In den 1920er-Jahren wurde der technische Fortschritt gefeiert, gleichzeitig lagen Verheißungen und Bedrohungen bei den Städten der Zukunft eng beieinander. 100 Jahre später stehen wir wieder vor Umbrüchen und wieder ist es der Mensch, der die Veränderungen bestimmt – nicht immer rational. Was ist nötig für eine echte Transformation der Mobilität? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Ein positives Mobilitätserlebnis ohne Pkw ist vor allem auch von emotionalen Faktoren abhängig. Die Professoren Vöckler und Eckart haben ihre Forschungsergebnisse zum Mobility Design der Zukunft jüngst in Buchform gebracht.

Der Wiener Verkehrsplaner und emeritierte Professor Hermann Knoflacher spricht in seinen Büchern und Vorträgen häufig davon, dass Verkehr kein Schicksal sei. Die jahrzehntelang autobedarfsorientierte Planung habe weniger auf kognitiven, sondern vor allem auf emotionalen Prozessen basiert, die mehr und mehr zur bestimmenden Grundlage des Denkens und Handelns geworden seien. Dieser Einschätzung kann man sich auch heute nicht entziehen, angesichts der oftmals hitzig geführten Diskussionen in Bezug auf eine wohl notwendige, wenn nicht überfällige Neuordnung der Mobilität. Dafür sprechen sich unter anderem auch Prof. Dr. Kai Vöckler (Urban Design) und Prof. Peter Eckart (Integrierendes Design) von der Hochschule für Gestaltung in Offenbach aus. In ihrem gerade in deutscher Übersetzung erschienenen Fachbuch „Mobility Design: Die Zukunft der Mobilität gestalten“ analysieren sie den Status quo und eröffnen einen Blick auf die Handlungsprämissen (s.a. Buchvorstellung S. 80). „Die individuelle und Automobilität ist infrastrukturell und institutionell in den Raum eingebettet, und hier muss der Umbau des alles Beherrschenden, auf individuelle Motorisierung setzenden Verkehrsmodells ansetzen“, so die Autoren. Rahmenfaktoren, wie Klimakrise, Ressourcenverknappung und negative Belastungen für Mensch und Umwelt, erhöhten die Dringlichkeit, neue Lösungen für eine nachhaltige Mobilität zu schaffen. Neben dem Ausbau der Infrastrukturen und der Bündelung von Verkehrsoptionen bedürfe es einer grundsätzlichen Transformation hin zu einem umweltfreundlichen Mobilitätssystem. „Dazu braucht es weniger fliegende Taxis und vollautonome Pkws, sondern einen von der öffentlichen Hand regulierten Markt, dessen Rückgrat neben dem schienengebundenen Fern-, Regional- und Nahverkehr das öffentliche Nahverkehrssystem bildet und das durch On-Demand-Angebote autonomer/teilautonomer Fahrzeuge (Kleinbusse) und Sharing-Angebote, angetrieben mit nicht-fossiler Energie, ergänzt wird.“ Eine klimaschonende Mobilität fördere dabei vor allem das Zufußgehen und die Nutzung des Fahrrads in der nahräumlichen Fortbewegung.

„Akzeptanz und Identifikation mit einer neuen umweltschonenden und vernetzten Mobilität wird es ohne eine qualitativ hochwertige Gestaltung nicht geben.“

Prof. Dr. Kai Vöckler und Prof. Peter Eckart, Hochschule für Gestaltung Offenbach

Transformation als gesamtgesellschaftliche Herausforderung

Wie man sich bewegt und womit, sei dabei keineswegs eine nebensächliche Frage. Es ginge um „Subjektivierungspraktiken“, die sich an „emotional aufgeladenen Objekten wie dem Automobil festmachten. Sie seien tief in die Alltagskultur eingebettet und hier verbänden sich auch „Lebensstile, Konsumwünsche und Verhaltensweisen, die (…) individuelles Selbsterleben und damit Selbstbestätigung ermöglichen.“ Das müsse beim Mobilitätsdesign mitbedacht werden, verbunden mit der Frage, wie Menschen ein positives Mobilitätserlebnis abseits des privaten Pkws vermittelt werden könne. Es ginge um emotionale Faktoren: „Fühle ich mich wohl, fühle ich mich sicher? Wie spricht das System zu mir? Steht es für innovative Mobilität? Drückt es mir gegenüber Wertschätzung aus?“ Aufgabe des Mobilitätsdesigns sei es, zwischen Mensch und Mobilitätssystem zu vermitteln und Nutzungserfahrungen positiv zu beeinflussen, so Vöckler und Eckart. Aktuell gibt es hier in weiten Teilen Deutschlands allerdings noch viel zu tun. Rund 60 Prozent der Bevölkerung sind nach einer Erhebung des Portland Bureau of Transportation in Bezug auf das Radfahren „interested, but concerned“. Nach den aktuellen Daten des Deutschen Fahrradmonitors gibt hierzulande fast die Hälfte der Radfahrenden an, sich nicht sicher zu fühlen, wenn sie im Straßenverkehr unterwegs sind. Und das Image? Radfahrende werden nach wie vor oft pauschal als notorische Ver-kehrssünderinnen abgestempelt, die kostenlos die von Autofahrerinnen finanzierten Straßen nutzten, und Lastenrad-Fahrerinnen gehörten, wie im letzten Jahr ausgiebig diskutiert, zur besser verdienende Latte-Macchiato-Gesellschaft. Beides geht weit an der Realität vorbei. Und E-Scooter-Fahr-erinnen? Sie bewegen sich zwar geräuschlos, energiesparend und mit maximal 20 km/h eher gemütlich, trotzdem sind sie für viele willkommene Opfer von Missbilligung und Verurteilung – selbst in Fachmedien und bei Entscheider*innen. Wie soll man so eine wohl notwendige Transformation zu einem umweltschonenden Mobilitätssystem erreichen? Vöckler und Eckart sehen hier eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die politisch gestaltet werden müsse. Dazu bedürfe es eines gesellschaftlichen Konsenses dahingehend, dass diese Maßnahmen zum einen sinnvoll sind und zum anderen auch in den Alltagswirklichkeiten der Menschen funktionieren. Sie müssten also nicht nur machbar sein, sondern auch den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen entsprechen. „Akzeptanz und Identifikation mit einer neuen umweltschonenden und vernetzten Mobilität wird es ohne eine qualitativ hochwertige Gestaltung nicht geben.“

Zukunft des Verkehrs istmenschengemacht

„Wir müssen uns als Erstes darüber klarwerden, dass die Mobilität und der Verkehr der Zukunft kein Zufall sind“, sagt Prof. Dr. Markus Friedrich, der den Lehrstuhl für Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik an der Universität Stuttgart leitet und für den Raum Stuttgart in Workshops und Analysen verschiedene Szenarien künftiger Mobilität untersucht hat. „Wir bekommen die Zukunft des Verkehrs, die wir wollen.“ Das Hauptproblem sei mit Blick auf eine tatsächliche Transformation, dass die Menschen und die Politik sehr ähnlich reagierten: Maßnahmen, die persönlich nutzen, also zum Beispiel die finanzielle Förderung von E-Mobilität oder kostenloser ÖPNV, seien beliebt. Andere Maßnahmen, wie Tempolimits, höhere Preise, höhere Parkgebühren oder mehr Kontrollen lehne man ab. Obwohl man genau wisse, dass das die Maßnahmen sind, die mit Blick auf eine nachhaltige Mobilität deutlich mehr brächten. In diesem Planungsdilemma steckten die Fachleute aktuell fest. Um wirklich weiterzukommen, müssten klare Ziele definiert und ein Zusammenhang hergestellt werden zu möglichen Maßnahmen. „Wenn wir echte Veränderungen in Richtung Nachhaltigkeit wollen, dann brauchen wir einen anderen Rahmen und eine andere Systematik für die Diskussion“, so Prof. Friedrich. Dazu bräuchte es auch Politiker*innen, „die sich hinstellen und sagen, wir müssen weiterdenken“.

„Wir wollen den Menschen die Wirkungszusammenhänge nahebringen, damit sie besser verstehen, dass nicht alles so ganz einfach ist, wie man erst mal denkt.“

Prof. Dr. Markus Friedrich

Vier Szenarien für die Mobilität der Zukunft

Prof. Dr. Friedrich hat mit Stuttgarter Bürger*innen und einem interdisziplinären Team der Universität Stuttgart mit „Visionsworkshops“ vier mögliche künftige Mobilitäts-Szenarien erarbeitet. Der Visionsworkshop sei eine gute Möglichkeit, sich aktiv mit dem Thema auseinanderzusetzen, so Friedrich. Zielkonflikte und Ergebnisse würden dabei schnell offensichtlich. In einem ersten Workshop wurden mögliche Ziele und Maßnahmen definiert, die die Experten dann zu vier Szenarien zusammenfassten, visualisierten und analysierten. In einem zweiten Workshop wurden die Ergebnisse vorgestellt und diskutiert. Dabei ging es vor allem um die eigene Zustimmung oder Ablehnung, aber auch um die vermutete Zustimmung anderer sowie eine Einschätzung, wie realistisch eine Umsetzung jeweils bis zum Jahr 2030, 2040, 2050 oder nach 2050 sein wird. Hier die Ergebnisse in Kurzform:

Szenario 1: Weniger ist mehr

Diese Vision beschreibt eine entschleunigte Welt mit weniger Arbeitszeit, mehr Homeoffice und somit mehr Zeit in Wohnortnähe.

Wünsche und Visionen der Bürgerinnen und Bürger
  • Bescheiden werden, mehr Lokales, Zeit haben, Wege vermeiden, deutlich mehr Homeoffice und virtuelle Besprechungen, verbleibenden Verkehr gezielt verteilen, Urban Gardening statt Parkplätze, mehr Lebensqualität bei weniger Einkommen und Arbeitszeit
Auswirkungen im Bereich Verkehr:
  • Personenkilometer: -35 %
  • Pkw-Verkehr: -70 %
  • Öffentlicher Verkehr: +50 %
  • Rad und Fuß: +50 % weniger Pkw-Stellplätze im Straßenraum erforderlich
Zustimmung/Ablehnung:
  • 28% der Befragten meinen, „Ja, das wird super“, weitere 49% finden die Vision „Nicht perfekt, aber o.k.“. Nur 13% stehen ihr ablehnend gegenüber. Deutlich weniger optimistisch waren die Befragten, was die Zustimmung anderer angeht. 85 % äußerten sich hier kritisch. Bezogen auf die Umsetzung ging ein Großteil davon aus, dass das Szenario bis 2030 bzw. 2040 Realität werden könne.

Szenario 2: Vernetzt und vielfältig

In dieser Vision werden Anreize im Umweltverbund mit Preissteigerungen im Pkw-Verkehr kombiniert und die Möglichkeiten der Digitalisierung genutzt.

Wünsche und Visionen der Bürgerinnen und Bürger
  • Nutzung multimodaler Verkehrskonzepte, City-Maut, faire Kostenverteilung, externe Kosten von Verkehr werden von Nutzenden bezahlt, fußläufige Erreichbarkeit für Einrichtungen des täglichen Bedarfs, S-Bahn-Ring vollenden, Attraktivität des Umweltverbunds steigern (Individualverkehr teurer, öffentliche Verkehrsmittel kostenlos), flexible Mobilitätsplanung per App
Auswirkungen im Bereich Verkehr:
  • Personenkilometer: -10 %
  • Pkw-Verkehr: -35 %
  • Öffentlicher Verkehr: +55 %
  • Rad: +50 %
  • Fuß: ±0 %, da Öffentlicher Verkehr billiger wird
Zustimmung/Ablehnung:
  • Für diese Vision gibt es mit Abstand die größte Zustimmung. 48% finden sie super, weitere 39% o.k.. Rund ein Viertel der Befragten kann sich zudem vorstellen, dass einer Mehrheit der Stuttgarter diese Vision gefällt. 36% halten eine Umsetzung bis 2030 für realistisch, weitere 43% bis 2040.

Szenario 3: Individuell und autonom

Diese Vision verbindet den Sharing-Gedanken mit den potenziellen Möglichkeiten autonomer Fahrzeuge. Diese werden geteilt, aber individuell genutzt.

Wünsche und Visionen der Bürgerinnen und Bürger
  • Carsharing und neue Ansätze autonomer Lieferverkehr, selbstfahrende Drohne als Transportfahrzeug, „Endlich klappt’s“
Auswirkungen im Bereich Verkehr:
  1. Personenkilometer: ±0%
  2. Pkw-Verkehr: +15%
  3. Öffentlicher Verkehr: -30%
  4. Rad und Fuß: ±0%
  5. Pkw-Fahrzeuge: -40%
  6. weniger Pkw-Stellplätze im Straßenraum erforderlich
Zustimmung / Ablehnung:
  • Bei dieser Version gehen die Meinungen weit auseinander. 22 % finden sie super, weitere 12 % o.k., aber 49 % sagen ganz klar „Bitte nicht“. Nicht ganz so hoch ist die geschätzte Ablehnung in der Bevölkerung mit 42 %. Nur 6 % halten die Umsetzung bis 2030 für realistisch, weitere 33 % bis 2040 und 27 % bis 2050. 16 % gehen zudem davon aus, dass sich dieses Szenario nie verwirklichen lässt.

Szenario 4: Kollektiv und autonom

Diese Vision will eine Welt ohne private Fahrzeuge. Mobilität wird öffentlich organisiert, der Straßenraum gehört allen. Öffentliches Ridesharing ersetzt die privaten Pkw und Busse.

Wünsche und Visionen der Bürgerinnen und Bürger
  • Die Stadt gehört wieder allen! Stuttgart ohne private Autos: Motorisierter Individualverkehr 2030 minus 50% wird umgesetzt, „Feinstaub ade!“, „Wir haben es geschafft!“ Mobilität ist hauptsächlich öffentlich organisiert und wird durch private Sharing-Angebote ergänzt. Auf ehemaligen Hauptverkehrsachsen entstehen Parks.
Auswirkungen im Bereich Verkehr:
  • Personenkilometer: ±0 %
  • Pkw-Verkehr (inkl. öffentliches Ridesharing): -35 %
  • Öffentlicher Verkehr: -30 % (Wegfall Bus)
  • Rad und Fuß: ±0 %
  • Pkw-Fahrzeuge: -90 % (Pkw-Besetzungsgrad steigt von 1,3 auf 2,4)
  • weniger Pkw-Stellplätze im Straßenraum erforderlich
Zustimmung/Ablehnung:
  • Für diese Vision gibt es ebenfalls zwiespältige Meinungen. 31% finden sie super, weitere 29% o.k.. Rund ein Viertel sagt aber auch „Nein, bitte nicht“. 34% glauben, dass diese Vision bei den Büger*innen auf Ablehnung stößt, nur 17 % gehen von einer Zustimmung aus. Auch hier halten nur 6 % eine Umsetzung bis 2030 für realistisch, weitere 28 % bis 2040 und 26 % bis 2050. Für fast ein Fünftel (18%) ist dieses Szenario generell unrealistisch.

Bilder: stock.adobe.com – MicroOne, qimby.net – Philipp Böhme, Julian Schwarze – project-mo.de, qimby.net – Philipp Böhme

Interview mit Christine Fuchs, Vorstand der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e. V. (AGFS) zu den Aussichten des Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetzes in Nordrhein-Westfalen (FaNaG) und der neuen Rolle der AGFS. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


„Wir vertreten die Auffassung, dass sich die Nahmobilität und die grüne und blaue Infrastruktur hervorragend ergänzen.“

Christine Fuchs, Vorstand der AGFS

Frau Fuchs, das von Nordrhein-Westfalen ausgegebene Ziel von 25 Prozent Radverkehrsanteil am Modal Split klingt sehr anspruchsvoll. Was tut sich im Land, um die Ziele zu erreichen?
Wir haben eine sehr dynamische Situation sowohl beim Land als auch in den Städten und Kommunen. Das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz, das im Januar in Kraft getreten ist, kam ja ursächlich durch eine Volksinitiative, also eine Bewegung von unten. Nicht zuletzt haben auch die Klimadiskussion und die Pandemie das Thema Nahmobilität und Radverkehr sehr befeuert. Das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz ist ein wichtiges Signal. Es hilft, unser Thema voranzutreiben und eine Aufbruchsstimmung zu erzeugen.

Wo gibt es aus Ihrer Sicht Entwicklungen und Probleme?
Viele Menschen wollen Fahrrad fahren und tun das auch gerne. Gleichzeitig haben viele erkannt, dass die Infrastruktur einfach nicht ausreichend ist und man sich unsicher fühlt. In den Kommunen und hier vor allem in den Mittel- und Großstädten hat man zudem inzwischen realisiert, dass es so einfach nicht weitergeht. Man erstickt regelrecht im Kfz-Verkehr. Autoparken dominiert die Straßenzüge. Die Notwendigkeit, eine gesunde Mobilität zu entwickeln, ist inzwischen deutlich in den Vordergrund gerückt. Umsetzungsdefizite in der Infrastruktur sind offensichtlich und die Umsetzung dauert. Lange Planverfahren und auch der Fachkräftemangel sind dabei die größten Hemmnisse.

Wie geht es weiter und was verändert sich für die Kommunen und die AGFS?
Der nächste wichtige Baustein ist der Aktionsplan zum Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz, der schon seit einiger Zeit in Arbeit ist und für den wir als AGFS eine ganze Reihe von Vorschlägen eingebracht haben. Wir erhoffen uns hier eine Reihe von Hilfestellungen und Unterstützungen für Kommunen, aber auch Möglichkeiten, um Hürden abzubauen bzw. Abläufe zu erleichtern. Neu ist, dass die AGFS mit dem Gesetz jetzt institutionell gefördert wird. Somit haben wir mehr Möglichkeiten, die Kommunen besser und vertiefter zu unterstützen. Wir werden Personal aufstocken und uns zukunftsfähig aufstellen.

Die AGFS ist ja schon lange als Ansprechpartner für die Kommunen aktiv. Worum geht es bei der der Neuausrichtung?
Das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz kann aufgrund der kommunalen Planungshoheit nur indirekt auf die Kommunen wirken. Deshalb sieht das Land eine wichtige Rolle für Netzwerke wie die AGFS, die die Kommunen unterstützen. Die AGFS hat seit jeher die Fachkompetenz im Bereich Nahmobilität und ist sehr gut mit den Kommunen vernetzt. Deshalb wird uns hier eine zentrale Funktion zugesprochen, für die wir vorbereitend gerade neue weitere Formate entwickeln.

AGFS-Kongress sonst immer mit vollem Saal; coronabedingt in diesem Jahr wieder online.

Können Sie schon etwas zur Ausrichtung und den Zielen der neuen Formate sagen?
Wir wollen zentral etwas auf zwei Ebenen anbieten: ein breites Angebot für alle Kommunen und ein intensives Vertiefungsangebot für die Mitglieder der AGFS.

Wie kann man sich solche Angebote konkret vorstellen?
Ein breites Angebot wollen wir zum Beispiel mit Blick auf den Fachkräftemangel von Planerinnen und Planern machen. Wir haben bereits eine Kampagne gestartet, die in Schulen aktiv für den Beruf Verkehrsplaner wirbt. Drüber hinaus möchten wir die Zusammenarbeit mit den Hochschulen verstärken und Absolventen mit den Kommunen zusammenbringen. Dafür haben wir bereits eine eigene Webseite gelauncht unter plane-deine-stadt.de.

Wie können vertiefende intensive Angebote für Mitglieder der AGFS aussehen und was bringen sie?
Wir versuchen den Kommunen viele Instrumente anzubieten, die sie bei der schnellen Umsetzung vor allem von Infrastrukturmaßnahmen unterstützen. Was direkt in die Kommunen wirkt, sind z.B. unsere Planungswerkstätten. Zusammen mit externen Experten werden hier sehr konzentriert an zwei Tagen rund acht Planungsfälle aus den Kommunen besprochen. Erste Pilotprojekte waren ein absoluter Erfolg und Arbeitsgemeinschaften aus anderen Bundesländern haben das Konzept inzwischen übernommen. Zwei Tage intensive Arbeit abseits der laufenden Geschäfte; danach hat man in den meisten Fällen echte Lösungsansätze.

Über das Parken in den Städten werden viele Auseinandersetzungen geführt. Wie sehen Sie das Thema?
Natürlich ist es erstrebenswert, dass sich die Anzahl der Autos reduziert. Aber von heute auf morgen wird das nicht möglich sein. Der Ansatz zu sagen, wir bieten keine Parkplätze oder deutlich weniger an, ist einfach nicht realistisch. Das erzeugt sofort Reaktanz. Trotzdem ist es letztlich so, dass wir den Platz für Wichtigeres brauchen. Für die Menschen. Für die aktive Mobilität. Für Grün und Aufenthaltsqualität. Das ist ein strategisches Thema der Kommunen. Es geht darum, das Thema Parken neu zu regeln und dabei trotzdem aufeinander zu- zugehen.

Was tun Sie beim Thema Parken und was kann das Land Nordrhein-Westfalen tun?
Wir haben das Thema bereits in der Vergangenheit intensiv behandelt und sind gerade dabei, ein umfassendes Handbuch zum Thema für die Kommunen zu erstellen, das voraussichtlich im Sommer vorgestellt wird. Auch das Land kann unterstützend tätig werden, zum Beispiel mit der finanziellen Förderung von Quartiersgaragen.

Warum sind Vorrangrouten für den Radverkehr wichtig?
Mit der heutigen Infrastruktur werden wir keine grundlegenden Steigerungen des Radverkehrs mehr erreichen. Ein geschlossenes Vorrangnetz in allen Kommunen und von Zentrum zu Zentrum mit einer hervorragenden Qualität, möglichst bevorrechtigt, mit ausreichenden Breiten und aufgewertet mit Grün hat die erste Priorität. Nur damit können wir das Potenzial des Radverkehrs wirklich ausschöpfen.

Mit was sollten die Städte und Kommunen anfangen und wo setzt die AGFS Prioritäten?
Die konkrete Rolle der AGFS wird sich aus dem Aktionsplan und unseren Gesprächen mit dem Land noch ergeben. Insgesamt sollte man immer fragen: Wo liegen die größten Potenziale, wo sind die größten Hebel und wo sind die wertvollen Kapazitäten am sinnvollsten eingesetzt? Aber auch welche wichtigen Maßnahmen dauern am längsten? Die müssen frühzeitig begonnen werden. Zudem müssen wir breit denken. Allein mit dem Bild einer fahrradfreundlichen Stadt kommen wir nicht weiter. Wir brauchen einen größeren Rahmen und eine echte Vision. In der Umsetzung allerdings müssen wir uns dann wieder fokussieren und gezielt auch Infrastruktur umsetzen.

Wohin sollte es konkret gehen? Welche Vision sollten die Städte über das Thema Fahrradfreundlichkeit hinaus verfolgen?
Unsere Vision ist die einer gesunden Stadt. Die Frage ist, wie vereinbaren wir die Bedürfnisse der Nahmobilität mit einer grünen Infrastruktur, also mehr Grün für ein gutes Klima durch Beschattung und Frischluftzufuhr vorzugsweise über die Achsen für Nahmobilität sowie einer blauen Infrastruktur, mit der wir für eine Bewässerung sorgen und Städte besser vor Hochwasser schützen. Nicht zu vergessen sind neben Umweltgesichtspunkten zudem auch Umfeld-Themen, also Aufenthaltsqualität, Stadt der kurzen Wege, Bewegung, Sicherheit etc. Wir vertreten die Auffassung, dass sich die Nahmobilität und die grüne und blaue Infrastruktur hervorragend ergänzen.

Wie schaut aus Ihrer Sicht die Zukunft auf dem Land aus?
Auf dem Land und in Kleinstädten haben wir eine große Aufgabe. Wir brauchen den öffentlichen Verkehr, wir brauchen Park-and-Ride-Stationen, Mobilitätsstationen und auch hier Vorrangnetze für den Radverkehr. Wichtig ist auch: Wir brauchen eine schnelle Wirksamkeit, zum Beispiel indem Wirtschaftswege so ertüchtigt werden, dass sie von Radfahrenden und Landwirten gemeinsam genutzt werden können. Das kann vergleichsweise schnell umgesetzt und dann weiter ausgebaut werden.

Können die aktuellen Aktivitäten der AGFS in NRW eine Art Blaupause für Deutschland werden?
Von einer Blaupause kann man nicht direkt sprechen. Wir sind aktuell dabei, uns horizontal mit den anderen Arbeitsgemeinschaften der Länder noch weiter zu vernetzen, und richten dazu auch eine Koordinierungsstelle ein. Das schafft zum einen Synergien und zum anderen wollen wir so unsere starke fachliche Expertise beim Bund besser einbringen. Damit bekommen die Arbeitsgemeinschaften insgesamt eine deutlich stärkere Rolle. Wir wachsen mit den Aufgaben und darauf freue ich mich.


Über die AGFS

Der Verein wurde 1993 als Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Städte von 13 Mitgliedern in Nordrhein-Westfalen gegründet. Die AGFS war die erste institutionalisierte Form der Zusammenarbeit von Kommunen in Deutschland für die Förderung des Fahrradverkehrs bzw. der Nahmobilität. Sie hat Vorbildcharakter für ähnliche Zusammenschlüsse, die sich auch in anderen Bundesländern gegründet haben. Seit 2007 vertritt die AGFS das Konzept der Nahmobilität, das die „Stadt als Lebens- und Bewegungsraum“ definiert. 2012 wurde deshalb auch der Fußgängerverkehr gleichrangig im neuen Namen aufgenommen. Die AGFS veranstaltet regelmäßig Fachtagungen und Kongresse, Exkursionen und Planerwerkstätten und hat eine Viel-zahl von Kampagnen für ihre Mitglieds-kommunen vorbereitet, organisiert und durchgeführt. Zudem ist sie Partner des Deutschen Fahrradpreises.

Bilder: AGFS, Peter Obenaus, AGFS – Andreas Endermann