Ein integrierter Ansatz für nachhaltigere Verkehre verlangt, Raum und Mobilität stärker zusammenzudenken. Dafür sollte der gesetzliche Rahmen reformiert werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Die Gestaltung von Quartiers- und Stadträumen bestimmt maßgeblich mit, ob sich Menschen beispielsweise fürs Fahrrad, den Bus oder das Auto entscheiden. Im Projekt „Integrierte Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung“ will die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) unter anderem die Frage beantworten, wie individuelles Mobilitätsverhalten funktioniert und welche Interventionsmöglichkeiten zur Förderung nachhaltiger Verkehrsmittelentscheidungen es gibt. Als zentraler Hebel für die Schaffung vielfältiger und klimaresilienter Städte wurden dabei die Wechselwirkungen zwischen räumlichen Strukturen und Mobilität identifiziert. Das ist keine grundlegend neue Erkenntnis, jedoch spannt das Projekt der Akademie einen größeren Bogen, indem sie die integrierte Stadtplanung als Kooperation und fachliche Synergien von Politik, Verwaltung, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft skizziert.

Vier räumliche Maßstabsebenen

Aufgezeigt werden die Wechselwirkungen von Raum und Mobilität an den vier Maßstabsebenen Straße, Stadtquartier, Gesamtstadt sowie Stadtregion. Für jede der Ebenen werden jeweils spezifische Einflussfaktoren beschrieben. So fördert beispielsweise eine hohe Aufenthaltsqualität in Straßen den sozialen Austausch im öffentlichen Raum und die Fortbewegung zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Im Stadtquartier bestimmen Infrastruktur und Erreichbarkeit der Alltagsziele die Mobilitätsoptionen. Entsprechend belebt werden Quartiere durch den Zugang zum öffentlichen Verkehr und durch kürzere Wege. In der Gesamtstadt sollen Standorte verteilt und gut mit dem ÖV oder nicht motorisierten Verkehrsmitteln erreichbar sein. Wichtig für eine Stadtregion ist die Abstimmung von Siedlungsentwicklung, Infrastrukturentwicklung und Verkehrsachsen. Verläuft die Entwicklung beispielsweise entlang von ÖV-Achsen, können im Umfeld von Bahnhöfen und Haltestellen lebendige Zentren entstehen.

Räumliche Maßstabsebenen: Im lebendigen Stadtquartier geht es darum, die Alltagswege zu verkürzen. Für die Gesamtstadt sollen die Standorte im Stadtraum verteilt und mit dem ÖV oder nicht motorisierten Verkehrsmitteln gut erreichbar sein.

Verkehrsmittelwahl nicht immer rational

Ausführlich auf individuelles Verhalten im Kontext von Raum und Mobilität geht der Zwischenbericht ein. Demnach geben zwar, wie zuvor beschrieben, äußere Strukturen oder Angebote den Rahmen vor, Verhaltensentscheidungen sind jedoch nicht unbedingt im ökonomischen Sinn vernünftig. So steht die Wahl von Wohnort und Arbeitsstätte in Wechselwirkung mit der Aktivitätenwahl oder dem individuellen Mobilitätsverhalten. Entscheidungen über Alltags- und Freizeitaktivitäten haben Auswirkungen auf Ziele, Distanz, Frequenz und Abfolge zurückgelegter Wege. Darüber bestimmen sich auch individuelle Mobilitätsoptionen. Das Mobilitätsverhalten ist bestimmt durch Anzahl und Länge täglicher Wege. Bewegungsverhalten beinhaltet beispielsweise schnell oder langsam, zielstrebig oder mäandrierend. Bewegungsverhalten, Aktivitätenwahl und Mobilitätsverhalten beeinflussen sich gegenseitig und haben Auswirkungen auf andere Verkehrsteilnehmende sowie die Wahrnehmung von Raum.

Verhalten nach Budget, Geschlecht und Alter

Wichtig für das Verhalten sind soziodemografische Faktoren. So bedeutet etwa ein höheres Einkommen mehr Freiheit bei der Standortwahl. Die Geburt eines Kindes führt tendenziell zu vermehrter Pkw-Nutzung, ebenso der Fußwege. Je besser der ökonomische Status, desto mehr Wege werden zurückgelegt, während Haushalte mit geringem Budget 28 Prozent mehr Wege zu Fuß gehen. Männer legen fast ein Drittel mehr Wege mit dem Auto zurück als Frauen. Frauen sind um 20 Prozent häufiger zu Fuß unterwegs. Die Hälfte der Frauen fühlt sich unsicher, bei Dunkelheit allein unterwegs zu sein. Mit dem Alter nimmt die Einschränkung der Mobilität zu. Hinzu kommen neuerdings städtische Hitzewellen, bei denen bis zu 65 Prozent ihre Aktivitäten im öffentlichen Raum reduzieren.

Vorstellung in Berlin: Mit den Ergebnissen des Acatech-Projekts wurden auch Handlungsempfehlungen als Orientierungs- und Argumentationshilfe für kommunale Praktikerinnen und Praktiker vorgestellt.

Normen, Werte und Einstellungen

Auch psychologische Aspekte werden beleuchtet. Eine positive Affinität zum Fahrrad etwa hat, wer seit der Kindheit gerne das Rad benutzt hat. In der Jugend wird das Zweirad Mittel zur Selbstständigkeit, die Umgebung auf eigene Faust zu erkunden. Fördert man durch Bildung in Schule und Familie frühzeitig positive Erfahrungen mit aktiver Mobilität, kann dies langfristig ein umweltfreundliches Verkehrsverhalten begünstigen. Und ob jemand in öffentliche Verkehrsmittel einsteigt, ist auch eine Frage des Images. So besitzen Buslinien ein schlechteres Image als schienengebundene Verkehrsmittel. Als Interventionsansatz werden statussensible Angebote und begleitende Kommunikations- und Marketingmaßnahmen empfohlen.

„Die Novellierung des StVG ist eine wichtige Basis für ein Mobilitätsgesetz mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort.“

Helmut Holzapfel, Co-Projektleiter

Wechsel und Krisen als Chancen

Auch eine neue Lebensphase bietet die Chance, mit Routinen und Gewohnheiten zu brechen. Mit Bezug einer Wohnung oder Wechsel des Arbeitsplatzes kann das eigene Mobilitätsverhalten hinterfragt werden. Hilfreich können deshalb Mobilitätsberatungen für Neubürgerinnen und Neubürger oder junge Familien sein. Betriebe können Anreize setzen, wenn sie Mitarbeitenden Abomodelle für Dienstfahrräder oder ein Mobilitätsbudget anbieten. Ebenso bewirken externe Schocks oder unvorhergesehene Ereignisse individuelle Verhaltensänderungen. Als Beispiel wird die Covid-19-Pandemie genannt, in der zahlreiche Personen ihr Standort-, Aktivitäts- und Mobilitätsverhalten hinterfragt haben. Digitale Transformationen haben standortunabhängiges Arbeiten ermöglicht.

Partizipation aller Teilnehmer

„Als einseitiger Top-down-Prozess wird die Transformation der Mobilität jedoch nicht erfolgreich sein. Wichtig ist, dass sich alle gesellschaftlichen Gruppen als Teil dieser Veränderung verstehen, diese für sich als Gewinn betrachten, die Prozesse mitentwickeln und in ihren Alltag integrieren“, heißt es im acatech-Bericht. Konflikte entstehen zum Beispiel bei unterschiedlichen Vorstellungen von Raumnutzung. Deshalb sollte der Austausch zwischen Nutzergruppen ermöglicht werden. Die Akzeptanz neuer Angebote wie temporär verkehrsberuhigte Zonen wird größer durch die Einbindung lokaler Akteurinnen. In Partizipationsprozessen wird das Wissen von Quartieranrainerinnen genutzt und fließt mit in die Planung ein.

Raumebene Stadtregion: Wichtig ist hier die Abstimmung von Siedlungsentwicklung, Infrastruktur und Verkehrsachsen. Rund um Bahnhöfe und Haltestellen können attraktive Zentren entstehen.

Regelwerke reformieren, Zusammenarbeit fördern

Dreh- und Angelpunkt von Interventionen, um auf Verhaltensänderungen einzuwirken, bleibt das Zusammenspiel von Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung. Zu den Bausteinen gehören Umweltzonen, der Ausbau von Fuß- und Radinfrastrukturen, Bike-Sharing-Systeme und Quartiersverbindungen durch den ÖV. Die Empfehlungen der Acatech richten sich auch an die Politik. Co-Projektleiter Helmut Holzapfel sagt: „Es ist ein Dilemma: Kommunen sollen die Mobilitätswende vorantreiben, doch sobald sie Neues ausprobieren, um öffentlichen Raum vielfältiger zu nutzen und etwa Straßen für Fußgängerinnen und Fußgänger zu öffnen, droht schnell der Gang vor Gericht. Die Novellierung des StVG ist eine wichtige Basis für ein Mobilitätsgesetz mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort.“ Kommunen sollten mehr rechtlichen Spielraum erhalten, um integrierte Maßnahmen eigenständig umzusetzen. „Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser“, findet Co-Projektleiter Klaus Beckmann (Interview). Eine entsprechende Reform ist 2023 im Bundesrat jedoch gescheitert.
Patentlösungen für lebenswerte Stadtregionen gibt es nicht. Deshalb sollten Experimentierklauseln erweitert und das temporäre Abweichen von Vorschriften erleichtert werden. So könnten innovative Ansätze und ihre Wirkung rechtssicher ausprobiert werden. „Die Sendlinger Straße in München ist ein gutes Beispiel“, sagt Co-Projektleiter Klaus Beckmann. „Die Straße wurde zunächst versuchsweise zur Fußgängerzone umgewidmet. Seither flanieren die Menschen, sie genießen den neu gewonnenen Freiraum und auch der Einzelhandel profitiert von der höheren Besucherfrequenz. Schon nach einem Jahr war klar: Das soll so bleiben.“
Programme mit angepassten Förderbedingungen sollten einen integrierten Ansatz in Kommunen und Regionen unterstützen für eine langfristige und sichere Planung.

Erfolge in Paris, Freiburg und Hannover

Als Beispiel für einen integrierten Planungsansatz wird unter anderen die französische Hauptstadt Paris genannt mit ihrer Fokussierung auf gute Erreichbarkeit nach dem Konzept der 15-Minuten-Stadt. Dort wurde von 2001 bis 2018 ein deutlicher Rückgang der täglich mit dem Auto zurückgelegten Wege verzeichnet, während sich die zu Fuß zurückgelegten Wege um etwa 50 Prozent erhöht haben. Die Anzahl mit dem Auto zurückgelegter Wege fiel 2018 sogar unter die 6-Millionen-Marke. In Freiburg im Breisgau wiederum verfolgt man seit Ende der 1980er- Jahre das Ziel, Verkehr durch eine abgestimmte Stadtentwicklungs- und Mobilitätspolitik zu vermeiden. Die Wirkung einer integrierten Planung wird deutlich sichtbar. So stieg zwischen 1982 und 2016 der Anteil des Umweltverbunds von 61 auf 79 Prozent, der des motorisierten Individualverkehrs sank von 39 auf 21 Prozent. Nicht zuletzt steht die Region Hannover mit ihrer Regionsversammlung als Beispiel für eine institutionalisierte Form regionaler Zusammenarbeit. Bereits 2011 wurde ein Verkehrsentwicklungsplan für die Region verabschiedet, der auf räumliche Integration abzielte. Im 2023 fortgeschriebenen Verkehrsentwicklungsplan ist eine Senkung des CO2-Ausstoßes von 70 Prozent bis 2035 vorgesehen. Zwischen 2011 und 2017 ging der MIV-Anteil in der Region von 59 auf 55 Prozent zurück, der des Umweltverbunds stieg von 41 auf 45 Prozent.

„Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser“

Interview mit Acatech-Co-Projektleiter Prof. Klaus Beckmann

Was sind Kernanliegen des integrierten Ansatzes?
Es geht um die Frage, welche Effekte auf den Verkehr wir bei der Stadtentwicklung berücksichtigen müssen. Wie können wir die erwünschten Effekte im Verkehr stützen, die unerwünschten bremsen oder umlenken? Das bedeutet, dass ich über die verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen nachdenken muss. Es beginnt im Straßenraum vor der Haustür. Der ist nicht nur Verkehrsfläche, sondern ebenso für Aufenthalt, Kontakte oder Spiel. Ich kann auch Grünflächen zur Verbesserung des Stadtklimas bereitstellen.
Das geht dann ins Quartier hinein. Was ist bereits an Einrichtungen vorhanden? Welche sollte man schaffen, die im Alltagsleben Ziele von Menschen sein können? Von der Schule über den Kindergarten, die Einkaufsgelegenheiten bis hin zu Ärzten. Das muss ich versuchen mitzudenken.
Man könnte jetzt sagen, das ist doch alles fix. Die letzten zwei Jahre haben jedoch gezeigt, dass vieles, von dem wir gemeint haben, es sei fix, nicht so fix ist. Ich erinnere an den für die Innenstädte problematischen Niedergang der Kaufhäuser. Welche Nutzungen ich da reinbringen kann. Ausschließlich Handel ist vielleicht zu monofunktional. Ich muss überlegen, ob nicht auch Wohnungen oder Arbeitsplätze infrage kämen – oder eine Bibliothek. Was wir jahrelang an den Rand der Städte geschoben haben, kann vielleicht wieder in die Stadt rücken. Bei den räumlichen Maßstabs-ebenen bin ich da vom Quartier im Übergang zur Gesamtstadt. Wo liegen die Orte, die Zugänge zu Fußgänger- und Zweiradverkehrsnetzen oder zum ÖPNV bieten? Kann ich die mit der U-Bahn oder Tram erreichbar machen? Hier sind die Botschaften. Wir brauchen Integration. Städtebau auf der einen Seite, Mobilität auf der anderen. Und das über alle Ebenen vom Quartier bis in die Region hinein.

Wie wichtig ist eine selbstständige Planung für die Kommunen?
Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser. Die Politikerinnen und Politiker aus den Gemeinde- und Stadträten müssen letztlich die Wirkungen überprüfen und eventuell nachkorrigieren, also Erfahrungen sammeln. Vor allem die Kritik der Bürgerinnen und Bürger ist aufzunehmen, um sich damit auseinanderzusetzen. Die Verantwortlichkeit ist bei den Kommunen zu sehen. Dieser Weg ist im Augenblick eingeschränkt, beispielsweise durch das bisherige Straßenverkehrsgesetz.
Natürlich gibt es Argumente dafür zu sagen, es wäre nicht förderlich, wenn wir in Kommune A und der Nachbarkommune B völlig gegensätzliche Regelungen hätten. Deswegen bedarf es eines Rahmens wie das Straßenverkehrsgesetz und die Ableitung als StVO. Aber das ist im Augenblick relativ strittig. Es gibt mehr als 1000 Gemeinden, die postuliert haben: Gebt den Städten und Gemeinden mehr Kompetenzen und Verantwortlichkeiten im Bereich der Gestaltung von städtischen Verkehrsräumen. Das betrifft zum Beispiel die Geschwindigkeiten.

Was beeinflusst die individuelle Verkehrsmittelwahl?
Das fängt bei der Wohnungssuche schon mit dem Angebot an. Wo liegt das in der Stadt? Wie erreiche ich von dort meinen Arbeitsplatz und Einkaufsgelegenheiten? Ist das ein gut ausgestattetes Quartier? Was für Mobilitätsoptionen habe ich selbst und bevorzuge ich? Bin ich Fußgänger, Fahrradfahrer, ÖPNV-Nutzer oder passionierter Autofahrer?
Es gibt einige Wohnungsbaugesellschaften, die bereits integrierte Angebote von Wohnungen und Mobilitätsmöglichkeiten machen. Als Nutzer mieten Sie also eine Wohnung und haben vielleicht damit schon einen Mobilitätspool. Dieser kann ein Fahrrad, ein Pedelec, einen Leih-Pkw oder eine ÖPNV-Fahrkarte beinhalten. Gerade im kommunalen Bereich, in Quartieren und Stadtteilen, spielen nicht motorisierte Verkehrsmittel von den Füßen bis zu den Zweirädern eine bedeutende Rolle.

Der integrative Ansatz ist umfangreich: Wer hat den Masterplan, wer fängt an?
Das Schwierige und Interessante daran ist, dass es keine Musterlösung gibt nach dem Motto: Nur so geht´s. Das hängt von den lokalen Rahmenbedingungen ab. Was habe ich für ein Radwegenetz? Wie kann ich das Straßennetz umgestalten? Ich muss bei allem, was die Stadtplanung und die Verkehrsplanung entscheiden, fragen: Was bedeutet das hinsichtlich der städtischen Lebensqualitäten sowie der Mobilitäts- und damit Teilnahmemöglichkeiten? Das sind zentrale Fragen, die man sich ständig stellen muss. Manche Städte haben gute Erfahrungen gemacht, indem sie Masterpläne erstellt und schrittweise in der Verwaltung und Politik umgesetzt haben. Das schließt nicht aus, dass man, wenn Menschen aus dem Quartier sagen: Das ist etwas, was wir für nötig halten, dies berücksichtigen, also davon profitieren sollte.

Ein Leitfaden, der mit dem Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) entwickelt wurde, unterstützt Kommunen bei der Transformation ihrer Governance und zeigt Handlungsbausteine auf für integriertes Arbeiten.

Info: www.acatech.de


Bilder/Grafiken: acatech, David Ausserhofer

Viele Kommunen in Deutschland wollen ihre Radverkehrsnetze ausbauen. Doch welche Routen eignen sich dabei am besten? Das Fehlen von festgelegten Prinzipien zur Bewertung von Radrouten erschwert bisher die entsprechende Planungsarbeit. In Bremen wurde nun ein niederländischer Ansatz verfolgt, um eine bessere Radinfrastruktur für die Vernetzung des jungen Stadtviertels Überseestadt mit dem nahen Stadtzentrum zu planen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Das auf dem ehemaligen Überseehafen errichtete Bremer Stadtviertel Überseestadt bietet Platz für gegenwärtig rund 2300 Wohnungen und über 1100 Unternehmen mit rund 20.000 Beschäftigten. Bis 2030 soll sich die Zahl der Einwohner*innen noch nahezu verdoppeln.

Empfehlungen für die Planung der Breiten und der Art der Radverkehrsinfrastruktur existieren in Deutschland bereits. Sie sind in technischen Regelwerken der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) beschrieben. Jedoch fehlt es an einer gängigen Bewertungsgrundlage für Radrouten, welche sich nicht nur auf die technische Machbarkeit fokussiert. Das Fahrrad zu nutzen, spricht schließlich vor allem dann an, wenn Routen auch komfortabel und attraktiv sind. Das Ziel von Radverkehrsinfrastruktur ist es nicht nur, das Radfahren überhaupt zu ermöglichen und sicher zu machen, sondern auch mehr Menschen für das Radfahren zu begeistern. Nur elf Prozent der Wege in Deutschland werden mit dem Fahrrad zurückgelegt. Zudem fahren weniger Frauen als Männer mit dem Fahrrad und immer mehr Kinder werden mit dem Auto chauffiert, wie beispielsweise die Studie Mobilität in Deutschland zuletzt 2017 feststellte. Die Qualitätskriterien für Radwege zu erweitern, könnte helfen, solche Gruppen anzusprechen.
Eine entsprechende Bewertungsgrundlage wurde nun in einem Projekt für Radverkehrsverbindungen zwischen zwei Gebieten für die Freie Hansestadt Bremen ausgearbeitet. Ziel war, attraktive Radverkehrsrouten für Pendlerinnen zu entwickeln, um den Modal Shift vom motorisierten Individualverkehr (MIV) zum Fahrrad zu unterstützen. Planerinnen in den Niederlanden können bereits seit 1993 auf derartige Gestaltungsprinzipien zurückgreifen. Diese wurden damals im Gestaltungshandbuch für Radverkehr im Rahmen des Radverkehrsmasterplans (Masterplan Fiets program von CROW) dargelegt. CROW ist eine Technologieplattform für Verkehr, Infrastruktur und öffentlichen Raum. Der letzte Stand datiert aus dem Jahr 2017.
Die Europäische Kommission empfiehlt die CROW-Gestaltungsprinzipien jenen EU-Mitgliedsstaaten, die noch keine eigenen Standards, Richtlinien oder Prinzipien für Radverkehrsanlagen entwickelt haben. Die CROW-Prinzipien könnten auch bestehende Richtlinien ergänzen. Diese Prinzipien basieren nicht nur auf objektiver, sondern auch auf subjektiver Sicherheit. Es spielt außerdem eine Rolle, wie komfortabel, kohärent und attraktiv die Routen sind. Auch zugänglich und direkt sollen die Routen laut der CROW-Zielstellung sein. Bewertet wird somit beispielsweise, wie entspannt das Radfahren ist und wie viel Freude es bereitet. Dies ist ein entscheidender Ansatz gemäß den dänischen Verkehrsforscherinnen Mette Møller und Tove Hels. Sie stellten 2008 in der Studie „Cyclists’ perception of risk in roundabouts“ fest, dass „Radfahrende eine Straßengestaltung bevorzugen, die das Verhalten der Verkehrsteilnehmer klar regelt“. Dies führe dazu, dass mehr Menschen häufiger und auf längeren Strecken Rad fahren.

Niederländische Prinzipien

In den Niederlanden bilden die folgenden fünf Prinzipien die Grundlage fast aller Fahrradprojekte. Planer*in-nen berücksichtigen sie, wenn sie Netze planen, fehlende Verbindungen mit Direktheitsanalysen identifizieren oder die Routenwahl bewerten.

Sicherheit:

Sie ist die Grundvoraussetzung für den Radverkehr. Radfahrende sind insbesondere an Kreuzungen gefährdet. Auch fühlen sie sich im Längsverkehr gefährdet, wenn sie gemeinsam mit dem Kfz auf der Fahrbahn geführt werden. Dies ist bedingt durch die Geschwindigkeitsunterschiede, die Fahrzeuggröße oder das Verkehrsaufkommen.

Direktheit:

Direkte Fahrradrouten, reduzierte Entfernungen, Fahrzeiten und Wartezeiten an Lichtsignalanlagen (LSA), das heißt Ampeln, erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit des Fahrrads gegenüber dem motorisierten Verkehr.

Kohärenz und Zugänglichkeit:

Die Routen sollten zusammenhängend und zugänglich sein, sodass Menschen, die mit dem Fahrrad fahren, problemlos ihre Ziele erreichen können. Es wird empfohlen, dass Menschen in städtischen Gebieten nicht mehr als etwa 250 Meter zurücklegen müssen, um das Fahrradnetz, das heißt, entweder Neben-, Hauptrouten oder Radschnellverbindungen/Premiumrouten, zu erreichen. Somit führen die zu bewertenden Routen im besten Fall an Ziel- und Startpunkten vorbei (Umkreis von 250 Metern) oder haben eine gute und direkte Anbindung zu den Routen über das Neben- und Hauptroutennetz. Fahrradrouten sollten auch Verbindungen mit dem öffentlichen Verkehrsnetz beinhalten, um Wegeketten zu optimieren (Intermodalität).

Attraktivität:

Die Menschen werden zum Radfahren ermutigt, wenn sie sich sicher fühlen und die Infrastruktur und die Route sich in einer attraktiven und abwechslungsreichen Umgebung befinden.

Komfort:

Das Radfahren sollte angenehm, reibungslos und entspannt sein, um den Komfort der Radfahrenden zu maximieren. Eine angenehme Fahrbahnoberfläche und geringe Lärmemissionen steigern das Komfortgefühl beim Radfahren.

Neben den Prinzipien, welche die Qualität von Radverkehrsverbindungen berücksichtigen, sind auch Herausforderungen zu bewerten. Damit ist gemeint, wie gut ein Vorhaben technisch machbar ist und welche Flächen und welches Budget verfügbar sind. Wichtig ist auch die Planung der Anlagen (Fahrradstraße vs. Fahrradbrücke) und ob bereits eine Radverkehrsanlage vorhanden ist, die zumindest teilweise genutzt werden kann.
Dieser Ansatz wurde in Bremen genutzt und ausgearbeitet. Dort sollen zukünftig besonders intuitive und attraktive Routen entstehen, die zum Radfahren zwischen der Bahnhofsvorstadt und der Überseestadt einladen und so zu einer Verlagerung vom MIV auf das Fahrrad beitragen.

24,8 %

Fast ein Viertel aller Wege werden in Bremen
mit dem Fahrrad zurückgelegt.
Die Hansestadt hat damit den höchsten Radverkehrsanteil
unter den deutschen Großstädten.

Die Tabelle zeigt das Ergebnis der in Bremen entwickelten Prinzipien mit den entsprechenden Kriterien. Die Prozentsätze stellen die Gewichtungen der jeweiligen Prinzipien und Kriterien dar.

Bewertet und gewichtet

Um zu überprüfen, wie die CROW-Prinzipien umgesetzt wurden und wirken, sind für jedes Prinzip verschiedene Kriterien zu erfüllen. Diese wurden im Rahmen eines Workshops mit der Bremer Verwaltung diskutiert und priorisiert. Hierdurch wurden die Kriterien für das deutsche, im Speziellen das Bremer Umfeld überprüft. Anschließend wurden in einer sogenannten Multikriterienanalyse die Kriterien gewichtet, um die Relevanz der Prinzipien (z. B. Sicherheit vor Attraktivität) abbilden zu können. Zusätzlich zu den Prinzipien, welche die Qualitäten aus Sicht der Radfahrenden widerspiegeln, wurden mögliche Herausforderungen definiert. Die Qualitäten sowie die Herausforderungen stehen im gleichen Verhältnis zueinander, das heißt, die Summe aller qualitativen Prinzipien wird im gleichen Maße gewichtet wie die Summe aller Herausforderungen.

Fakten zum Projekt

  • Das Projekt war eine Maßnahme aus dem Integrierten Verkehrskonzept (IVK) Überseestadt.
  • Bereits zum aktuellen Entwicklungsstand weist das Verkehrssystem für Kraftfahrzeuge der Überseestadt täglich mehrfach verkehrliche Überlastungserscheinungen auf.
  • Es werden weitere Pendelbeziehungen zwischen dem Bremer Hauptbahnhof und der Überseestadt erwartet.
Ziele des IVKs:
  • Die verkehrliche Erschließung und Anbindung des Gebietes, insbesondere an das Rad- und ÖPNV-Netz
  • Förderung der Verlagerung auf den Umweltverbund
Projektbearbeitung:
  • Goudappel BV gemeinsam mit Fair Spaces GmbH (damals AEM Accessible Equitable Mobility GmbH)
  • Im Auftrag der Wirtschaftsförderung Bremen GmbH (WFB) unter besonderer Mitwirkung durch die Senatorin für Klimaschutz, Umwelt, Mobilität, Stadtentwicklung und Wohnungsbau – Team Nahmobilität erarbeitet
  • Mittelzuwendung: Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE)

Praktische Anwendung in Bremen

Sechzehn Routen wurden im Rahmen des Projektes als Optionen zur optimierten Anbindung der Überseestadt an den Hauptbahnhof identifiziert und ausgearbeitet. Aufgrund der Größe des Gebietes wurde es in vier Regionen aufgeteilt: die Bahnhofsvorstadt, Überseeinsel/Süden der Überseestadt, Mitte der Überseestadt und Norden der Überseestadt. Anders als die Überseestadt ist die Bahnhofsvorstadt ein bereits entwickeltes und stark verdichtetes Gebiet mit einem hohen Verkehrsaufkommen. Der Doppelknoten Doventor ist ein etwa 90 Meter langer Straßenabschnitt mit zwei Knotenpunkten im Süden sowie Norden und bildet in vielen Fällen den Drehpunkt zwischen der Bahnhofsvorstadt und den drei Regionen in der Überseestadt. Somit verlaufen die meisten Routen durch die Bahnhofsvorstadt bis zum Gebiet des Doventors sowie vom Doventor in die verschiedenen Regionen der Überseestadt. Die Routen, die nicht über das Doventor laufen, nutzen Wege nördlich des Straßenabschnitts sowie über eine bisher noch nicht vorhandene Brücke.
In einem nächsten Schritt wurden die Routen mit den entwickelten Prinzipien und Kriterien bewertet, um die optimalen Routen zu ermitteln. Im Ergebnis wurden drei Routen in der Bahnhofsvorstadt als Vorzugsvariante ausgewiesen, wobei die dritte Route als langfristiges Projekt zu sehen ist, da hier ein aufwendiges Brückenbauwerk entlang der Bahnlinie notwendig wäre. Für die Abschnitte zu den drei Bereichen der Überseestadt konnte jeweils eine Vorzugsvariante identifiziert werden. Außerdem wurden Verbindungsstücke zwischen den verschiedenen Regionen in der Überseestadt entwickelt und bewertet. Für die Routen zur Überseestadt Süd wurden die Routen, die entlang der Weser verlaufen, nicht als Vorzugsvariante identifiziert, um Konflikte zwischen Fuß- und Radverkehr zu vermeiden.
Völlig problemfrei war die Arbeit mit dem Bewertungsraster nicht. Bereits bestehende beziehungsweise vergangene und zukünftige Routen zu vergleichen, ist manchmal schwer möglich. So wurden zum Beispiel Routen schlechter bewertet, die derzeit mehr Unfälle aufweisen. Routen, die noch nicht existieren, können dagegen nur mit ihrem zukünftigen Zustand bewertet werden und schneiden daher im rein theoretischen Vergleich zu Bestandsrouten im ursprünglichen Zustand bei der Bewertung besser ab. Es ist wichtig, sich genau zu überlegen, welche Situation für welches Kriterium zu bewerten ist, und dies sollte konsequent umgesetzt werden, um ein in sich schlüssiges Ergebnis zu erhalten. Idealerweise sollten alle Kriterien auf die aktuelle oder zukünftige Situation übertragen werden.

Auf dem 300 Hektar großen Areal des früheren Überseehafens in Bremen entstand in den vergangenen 20 Jahren der neue Ortsteil Überseestadt. Für dessen Anbindung mit dem Fahrrad an das nahe gelegene Stadtzentrum der Hansestadt wurden im Rahmen des Projekts 16 optionale Routen ausgearbeitet.

Kriterien unterschiedlich bewertet

Die Bahnhofsvorstadt ist ein dicht besiedeltes Gebiet mit einem engmaschigen Straßenverkehrsnetz. Die Führungen der Routen und deren Bewertung sind hier um einiges komplizierter als in den Gebieten, die zur Überseestadt führen. Das Beispiel zeigt die Bewertung der Routen in der Bahnhofsvorstadt für das Prinzip Attraktivität. Hierzu gehören die Kriterien

Grüne Route:

Routen, die durch viel Begrünung gekennzeichnet sind

Leuchtturmprojekt:

Radverkehrsverbindung und/oder Ausstattung der Radverkehrsinfrastruktur ist außergewöhnlich

Spaß:

Es gibt schöne Aussichten entlang der Fahrt, Menschen, zum Beispiel in Parks, können beobachtet werden, Route führt entlang von Sehenswürdigkeiten

Soziale Sicherheit:

Wege, die beleuchtet sind und wo sich viele Personen im öffentlichen Raum aufhalten – insbesondere bei Dunkelheit

Die Routen, die entlang der grünen Wallanlagen führen, erhalten die höchsten Bewertungen in dieser Kategorie. Die soziale Sicherheit wiederum ist an belebten Straßen höher als an Abschnitten mit wenig Verkehr und wenigen Menschen auf Geh- und Radwegen. Der Faktor Spaß ist hoch an grünen Abschnitten, an Routen mit geringem Kfz-Verkehr oder auch mit wenig Gegenverkehr. Dasselbe gilt für das Kriterium „Leuchtturmprojekt“: Die Radfahrer*innen sollen die Strecke als attraktiv empfinden und sie als Sehenswürdigkeit mit positiven Gefühlen besetzen. Das gilt auch für die Routen, welche den Fly-over Am Wall der gerade geplanten Premiumrouten von Bremen nutzen. Der Fly-over wird eine Brücke sein, die es Radfahrenden ermöglicht, die Straße ohne Wartezeiten zu überqueren.

Feinabstimmung möglich

Das Beispiel aus Bremen dürfte auch auf andere Gebiete übertragbar sein. So wurden Punkte wie geringe Steigungen in die Bewertung aufgenommen, wohl wissend, dass es in Bremen kaum Steigungen gibt. Der Ansatz kann zudem nicht nur Verwendung finden, um Routenverbindungen zu vergleichen und Vorzugsvarianten zu identifizieren. Das Tool ist auch dafür nutzbar, Radverkehrsnetze und neue Wegeverbindungen mit den Prinzipien und Kriterien zu überprüfen. So können
beispielsweise Schwachstellen des Netzes oder der Route rechtzeitig vor Planungen evaluiert werden. Der niederländische CROW-Ansatz trägt dazu bei, die Radverkehrsinfrastruktur in einem ganzheitlicheren Ansatz zu betrachten. Dies ist ein Schlüsselelement, um zukünftig einen höheren Radverkehrsanteil zu erreichen. Wer den Ansatz lokal anwenden muss, sollte die Situation vor Ort, politische Leitziele und aktuelle Trends betrachten. Die Gewichtung erlaubt dann ein Fein-Tuning auf die jeweiligen Bedürfnisse.

Link zur Studie

WFB Wirtschaftsförderung Bremen GmbH (2022): Machbarkeitsstudie, Standort- und Potenzialanalyse – Radverkehrsverbindung Überseestadt – Bahnhofsvorstadt sowie Fahrradparken in der Überseestadt in Bremen, abrufbar über:

https://sd.bremische-buergerschaft.de/vorgang/?__=UGhVM0hpd2NXNFdFcExjZVDgiAohC_SiABC2zFa4w4M

(Hinweis: AEM Accessible Equitable Mobility GmbH heißt nun Fair Spaces GmbH)


Bilder: stock.adobe.com – Witalij Barida, Fair Spaces – Goudappel, Quelle Tabelle: WFB Wirtschaftsförderung Bremen GmbH (2022)