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Der Velo-City-Kongress ist schon allein durch das internationale Publikum und Themenspektrum ein besonderes Event. Die Ausgabe in Leipzig war gefüllt mit spannenden Programmpunkten und viel Leidenschaft, aber nicht frei von Kritik. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


In der Anzahl der Sessions und Vortragenden übertraf die Velo-City Leipzig alle vor ihr da gewesenen, so Henk Swarttouw, Präsident der European Cyclists‘ Federation (ECF) bei der Eröffnung des Events. Über 1500 Teilnehmer*innen aus rund 60 Ländern waren nach Leipzig angereist, um sich unter dem Motto „Leading the transition“ vom 9. bis 12. Mai über das Fahrradfahren auszutauschen. Knapp 60 Unternehmen und Organisationen stellten ihre Produkte und Projekte im weitläufigen Congress Center Leipzig aus.
Im Zuge des Eröffnungs-Plenums fielen gleich die ersten Forderungen an Politik und Gesellschaft: Für mehr und besseren Radverkehr müssen die verschiedenen Verkehrsgruppen gerechter behandelt und müsse die Fahrradkultur gestärkt werden. „Die Herausforderungen, vor denen Städte weltweit in der Bekämpfung der Klimakrise stehen, sind immens. Umso wichtiger wird es, wie wir in Zukunft das Miteinander in den Kommunen gestalten. Wir brauchen mehr Flächengerechtigkeit im Verkehr zugunsten von klimaschonender Mobilität, einer höheren Verkehrssicherheit und besserer Aufenthaltsqualität. Dem Radverkehr kommt hierbei eine entscheidende Bedeutung zu“, so Thomas Dienberg, Bürgermeister für Stadtentwicklung und Bau in der gastgebenden Stadt Leipzig. Dienberg betonte in seiner Eröffnungsrede zudem, dass kein Verkehrsmodus mehr Freude bringe als das Fahrrad. Leipzig ist nicht die erste deutsche Stadt, in der internationale Radverkehrs-Akteure im Kontext der Velo-City zusammenkamen. Auch die erste Velo-City überhaupt fand 1980 in Bremen und eine weitere Ausgabe 2007 in München statt.

„Wir müssen verstehen, warum die 15-Minuten-Städte immer beliebter werden. Wir müssen die Städte umformen, ein qualitativ hochwertiges soziales Leben entwickeln, die Gentrifizierung stoppen und eine humanistische Lebensqualität schaffen. Wir müssen eine neue Revolution entwickeln, die Revolution der Nähe.“

Carlos Moreno, Sorbonne-Universität Paris

Lösungen im Vordergrund

Neben der Leipziger Messe und der Stadt Leipzig tritt die ECF als Organisator der Velo-City auf. Geschäftsführerin Jill Warren: „Wenn wir nachhaltigere Verkehrssysteme und lebenswertere Städte und Gemeinden schaffen wollen, ist mehr Radverkehr unerlässlich. Um das grüne und integrative Potenzial des Radverkehrs zu erschließen, müssen wir unsere Ambitionen in stärkere politische Maßnahmen und Aktionen umsetzen. Der Radverkehr muss ein entscheidender Bestandteil einer nachhaltigen und integrativen Zukunft sein, und die Velo-City 2023 ist ein Katalysator, der diesen Wandel vorantreibt.” Neben zweimal täglich stattfindenden Plenen gab es insgesamt 66 parallele Sessions. 430 Speakerinnen und die Besucherinnen berichteten von Lösungen oder erarbeiteten diese gemeinsam.

Wer den Velo-City-Kongress in Leipzig besucht hat, konnte nicht nur Vorträge und Diskussionen hören. In Workshops konnten die Besucher*innen sich auch selbst einbringen.

Perspektivenreiches Programm

Stadtplanung muss perspektivenreich und inklusiv sein. So ließen sich wohl einige Velo-City-Sessions zusammenfassen, ob es um die Bedürfnisse von Kindern geht, um unkorrekte Nutzung von Parkinfrastruktur oder um Frauen, die in der Planung in Entscheidungsprozessen gefördert werden sollen. Gerade benachteiligte Gruppen müssen intersektional, also entlang verschiedener Faktoren, handlungsfähig sein und in Entscheidungen mitgedacht werden. Diese Perspektiven fanden auf der Velo-City durchaus statt, unter anderem in Sessions zu „Women in Cycling“ und Gender Equality. Entlang dieser Erkenntnis wurde jedoch von einem kolumbianischen Plenums-Teilnehmer entschiedene Kritik geäußert. Die Velo-City habe einen blinden Fleck im Hinblick darauf, welche sozialen Klassen sich dort austauschen können. Das betreffe insbesondere Menschen aus dem globalen Süden, die zwar an einer Teilnahme interessiert seien, sich diese aber nicht leisten könnten. Mehr globale Repräsentanz dürfte für einen Kongress mit globalem Anspruch hilfreich sein.

„Wenn wir nachhaltigere Verkehrssysteme und lebenswertere Städte und Gemeinden schaffen wollen, ist mehr Radverkehr unerlässlich.“

Jill Warren, European Cyclists‘ Federation

Neue Infrastruktur reicht nicht

Möglichkeiten, das Radfahren attraktiver zu machen, gibt es viele. Ein Ansatzpunkt sind steuerliche und finanzielle Anreize. Das kann die finanzielle Förderung von Lastenradkäufen sein oder eine Mehrwertsteuersenkung auf Reparaturservices. Wie eine lebenswerte Stadt aussehen kann, zeigte Künstler Jan Kamensky mit einem Video, in dem er die Infrastruktur austauscht. In diesem waren die Gördelerringe in Leipzig zu sehen, die sich von einer lauten, autodominierten Kreuzung zu einer einladenden Parklandschaft wandelten.
Lediglich Fahrrad-Infrastruktur auf ein bestehendes autofreundliches Verkehrsnetz aufzusetzen, könne allerdings nicht genug sein, so Philippe Christ vom International Transport Forum. Auch immaterielle Infrastrukturen in den Köpfen müssen sich ändern. Das Fahrrad kann bestimmte Bevölkerungsgruppen emanzipieren, zeigten Beispiele aus dem US-amerikanischen Detroit und dem brasilianischen São Paulo. Wenn eine Community partnerschaftlich involviert wird und Einfluss darauf hat, wie die Fuß- und Fahrradinfrastruktur gestaltet ist, sorgt das für Identifikation.
Die Bühne der Velo-City wurde auch für diverse Preisverleihungen genutzt. Telraam, ein Anbieter von benutzerfreundlichen Sensoren, die aus den Fenstern von Stadtbewohner*innen Verkehrsdaten sammeln, gewann live auf dem Kongress den mit 17.000 Euro dotierten Smart Pedal Pitch. Jill Warren von der ECF und Kevin Mayne, CEO von Cycling Industries Europe, erhielten den The Cycling Embassy of Denmark Leadership Award. Die ECF-Awards 2023 gingen auch an zwei deutsche Städte. Heidelberg gewann in der Kategorie Cycling Improvement und Essen erhielt den Cycle-Friendly Employer Award. Helsingborg sicherte sich den ECF-Award für Fahrradinfrastruktur und Oslo gewann in der Kategorie Road Safety.

„In der Politik stehen Probleme im Rampenlicht. Radfahren ist keine Herausforderung, sondern der vielleicht wichtigste Baustein, um die Mobilitätsprobleme unserer Zeit zu lösen.“

Thomas Dienberg, Bürgermeister für Stadtentwicklung und Bau Leipzig

Chancen zum Netzwerken

Den Rahmen des inhaltlichen Programms lockerten Stretching-Sessions, Theater- und Musikperformances auf. Umsäumt wurde der Kongress zudem von sozialen Events verschiedener Unternehmen und Verbände und von offizieller Seite. In der Stadt führten die Velo-Citizens ein Bike-Fest und eine Fahrradparade durch. Der Netzwerkfaktor ist nicht zu unterschätzen. Wer sonst im Straßenverkehr oder in Planungskomitees oft mit einer oder wenigen Menschen die Perspektive Fahrrad vertritt, traf in Leipzig auf Gleichgesinnte. Das Fahrrad ist eine Bewegung, eine re-velo-ción. Sie wird in diesem Format im kommenden Jahr fortgesetzt. Dann findet der Velo-City Kongress 2024 in der belgischen Stadt Gent statt.


Bilder: Leipziger Messe – Christian Modla