitspolitiker*innen wird nun die nächste Sitzung des überparteilichen Parlamentskreises zu dem Thema „Fahrrad und Gesundheit“ ausgerichtet. Anzeichen für ein Umdenken also. Offenbar auch seitens des Bundesministers für Gesundheit – zugesagt hat auch Sabine Dittmar, parlamentarische Staatssekretärin des Ministers.
Die Sportwissenschaftlerin Susanne Tittlbach hat zusammen mit Kollegen ermittelt, dass ein per Rad zurückgelegter Arbeitsweg das Gesamtmortalitätsrisiko im Vergleich zum Gehen um mehr als das Doppelte reduziert.
Fahrradfahren als Beitrag zum Kampf gegen Bewegungsarmut
In einem demnächst erscheinenden Artikel haben sich die wissenschaftler*innen Professorin Susanne Tittlbach, Dr. Julia Lohmann und Professor Peter Kuhn mit dem Thema „Bewegung, Gesundheit und Nachhaltigkeit“ auseinandergesetzt. Sie beschäftigen sich auch mit dem Thema Fahrradmobilität als Verknüpfung von Bewegung, Gesundheit und Nachhaltigkeit. In der mit dem Fahrrad praktizierten aktiven Mobilität sehen sie eine große Chance für die Bekämpfung von Bewegungsarmut. Sowohl aus der Perspektive der Public Health als auch der Global Health könne man auf eine Reihe positiver Faktoren verweisen. Auch wenn das Radfahren im Alltag das Krafttraining als einen Teil der WHO-Bewegungsempfehlungen nicht ersetzen kann, wäre der Aspekt der ausdauerorientierten Aktivität der WHO-Bewegungsempfehlung über die Woche allein über die Arbeitswege erreichbar, wenn an fünf Tagen ein je 15-minütiger Hin- und Rückweg zur Arbeit aktiv mit dem Rad zurückgelegt würde. „Ein per Rad zurückgelegter Arbeitsweg senkt das Gesamtmortalitätsrisiko um mehr als das Doppelte im Vergleich zum Gehen. Zusätzlich sind weitere Präventionseffekte möglich, beispielsweise auf Diabetes- oder Krebsrisiko, auf welches ausschließliches Gehen im Alltag keine signifikanten Effekte aufweisen konnte“, heißt es in dem zuvor erwähnten Artikel. Infrastrukturelle Voraussetzungen für einen Arbeitsweg per Fahrrad zu verbessern, lohnt sich also auch aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Hinzu kommt der positive Einfluss auf die mentale Gesundheit. Laut Tittlbach, Lohmann und Kuhn zeigen sich in den wenigen vorhandenen Studien dazu „positive Assoziationen von aktiver Mobilität mit mentaler Gesundheit, kognitiven Fähigkeiten und geringer wahrgenommenem Stress“. Dies können Fahrradfahrende leicht aus eigener Erfahrung bestätigen. Mit dem Rad ließen sich also die gesellschaftlichen Folgekosten von Bewegungsarmut buchstäblich „runterfahren“.
Initiativen wie die Aktion Fahrrad wollen das Fahrrad an den Schulen nicht nur als Verkehrsmittel, sondern auch als Sportgerät stärker verankern.
Das Fahrrad in der Bildung
„Bildungspolitik ist die beste Sozialpolitik. Sie ist auch die beste Wirtschaftspolitik, die beste Klimaschutzpolitik“, sagte die Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) Jutta Allmendinger jüngst im Interview. Ebenso wie Gesundheitspolitik, könnte man ergänzen. Doch gerade im Bildungsbereich hat Bewegung in Form des Sportunterrichtes eine schwache Position. Schulen haben zum Teil keine benutzbare Sporthalle, oft wird der Unterricht von fachfremden Lehrerinnen ausgeübt. Es verwundert kaum, dass sich das im gesundheitlichen Status von Kindern und Jugendlichen niederschlägt. Die Active Healthy Kids Global Alliance, eine internationale Vereinigung von Wissenschaftlerinnen, hat in der Global Matrix 4.0 den Status der körperlichen Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen untersucht und konnte trotz relativ guter Voraussetzungen hinsichtlich der Rahmenbedingungen hierzulande nur die Note 4 vergeben. Verkehrsverbände wie der VCD und der ADFC und auch einige Krankenkassen haben sich auf die Förderung aktiver Mobilität auf dem Schulweg der Kinder konzentriert. Diesen mit dem Fahrrad zu erfahren, verringert nicht nur die durch Elterntaxis verursachten Autounfälle. Positive Gesundheitswirkungen sind auch im physischen und psychosozialen Bereich nachweisbar, etwa im Hinblick auf körperliche Fitness, der kognitiven Leistungsfähigkeit und dem Sozialverhalten. Signifikant ist auch die damit einhergehende Abnahme von Verkehrsunfällen und verunfallten Kindern in der Nähe von Schulen. Man könnte jedoch mit dem Fahrrad auch direkt in die Schule vordringen: Eine Integration des Fahrrades in den Sportunterricht würde gesundheitspolitisch ebenso wie verkehrstechnisch positive Effekte haben. Radfahren als Kulturtechnik ist ebenso wie Schwimmen enorm wichtig. Ihm komme für die Ausprägung einer Bewegungskompetenz eine große Bedeutung zu, so Professor Tittlbach im Interview. Doch das Fahrradfahren sei zwar als Wahlfach sehr beliebt, im Sportartenkanon aber nicht obligatorischer Bestandteil der Lehrerinnenausbildung. In Berlin kann man inzwischen an einigen Schulen bereits Radfahren als Abiturfach belegen. Weiteres Potenzial für die Integration des Fahrrades in den schulischen Bereich könnte auch über das Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) erschlossen werden, welches ab 2026 schrittweise rechtskräftig werden wird. In der Umsetzung stellt das Gesetz die Schulbetreiber vor enorme Herausforderungen. Ohne externe Partnerinnen wird eine hochwertige Einbindung von Bewegungskonzepten in den Ganztagsbereich kaum möglich sein. Hier sind zum einen die Radsportverbände gefragt, welche ohnehin über Nachwuchssorgen klagen. Aber auch der VCD könnte hier seine Erfahrung in der Mobilitätsbildungsarbeit einbringen, so Anika Meenken vom VCD. Die dringend nötige personelle Unterstützung könnte aber auch aus der fahrradaffinen Zivilgesellschaft kommen. Je nach geografischer Verortung ist eine Heranführung ans Mountainbike oder ans BMX auch unter dem Aspekt der Ausbildung zukünftiger Olympioniken vielversprechend. Eine Einbindung des Einrades oder von Mannschafts-Ballsportarten wie Radball oder Radpolo könnte auch der Popularität der Radsportarten nutzen. Denkbar ist auch eine Kooperation mit der Fahrradwirtschaft, immerhin ist ein Heranführen von Kindern an das Fahrrad auch für sie nicht unwichtig. E-Scooter und andere relativ neue Formen der Mikromobilität stehen ebenfalls bereit, den Kund*innen von morgen flexible Mobilität zu ermöglichen.
Projekte zur Stärkung des Fahrradfahrens für Kinder und Jugendliche
Das Projekt „Zu Fuß und mit dem Fahrrad zur Schule und zum Kindergarten“ ist eine Mitmachaktion für Kinder, die seit knapp 20 Jahren vom Deutschen Kinderhilfswerk und dem VCD durchgeführt wird. Jeden September werden Schulklassen und Kindergartengruppen zu Aktionen aufgerufen, bei denen sie lernen, den Weg zum Kindergarten oder zur Schule selbst zurückzulegen.
www.zu-fuss-zur-schule.de
„FahrRad! Fürs Klima auf Tour“ ist ein Fahrradkilometer-Wettbewerb für Jugendgruppen. Ziel ist es, gemeinsam möglichst viele Fahrradkilometer zu sammeln. Jeder geradelte Kilometer wird zusammengerechnet und ins Internet übertragen.
www.klima-tour.de
Der VCD Bildungsservice bietet umfangreiche Lehr- und Lernmaterialien rund um das Thema nachhaltige Mobilität vom Kindergarten bis zur Berufs- und Hochschule und für außerschulische Bildungseinrichtungen.
bildungsservice.org
Eine weitere Aktion ist die Kidical Mass, die zweimal jährlich von einem breiten Aktionsbündnis, dem auch ADFC und VCD angehören, organisiert wird.
kinderaufsrad.org
Außerdem gibt es die AKTIONfahrRAD , die gemeinsam mit Partnerinnen aus der Fahrradwirtschaft deutschlandweit (Schul-)Projekte wie beispielsweise die Schoolbikers umsetzt, Schulen Fahrräder zur Verfügung stellt und sich in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen engagiert.
www.aktionfahrrad.de
Gesunde Arbeitnehmer*innen
Schon 2016 belegte eine Studie, wie sehr Radfahrende im ökonomischen Interesse von Arbeitgeberinnen liegen. Menschen, die ihren Arbeitsweg ganzjährig zu Fuß oder mit dem Rad zurücklegen, wiesen durchschnittlich zwei Krankheitstage weniger auf, haben einen niedrigeren BMI-Wert, sind zufriedener und bleiben länger arbeitsfähig. Den Grünen Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar veranlasste diese positive Bilanz zu der Forderung nach einem zusätzlichen Urlaubstag für alle, die regelmäßig mit dem Rad zur Arbeit fahren. Seine Forderung wurde damals auch aus Angst vor einer „Gesundheitspolizei“ abgewiesen. In Anbetracht einer längeren Lebensarbeitszeit und des demografischen Wandels wird das Thema Gesundheit im Arbeitskontext jedoch weiter an Bedeutung gewinnen. Der Gesetzgeber hat in den letzten Jahren eine Reihe von steuer- und beitragsfreien Zuschüssen zur Gesundheitsförderung von Beschäftigten ins Leben gerufen. Diese Präventionsmaßnahmen und finanziellen Anreize kommen aber der Bewegungsförderung mit dem Fahrrad nicht zugute. Hier wäre ein Inspirationsschub in Richtung Fahrrad für die Politik hilfreich. Die gängigste Maßnahme, die Arbeitgeberinnen zur Förderung des Fahrrades zur Hand haben, ist das Dienstrad-Leasing. Mit ihm wird betriebliche Mobilität ebenso wie der Verkauf hochwertiger Fahrräder gefördert. Doch nur 4 Prozent der Bevölkerung können bislang von entsprechenden Angeboten profitieren. Betrachtet man es genau, ist ein klarer Objektfokus auf das Fahrrad erkennbar; die Gesundheit der Fahrradfahrenden steht dabei nicht im Mittelpunkt. Wie oft das geleaste Rad am Ende tatsächlich bewegt wird, ist weder für den Gesetzgeber und Arbeitgeberinnen noch für die Fahrradwirtschaft entscheidend. Technisch betrachtet wäre die Erfassung der real gefahrenen Kilometer durchaus machbar und beispielsweise als Grundlage für Boni der Krankenkassen denkbar.
Ein praktischer Blick nach vorn
Für Kommunen ergäbe sich durch die Wertschätzung der bewegungsfördernden Effekte des Fahrrades eine zusätzliche Motivation und Argumentation für den Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur. Auch neue Fördertöpfe ließen sich durch einen Fokus auf den Bereich Gesundheit und Bewegungsförderung bereitstellen oder zielführend abschöpfen. Ebenso sollten strategische Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention Fahrradmobilität mit einbinden. Ein Beispiel hierfür ist der Entwicklungsplan Sport, in dem das Potenzial des Fahrrades unbedingt sichtbar sein sollte. Die Fahrradwirtschaft hätte die Option, ihren Beitrag zur Bewegungsförderung jenseits des Verkaufens von Fahrrädern auszuweiten. Eine Möglichkeit hierfür wäre etwa eine Verstärkung des kommunalen Engagements, beispielsweise durch Aktionen pro Fahrrad in Schulen und Sportvereinen. Auch ehrenamtliches Engagement, das im Bereich „Sport und Bewegung“ auf eine lange Tradition zurückblicken kann, würde das Fahrrad als Thema stärken und Kinder bewegen. Da in den Kommunen die tatsächliche Förderung von Bewegung und der Ausbau von Radwegen geschieht, lohnt sich hier ein Kulturwandel hin zu einer aktiveren Stärkung des Themas Fahrrad absolut. Letztendlich muss es darum gehen, die große Gruppe der potenziell Interessierten aber durch die schlechte Infrastruktur vom Radfahren abgehaltenen Menschen zur (häufigeren) Nutzung des Fahrrades zu motivieren. Unter dieser Zielsetzung sind Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und auch kreative Köpfe gefragt. Ein moralischer Zeigefinger wird niemanden auf das Rad bringen; hier braucht es eine gute Story, weiterhin einen interdisziplinären Ansatz, gute Zusammenarbeit der Stakeholder und Geld. Eine Einbeziehung des gesundheitsfördernden Aspektes in die Arbeit pro Fahrrad könnte einen Beitrag für diesen Paradigmenwechsel leisten.
Bilder: stock.adobe.com – Kara, Jobrad, Stefan Dörfler, Aktion Fahrrad, Grafik Quelle: Institut für Generationenforschung
https://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2023/03/AdobeStock_505127085-scaled-e1680258038660.jpg10302560Hendrikje Lučićhttps://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2019/08/veloplan-340x156-300x138.pngHendrikje Lučić2023-03-16 12:00:002023-04-17 13:58:37Heilmittel gegen die Bewegungsarmut
Die Verkehrserziehung ist seit vielen Jahren ein fester Teil der Schulbildung in Deutschland. Expert*innen kritisieren jedoch den darin enthaltenen Ansatz, den Kindern die Verantwortung für ihre Verkehrssicherheit in die Hände zu legen. Das noch junge Konzept der Mobilitätsbildung setzt deshalb weitergehende Aspekte, wie beispielsweise die Einbindung der Kinderperspektive bei der Verkehrsplanung.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)
Um die Notwendigkeit einer Verkehrswende in die breite Gesellschaft zu tragen, ist es wichtig, bereits bei den Jüngsten anzusetzen. Das Thema Verkehr ist seit Jahrzehnten in der Grundschule verankert, wurde jedoch lange auf das Erlernen von Regeln und Verhaltensweisen reduziert. Inzwischen haben einige Bundesländer, darunter Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, ein umfassenderes Verständnis entwickelt und sich Mobilitätsbildung auf die Fahnen geschrieben. In Berlin hat es Mobilitätsbildung sogar in das Mobilitätsgesetz geschafft, das 2018 verabschiedet wurde und den Umweltverbund fördern soll. Demnach soll Mobilitätsbildung alle Bewohnerin-nen dazu befähigen „ihre Mobilitätsbedürfnisse sicher, verantwortungsbewusst, selbstbestimmt, stadt-, umwelt- sowie klimaverträglich ausgestalten zu können“. Mobilitätsbildung geht weit darüber hinaus, was herkömmlich unter dem Schlagwort „Verkehrserziehung“ in der Schule behandelt wurde. Dringender Reformbedarf ergibt sich daraus auch für das Kernelement der schulischen Beschäftigung mit Verkehr: die Radfahrausbildung im vierten Schuljahr. Die Radfahrausbildung setzt sich in ganz Deutschland aus einem theoretischen sowie einem praktischen Anteil zusammen. Der Fahrradexperte Dr. Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule bezeichnet die Radfahrausbildung als ein „schulisches Highlight“, dennoch äußern er und weitere Expertinnen Kritik. Sie bemängeln den späten Zeitpunkt, die geringe Fahrpraxis, den Prüfungscharakter und bezeichnen die Ausbildung als wenig kindgerecht.
Ein Radverkehr-Check, wie er im Projekt durchgeführt wurde, könnte als Teil einer umfassenderen Mobilitätsbildung eine neue inhaltliche Dimension bewirken. Die Kinder setzen sich dabei nicht nur mit Verkehrsregeln und Verhaltensweisen auseinander, sondern auch mit ihren Bedürfnissen und Ideen für eine fahrradfreundliche Kommune.
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen
Höchst problematisch ist zudem der Fokus auf das sichere Verhalten von Kindern, das gilt nicht nur für die Radfahrausbildung, sondern allgemein für die Verkehrssicherheitsarbeit. Von Kindern wird im Straßenverkehr ein Verhalten erwartet, das sie aufgrund ihrer noch nicht ausgereiften motorischen und kognitiven Fähigkeiten gar nicht leisten können. Die Verantwortung für Verkehrssicherheit kann somit nicht in die Hände von Kindern gelegt werden. Das verkehrssichere Kind gibt es nicht, „wohl aber die Möglichkeit, die Verkehrsinfrastruktur so zu gestalten, dass Kinder sowie alle anderen Menschen sich sicher und gerne bewegen können“, betont Oliver Schwedes, Gastprofessor für Integrierte Verkehrsplanung und -politik an der TU Berlin. Maßnahmen zur Schulwegsicherheit sollen dafür sorgen, dass Kinder sicher und selbstständig zur Schule kommen. Dabei erhält der Radverkehr, vor allem im Grundschulbereich, bislang wenig Aufmerksamkeit. Oft wird angenommen, dass Kinder erst mit Abschluss der Radfahrausbildung in der vierten Klasse das Fahrrad als Transportmittel und nicht nur als Spielgerät nutzen. Teilweise wird ihnen die frühere Nutzung sogar explizit durch die Schulleitung untersagt. Analysen zum Mobilitätsverhalten in Deutschland zeigen, dass elf Prozent der Wege von Kindern im Alter von sechs bis neun Jahren mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. In den Niederlanden sind es hingegen rund ein Drittel – am Alter allein kann es also nicht liegen, dass nicht noch mehr Kinder Fahrrad fahren. Diese Zahlen zeigen, dass wir dringend kinderfreundlichere Radinfrastruktur benötigen. Denn Mobilitätsgewohnheiten werden früh gebildet: Wer schon als Kind das Rad nutzt, wird dies eher auch im Erwachsenenalter tun. Die Bedürfnisse von Kindern gehen über die Bedürfnisse manch anderer Radfahrender hinaus. Komplexe Handlungsabläufe sind für sie herausfordernder. Verkehrsschilder und -regeln zu erfassen und angemessen darauf zu reagieren, braucht längere Zeit und kann überfordern. Auch die nonverbale Kommunikation, die im Straßenverkehr eine wesentliche Rolle spielt, müssen Kinder erst erlernen. Unvorhergesehene Situationen, wie ein im Weg stehendes Auto, können schnell zu viel sein. Sie eignen sich Verhaltensweisen an, indem sie Routinen in einer vertrauten Umgebung erlernen. Versperrt ein Auto ihren Weg, wissen sie unter Umständen nicht, wie sie mit dieser unerwarteten Situation umgehen sollen. Durch ihre besonderen Bedürfnisse bereitet ihnen zum Beispiel das Fahren im Mischverkehr oder auf Busspuren größere Schwierigkeiten. Stress und Unsicherheit sind die Folge. Hinzu kommt, dass sie durch ihre geringe Körpergröße leichter übersehen werden. Für Kinder ist deshalb eine sichere, intuitive und fehlertolerante Verkehrsinfrastruktur wichtig. „Radwege müssen gut geschützt und gleichzeitig deutlich erkennbar sein, Kreuzungen übersichtlich gestaltet, Geschwindigkeiten reduziert und Verkehrsregeln klar kommuniziert werden. Sichtbeziehungen spielen eine zentrale Rolle, damit Kinder die Möglichkeit haben, den Verkehr zu überblicken, und von anderen Verkehrsteilnehmenden gesehen werden“, so Oliver Schwedes.
Für viele bedeutet die Fahrradstraße entspanntes Radfahren, doch die Grundschüler*innen sehen auch negative Aspekte. Anstelle der Querungsmöglichkeit, haben sich die Kinder einen Zebrastreifen gewünscht, damit sie sicher über die Straße kommen können. In der Schulumgebung gibt es zudem viele Straßen mit Kopfsteinpflaster.
Kindgerechte Infrastruktur durch Beteiligung
Die Einbindung von Kindern in Planungsprozesse ermöglicht, ihre Bedürfnisse stärker zu beachten. Angeregt durch die Frage, wie Mobilitätsbildung konkret umgesetzt werden kann, führen das Fachgebiet für Integrierte Verkehrsplanung der Technischen Universität Berlin sowie der Arbeitsbereich Sachunterricht und seine Didaktik der Humboldt-Universität zu Berlin seit 2020 gemeinsam ein Forschungs- und Umsetzungsprojekt zum Thema durch. Dabei wurde die Partizipation der Kinder als ein wesentliches Kernelement der Mobilitätsbildung identifiziert. Um Praktikerinnen eine Methode an die Hand zu geben, Kinder aktiv einzubinden, wurde von den Forscherinnen ein Radverkehr-Check entwickelt. Ziel ist es dabei, die Qualität der Radverkehrsinfrastruktur aus Sicht der Kinder zu bewerten. Projekttage zum Thema Fahrrad an einer Grundschule boten die Chance, das Konzept zu testen. Ausgestattet mit Kamera, Klemmbrett und Zollstock zogen die Kinder los, um die Umgebung der Schule zu untersuchen. Besonders die neu eingerichtete Fahrradstraße direkt vor ihrer Schule erhielt ihre Aufmerksamkeit. Zuvor gab es dort für den Radverkehr wenig Platz. Sie mussten sich mit einem schmalen Streifen neben dem Gehweg begnügen. Die Umwidmung zur Fahrradstraße wurde von Radfahrenden begrüßt: Endlich geht die Mobilitätswende voran, der Radverkehr wird ernst genommen und ihnen mehr Platz und Sichtbarkeit zugeteilt. Anlieger dürfen die Fahrradstraße weiterhin mit dem Auto befahren, allerdings nur in eine Richtung. Eine Durchfahrtsperre soll den Autoverkehr weiter reduzieren. Auf dem alten Radweg wurden Bäume gepflanzt. Die Viertklässler*innen der anliegenden Grundschule jedoch hatten gemischte Gefühle. Einige sagten, sie mochten den alten Radweg auch gerne. Dort fühlten sie sich geschützter. „Manche Kinder wollen nicht so gerne auf der Straße fahren, weil da immer noch Autos fahren. Die müssen jetzt um die Menschen auf dem Gehweg herumfahren. Da ist aber gar nicht mehr genug Platz dafür, dass man da mit dem Fahrrad fährt“, erklärte ein Mädchen. Mehrmals täglich müssen die Kinder die Straße überqueren, um Schulgebäude auf der anderen Seite zu erreichen. Deshalb hatten sie sich für einen Zebrastreifen eingesetzt. Im Zuge der Umwidmung wurde zwar eine ausgewiesene Querungsmöglichkeit eingerichtet, doch das reicht ihnen nicht. Die Radfahrenden übersehen die Kinder, halten nicht an und das Überqueren der Straße bleibt eine Herausforderung.
„Die Verkehrsinfrastruktur so gestalten, dass Kinder sowie alle anderen Menschen sich sicher und gerne bewegen können“
Prof. Dr. Oliver Schwedes, Technische Universität Berlin
Kinder als Qualitätsmaßstab
Die Gedanken der Kinder zur neuen Fahrradstraße zeigen, dass ihre Wünsche und Bedürfnisse gehört werden müssen, damit kinderfreundliche Infrastruktur entstehen kann. Die Beteiligung von Kindern in Planungsprozessen stellt auch eine große Chance dar, die Ansprüche weiterer Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen. Eine Einteilung in vier verschiedene Radfahrtypen in Portland/Oregon (USA) hat ergeben, dass etwa zwei Drittel der Befragten zur Gruppe derjenigen gehört, die „interessiert, aber besorgt“ sind. Diese haben grundsätzlich Interesse am Fahrradfahren, würden gerne öfter das Rad nehmen, trauen sich aber nur auf besonders sicheren Radwegen zu fahren. Radfahrinfrastruktur, die die Bedürfnisse von Kindern berücksichtigt, wird auch den hohen Anforderungen dieses Typs gerecht. Kinder können damit der Maßstab für die Qualität der Radverkehrsanlagen sein. Wer Verkehrsinfrastruktur kindgerecht gestaltet, baut somit nicht nur für Kinder, die vermehrt auch im Erwachsenenalter das Fahrrad nutzen, sondern auch für all diejenigen, die sich heute (noch) nicht auf das Fahrrad trauen. Daher können Kinder stellvertretend für die Gruppe der „Interessierten, aber Besorgten“ sprechen, die in Beteiligungsprozessen mitunter schwer zu erreichen sind. Um die Bedürfnisse von Kindern bei der Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur stärker in den Blick zu nehmen, bietet schulisches Mobilitätsmanagement Raum. Dabei geht es nicht nur um die Verbesserung der Verkehrssicherheit. Ziel schulischen Mobilitätsmanagements ist es auch, nachhaltiges Mobilitätsverhalten zu fördern und motorische, kognitive sowie psycho-soziale Kompetenzen der Kinder zu stärken. Die Verkehrsplanerin Katalin Saary, die Erfahrungen in der Erarbeitung und Umsetzung von Schulmobilitätsplänen hat, bezeichnet schulisches Mobilitätsmanagement als einen wichtigen Baustein der Verkehrswende. Da Kinder noch nicht Auto fahren können, sind sie auf das Rad, den ÖPNV und das Zufußgehen angewiesen, wenn sie selbstständig unterwegs sein wollen. Das bedeutet, dass Verkehrsplanung, die sich an Kindern orientiert, immer eine Förderung des Umweltverbunds beinhaltet. Als Voraussetzung sieht sie allerdings, dass schulisches Mobilitätsmanagement als Instrument ernst genommen wird: „Damit Kinder selbstständig mobil sein können, muss der öffentliche Raum entsprechend ertüchtigt werden. Wenn die Kommunen sich dieser Aufgabe annehmen, dann wären wir bei der Verkehrswende erfolgreich. Kinder haben keine Alternative als Fuß, Rad und ÖPNV. Das heißt, ich muss eine für sie geeignete Verkehrsinfrastruktur gestalten, das Auto eingrenzen und schaffe so dann auch gleich die Voraussetzungen, dass auch alle anderen sicher unterwegs sein können.“ Planungsbüros werden beim schulischen Mobilitätsmanagement involviert, um sichere Schulwege zu planen, bestehende Konzepte an die Besonderheiten der Schulumgebung anzupassen und umzusetzen. Dieser Rahmen eignet sich gut, um Kinder in die Planung einzubeziehen. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise ein Radverkehr-Check während der Radfahrausbildung, wie er im Forschungsprojekt durchgeführt wurde. Dabei erhält einerseits die Radfahrausbildung eine neue inhaltliche Dimension. Die Kinder setzen sich nicht nur mit Verkehrsregeln und Verhaltensweisen auseinander, sondern auch mit ihren Bedürfnissen und Ideen für eine fahrradfreundliche Kommune. Idealerweise können sie erleben, wie sie durch ihre aktive Mitwirkung ihre Umgebung mitgestalten können. Dadurch kann die Radfahrausbildung im Sinne einer umfassenden Mobilitätsbildung aufgewertet werden. Auf der anderen Seite werden auf der Planungsebene wertvolle Informationen gesammelt, wie die Radinfrastruktur vor Ort gestaltet werden muss, damit sich auch die Schwächsten der Verkehrsteilnehmenden auf das Rad trauen. Schulisches Mobilitätsmanagement hat in den letzten Jahren einen Aufschwung erlebt und wird in immer mehr Bundesländern angewandt. Aktuell erarbeiten sowohl Hamburg als auch Berlin neue Konzepte für schulisches Mobilitätsmanagement. In Berlin wurde der Ansatz in das Mobilitätsgesetz aufgenommen. Darin wird hervorgehoben, dass die Perspektiven der Kinder Beachtung finden sollen. Es wird klar: Eine kindgerechte Verkehrsinfrastruktur nimmt einen immer höheren Stellenwert ein. Sie sollte nicht nur als Pflichtprogramm für die Verkehrssicherheit der Kinder gesehen werden, sondern als Chance für qualitativ hochwertige Infrastruktur, die deutlich mehr Menschen als bisher auf das Rad locken kann.
Über das Projekt
Im Forschungsprojekt „Mobilitätsbildung – Entwicklung und Umsetzung von Lehr- und Lernansätzen zur Förderung des Umweltverbundes bei Kindern und Jugendlichen und der Qualifikation von (zukünftigen) Lehrkräften und Erzieherinnen“ der Humboldt-Universität zu Berlin und der Technischen Universität Berlin werden Bildungsmaterialien und Konzepte zum Thema Mobilitätsbildung entwickelt. Außerdem wurden Interviews mit Lehrkräften, Pädagoginnen und verschiedenen Expert*innen geführt. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) aus Mitteln zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans gefördert.
Mehr Informationen finden sich auf dem Forschungsblog: https://mobild.hypotheses.org/.
Bilder: stock.adobe.com – D. Ott, www.pd-f.de – Luka Gorjup, TU Berlin
https://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2023/03/AdobeStock_24500726-scaled-e1680265099278.jpg8921707Lotte Miehlehttps://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2019/08/veloplan-340x156-300x138.pngLotte Miehle2023-03-16 11:25:002023-04-17 13:59:27Das verkehrssichere Kind gibt es nicht