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Es gibt kein Halten mehr

Radwege statt Parkplätze: Nirgendwo sonst in München hat der Verteilungskampf zwischen Autofahrern und Radlern so hohe Wellen geschlagen. Hat sich der Ärger in der Fraunhoferstraße inzwischen gelegt? Nicht wirklich – es kommen sogar unerwartete Probleme hinzu. Andreas Schubert, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, berichtet aus der bayerischen Landeshauptstadt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022


Ein Getränkelieferant steht am Straßenrand und entlädt Palette für Palette seinen Laster. Mehrere Paketdienst-Mitarbeiter tun es ihm gleich. Zwei Handwerker stehen mit ihrem Wagen vor dem „Bergwolf“ und essen Currywurst aus Pappschälchen. Ein Januar-Nachmittag in der Fraunhoferstraße: Es geht geschäftig zu in diesem Teil der Isarvorstadt. Bei Sonnenschein und milden Temperaturen sind viele Passanten unterwegs in einer Gegend, die noch immer von außergewöhnlichen Läden geprägt ist, wie man sie in der Fußgängerzone nicht mehr findet. Hier bekommt man Antiquitäten oder Comics, Nippes jedweder Art, Fahrräder, natürlich auch Kleidung und was man eben sonst so zum Leben braucht oder auch nicht.
An abwechslungsreicher Gastronomie mangelt es auch nicht: Das Wirtshaus Fraunhofer ist eine Institution für Schweinsbraten- und Kulturfreunde gleichermaßen, es gibt unter anderem einen Koreaner, den obligatorischen Italiener und einen Laden, vor dem sich die gesundheitsbewussten Glockenbach- und Gärtnerplatzviertler für Smoothies und Bowls die Beine in den Bauch stehen. Und in besseren Zeiten ohne Sperrstunde abends um zehn kann man bis in die Morgenstunden im „Flaschenöffner“ bestens versumpfen. Nur um die Fraunhofer Schoppenstube, die man ausnahmsweise als legendär bezeichnen kann und die 2013 zugemacht hat, trauern Nachtschwärmer noch heute.
Irgendwann landet jeder und jede hier, es ist immer was los in der Fraunhoferstraße, auch wenn sie sich in den vergangenen Jahren gewandelt hat. Die Postfiliale ist dicht, wo früher ein Drogeriemarkt war, ist heute der Stützpunkt des Lieferservice Gorillas, und manch kleiner Laden ist verschwunden, weil sich die Betreiber die hohen Mieten nicht mehr leisten konnten.
Die stärkste Veränderung aber kam vor zweieinhalb Jahren, als die Stadt alle 120  Parkplätze in der Straße strich und durch einen rot markierten Fahrradstreifen ersetzte. Seither ist die 500 Meter lange Achse zwischen Müllerstraße und Isar ein Politikum, wie es wohl keine andere der rund 30 Fraunhoferstraßen in diesem Land sein dürfte. Für Kraftfahrzeuge gibt es hier keinen Halt mehr. Anwohner müssen in Nebenstraßen parken, für Handwerker oder Kuriere gibt es dort – und nur dort – Lieferzonen. Von Beginn an war die neue Verkehrsregel Geschäftsleuten und vielen (aber nicht allen) Nachbarn ein Dorn im Auge.

Schanigarten oder Radweg?

Beppi Bachmaier, Wirt des Fraunhofer, grantelte über den „Radl-Highway“, nicht zuletzt, weil andere Gas-tronomen im Viertel sich schöne Freisitze auf umgewidmeten Autoparkplätzen vor der Haustür bauen durften. Doch mangels Parkplätzen, die man in der Fraunhoferstraße zu Schanigärten hätte umwandeln können, gingen Bachmaier und die anderen Wirte mit dieser Adresse leer aus. Immerhin gab es vergangenen Sommer mit dem Fraunhofer Isarflimmern einen Pop-up-Biergarten nahe der Reichenbachbrücke.

Wahlkampthema „RADikal-Politik“

Die CSU griff das Parkplatzthema im Kommunalwahlkampf auf, wetterte gegen die rot-grüne „RADikal-Politik“ und trommelte für Pressetermine Geschäftsleute zusammen, die dann auch schimpfen durften (s. a. VELOPLAN 4/19). Auch nach der Wahl, seit der die Christsozialen im Rathaus wieder in der Opposition sind, hielten sie sich mit Kritik nicht zurück – aber erfolglos. Denn Wirten und Geschäftsleuten bleibt das Lieferproblem erhalten, der Radweg wird bleiben, die Stellplätze kommen nicht wieder. Für Georg Dunkel, den Mobilitätsreferenten der Stadt, ist die Straße ein Paradebeispiel für den Wandel einer Stadt. Dass die öffentlichen Flächen umverteilt werden sollen zugunsten von Radlern und Fußgängern, ist die eindeutige Linie der derzeitigen Rathauspolitik.
Der Kompromissvorschlag der Familie Kilian, die einen Schlüsseldienst an der Ecke Müllerstraße betreibt, ist aus Sicht der Verwaltung nicht umsetzbar. Sie hatten von einem Architekten einen Plan mit Lieferzonen und Bäumen direkt in der Fraunhoferstraße zeichnen lassen. Doch das Mobilitätsreferat erteilte diesem Entwurf im Dezember eine Absage. Die Rad- und Fußwege wären dadurch zu schmal geworden, den 3500 Fußgängern und 2800  Radlern, die tagsüber die Straße passieren, will die Stadt keinen Platz wegnehmen. Bäume können überdies wegen der Leitungen im Untergrund nicht gepflanzt werden.

Für die Münchner Verkehrsplaner war der Umbau der Fraunhoferstraße durch die intensive Verkehrsnutzung und den begrenzten Raum ein schwieriger Fall.

Baulicher Radweg würde Kosten sprengen

Im Frühjahr will der Stadtrat über die endgültige Gestaltung der Straße entscheiden. Und wie es aussieht, wird es wohl bei der derzeitigen Lösung bleiben. Denn die Bürgersteige ließen sich auch nur minimal verbreitern, was aber nach Einschätzung der Verwaltung unverhältnismäßig teuer käme, ebenso wie ein baulicher Radweg. Stattdessen prüft die Stadt weitere Lieferzonen in den Seitenstraßen, die bestehenden sollen deutlicher gekennzeichnet werden. Denn die sind oft zugeparkt, wie sich beobachten lässt: Manche Autofahrer übersehen die Schilder einfach und lösen sogar noch einen Parkschein.
Zudem sind die Zonen aus Sicht der Händler schlicht zu weit von ihren Läden entfernt. Radek Bogacki steht am Beratungstresen seines Ladens Raab-Einrahmungen, den er vor sieben Jahren übernommen hat. Er war früher selbst Kurierfahrer, kennt also die Nöte seiner früheren Kollegen, die unter ständigem Zeitdruck stehen. Bogacki stellt auch richtig große Einfassungen her, die dann gerade mal noch durch seine Ladentür passen. Er zückt sein Handy und zeigt ein Foto eines riesigen Rahmens mit Glasscheibe. „Der wiegt 50 Kilo, tragen Sie den mal in die Lieferzone“, sagt er. Also halten die Kuriere auch direkt vor seinem Geschäft, laden kurz ein oder aus und fahren dann weiter.
Ähnlich hält es auch Ralf Brey, seit 17 Jahren Inhaber des Fahrradladens Riesenhuber. Schon von Berufs wegen hat er nichts gegen Radwege in der Stadt. Je mehr Leute radeln, desto besser ist das fürs Geschäft, auch wenn die Hersteller wegen des Radlbooms und fehlender Teile Schwierigkeiten haben, ausreichend viele Räder zu liefern. „Wir stehen seit Monaten ohne Trekking-Bikes da“, klagt Brey. Über den roten Radweg vor der Ladentür und die fehlenden Parkplätze hätten sich viele Kunden und Nachbarn anfangs ganz schön aufgeregt. „Aber mittlerweile hört man gar nichts mehr.“ Er selbst hatte auch große Bedenken, als die Stadt damals die Radstreifen markierte. Wer, so fragte er sich damals, werde ihn denn künftig überhaupt noch beliefern? Die nächste Lieferzone sei einfach zu weit weg und obendrein oft besetzt. „Das ist gut gedacht, aber falsch gemacht“, sagt Brey. Doch die befürchteten Probleme blieben aus. Eigentlich habe sich die Situation im Vergleich zu früher sogar verbessert, erzählt er nun. Weil die Fraunhoferstraße immer zugeparkt war, hielten die Lieferanten damals einfach in zweiter Reihe auf der Fahrbahn und standen so auch der Tram im Weg. Jetzt wird eben schnell am Straßenrand entladen, einen Strafzettel habe es bisher noch nicht gegeben.

Mehr freie Sicht, weniger Unfälle

Statt Parkplätzen gibt es jetzt freie Sicht über die gesamte Straße. Das hat auch dazu geführt, dass die Zahl der Verkehrsunfälle, an denen Radler beteiligt waren, zurückgegangen ist. Kein einziger dieser Unfälle wurde durch eine aufgestoßene Autotür verursacht oder dadurch, dass ein Radler ins Tramgleis kam. Nun gilt für ein Jahr zudem Tempo 30, die Stadt überlegt, ob und wo sie eine stationäre Überwachungsanlage aufstellen kann.
Im Einrichtungsladen Wohnpalette trifft man Beate Leichtle zwischen Lampen, Tassen, Spiegeln und allerlei anderen bunten Wohnaccessoires. Sie arbeitet hier und wohnt seit knapp 35 Jahren direkt gegenüber im vierten Stock. Als sie auf die nicht mehr ganz so neue Verkehrssituation angesprochen wird, sprudelt es förmlich aus ihr heraus: „Seit der Radweg da ist, ist die Straße viel lauter“, erklärt sie. Früher, sagt sie, hätten die parkenden Autos für die Anwohner auch als Schallschutz gedient. Heute pralle der Schall direkt an die Häuser und werde so reflektiert, dass es auch in den oberen Stockwerken zuweilen unerträglich werde, zum Beispiel, wenn die Feuerwehr mit Sirenengeheul durch die Straße fährt. Und das tut sie oft: Die Feuerwache 1 der Berufsfeuerwehr ist nur einen Steinwurf entfernt, die Fraunhoferstraße dient als Ausfallschneise Richtung Isar. Und auch die Nachtschwärmer erscheinen ohne die parkenden Schalldämpfer lauter. „Wenn sich die Leute früher an der U-Bahn verabschiedet haben, habe ich sie gehört“, sagt Leichtle. „Heute kann ich sie verstehen.“
Dass aktuell Tempo 30 gilt, habe sich unter Autofahrern wohl noch nicht herumgesprochen, glaubt Leichtle. In der Tat braust ein Wagen nach dem anderen vorbei, gefühlt deutlich zu schnell. Kein Wunder: Seit die Straße deutlich breiter wirkt, mag es zwar weniger Unfälle geben. Doch zugleich lädt sie viele erst recht zum Rasen ein. Leichtle selbst hat ihr Auto schon vor längerer Zeit abgeschafft, sie geht zu Fuß oder fährt mit den Öffentlichen.

Die Zahl der Unfälle mit Radfahrern ist in der Fraunhoferstraße seit dem Umbau um rund zwei Drittel zurückgegangen. Die Zahl der erfassten Unfälle durch aufgestoßene Autotüren oder durch die Tramgleise ging im beobachteten Zeitraum auf null zurück.

Stereotypen über Rad- und Scooter-Fahrer

Nicht nur auf rasende Automobilisten, sondern auch auf viele Radler ist Leichtle nicht so gut zu sprechen. Die einen nutzten die neue Breite des Radwegs und ihre 21  Gänge voll aus und heizten die Straße mit einem Affenzahn entlang. Andere wichen auf die Fußwege aus, wenn Autos oder Baustellen den Radweg blockierten. Erst vor Kurzem habe sie ein Radler direkt vor dem Laden auf dem Gehweg gestreift, wovon sie blaue Flecken am Arm davongetragen habe. Eine Entschuldigung des Radlers? Im Gegenteil, er habe sie sogar noch beschimpft. Die Gehwege sind in der Fraunhoferstraße wirklich nicht besonders breit. 2,70 Meter mag nach viel klingen, aber wenn sich mehrere Menschen begegnen, vielleicht noch ein Vater oder eine Mutter mit Kinderwagen aneinander vorbei wollen und dann auch noch ein Lieferwagen die Hälfte des Trottoirs blockiert, wird es ziemlich eng.
Ein weiteres Hindernis sind aus Leichtles Sicht die E-Scooter, die auf dem Bürgersteig abgestellt werden – oft so rücksichtslos, dass man schon mal darüber stolpern kann. „Scooter-Misere“ nennt die Anwohnerin das. „Die braucht doch in der hervorragend mit dem MVV angebundenen Innenstadt niemand, das sind reine Fun-Fahrzeuge.“ Leichtles Fazit: „Die Fraunhoferstraße ist richtig hässlich. Sie war früher schon nicht schön, aber sie hatte wenigstens Charme.“
Pierre Schmoock ist Inhaber des Ladens „Sams and Son“. Dort gibt es ein buntes Sortiment aus alten und neuen Sachen – Koffern, Taschen, Kerzen und anderen hübschen Dingen. Schmoock steht hinter dem Kassentresen, vor und hinter sich eine ganze Familie aus Kokeshi-Puppen in verschiedenen Größen – aus Obstbaumhölzern gefertigte Glücksbringer aus Japan. Seit 30  Jahren betreibt Schmoock sein Geschäft schon, früher hatte er auch größere Möbel im Sortiment. Die Wohnungsauflöser, von denen er diese bezog, wollten ihn aber nicht mehr beliefern, seit sie in der Straße nicht mehr legal stehen bleiben können. Schmoock nimmt die neue Situation aber gelassen. Wenn Geschäftsleute über die neue Situation jammern, könne er das nicht verstehen. „Früher war früher, jetzt ist jetzt“, sagt er. Er habe eben sein Sortiment angepasst: „Ich bin Vollkaufmann.“
Eigentlich sei er mit der Verkehrspolitik der Stadt ganz zufrieden, sagt Schmoock. Das Konzept für die Fraunhoferstraße sei aber nicht ganz durchdacht gewesen, meint er. Was ihn wirklich nerve, sei das ständige Gegeneinander – und die Aggression, mit der sich Radler, Autofahrer und Fußgänger zuweilen begegnen. „Ganz schlimm ist das.“ Dabei sei ein Miteinander gefragt. Ganz am Anfang, als das Halteverbot eingeführt wurde und der Radweg frisch markiert war, seien Polizei und die Verkehrsüberwachung der Stadt sofort da gewesen, sobald sich ein Kunde auch nur kurz vor den Laden gestellt habe, erzählt er. Jetzt sähen die Knöllchenschreiber die Sache ein wenig lockerer. Dazu fällt ihm eine kleine Anekdote ein: Als er selbst mal kurz vor dem Laden mit dem Auto hielt, kam eine Verkehrsüberwacherin und wollte ihn aufschreiben. Als er ihr das gerade habe ausreden wollen, sei ein Radfahrer angebraust gekommen, habe ihn beschimpft und „500 Euro!“ geschrien. Der Radler brauste weiter bis zur nächsten Ampel, die gerade rot war. „Ich hab dann zu der Politesse gesagt, wenn er jetzt stehen bleibt, zahl ich.“ Schmoock kam ohne Bußgeld davon.
Ob die Verkehrsüberwacher auch weiterhin ein Auge zudrücken, ist offen. Die Stadt hat intensive Verkehrskontrollen sowohl in der Fraunhoferstraße als auch in den Seitenstraßen angekündigt. Und laut dem neuen Bußgeldkatalog ist Falschparken keine so lässliche Verkehrssünde mehr wie einst. Jetzt werden statt 15 bis zu 50 Euro fällig. Bier und Pakete vor dem Haus abzuladen ist also nicht nur verboten, sondern inzwischen auch richtig teuer. Hätte die Verkehrsüberwachung die Handwerker während ihrer Brotzeit ertappt – es wäre vermutlich die teuerste Currywurst ihres Lebens geworden.


Bilder: Stephan Rumpf, Stadt München