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Mit Künstlicher Intelligenz zu mehr Radverkehr

Noch steht der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Verkehrsplanung ganz am Anfang. Aber erste Projekte sind vielversprechend. KI kann demnach helfen, den Verkehr sicherer zu machen, mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen und Planer*innen bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Vor der Analyse die Bestandsaufnahme: Wie ist der Verkehr an der jeweiligen Kreuzung geregelt? Hier zeigt die KI die detektierten Schilder direkt in der Karte an.

Rad fahren und zu Fuß gehen gleicht in vielen Städten teils immer noch einem „Jump&Run“-Computerspiel. Fahrradfahrerinnen müssen auf geraden Strecken unachtsam geöffneten Fahrzeugtüren ausweichen, an Kreuzungen abbiegende Fahrzeuge im Blick behalten und wenn der Radweg abrupt endet, sich geschmeidig in den schnellen Autoverkehr einfädeln. Auf manchen Strecken und Knotenpunkten kommt es immer wieder zu kritischen Situationen und Beinahe-Unfällen. In die Statistik gehen sie nicht ein und auch bei Ortsbesichtigungen bleiben viele davon Stadt- und Verkehrsplanerinnen verborgen. Der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) könnte das ändern und dabei helfen, den Verkehr für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicherer zu machen.
Das geht, weil KI im Gegensatz zu gängiger Software riesige Datenmengen verarbeitet und zudem Fragen beantworten kann, die nicht bereits in ihrem Code hinterlegt sind. Dieses Abstrahieren ist erst in den vergangenen Jahren mit der steigenden Prozessorleistung, der höheren Internet-Bandbreite und via Cloud verfügbaren Daten möglich geworden. Seitdem eröffnen sich für die Technologie ständig neue Einsatzbereiche.
In der Stadt- und Verkehrsplanung steht der Einsatz von KI-Systemen noch am Anfang. 2019 hat der Verkehrsforscher Andreas Leich vom In-stitut für Verkehrssystemtechnik am „Deutschen Institut für Luft und Raumfahrt“ (DLR) mit „KI4Safety“ ein erstes Projekt zur Unfallprognose an Knotenpunkten gestartet. Innerorts geschehen dort etwa die Hälfte aller Unfälle, bei denen Verkehrsteilnehmerinnen verletzt oder getötet werden. Die Abläufe an Kreuzungen sind sehr komplex. Deshalb gebe es keine Patentlösung, sondern die Planerinnen entscheiden stets im Einzelfall vor Ort, sagt Leich. Der Maßnahmenkatalog gegen Unfallhäufung (MaKaU) der Bundesanstalt für Straßenwesen (BAST) nennt eine Vielzahl an Möglichkeiten, um Unfall-Hotspots zu entschärfen. Eine der Empfehlungen für Kreisel lautet: Radfahrer im Mischverkehr mitfahren zu lassen. Die Maßnahme wirkt. Das hat eine Studie der Unfallforschung der Versicherer (UDV) 2012 bestätigt. Allerdings nur bis zu einer bestimmten Verkehrsdichte. Die Ergebnisse zeigen auch: „Je mehr der Autoverkehr anstieg, umso mehr Radfahrer sind auf den Gehweg ausgewichen“, sagt Leich.

„Mit KI erfahren wir Dinge, die bislang nicht beobachtbar waren.“

Andreas Leich, Deutsches Institut für Luft und Raumfahrt (DLR)

Nicht clever aber fleißig: Die KI hat für 1.000 Kreisverkehre die Luftbilder (oben) mit den Befahrungsbildern (unten) und der Unfallhäufigkeit verglichen.

Kreisverkehrs-Analyse mit KI überrascht

Im Rahmen des KI4Safety-Projekts hat Andreas Leich mit seinem Team in den vergangenen Jahren die Wirksamkeit der BAST-Maßnahmen analysiert. Dafür haben sie ihre KI so trainiert, dass sie die Luft- und Befahrungsbilder von 1.000 Kreisverkehren in Nordrhein-Westfalen nach sicherheitsrelevanten Merkmalen abgesucht hat. Die Ergebnisse haben die Forscher überrascht: So ist die Zahl der Unfälle deutlich angestiegen, wenn Radfahrende über eine rote Furt in den Kreisverkehr geleitet wurden. Im Gegensatz dazu gab es laut Leich Verkehrsführungen, die auf den ersten Blick zwar nicht unbedingt sicherer wirkten als das Radfahren im Mischverkehr, aber dort waren die Unfallzahlen trotzdem niedrig. Über die Gründe kann Leich momentan nur spekulieren. „Vielleicht vermittelt die rote Furt Radfahrern ein zu großes Sicherheitsgefühl“, sagt er. Das könne dazu führen, dass sie sich selbstbewusst, schnell und weniger achtsam in Kreisverkehren bewegten. Diese These scheint ein weiteres Ergebnis der Datenanalyse zu untermauern. Sie zeigt, dass die Kreisverkehre, an denen Radfaherinnen überlegen müssen, ob sie Vorfahrt haben oder nicht, sicherer sind als jene, an denen Radfahrerinnen auf den ersten Blick ihre Vorfahrt erkennen.

Neues Werkzeug für Verkehrsplanung

Für Leich ist das Projekt KI4Safety nur ein erster Schritt. „Das Projekt hat gezeigt, wie man KI einsetzen kann, um Zusammenhänge im Unfallgeschehen aufzuklären und um zu erkennen, was vor Ort geschieht“, erläutert Leich. „Jetzt möchten wir herausfinden, warum es geschieht.“ Dazu muss das Verhalten der Radfahrenden, Autofahrenden und zu Fuß Gehenden an diesen Kreuzungen beobachtet, aufgezeichnet und per KI analysiert werden. Das geht entweder im Simulator oder mit einer Surrogatmaß-Studie, die per Video das Verkehrsgeschehen vor Ort aufzeichnet und die Häufigkeit von kritischen Situationen im Verkehr betrachtet. „Diese Analyse wird durch den Einsatz von KI überhaupt erst möglich, weil sie riesige Datenmengen durchforsten kann“, sagt Leich und fügt hinzu: „Mit ihrer Hilfe erfahren wir Dinge, die bislang nicht beobachtbar waren.“ Für ihn ist KI ein wichtiges Werkzeug, das in der Lage ist, langfristig die Sicherheit aller Verkehrs-teilnehmerinnen zu erhöhen. Das Berliner Start-up Peregrine Technologies (peregrine.ai) geht in eine ähnliche Richtung: Das Team um Mitbegründer Steffen Heinrich hat eine Software entwickelt, die Videoaufnahmen des Verkehrsgeschehens mittels KI analysiert. Die Software geht dabei vor wie früher Schiffskapitäne, die jedes Ereignis während einer Fahrt akribisch in dicken Logbüchern notierten. Die KI ist allerdings deutlich penibler. Sie notiert während der Fahrt sämtliche Verkehrsteilnehm-erinnen, vermerkt, wie die Infrastruktur beschaffen ist, ob es zum Beispiel Schlaglöcher gibt, eine kaputte Straßenlaterne oder wie genau die Straße aufgeteilt ist. Dabei werden personenbezogene Daten wie Kennzeichen oder Gesichter laut Peregrine aus Datenschutzgründen vor dem Speichern entfernt. Anschließend kann die KI gezielte Fragen beantworten, etwa nach Beinahe-Unfällen an Kreuzungen oder Dooring-Hotspots. Doch das ist noch nicht alles: Sie kann auch eine komplette Inventur der Infrastruktur durchführen und sämtliche Schwachstellen einer Stadt auflisten, etwa jene, an denen die Menschen stets zu schnell fahren, oder wo die Barrierefreiheit durch zu hohe Bordsteine eingeschränkt wird. „Oft entstehen Verkehrsrisiken durch infrastrukturelle Gegebenheiten – die müssen erkannt und verändert werden“, so Steffen Heinrich.

„Die KI erleichtert den Experten die Entscheidungsfindung“

Steffen Heinrich, Peregrine Technologies

Beinahe-Unfälle beeinflussen Fahrzeugwahl

Bislang konnten kaum Daten zu solchen Risiken erhoben werden, weil die Technik fehlte. Dabei haben subjektiv wahrgenommene Gefahren einen enormen Einfluss auf die Fahrzeugwahl. Wie sehr beispielsweise Beinahe-Unfälle das Mobilitätsverhalten der Menschen beeinflussen, zeigt Rachel Aldreds Studie „Investigating the rates and impacts of near misses and related incidents among UK cyclists“ von 2015. Die Verkehrswissenschaftlerin an der University of Westminster hatte 2.586 Radfahrende nach ihren täglichen Erlebnissen im Straßenverkehr befragt, um zu verstehen, was Menschen tatsächlich am Radfahren hindert. Für die Studie haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an zwei Tagen eine Art Fahrradtagebuch geführt und ihre unangenehmen Erlebnisse im Straßenverkehr protokolliert. Rund 6.000 Zwischenfälle sind dabei zusammengekommen. Das heißt: Die meisten Teilnehmer erlebten an dem betreffenden Tag gleich mehrere Zwischenfälle. Jeder siebte Vorfall war dabei ein Beinahe-Zusammenstoß mit einem Bus oder einem Lkw. Auf der Liste der wahrgenommenen Risiken standen außerdem Autos, die mit zu geringem Abstand überholten, blockierte Radwege, Dooring sowie gefährliche Situationen beim Abbiegen und andere Beinahe-Unfälle. Ungeübte und unsichere Radfahrer*innen wurden durch die Vorfälle so verschreckt, dass sie das Radfahren unverzüglich wieder aufgaben.
Der Einsatz von KI kann demnach dabei helfen, das Umfeld sicherer zu machen, und damit mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen. Jedenfalls in der Theorie. Denn bislang wird KI von den Verwaltungen nicht zur Verkehrsplanung genutzt. Aber das Interesse sei da, so Steffen Heinrich von Peregrine. „Momentan führen wir Gespräche für verschiedene Projekte in großen und kleineren Städten.” Die KI kann den Kommunen künftig eine Datengrundlage liefern, die eine faktenbasierte Entscheidung erleichtert. Er betont: „Die Entscheidung für den Umbau von Kreuzungen oder den Bau von Radwegen trifft immer der Planer, unsere KI trifft keine Entscheidungen, das kann sie gar nicht, sie erleichtert den Experten aber die Entscheidungsfindung.“

KI hilft Risiken zu erkennen und Umbau zu planen

Welche Vorteile der Einsatz von KI in der Verkehrsplanung haben kann, lässt sich am Beispiel von Berlin zeigen. Im Rahmen des Mobilitätsgesetzes sollen dort jedes Jahr 30 Kreuzungen so umgebaut werden, dass Radfahren in der Hauptstadt sicherer und komfortabler wird. „Das Verkehrsgeschehen ist an Kreuzungen sehr komplex, weil hier alle Verkehrsteilnehmer aufeinandertreffen, vom Schwerlastverkehr bis zum Fußgänger. Das Risiko für zu Fuß Gehende und Radfahrende ist deshalb besonders hoch“, betont Steffen Heinrich. Beabsichtigt man, die Kreuzungen mit dem höchsten Gefahrenpotenzial zuerst umzubauen, braucht es ensprechende Daten. Die könnten fest installierte Kameras an Kreuzungen liefern. Vielerorts gibt es sie bereits. Sie werden bislang aber nicht automatisiert ausgewertet. Hier kommt die KI von Peregrine ins Spiel. Sie kann die Daten liefern, die die Städte brauchen.
„Unsere erste Frage ist: Nutzen die Personen die Infrastruktur korrekt oder gibt es Probleme?“, so Heinrich. Manchmal müssten Radfahrende einen Schlenker auf die Fahrbahn machen, weil Fahrzeuge in zweiter Reihe parken. Problematisch sind (falsch) parkende Autos, zugestellte oder zugewachsene Wege oder sonstige Hindernisse, die die Sicht nehmen oder Menschen auf die Straße zwingen. „Wenn die KI das Risiko gemessen hat, können die Planer aus den Daten eine Handlung ableiten“, sagt Heinrich. Etwa, dass im Frühjahr die Büsche eher zurückgeschnitten werden müssen oder das Zuparken des Kreuzungsbereichs wirkungsvoll verhindert wird. Für den Software-Experten steht fest: „Es muss nicht mehr erst zum Unfall kommen, bevor der Umbau der Kreuzung beschlossen wird.“ Die Planer könnten mit KI frühzeitig Maßnahmen ergreifen, weil sie die Risiko-Hotspots in ihrer Stadt vergleichen können. Dafür müsse der verwendete Datensatz zudem ständig aktualisiert werden. „Verkehr ist dynamisch“, sagt Heinrich. Die Situation vor Ort könne im Sommer durch mehr Radverkehr ganz anders aussehen als im Winter. Neue Fahrzeuge im Mobilitätsmix, wie etwa E-Scooter, verändern das Verkehrsgeschehen ebenfalls. „Die KI spiegelt diesen Wandel wider“, sagt Heinrich. Die KI zeigt, was ist, die Planer ordnen die Erkenntnisse ein und entscheiden, was wird.


Bilder: Peregrine, DLR