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Aufschwung im Mittelgebirge

Winterberg setzt auf Radtourismus: Tourismusbetriebe profitieren vom E-Bike-Boom und haben dem Sauerland in NRW ein neues Standbein gesichert, das nun mit weiterer Infrastruktur ausgebaut werden soll. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Das Fahrrad in all seinen Erscheinungsformen kann für Tourismus-Destinationen ein wahrer Segen sein. Das gilt für traditionelle Radtouren-Regionen, das gilt fürs Hochgebirge – das gilt aber gerade auch für Gebiete in Mittelgebirgslagen. Ein solches ist Winterberg, die Stadt im nordrhein-westfälischen Sauerland. „Wir verfolgen seit mehr als zehn Jahren eine Strategie, bei der wir den Bike-Tourismus ausbauen und damit ein neues Standbein für unsere Tourismus-Wirtschaft aufbauen“, sagt Michael Beckmann, Geschäftsführer der Winterberg Touristik und Wirtschaft GmbH. „Es gelingt uns immer mehr, die Wertschöpfungskette in den Sommer zu verlängern.“ Vor dem Hintergrund der Klimaveränderungen und der aktuellen Corona-Bedingungen wird klar, wie wichtig und produktiv dieser Ansatz ist.

Destination für alle Radler: Winterberg spricht nicht mehr nur Mountainbiker an, sondern auch immer stärker E-Radfahrer und auch Rennradler. Das Streckennetz wird entsprechend erweitert.

Anfang mit 25 Leih-E-Bikes

Beckmann, selbst begeisterter Mountain-, Renn- und Gravel-Biker, hatte vor einem guten Jahrzehnt so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Mit seiner Frau war er in den bayerischen Bergen unterwegs, als die beiden plötzlich am Anstieg überholt wurden. Sie staunten zunächst, schauten sich das Gefährt an und stellten fest: Ein E-Bike von Flyer, das so gar nicht aussah wie Pedelecs, die damals das Image der E-Mobilität prägten. Die Eindrücke verarbeiteten die Winterberger Touristiker in einem eigenen Ansatz: Neben dem Hochschwarzwald stieg man ab ca. 2008 als erste Region in Deutschland in das Thema E-Bike-Tourismus im Mittelgebirge ein. „Wir haben damals als Tourismuszentrale selbst 25 Räder vermietet“, erinnert sich Beckmann. Heute ist daraus ein Geschäftsmodell geworden, inzwischen stellen die lokalen Tourismusbetriebe etwa 400 Räder zum Verleih, die meisten als elektrifizierte Bikes.

Kürzere Winter

Ein zweites Standbein für den Tourismus: Das ist gerade deswegen nötig, weil die Winter wärmer werden. Winterberg, ein beliebter Ort für Wochenend-Skifahrer aus ganz NRW, aus Hessen, den Niederlanden, Belgien und Dänemark, hatte beispielsweise eine eher schwache Skisaison 2019/20. „Wir haben das Thema der künstlichen Beschneiung früh erkannt und können deshalb einiges kompensieren, aber die langfristige Entwicklung geht schon zu kürzeren Wintern und verlangt uns neue Ideen ab“, sagt Beckmann. 2020 war schon Anfang März Schluss mit dem Skifahren, Corona und die politischen Maßnahmen beendeten die Hoffnung auf einen Endspurt. Zwar litt unter den Maßnahmen auch das Anlaufen des Sommertourismus, aber klar ist: Langfristig erhofft sich die Tourismuswirtschaft in Winterberg neue Kraft von Urlaubern auf Rädern.

Seit 2005 Magnet für Mountainbiker

Für die Kommune in den Höhenlagen NRWs ist es eine Frage der Strategie, den Tourismus der „grünen Jahreszeit“ auszubauen. Man entwarf 2016 das 2. Tourismuskonzept „Winterberg 2020plus“, darin spielt das Mountainbiken eine wichtige Rolle. Dank des Booms der E-Mountainbikes ist das Potenzial in diesem Segment erheblich gewachsen. Mountainbiker waren ja längst Teil der Winterberger Landschaft, seit 2005 der Bikepark Winterberg auf der 776 Meter hohen Kappe eröffnet hatte. Aber das Zielpublikum dieses Areals war ein deutlich kleineres als jenes, das die Touristiker im Sauerland seit einiger Zeit verstärkt in den Blick nehmen.

„Sobald wir an die Radwege möchten, haben wir es in unserer Lage sofort mit Bundes- und Landesstraßen zu tun.“

Michael Beckmann, Winterberg Tourismus

An- und Abreise gern auch ohne Auto

Wenn es um einen umweltfreundlichen und nachhaltigen Tourismus geht, der noch dazu bequem ist für die Besucher, dann sind An- und Abreise sowie die öffentliche Mobilität an der Destination entscheidend. Hier gehört Winterberg einer aktuellen Untersuchung des ADAC zufolge deutschlandweit zu den führenden Tourismus-Destinationen im ländlichen Raum. Mit öffentlicher Anbindung, Radmitnahme in den Zügen und einer guten Mobilität vor Ort punktete Winterberg in dieser Untersuchung und erreichte zehn von elf Häkchen in den geprüften Kategorien.

Planung dank Skigebiet einfacher

Seit 2015 bietet Winterberg seinen Gästen einen Trailpark mit 40 Kilometer Strecke und 20 Kilometer Trails. Hier richtet man sich explizit auch an Anfänger und an Familien und hat damit viel Erfolg. Zuletzt hat die kommunale Tourismusgesellschaft noch einmal 300.000 Euro in den Trailpark investiert, um den Flow im überwiegend aus Naturtrails bestehenden Areal zu erhöhen und die Streckenqualität zu steigern. „Wir haben das Glück, dass wir hier ohnehin ein Skigebiet haben und der Bebauungsplan uns entsprechende Maßnahmen auch für Bike-Strecken erlaubt“, sagt Beckmann. Denn man könne nicht einfach so Bike-Strecken in den Wald bauen, mit Förstern, Jägern und Waldbesitzern gebe es vorher durchaus einiges zu klären. Auch jenseits der kommunalen Grenzen gehen die Attraktionen für Radtouren und Mountainbike-Ausflüge weiter. Im umliegenden Sauerland gibt es inzwischen ein ausgiebiges Streckennetz für verschiedenste Radfahrprofile.

Wenige Konflikte auf den Wegen

Für die Touristiker gilt es auch immer wieder, gegen Vorurteile zu arbeiten, aufzuklären, neue Entwicklungen mit Forschung zu begleiten. So gab es gegen die frühen Ausprägungen des Radtourismus, die Mountainbiker und ihre Wohnmobile, durchaus Vorbehalte im Ort. Das sei längst passé, sagt Beckmann, weil die Gäste eben doch für Umsatz in den Winterberger Tourismus-Betrieben sorgen. Inzwischen prägen Biker in den warmen Monaten das Bild – und auch hier haben die Winterberger genau hingeschaut. „Wir haben früh das Konfliktpotenzial zwischen Bikern und Wanderern erforschen lassen“, sagt Beckmann. Das Ergebnis: Eigentlich sei alles halb so wild, nur an gewissen neuralgischen Punkten setze man jetzt auf verstärkte Aufklärung, Beschilderung und Hinweise. Mehr als nur ein Gimmick: „Für das gegenseitige Verständnis haben wir etwa auch das Winterberger Schelleken eingeführt“, eine Klingel für fünf Euro, mit der Mountainbiker ihre Mitmenschen auf sich aufmerksam machen können.

Längere Verweildauer

Durch den Ausbau des Sommertourismus ist es Winterberg gelungen, die durchschnittliche Verweildauer der Touristen auf 3,2 Tage zu steigern. „Wir können es nicht ganz genau beziffern, aber der Effekt von Radtouristen ist hier deutlich positiv“, sagt Beckmann. Zwar sei die Wertschöpfung der Wintertouristen noch höher, wenn man die Ausgaben für Übernachtung, Skiverleih, Skipass und Gastronomie zusammenrechnet, aber das ist eben kein Wachstumsgeschäft mehr.

Neue Strecken auch abseits der Trails

Dagegen lässt sich der Fahrradtourismus auch unter sich wandelnden klimatischen Bedingungen ausbauen, und das nimmt man im Mittelgebirge in Angriff: Winterberg möchte sich verstärkt als Ausgangspunkt für E-Bike-Touren etablieren, die nicht durch anspruchsvolles Gelände führen. Die Touristiker entwerfen neue Strecken, die mit E-Bikes komfortabel befahrbar sind. Es geht um die Einbindung attraktiver Orte wie etwa Bad Berleburg oder Schmallenberg – und um die Erweiterung der Routen. „Wir müssen allerdings vor allem eine passende Ladeinfrastruktur aufbauen und Partner gewinnen, die Ladestationen bereitstellen“, sagt Beckmann. Das passiert derzeit, weil man den Touristen ein gutes Gefühl geben möchte, wenn man sie etwa auf eine Tour zum Möhnesee schickt. Auch ist die Verzahnung mit dem ÖPNV und Schienennahverkehr wichtig, damit die Gäste wieder zurückkommen können. Ein Bus mit Bike-Anhänger ist bereits an Sonntagen im Einsatz, man darf Räder auch mitnehmen in den Innenraum des Linienverkehrs. Aber mit zunehmender Nutzerzahl dieser Radwege wird auch dieses Angebot auszubauen sein.

Effekt für die Alltagsmobilität?

Eine Hoffnung, die Touristik-Chef Beckmann hat, ist das Überschwappen des Effekts auf die Alltags-Rad-Mobilität in seiner Kommune. Bislang ist es in Winterberg eher so, dass die „harte Infrastruktur“ schwer zu verändern ist. Man hat die Bikeparks ins Gelände gelegt, hat an Wirtschaftswegen Schilder aufgestellt. „Aber sobald wir an die Radwege möchten, haben wir es in unserer Lage sofort mit Bundes- und Landesstraßen zu tun.“ Das bedeutet nicht nur finanziell, sondern auch bezüglich Regularien und Entscheidungswegen einen erheblich höheren Aufwand, als wollte man einfach eine kommunale Straße umgestalten. „Wir haben es aber leider oft mit einer Infrastruktur zu tun, die für Radfahrer eher unattraktiv ist. Das wollen wir dringend angehen“, erklärt Beckmann. Er weist auf eine Vorstudie zu einem E-Bike-Verleihsystem hin, bei dem nicht nur Touristen, sondern auch die einheimische Bevölkerung von der umweltfreundlichen Mobilität profitieren sollen. „Wir brauchen aber auch mehr Abstellboxen und bessere Radwege in den Orten“, erklärt Beckmann.

Vorstoß bei NRW-Landesregierung

Ein Beispiel ist der Ruhrtalradweg, der bis nach Winterberg hinaufführt. Der Weg ist fast komplett auf gut befahrbaren, asphaltierten Strecken angelegt – allerdings hier oben im Sauerland, auf dem Gebiet der Kommune Winterberg, auf nicht asphaltierten Wirtschaftswegen auslaufend. „Die sind nicht so gut in Schuss, und das wollen wir ändern“, sagt Beckmann. Gemeinsam mit der Ruhr Tourismus GmbH setzt man sich nun beim Land in Düsseldorf dafür ein, die Radstrecken auch im Sauerland so ausbauen zu lassen, dass sie mit allen Radgattungen bequem zu befahren sind.

Neue Möglichkeiten und mehr Impressionen

Touristiker Beckmann hat noch einiges vor mit den Fahrradgästen. „Wir können die Sommersaison verlängern, immer mehr Menschen mit E-Mobilität auch im anspruchsvollen Mittelgebirge bewegen und sogar davon ausgehen, dass es künftig auch im Winter ein Publikum für Radangebote geben wird.“ Ihm schwebt eine neue Streckensystematik in der Bike Arena vor, bei der er die neue E-Mountainbike-Realität stärker berücksichtigen will. Das setzt auch neue Schilder voraus, was durchaus ein Investment ist. Er hätte gern einen Pumptrack für Kinder und auch eine weitere Verzahnung der Radstrecken mit dem Angebot der Ski-Infrastruktur. Auch in diesem Jahr sind zwei zusätzliche Ski-Verleiher ins Geschäft mit dem Radpublikum eingestiegen. Trotz Corona, das Winterberg 2020 um wichtige Events gebracht hat, setzt die Tourismusvermarktung auch weiterhin auf die Strahlkraft sportlicher Großveranstaltungen. Die Deutsche Meisterschaft der Rennradfahrer hat man zwar für 2021 an Stuttgart abgetreten, möchte sie aber 2022 unbedingt zu Gast haben. Die Dirt Masters, ein renommiertes MTB-Festival, soll noch im September über die Bühne gehen, allerdings ohne die sonst üblichen Zuschauermassen. Mountainbike-Weltcups gehören für Beckmann ebenso zur strategischen Planung, denn all diese sportlichen Events schaffen Bilder. „Das sind Eindrücke, die Menschen von unserer Destination überzeugen und letztlich als Werbung unbezahlbar wären“, erklärt er.

Winterberg als Blaupause für Mittelgebirgsregionen?

Die Region Winterberg wurde bereits 1906 bahntechnisch und damit touristisch erschlossen und ist mit ihrer in der weiteren Umgebung einzigartigen Höhenlage von 670 bis 842 Metern der älteste Wintersportplatz im Westen Deutschlands. Dokumentationen zeigen, dass man den Fremden und dem damals aufsehenerregenden Skisport anfangs sehr kritisch gegenüberstand. Das änderte sich, als man entdeckte, welche neuen Einnahmequellen sich damit in der Region erschließen ließen. Seitdem dominiert der Tourismus als Wirtschaftsfaktor. Wichtigste touristische Einzugsgebiete sind das Ruhrgebiet, das Rheinland, die Region Niederrhein sowie die Niederlande, Belgien und Dänemark. International bekannt ist Winterberg auch als Austragungsort von Weltcuprennen des Bob- und Rennrodelsports. Schon früh hat man sich hier auch mit den absehbaren Folgen des Klimawandels beschäftigt. Beschneiungsanlagen sollen die Wintersaison verlängern, gleichzeitig sollen der Sommertourismus und der Bikesport für verschiedenste Bedürfnisse und Zielgruppen künftig die Arbeitsplätze und Einnahmen sichern. Als Kleinstadt zählt Winterberg nur 14.000 Einwohner, kommt aber auf rund 1,5 Millionen Übernachtungen pro Jahr. In der Region gibt es inzwischen 1.140 km ausgewiesene Bikerouten, 40 km ausgewiesene Trails im Trailpark Winterberg und 480 km ausgewiesene Wanderwege.


Bilder: Stephan Peters Design, F. Kraeling Motorsport-Bild GmbH, Sauerland Tourismus, Stephan Peters Design, F. Kraeling Motorsport-Bild GmbH