Mein ältester Sohn ist 14 und ein richtiger Teenie. Oft merkt man gar nicht, dass er von Geburt an eine Gehbehinderung hat. Er sitzt im Rollstuhl. Außer er fährt Rad. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)
von Hartmut Ulrich
Ein Liegerad ermöglicht Hartmut Ulrichs Sohn Leo eine komfortable Alltagsmobilität. Auch auf Fahrradtouren, wie auf einer Fahrt nach Kroatien, kann er bei seinen Klassenkameraden dabei sein.
Nein, ein Zweirad kann er nicht kontrollieren. Aber ein Liege-Dreirad. Mit E-Motor und in Fußschalen fixierten Unterschenkeln. Im Juli letzten Jahres gab es ein Schulprojekt: Die Schüler*innen bildeten Gruppen und nahmen sich herausfordernde Ziele vor, die sie gemeinsam planten, organisierten, finanzierten und durchführten. Die Gruppe meines Sohnes nahm sich vor, zu siebt den Ex-Sportlehrer in seiner neuen Heimat Kroatien zu besuchen. Von München aus mit dem Zug bis nach Villach und dann durch Italien und Kroatien. Mit dem Rad. Und mit Zelt.
Ohne das Liegerad hätte mein Sohn von einer solchen Tour nicht mal träumen können. Es hat ihm sein bislang größtes Erlebnis von Autonomie, Selbstwirksamkeit und Freiheit beschert – in der Gruppe. Die Schülergruppe hat gelernt, was es bedeutet, mehrere Räder, ein Liegerad und das ganze Gepäck am Bahnhof in einen Zug hieven zu müssen – und am Ziel schnell genug wieder hinaus. Alle für einen, einer für alle: Leo hatte einen Motor und viel Gepäck für die anderen gefahren.
Mehr als 11.000 Euro hat uns das Rad gekostet – und es ist jeden Cent wert. Seit Juni hat Leo mehr als 1.500 Kilometer damit zurückgelegt. Er liebt es. Er fährt jeden Tag mit dem Liege-Dreirad zur Schule, sogar im kalten Winter. Ich pflege und repariere das Fahrzeug. Beispielsweise war der mitgelieferte Regenschutz für den Sitz nicht wasserdicht. Nach dem dritten Mal mit nassem Hintern und Rücken habe ich Leo einen Überzug aus der Regenhülle für einen großen Wanderrucksack gemacht. An der Schule kann er sein Rad nicht unterstellen, die Infrastruktur für Fahrräder rund um die Schule ist lieblos und schlecht.
Keine Frage: Ein Liegerad in der Großstadt bleibt auch ganz ohne Behinderung eine Herausforderung. Ich habe mitangesehen, wie Leo auf dem Radweg um ein Haar von einer Linksabbiegerin überfahren worden wäre, die einfach unaufmerksam war – sie wollte schnell über die vierspurige Straße und hat null auf den Radweg geachtet, der zudem von geparkten Autos verstellt war. Da half auch nicht die Stange mit dem aufragenden Fähnchen am Liegerad. Es ist gerade noch gut gegangen: Leo hat blitzschnell reagiert und konnte ausweichen. Dafür eine geeignete Infrastruktur zu schaffen, hieße, Radwege konsequent baulich vom Autoverkehr zu trennen. So wie zum Beispiel in Dänemark.
Inklusion bleibt das Zünglein, an dem sich Städte und Gesellschaften messen lassen müssen. Da haben wir in Deutschland noch sehr viel zu lernen. Zunächst mal im Kopf.
Hartmut Ulrich, 58, ist seit sieben Jahren Geschäftsführer der BVA BikeMedia GmbH. Der Verlag publiziert Magazine, Bücher und Radwanderkarten rund ums Radfahren. Er liebt Fahrräder, macht jede Reparatur selbst und genießt das Glück des Draußenseins bevorzugt auf Rennrad und Gravelbike.
Bilder: Hartmut Ulrich