Im Dezember 2023 war die Regierung aus SPD, FDP und Grünen zwei Jahre im Amt. Wie sieht ihre bisherige verkehrspolitische Halbzeitbilanz aus Sicht der Fahrradbranche aus? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Es sollte eine „Fortschrittskoalition“ werden. Das neue Bündnis hatte sich viel vorgenommen. Im 177-seitigen Koalitionsvertrag von 2021 findet sich 72-mal das Wort „Zukunft“, 11-mal ist von „Aufbruch“ die Rede. Doch neben blumigen Worten gibt es kaum etwas zum Thema Mobilität und Verkehrswende. Ein Lichtblick: Die Ampel-Koalitionäre formulierten ihre Absicht, Straßenverkehrsgesetz und StVO so anzupassen, „dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen“.
Der Fahrradbranche fiel ansonsten auf, dass der Begriff „Verkehrswende“ im Koalitionsvertrag überhaupt nicht vorkam. Dem Thema Radverkehr waren ganze vier Zeilen gewidmet, zum Beispiel: „Wir werden den Nationalen Radverkehrsplan umsetzen und fortschreiben, den Ausbau und die Modernisierung des Radwegenetzes sowie die Förderung kommunaler Radverkehrsinfrastruktur vorantreiben.“ Allgemeinplätze.
Für den Radverkehr war der Koalitionsvertrag 2021 daher eine Enttäuschung. Hinzu kam – neutral gesagt – die Überraschung, dass ein FDP-Minister das Ministerium führen sollte. Viele waren davon ausgegangen, dass der Grüne Cem Özdemir Verkehrsminister werden würde. Dessen Haltung zur Verkehrswende war bekannt, Volker Wissing hingegen hier eher ein unbeschriebenes Blatt. In seiner Zeit als Landesminister für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau in Rheinland-Pfalz war er nicht durch eine besonders fortschrittliche Verkehrspolitik aufgefallen.

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Verkehrspolitische Zwischenbilanz

Nach gut zwei Jahren Regierungszeit lässt sich nun eine Zwischenbilanz ziehen. Welche verkehrspolitischen Akzente hat Volker Wissing als Bundesverkehrsminister gesetzt? Hat er die Verkehrswende vorangebracht? In welcher Weise hat er etwas für die Fahrradbranche bewegt?
In den ersten Monaten seiner Amtszeit war auffällig, wie sehr sich Volker Wissing öffentlich bemühte, jede Erwartung zu zerstreuen, er könnte die Rahmenbedingungen für den motorisierten Verkehr verschlechtern oder das Autofahren teurer machen. Die Ablehnung von Tempolimits war sogar im Koalitionsvertrag bereits festgeschrieben worden. Allerdings war nach dem Bundesklimaschutzgesetz (KSG) 2019, das zwei Jahre später als Konsequenz eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts nochmals verschärft wurde, eine klar definierte CO2-Reduktion auch für das Verkehrsressort gesetzlich verpflichtend. Daher stand der Minister unter Druck, hier auch zu liefern.
Doch Volker Wissing schien das KSG nicht weiter zu interessieren. Bisher wurde in jedem Jahr seiner Amtszeit festgestellt, dass der Verkehrssektor die gesetzlichen Vorgaben nicht eingehalten hat und die Reduktionsziele deutlich verfehlt wurden. Für den Minister war dies allerdings kein Anlass, seinen Kurs zu ändern. Stattdessen wurde die Verantwortung weitergeschoben: Nicht Volker Wissing würde die Klimaschutzziele reißen. Es wären die Bürgerinnen und Bürger, die eben mobil sein wollten – so lautete die Begründung seines Parteichefs Christian Lindner. Der Spiegel nannte diese Haltung eine „Verweigerung des Klimaschutzes“ und „Nichtstun als Methode“.

Dass die Radinfrastruktur noch nicht gerade perfekt ist, ist offensichtlich, aktuell wird aber das Bemühen, daran etwas zu ändern, ausgebremst.

Was kümmert mich das Klimaschutzgesetz?

Mit seinem offensichtlich gesetzeswidrigen Verhalten ist Volker Wissing natürlich ein nicht unerhebliches Risiko eingegangen. Deshalb haben er und seine Partei mit dafür gesorgt, dass das KSG in der Weise geändert werden soll, dass es künftig keine separaten Reduktionsziele für den Verkehrssektor mehr gibt, sondern nur noch ein Gesamtpool aller Sektoren betrachtet wird. Das Kabinett hat im Juli 2023 einen entsprechenden Gesetzentwurf verabschiedet, der allerdings noch nicht durch den Bundestag ist (Stand Januar 2024).
Ein Handeln nach dem Motto: „Wenn ich die Vorgaben des Gesetzes nicht einhalten kann, ändere ich einfach das Gesetz“ ist im Hinblick auf das Rechtsempfinden der meisten Bürgerinnen und Bürger und für die politische Moral in Deutschland allerdings verheerend. Es zeigt zudem, wie wichtig der Ampel-Regierung offenbar ein Festhalten am verkehrspolitischen Status quo ist – mit ein bisschen mehr E-Mobilität und verbessertem ÖPNV.
Das temporäre 9-Euro-Ticket sowie nun das 49-Euro-„Deutschlandticket“ für den Nahverkehr ist hingegen ein Punkt, den sich der Verkehrsminister auf der Haben-Seite seiner Bilanz zu Recht ans Revers heften kann.

Planungsbeschleunigung

Ein weiteres wichtiges verkehrspolitisches Thema in den letzten zwei Jahren war die Planungsbeschleunigung für Infrastrukturmaßnahmen. Hier ging es darum, die Genehmigungsverfahren substanziell schneller zu machen. Durch das vom Bundestag im Oktober 2023 verabschiedete Genehmigungsbeschleunigungsgesetz soll sich das ändern, und zwar für alle Bauvorhaben, die im „überragenden öffentlichen Interesse“ liegen. Doch welche sind das? Der Ausbau der Bahn-Infrastruktur war zwischen allen Ampel-Partnern unstrittig. Auch die Einbeziehung von maroden Straßen- und Autobahnbrücken, wodurch lange Staus oder Umleitungen entstehen, waren nachvollziehbar. Ob angesichts der gravierenden Klimaproblematik jedoch auch Autobahnaus- und -neubauten zum „überragenden öffentlichen Interesse“ gehören, darüber wurde lange gerungen. Der Verkehrsminister argumentierte, ohne Straßen gäbe es in Deutschland kein Wachstum und keinen Wohlstand. Schließlich setzte sich die FDP hier durch, die Koalition verständigte sich neben den unstrittigen Themen auf eine Liste von 138 Autobahnvorhaben, bei deren Genehmigung nun unter anderem die Umweltverträglichkeitsprüfung entfällt. Im Sinne der Verkehrswende müsste die Beschleunigung allerdings auch für Radschnellwege und andere bauliche Radwege gelten. Doch was fiel für den Radverkehr ab? Nur der Bau von Radwegen an Bundesstraßen – aber nur dort, weil diese in der Kompetenz des Bundes liegen – soll ebenfalls beschleunigt werden. Tusch!

Standen dem Radverkehr im Jahr 2022 noch 750 Millionen Euro zur Verfügung, so sollen es in diesem Jahr nur noch rund 350 Millionen Euro sein.

Reform des Straßenverkehrsgesetzes

Eine zeitgemäße Reform des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) stand bereits im Koalitionsvertrag. Bisher zielt das Gesetz allein auf die Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs. Klima- und Umweltschutz oder städtebauliche Aspekte spielen keine Rolle. Die Integration dieser Themen ins Gesetz würde den Kommunen mehr Gestaltungsraum vor Ort geben – eigentlich ein klassisches FDP-Anliegen, dass Dinge von denen entschieden werden, die demokratisch legitimiert und unmittelbar betroffen sind: Stichwort Subsidiaritätsprinzip. Nachdem es 2023 endlich einen Regierungsentwurf gab, der von der Fahrradbranche immerhin als „Schritt in die richtige Richtung“ bewertet wurde, scheiterte dieser überraschend im Bundesrat. Also keine Reform, stattdessen gilt das alte Gesetz weiter.

Bis zur Fahrradidylle ist es noch ein weiter Weg. Die Branche und ihre Verbündeten werden kämpfen müssen, um die selbst gesteckten Ziele zu erreichen.

Haushaltsentwicklung

Die Fahrradwirtschaft ist in erheblichem Umfang von der Haushaltskrise des Bundes nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts betroffen. Zunächst wurde im Herbst 2023 durch die Haushaltssperre die gewerbliche E-Lastenrad-Förderung gestoppt, was viele Hersteller von Cargobikes vor massive Probleme stellt. Auch die Bike+Ride-Offensive wurde blockiert. Schließlich beschloss der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages am 18.01.24 Kürzungen in Höhe von 44,6 Mio. Euro bei dem so wichtigen kommunalen Radverkehrs-Infrastrukturprogramm „Stadt und Land“. Fast komplett gestrichen wurde das „Fahrradparken an Bahnhöfen“. Weitere Kürzungen gibt es bei Finanzhilfen zur Unterstützung des Radverkehrs in Ländern und Kommunen und bei der Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans. Die Kritik der Fahrradverbände ist deutlich, zumal beim Haushalt 2024 die Mittel für den Autobahnausbau verschont blieben und zugleich die Mittel für Regionalflughäfen erhöht wurden. Der ZIV spricht in einer Stellungnahme von einem „Schreddern beim Radverkehr und der Verkehrswende“ durch die Ampel-Parteien. Standen dem Radverkehr im Jahr 2022 noch 750 Mio. Euro zur Verfügung, so sollen es in diesem Jahr nur noch rund 350 Mio. Euro sein. Dabei hatte die Verkehrsministerkonferenz der Länder 2023 unterstrichen, dass Deutschland eine Bundesförderung für den Radverkehr von rund 1 Mrd. Euro pro Jahr benötigt, um zum „Fahrradland“ zu werden.
Die EU hat ihren Mitgliedsländern im April als Beitrag zum Klimaschutz erstmals die Möglichkeit gegeben, Fahrräder statt mit dem Standard-Umsatzsteuersatz nur noch mit dem ermäßigten Satz zu belegen. Zum Vergleich: Bus, Bahn und sogar Taxi werden nur mit 7 Prozent MwSt. belegt, das Ausleihen oder der Kauf von Fahrrädern mit 19 Prozent. Die Verbände der Fahrradwirtschaft hatten sich für eine Umsatzsteuersenkung stark gemacht, doch das Finanzministerium entschied anders. Staatssekretär Michael Kellner begründete die Absage auf dem Vivavelo-Kongress im September unter anderem mit einer sehr gut florierenden Fahrradwirtschaft.

Fahrradbeauftragte des BMDV weg

Seit dem 1. Oktober 2023 hat das BMDV keine Radverkehrsbeauftragte mehr. Karola Lambeck wurde auf eine andere Stelle befördert, seitdem ist die Funktion unbesetzt. Frau Lambeck hatte das Amt seit 2018 bekleidet und war auch in der Fahrradbranche durchaus geschätzt. Nun sind personelle Wechsel innerhalb eines Ministeriums nichts Ungewöhnliches. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Position bisher nicht neu besetzt wurde und dass es keine Information darüber gibt, wann beziehungsweise ob es einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin geben wird oder ob das BMDV diese Funktion künftig für entbehrlich hält. Für Letzteres gäbe es angesichts eines personell und strukturell inzwischen deutlich gestärkten Radverkehrsreferats im BMDV sachlich durchaus Argumente. Doch offiziell gibt es keine Erklärungen.Was sagen die
Fahrradverbände?
Mit der radverkehrspolitischen Bilanz der Ampel-Regierung ist in der Fahrradwirtschaft kaum jemand zufrieden. Im Gegenteil: Burkhard Stork, Geschäftsführer des ZIV, kritisiert, dass die Bundesregierung die Orientierung in der Verkehrspolitik verloren habe und appelliert, die Verkehrswende nicht bis zur Bundestagswahl 2025 zu verschleppen: „Wir erwarten, dass schnellstmöglich der Vermittlungsausschuss angerufen wird, um die StVG-Reform zum Abschluss zu bringen.“ Auch der Verband Zukunft Fahrrad sowie der ADFC sind von der bisherigen Regierungsarbeit im Hinblick auf die Verkehrswende enttäuscht und appellieren gemeinsam mit anderen Verbänden der Mobilitätsbranche an die Koalition, „in der verbleibenden Amtszeit ihre Verkehrspolitik stärker an ökologischen und sozialen Kriterien auszurichten“. Hinter den Kulissen fallen die Worte deutlich drastischer aus, aber richtigerweise will man mit der Regierung im Gespräch bleiben. Ein zugespitztes Ampel-Bashing würde zwar gerade gut in den Zeitgeist passen, wäre aber letztlich eher kontraproduktiv. Da ist es klug, sich mit scharfen öffentlichen Statements etwas zurückzuhalten.

Volker Wissing – wes Geistes Kind?

Bundesminister prägen als Person maßgeblich ihr Ressort, und das gilt auch für Volker Wissing und den Verkehrsbereich. Nach gut zwei Jahren zeichnet sich ein klares Bild ab: Sein abgewählter Amtsvorgänger Andreas Scheuer hatte recht, als er den Koalitionsvertrag der Ampel mit den Worten kommentierte: „Schön, dass die Ampel meine Politik der letzten Jahre fortsetzt.“ Allerdings mit einem Unterschied: In der zweiten Hälfte von Scheuers Amtszeit wurde vieles für den Radverkehr bewegt und es wurden höhere Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt. Unter Volker Wissing findet das Gegenteil statt.
Gleich nach seiner Nominierung positionierte sich Wissing massiv als Anwalt der Autofahrer. Das hätte noch taktischer Natur sein können, aber der Minister meint es ernst mit der Überzeugung, dass der Kfz-Verkehr die Grundlage unseres Wohlstands ist. Wie seine Vorgänger ist er zuallererst Autominister, vielleicht mit einer Einschränkung: ÖPNV (Ländersache) und die Bahn scheinen ihm wichtiger zu sein, Stichwort Deutschlandticket. Aber das Fahrrad?
Die Fahrradbranche sah es als positives Signal, dass Volker Wissing höchstpersönlich am 7. April 2022 zum Parlamentarischen Abend während des Vivavelo-Kongresses kam und enthusiastische Worte über das Fahrrad sagte. Aber das war‘s dann auch mit dem Ministerengagement. Zur Eurobike nach Frankfurt kam nur noch sein Staatssekretär. In seiner eigenen, 13-seitigen „Halbzeitbilanz“ nennt das Ministerium den Radverkehr ganz am Ende auf elf Zeilen und zählt als Erfolge die Verstetigung des Förderprogramms „Stadt und Land“ auf, das Erscheinen einer Broschüre mit ergänzenden Fortbildungskursen sowie die Zertifizierung des BMDV als „Fahrradfreundlicher Arbeitgeber“ in Gold. Das war‘s.
Die grundlegende Desillusionierung über Volker Wissing begann aber durch seinen respektlosen Umgang mit dem Bundesklimaschutzgesetz. Nachdem 2022 erstmals festgestellt wurde, dass der Verkehrsbereich die Sektorziele gerissen hat, musste das BMDV ein Sofortprogramm erstellen. Der Expertenrat der Bundesregierung hat dies als inhaltlich unzureichend bezeichnet, was Volker Wissing aber nicht weiter störte. 2023 wurde erneut amtlich das Verfehlen der gesetzlichen Ziele festgestellt. Diesmal verweigerte das BMDV sogar ein Sofortprogramm mit dem Argument, man wolle das Klimaschutzgesetz ohnehin ändern, was aber bis heute (Stand Januar 24) nicht rechtswirksam geschehen ist. Ende November 2023 verurteilte das OLG Brandenburg die Bundesregierung dazu, Paragraf 8 des KSG einzuhalten und Sofortprogramme aufzulegen. Die Bundesregierung legte Revision ein, um weiter Zeit zu gewinnen. Ein derartiger Umgang mit dem wichtigen Gut der Zukunftssicherung durch den Klimaschutz und vor allem auch mit unserem Rechtssystem erschüttert ganz grundsätzlich das Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern in die politische Moral der Regierung. Ein schwerwiegender Vorgang, den Volker Wissing, selbst Rechtsanwalt und Angehöriger einer Partei, die sich die Rechtsstaatlichkeit besonders auf die Fahne geschrieben hat, mitzuverantworten hat. Gleichwohl liegt hier auch eine Verantwortung beim Bundeskanzler und dem gesamten Kabinett.
Wes Geistes Kind Volker Wissing ist, zeigte sich auch beim Gerangel um die Reform des auch für den Radverkehr so wichtigen Straßenverkehrsgesetzes (SVG), das die Verkehrswende ein Stück weit hätte erleichtern können. Zunächst verzögerte das BMDV das Angehen des Themas, dann gab es um jede Formulierung zähe Verhandlungen innerhalb der Ampel-Parteien und schließlich, nach dem Scheitern des Gesetzes im Bundesrat, verzichtete der Minister auf die umgehende Anrufung des Vermittlungsausschusses, um doch noch zu einer Einigung zu gelangen. Es wirkt so, als wäre es kein allzu großer Schmerz für Volker Wissing, wenn nun wieder alles beim Alten bliebe.

Albert Herresthal


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Berlin hat eine neue Regierung. Die ersten Amtshandlungen der neuen Verkehrssenatorin brachten Radaktivist*innen in Aufruhr. Was steckt dahinter – und was ist zu erwarten? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Die Aufregung in der Hauptstadt vor den Sommerferien war enorm. „Die neue Senatorin entpuppt sich als Autoverkehrssenatorin, die zwar ‚Miteinander‘ propagiert, während ihr Herz aber eindeutig für die autogerechte Stadt schlägt“, kommentierte Ragnhild Sørensen die Aktivitäten der neuen Berliner Senatsverwaltung. Nicht nur die Sprecherin vom Verein Changing Cities, der seinerzeit den Volksentscheid zum Fahrradverkehr vorangetrieben hatte, Tausende waren in Berlin innerhalb weniger Tage mobilisiert worden und protestierten gegen den vermeintlichen Autopopulismus des neuen schwarz-roten Senats. Ende Juni feuerte Changing Cities aus vollem Rohr: „Verkehrssenatorin wickelt das Mobilitätsgesetz ab“, stand über einer Pressemitteilung. Die Medien der Hauptstadt berichteten über „mögliche Kürzungen beim Radverkehr“.

Neue Senatorin lässt Maßnahmen ruhen

Der konkrete Anlass für den Aufruhr war ein Verwaltungsvorgang, den selbst politische Widersacher der neuen Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) für eine legitime Maßnahme halten. Die Politikerin hatte am 16. Juni angekündigt, dass alle von der rot-grün-roten Vorgängerregierung beschlossenen Radwege-Bauprojekte überprüft würden. Während Schreiner von vornherein von einem „Ruhen“ der Maßnahmen und einer „Priorisierung“ mit dem Ziel eines funktionierenden Verkehrsmixes sprach, wähnten Vertreterinnen des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) ebenso wie grüne Politikerinnen in den Berliner Bezirken einen möglichen „Stopp“ des Radwege-Ausbaus. Der ADFC sah die Gefahr, dass „bewusst Politik gegen die Radfahrer“ gemacht werde.

Freigabe nach Check durch die „Task Force“

Faktisch war Folgendes geschehen: Senatorin Schreiner hatte mit ihrer Verwaltung 19 Radwege-Baumaßnahmen überprüft, die noch von der alten Regierung beschlossen worden und in den folgenden drei Monaten für die Umsetzung vorgesehen waren. Eine „Task Force“ im Verkehrssenat hatte die Aufgabe, diese Projekte zu prüfen. Wer genau sich hinter dieser „Task Force“ verbarg, beantwortet die Pressestelle des Verkehrssenats wie folgt: „Die Task Force ist eine kleine agile Einheit, die sich aus Expertinnen und Experten der Radwegeverkehrsplanung zusammensetzt. Die Gruppe prüft und plant ideologiefrei Radwege in der ganzen Stadt. Sie wird dies auch weiterhin machen.“ Die Ergebnisse kamen in den folgenden Wochen Stück für Stück an die Öffentlichkeit, in der längst eine Negativberichterstattung hohe Wellen schlug. Mit drei Ausnahmen gab die Senatorin schließlich die geplanten Vorhaben und die Finanzmittelzusagen wieder frei. Viel Lärm um nichts also? Stefan Gelbhaar, direkt gewähltes Bundestagsmitglied für Bündnis 90/Die Grünen im Bezirk Berlin-Pankow und Radpolitik-Vordenker, ordnet das Handwerk ein: „Wie das kommunikativ in die Wege geleitet wurde, wie an die Bezirke gegangen wurde, was die Bezirke teilweise daraus gemacht haben, das war jetzt nicht nur kommunikativ, sondern auch politisch: einfach sehr schlechte Governance.“

„Die Verkehrswende will keiner stoppen, auch nicht die Senatorin.“

Andreas Knie
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wahlkampfthema: „Politik gegen Autofahrer“

Die jüngste Eskalation zwischen Verkehrsaktivistinnen, Vertreterinnen der Bündnis-Grünen und der CDU-Senatsverwaltung geschah vor dem Hintergrund einer verankerten politischen Auseinandersetzung. Ein dankbares Wahlkampfthema für die CDU war die vermeintliche Ideologie, mit der wiederum die Grünen in der alten Regierung Mobilitätspolitik betrieben hätten. Das Motiv der leidenden Autofahrer schwang in Berlin ständig mit. Nach der Wahl sagte der neue Regierende Bürgermeister Kai Wegner, die Mehrheit in seiner Stadt sei es leid gewesen, dass laufend Politik gegen Autofahrer gemacht werde. „Dafür stehe ich nicht zur Verfügung.“ Allerdings kann kaum die Rede davon sein, dass Wegner mit einem harten Autofahrer-Wahlkampf agiert hätte, sagen die politischen Beobachter. „Die Grünen hätten im Mobilitätswahlkampf stärker und überzeugter auftreten können. So musste die CDU nicht einmal einen harten Auto-Wahlkampf machen“, sagt etwa Heinrich Strößenreuther, Radverkehrsaktivist mit CDU-Parteibuch. Auch Andreas Knie, Mobilitätsforscher beim Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, hielt die Aufregung für übertrieben. „Kontroversen werden schon mal gerne künstlich herbeigeschafft“, sagt Knie, „die große Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner weiß um die Situation, weiß um die Probleme mit versiegelten Flächen und dem Verkehr.“ Daher ist der Forscher sicher: „Um es klar zu sagen: Die Verkehrswende kann man gar nicht mehr stoppen und die will auch keiner stoppen, auch nicht die Senatorin.“

Gewachsene Unzufriedenheit trifft neuen Senat

Mit einem etwas distanzierteren Blick auf die Vorgänge des Sommers tritt ein spannendes Muster zutage. Eine neue, eher konservative, Regierung tritt das Erbe jener Politiker an, die wiederum vor einigen Jahren stark vom Erfolg der Radverkehrs-aktivistinnen angetrieben worden waren. Die Baumaßnahmen in der Hauptstadt haben auch überregional Aufsehen erregt. 130 Kilometer hatte die Vorgängerregierung nach Berechnungen von „Changing Citites“ als neue Radwege ausgewiesen, das war deutlich weniger als eigentlich angestrebt. „Außerdem war das sehr großzügig gerechnet und oftmals nicht in der Qualität, wie sie im Berliner Mobilitätsgesetz gefordert wird“, urteilt Strößenreuther. Aus seiner Sicht war der Protest, der sich nun im Sommer gegen die neuen Verant-wortungsträgerinnen entlud, länger schon gewachsen. „Der Boden für den Widerstand gegen die Verkehrssenatorin ist sehr fruchtbar“, sagt Strößenreuther, „denn die Unzufriedenheit hat sich bereits mit der rot-grün-roten Regierung aufgestaut, kann sich aber jetzt eher entladen, da die eigene Klientelpartei nicht mehr in der Regierung ist.“

Auch nach sechs Jahren rot-grün-rotem Senat gibt es in Berlin beim Radverkehrsausbau noch viel zu tun. Die Berliner Verwaltungsstruktur mit viel Entscheidungskompetenz in den Bezirken macht den Weg dabei nicht einfacher, sagen Beobachter.

„Ideale Voraussetzungen für Aktivisten“

Was das bedeutet, war in Berlin gut zu erkennen in den vergangenen Wochen. Fahrradvertreterinnen und Politikerinnen der Grünen gingen in Alarmismus über. Auch die SPD, Regierungspartnerin der CDU, schloss sich öffentlich dem Widerstand gegen vermeintliche Sparmaßnahmen beim Radverkehr an. So erbte Senatorin Schreiner einerseits den Frust, andererseits hat sie eine besonders aufmerksame Community um sich herum. „Als Aktivist“ sei er erstaunt gewesen, „dass das Mobilitätsgesetz so schnell und so stark auf der Agenda war, wie nur ein kleiner Funke eine verkehrspolitische Explosion entzündet – das sind optimale Voraussetzungen, um miteinander das Thema Verkehrswende voranzutreiben, den sonst bleiben alle in ihren Schützengräben“, sagt Strößenreuther.
Grünen-Abgeordneter Gelbhaar sieht die kritische Masse als wichtige Rahmenbedingung. Anderthalb Wochen nach der Bekanntgabe des Moratoriums für die Radwege habe es einen zwölf Kilometer langen Demonstrationszug von Radfahrenden gegeben. „Das ging sehr schnell“, sagt Gelbhaar: „Das hat CDU und SPD im Senat beeindruckt und richtigerweise aufgeschreckt.“ So lässt sich bislang auch zumindest in den Äußerungen der Politikerin Schreiner keinesfalls eine Abkehr vom Radwegeausbau erkennen. „Der neue Senat hat ein ganz klares Ziel: Mehr Radwegekilometer zu bauen als die Vorgängerregierung“, heißt es aus der Pressestelle des Verkehrssenats.

Was hinterließ der alte Senat?

Mobilitätsforscher Andreas Knie hat sich selbst ein Bild gemacht. Er urteilt positiv: „Die Senatorin will es richtig machen. Und da muss man auch tatsächlich selbstkritisch sagen, dass die bisherige Regierung im Kampf um diese Gebiete, im Kampf um die ersten Meter das eine oder andere Stückwerk hinterlassen hat.“ Am Plan, ist Knie sicher, werde nicht gerüttelt. Tatsache ist, dass die alte Regierung den Prozess zwar vorangetrieben hat, die Maßnahmen aber teilweise sehr schleppend vorankamen. Gelbhaar verteidigt hingegen die Arbeit der Vorgängerregierung. Auf Bezirks-ebene hätten vor sechs Jahren die Straßenbau-Fachleute den Radverkehr „mitgemacht“, auf Landesebene habe es „anderthalb Leute für ganz Berlin“ gegeben. „Das hat sich geändert. In jedem Bezirk gibt es Menschen, die für den Radverkehr zuständig sind. In der Senatsverwaltung ist eine ganze Abteilung aufgebaut worden.“
Heinrich Strößenreuther sieht eine Verwaltungsbeschleunigung als elementar an. Die Lage habe sich schon mit der neuen Staatssekretärin unter der Vorgängerregierung verbessert, nun sei mit Claudia Elif Stutz eine Fachfrau und erfahrene Beamtin aus dem Bundesverkehrsministerium in den Senat gewechselt. Wichtig: Elif Stutz fahre selbst ganzjährig Rad, sagt Strößenreuther. Die von Rot-Grün-Rot geschaffenen personellen Kompetenzen, etwa 80 Personen, reichten zwar eigentlich nicht aus, glaubt Strößenreuther. Aber es sei eben eine Beschleunigung der Verwaltungsarbeit relevant, um das Thema voranzutreiben.

„Für die Verkehrswende muss beständig nachgelegt werden. “

Stefan Gelbhaar
Bündnis 90/Die Grünen

Sorge vor Veröden der Radpolitik

Grünen-Radpolitiker Stefan Gelbhaar hingegen ist in Sorge. Klar könne man jetzt nicht offen gegen die Radverkehrspolitik agieren. „Nach diesen Vorgängen steht im Raum, dass die Abteilung eben politisch abgeschnitten wird, dass sie langsam verödet, relevante Entscheidungen nicht getroffen oder verzögert werden.“ Seine Sorge: Bei den Haushaltsberatungen könnte die neue Regierung eher Budgets für Großprojekte freiräumen, etwa den U-Bahn- und Straßenbau. „Dann fehlen Geld und Personal bei realistischen Projekten in Sachen Straßenbahn und Fahrrad.“ Er befürchtet, dass sich zwar auf dem Papier zunächst nichts ändern werde, aber die Priorität des Radverkehrs nach unten rücke. „Die Frage ist: Kommen weiter viele neue Projekte dazu oder wird das Thema entschleunigt? Derzeit sehen wir nur Projekte, die von der alten Regierung noch auf den Weg gebracht wurden. Für die Verkehrswende muss allerdings beständig nachgelegt werden.“

Senat „will“ Budget auch nutzen

Die neue Regierung kündigt an, dass sie nicht nur Gelder für den Radverkehr im Haushalt einstellen wolle (29,32 Mio. Euro 2024, 29,81 Mio. Euro 2025), sondern anders als die Vorgängerregierung diese Mittel auch tatsächlich ausgeben „will“. Dies ist ein bekanntes Problem ineffizienter, aber ambitionierter Politik. Und hier setzen die Beobachter auf die Kraft der neuen Führung. Für Heinrich Strößenreuther wird es besonders wichtig sein, an die S-Bahn-Stationen auch qualitativ hochwertige Bike-and-Ride-Anlagen zu bauen und gefährliche Kreuzungen zu entschärfen. Hier stockte der Fortschritt zuletzt. Forscher Andreas Knie weist auf ein spezifisches Thema der Hauptstadt hin: In Berlin kümmern sich abseits der großen Straßen die Bezirke um den Straßenbau. „Es bräuchte ein Landestiefbauamt, wo der Senat nicht nur anordnet, sondern auch baut – oder wo die Bezirke Anträge stellen können.“ Eine Verwaltungsreform wäre seiner Ansicht nach also geboten, um dem Radverkehr nachhaltig Schub zu verleihen.

„Verkehrsbuch ohne Autohass“

Radverkehrs-Aktivist Heinrich Strößenreuther schreibt derzeit gemeinsam mit Michael Bukowski und Justus Hagel ein neues Buch, das die nachhaltige Stadtentwicklung inspirieren soll und dabei das „Gegeneinander“ durch „Miteinander“ ersetzen soll. „Das Verkehrsbuch ohne Autohass – wie wir alle den Kulturkampf um die Straßen gewinnen“ heißt das Projekt, für das seit Anfang August auf der Crowdfunding-Plattform Startnext Geld gesammelt wird. Strößenreuther kündigt gegenüber VELOPLAN an, dass das Buch auf jeden Fall veröffentlicht werde. Mit dem Crowdfunding möchten die Autoren auch Aufmerksamkeit darauf lenken, dass „Verkehrsfrieden“ geschafft werde.

https://www.startnext.com/verkehrsbuch-ohne-autohass/blog/beitrag/crowdfunding-ohneautohass-super-angelaufen-p102201.html


Bilder: stock.adobe.com – Tobias Seeliger, Stefan Gelbhaar, Albert Herresthal, stock.adobe.com – Marco