Die Zukunft der Mobilität gestalten

von Peter Eckart und Kai Vöckler (Hrsg.)

Warum brauchen wir eine Transformation der Mobilität? Wie sieht diese aus? Und welche Notwendigkeiten und Möglichkeiten gibt es mit Blick auf ihre Ausgestaltung? Der erste Band einer kommenden Buchreihe der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main (HFG) setzt sich mit Hintergründen, Anforderungen und Lösungen auseinander und stellt in einem Praxisüberblick 64 ausgewählte Projekte vor. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


„Klimawandel und Ressourcenverknappung, aber auch der stetig steigende Verkehrsaufwand machen es unabdingbar, neue Lösungen für eine umweltschonende und menschenfreundliche Mobilität zu entwickeln“, so heißt es im Klappentext des über 300 Seiten starken Fachbuchs. Aufgabe von Mobilitätsdesign sei es, zwischen Mensch und Mobilitätssystem zu vermitteln und Nutzungserfahrungen positiv zu beeinflussen, so die Herausgeber Prof. Dr. Kai Vöckler (Lehrgebiet Urban Design) und Prof. Peter Eckart (Integrierendes Design). Der flüssige und sichere Übergang von einer Mobilitätsform zur anderen, die Nutzung unterschiedlicher individueller, geteilter oder öffentlicher Verkehrsmittel auf einem Weg müsse künftig komfortabel und einfach möglich sein, um Menschen ein positives Mobilitätserlebnis zu vermitteln. Mit diesem Ansatz bildet das Buch einen Kontrapunkt zur bislang weitgehend technisch ausgerichteten Debatte über die Zukunft der Mobilität und des Verkehrssystems. Fundiert und praxisorientiert stellen die Wissenschaftler zusammen mit ihren Co-Autor*innen Konzepte und realisierte Infrastrukturprojekte vor, die die Zukunft einer nachhaltigen und vernetzten Mobilität greifbar machen. Aus den Bereichen Design, Architektur und Städtebau werden anhand von Fotos, Planzeichnungen und Kurztexten beispielhafte Lösungen vorgestellt, thematisch unterteilt in Connective Mobility, Active Mobility, Augmented Mobility und Visionary Mobility.

Band 1: Schwerpunkt Praxis

Der Auftaktband der Offenbacher Schriftenreihe zur Mobilitätsgestaltung hat den Schwerpunkt Praxis. Auf eine allgemeine Einleitung von Kai Vöckler und Peter Eckart zur Gestaltung einer nachhaltigen Mobilität der Zukunft, inklusive grundlegender Definitionen des Mobilitätsdesigns und seiner Aufgaben, werden ausgewählte Projekte mit Bildern und Beschreibungen von Markus Hieke, Christian Holl und Martina Metzner vorgestellt. Im Frühjahr 2022 soll ein zweiter Band zum Schwerpunkt Forschung folgen.


Mobility Design: Die Zukunft der Mobilität gestalten Band 1: Praxis (Offenbacher Schriftenreihe Zur Mobilitätsgestaltung, 1) | Herausgeber: Kai Vöckler und Peter Eckart | Jovis Verlag, Berlin | Dez. 2021 | 304 Seiten | 20.96 x 2.54 x 26.04 cm | ISBN 978-3868596465 | 42,00 Euro


Erst seit den 1950er-Jahren gibt es hierzulande Geschwindigkeitsgrenzen in Städten und seit den 1980ern erste Tempo-30-Zonen. Ist es jetzt Zeit für eine weitere Neuordnung? Nicht nur Klimaargumente und das Ziel, mehr Sicherheit im Straßenverkehr zu schaffen, sprechen dafür, sondern auch die Themen Urbanisierung, körperliche und geistige Gesundheit und der demografische Wandel. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Für eine generelle Absenkung der Geschwindigkeiten im Straßenverkehr setzen sich viele Expertinnen schon seit Jahren ein. Handlungsbedarf sehen sie mit Blick auf die Verbesserung der Sicherheit und die Minderung der Schwere der Unfälle. Dazu kommen potenzielle Verbesserungen beim Energieverbrauch, CO2– und Schadstoffausstoß und bei der Geräuschentwicklung, wovon gerade die Bewohnerinnen der Städte und Gemeinden profitieren würden. So weit zu den technischen Aspekten. Erstaunlich wenig beachtet wurden in der Vergangenheit soziale und psychologische Faktoren, die mit dem Thema Geschwindigkeit zusammenhängen. Dabei geht es auf der einen Seite um Ängste und auf der anderen um ein deutlich sichereres Gefühl im öffentlichen Raum für Radfahrende ebenso wie zu Fuß gehende Menschen, Kinder, Eltern, Ältere und Frauen. Je intensiver man sich mit dem Thema befasst, desto weniger adäquat und zeitgemäß kommen einem die aktuellen Regeln vor. Anpassungen und Veränderungen gab es aber schon immer. „In den 1950er-Jahren haben wir deutschlandweit Tempo 50 in den Städten eingeführt, 1983 gab es die ersten Tempo-30-Zonen und jedes Mal gab es große Diskussionen, heute finden wir das normal“, sagt Prof. Dr. Markus Friedrich, Leiter des Lehrstuhls für Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik an der Universität Stuttgart. In der aktuellen Situation müssten wir uns seiner Meinung nach überlegen, wie die nächsten Schritte mit Blick auf eine Temporeduzierung aussehen könnten. Konkrete Ideen dazu hat er auch.

Initiativen für angemessene Geschwindigkeiten

Viele Kommunen stehen heute vor dem Problem, dass sie die Notwendigkeit sehen, in Teilen der Stadt oder generell die Regelgeschwindigkeit zumindest auf Nebenstraßen herunterzusetzen. Gesetzlich wird dem fließenden Verkehr jedoch auf Bundesebene weiterhin Vorrang eingeräumt. Selbst Experimentierräume sind bislang untersagt. Dagegen formiert sich aktuell breiter Widerstand. Im Juli 2021 startete zum Beispiel die Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“, organisiert von der Agora Verkehrswende mit Beteiligung des Deutschen Städtetags. Nach anfänglich sieben Initiativstädten sind es rund ein halbes Jahr später bereits 90 Städte und Gemeinden, die sich der Initiative angeschlossen haben. „Die Leistungsfähigkeit für den Verkehr wird durch Tempo 30 nicht eingeschränkt, die Aufenthaltsqualität dagegen spürbar erhöht“, heißt es dazu vom Deutschen Städtetag. Lebendige, attraktive Städte bräuchten lebenswerte öffentliche Räume. „Gerade die Straßen und Plätze mit ihren vielfältigen Funktionen sind das Aushängeschild, das Gesicht der Städte. Sie prägen Lebensqualität und Urbanität.“ Diesen Anspruch mit den Mobilitäts-, Erreichbarkeits- und Teilhabeerfordernissen von Menschen und Wirtschaft zu vereinbaren, sei eine zentrale Aufgabe.
Auch der ADFC setzt sich für Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit ein und hat dabei eine einheitliche Regelung für alle Städte und Gemeinden durch ein Bundesgesetz im Blick. Das zusätzliche Argument, das der Fahrradclub ins Feld führt: Radfahrende reagieren sensibel auf ihr Verkehrsumfeld. Das allerdings wird bislang negativ wahrgenommen. Nach den Erhebungen des Fahrradmonitors gibt fast die Hälfte der Radfahrenden an, sich nicht sicher zu fühlen, wenn sie mit dem Rad im Straßenverkehr unterwegs sind. Viele von ihnen fühlen sich durch hohe Kfz-Geschwindigkeiten regelrecht bedroht, vorwiegend dort, wo es keine separaten Radwege gibt. Viele Menschen nutzen deshalb lieber andere Verkehrsmittel.

Gefahren bei Tempo 50 sehr real

Mit dem zunehmenden Verkehr, Ablenkungen durch Smartphones und der höheren Zahl älterer Verkehrs-teilnehmer*innen kommt die Infrastruktur schnell an ihre Grenzen, vor allem, wenn es um Knotenpunkte und Mischverkehre geht, die entweder so gewollt oder aus Platzgründen unvermeidlich sind. Schon vor Jahren ist hier Prof. Dr. Bernhard Schlag, der im Bereich Verkehrspsychologie an der TU Dresden geforscht hat, zu einem klaren Ergebnis gekommen: „Situationen, in denen der Pkw- und Lkw-Verkehr den Radverkehr kreuzt, sind ohne eine deutliche Reduzierung der Geschwindigkeit gefährlich, weil sie zusätzliche Risiken schaffen“, so der Experte. „Denn das Gedränge und die Schnelligkeit der Situation überfordern die Verkehrsteilnehmer. So passieren Unfälle, und die sind dann oft richtig schwer.“ Eine Reduktion der Geschwindigkeit bietet nach seinen Forschungsergebnissen viele Potenziale: „In dem Moment, wo die Geschwindigkeiten niedriger sind, haben Sie nicht nur weniger Unfälle und geringere Unfallfolgen, sondern auch mehr Chancen, Fehler von sich oder anderen zu kompensieren.“

Viele Unfälle könnten vermieden und die Folgen stark abgemildert werden.

Viel zu wenig beachtet: soziale Faktoren

Die Mobilitätsexpertin, Aktivistin und Fachbuchautorin Katja Diehl schreibt in ihrem gerade erschienenen Buch „Autokorrektur: Mobilität für eine lebenswertere Welt“ (Verlag S. Fischer), dass es ihr nicht nur um die Klima-krise, sondern auch um das „Unmenschliche und Ungerechte bestehender Verkehrssysteme“ geht. Es gehe darum, den Menschen neu ins Zentrum zu stellen. Vielfältige Untersuchungen bestätigen den Zusammenhang zwischen den Verkehrsräumen, mit denen wir konfrontiert werden, und psychologischen und sozialen Wirkzusammenhängen. Einige Beispiele: Kinder an einer Tempo-50-Straße kennen und treffen hauptsächlich Kinder auf der eigenen Straßenseite. In Tempo-30-Zonen gibt es das Phänomen zwar auch, aber es ist längst nicht so stark ausgeprägt. Positiv durch niedrige Geschwindigkeiten beeinflusst (durch Tempo 30 und noch mehr durch Tempo 20) wird auch die Motivation, zu Fuß unterwegs zu sein und sich Zeit für einen Plausch zu nehmen. Damit steigt nicht nur die Lebensqualität der Be-wohner*innen, sondern auch der soziale Zusammenhalt im Quartier und mit ihm wiederum das Sicherheitsempfinden von Frauen und Eltern, die das Umfeld nicht mehr als bedrohlich, sondern freundlich empfinden. Mit als Erster erforscht und im Buch „Livable Streets“ beschrieben hat diese oft vergessenen Phänomene schon zu Beginn der 1980er-Jahre Donald Ap-pleyard, Professor of Urban Design an der Universität Berkeley. Menschen lernen sich demnach eher kennen, kommunizieren besser und sie übernehmen auch mehr Verantwortung für ihr Umfeld. Gerade Städte und Stadtviertel mit unterschiedlichen Altersgruppen, soziale Strukturen und Menschen mit Migrationsgeschichte können hier wesentlich profitieren. Davon ist auch die Organisationssoziologin Dr. Ute Symanski überzeugt, die den Kölner Kongress Radkomm und die Volksinitiative Aufbruch Fahrrad NRW mitinitiiert hat und prägt. „Was ich erlebe, ist, dass Stadtplanung und Verkehrsplanung die Stadt nur noch als Funktionsraum betrachtet und denkt“, sagt die Expertin. „Die Funktion, Menschen zusammenbringen, den Austausch und das Gespräch zwischen Menschen zu ermöglichen, das wird überhaupt nicht mitgedacht. Eine fatale Entwicklung.“ Durch den überbordenden und viel zu schnellen Autoverkehr würden die Menschen in ihre privaten Räume gedrängt. „Die Straße hat ihre ursprüngliche Funktion als Begegnungs- und Bewegungsraum längst verloren. Eigentlich ist es ein Wunder, dass Städte trotzdem noch einigermaßen funktionieren.“

„Parkplätze werden nur in geringen Umfang zurückgenommen, dafür gibt es niedrigere Geschwindigkeiten und Überholverbote von einspurigen Fahrzeugen.“

Prof. Dr. Markus Friedrich

Probleme für Kinder, Alte und Gebrechliche

Gesunde, eigenständige Mobilität als Selbstverständlichkeit zu erlernen, ist sicher genauso wichtig, wie die Möglichkeit, sie als älterer und ggf. gebrechlicher Mensch aufrechtzuerhalten. Katja Diehl hat in ihrem Buch Autokorrektur zu diesen Themen zahlreiche Fakten und Studien zusammengetragen. Kinder würden beispielsweise schon durch die Angstübertragung der Eltern lernen, dass es draußen auf der Straße lebensgefährlich ist. Eigene Wege würden so gemieden. Vermeidungsstrategien finden sich auch bei gebrechlichen Menschen. Sie geben früh das Radfahren auf, wagen sich seltener aus dem Haus und verschwinden so mehr und mehr aus dem für sie gefährlichen öffentlichen Raum. „Über 50 Prozent der Personen mit Gebrechlichkeit berichten, in der Woche allenfalls noch an zwei Tagen außerhalb der Wohnung oder des Hauses unterwegs zu sein“, so Katja Diehl. Viele seien beispielsweise bei längeren Fußwegen auf Pausen angewiesen, deshalb seien Bänke zum Ausruhen enorm wichtig. Die WHO hat das Thema inzwischen erkannt und das Programm „Age-friendly Cities“ etabliert. Dazu wurden unter anderem folgende Lebensbereiche priorisiert:
Verkehr, Wohnen, öffentlicher Raum, soziale Teilhabe sowie Mitsprachemöglichkeiten bei der Planung. Echte Gefahren durch höhere Geschwindigkeiten ergeben sich bei Kindern ebenso wie bei den Älteren. Sie sind zum einen verletzlicher und können zum anderen Geschwindigkeiten oder komplexe Situationen nicht gut abschätzen. Bei Älteren und Gebrechlichen kommt erschwerend dazu, dass sie körperlich nicht in der Lage sind, sich einer erkannten Gefahrensituation durch schnelles Gehen oder Laufen zu entziehen. Viele schwere und durch geringere Geschwindigkeiten vermeidbare Unfälle entstehen so beispielsweise beim Überqueren mehrspuriger Straßen, wo Fußgänger weder sicher vor noch zurück können. Allein der demografische Wandel, mit dem sich künftig mehr und mehr ältere Menschen zu Fuß, per Fahrrad, Pedelec und Pkw begegnen, lässt eine Reduktion der Geschwindigkeit als schnell und kostengünstig umsetzbare Maßnahme als geeignet erscheinen.

Tempo 40 und 25 für Haupt- und Erschließungsstraßen?

Prof. Dr. Angela Francke von der Universität Kassel, die eine der sieben neu eingerichteten Stiftungsprofessuren vom Bund für Radverkehr angenommen hat, plädiert für zuverlässige Wegeketten und auf Kurzstrecken für „viel mehr gesunde, aktive und klimafreundliche Mobilität“. Die Technologien und Produkte dafür seien ja mit Fahrrädern, E-Bikes, Lastenrädern oder E-Scootern längst vorhanden. Dafür ist die Infrastruktur im Mischverkehr allerdings bei hohen Geschwindigkeiten nicht geeignet, und eine bessere Separierung dauert meist sehr lange und ist oft auch gar nicht möglich. Für Prof. Dr. Markus Friedrich braucht es deshalb neue Kompromisse. Eine schnelle Lösung brächte aus seiner Sicht eine Geschwindigkeitsreduzierung in den Städten mit Tempo 40 statt 50 km/h auf den Hauptverkehrsstraßen und Tempo 25 in allen Erschließungsstraßen. Zusammen mit den niedrigeren Geschwindigkeiten gäbe es Überholverbote von einspurigen Fahrzeugen auf Tempo-25-Straßen. Damit würde einerseits eine gute Situation für Radfahrende, Lastenradverkehr und die Mikromobilität geschaffen, andererseits müssten so Parkplätze nur in einem geringen Umfang zurückgenommen werden. Damit Autofahrende die Situation intuitiv erfassen können, plädiert er hier zudem für bundesweit einheitliche Regeln. Ist das realistisch? Dort, wo niedrigere Geschwindigkeiten flächendeckend eingerichtet wurden, berichten die Verantwortlichen von einer deutlichen Verbesserung der Unfallsituation bezogen auf die Häufigkeit und Schwere. Landesweit einheitliche Regeln gibt es dazu inzwischen in Spanien mit Tempo 30 auf Erschließungsstraßen und Tempo 20, wenn es keine eigene Bürgersteigplattform gibt. Nur auf Straßen mit zwei oder mehr Fahrspuren pro Richtung bleibt die Grenze bei 50 Kilometer pro Stunde.


Bilder: stock.adobe.com – Trueffelpix, ADFC

Spezifische Branchenlösungen sind aus Business, Verwaltung und öffentlichem Dienst nicht wegzudenken. Aber bei Fahrrädern? Viele Unternehmen und Institutionen setzen inzwischen auf speziell nach ihren Anforderungen entwickelte Räder. Ihre Argumente: vergleichsweise niedrige Kosten, hoher Nutzwert, umweltfreundlich und ein ausgesprochen positives Image. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


S(treifen)-Pedelec statt Streifenwagen: In Osnabrück wurden zwei schnelle E-Bikes für die Polizei umgerüstet – mit vielen Vorteilen im Einsatz und deutlichem Zuspruch der Beamt*innen.

Seit etwa einem Jahr sind Polizeibeamte der Fahrradstaffel Osnabrück mit speziell ausgerüsteten Speed-Pedelecs unterwegs. Und zwar mit großer Begeisterung: „Die Kollegen der Fahrradstaffel sind den ganzen Tag im Einsatz und haben mit den S-Pedelecs riesige Vorteile“, sagt Hendrik Große Hokamp, Leiter der Abteilung Mobilität vor Ort. Sie können ihr Ziel mit den bis zu 45 Stundenkilometer schnellen E-Bikes durch enge Straßen viel schneller erreichen als Kolleginnen im Streifenwagen oder zu Fuß. Vor allem die Flexibilität im Einsatz zählt: „Durch die Nutzung von Radwegen oder Wegen, die für Autos gesperrt sind, sind wir, etwa bei der Personenverfolgung, viel näher dran.“ Bei der Ausführung hoheitlicher Aufgaben darf die Polizei natürlich auch in Fußgängerzonen oder über gesperrtes Gelände fahren, zu dem man ansonsten keinen Zugang hätte. Die in Osnabrück genutzten Polizeiräder vom Schweizer E-Bike-Hersteller Stromer – einem der Pioniere des S-Pedelecs – kosten in der Standardausführung rund 5.500 Euro; für die Umbauten legte die Polizei noch etwa 2.000 Euro pro Fahrzeug drauf. Die umfangreichen Anpassungen wurden nicht vom Hersteller, sondern von Orange Bikes, einem Fachhändler vor Ort, ausgeführt. Hinzu kam zum Beispiel eine komplette Blaulichtanlage. Zwei Frontblitzer sind vorn am Lenker, einer jeweils seitlich des Gepäckträgers an den Zusatzboxen angebracht. Auch diese Boxen sind nachträglich hinzugekommen und tragen unverkennbar das Gewand der Polizeifahrzeuge. Darin sind die wichtigen Dinge, die man im Einsatz braucht – etwa der Alkomat, das Martinshorn oder eine Zusatzbatterie. Apropos: Die Verbrauchskosten des im Rahmen versteckten Akkus halten sich in Grenzen, sie liegen bei derzeit etwa 20 bis 30 Cent pro hundert Kilometer. Das E-Auto kostet da schon mal fünf Euro. Nicht nur, weil es den Gesetzes-hüterinnen Spaß macht, will man nach dem Projekt ein eindeutig positives Fazit an das niedersächsische Innenministerium abgeben, das dann über weitere S-Pedelecs für die Polizei entscheidet: Das Interesse sei groß – auch in der Bevölkerung, so Große Hokamp. „Das erleichtert uns natürlich auch die Kommunikation. Und wir haben zig Einsätze abarbeiten können. Darunter auch Fälle, die wir sonst nicht gelöst hätten.“ Dabei ging es um Ladendiebe, die zu Fuß oder per Auto wohl nicht gefasst hätten werden können, aber auch um eine vermisste Person, die dank des Einsatzfahrzeugs auf unwegsamem Gelände gefunden wurde. „Wenn man misst, wie erfolgreich die Einsätze bewältigt worden sind, ist das eindeutig pro S-Pedelec.“

E-Cargobike für den Notfall

Noch ein Blaulicht-E-Bike: Das Cargobike für mobile Notfall-Einsatzkräfte ist vorwiegend für größere Events und den Einsatz im engen Innenstadtbereich konzipiert. Es stammt von Urban Arrow, einem niederländischen Lastenradhersteller, der in den letzten zwei Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat. Mittlerweile hat ihn die finanzstarke und weltweit agierende Pon-Gruppe übernommen. Das hat die Möglichkeiten des Lastenradherstellers stark erweitert: Vor gut einem Jahr wurde eine Business-Abteilung bei Urban Arrow gegründet, und mit frischen finanziellen Mitteln geht man intensiv daran, auch geschäftliche Bereiche zu erschließen. Das Emergency Bike wurde von einem Geschäftspartner mit einer Box für medizinische Zwecke ausgestattet. Die Umgestaltung geht weit über das bekannte Design hinaus: Auch hier gibt es das klassische Blaulicht auf der Box, gut sichtbar nach vorn strahlend. In die Box integriert ist ein spezielles Lagersystem für die medizinische Standard-ausstattung, die für solche Einsätze vorgesehen ist. Sie ist wärmeisoliert. „Die Boxen können aber auch mit aktiver Kühlung geliefert werden“, erklärt Erik Jan Stoffel, Sales Manager für Europa beim Hersteller Urban Arrow.
Das E-Bike wird so auch im Innenstadtbereich von Paris eingesetzt. Natürlich gibt es auch ganz anders gelagerte Einsatzbereiche: „Wir haben einen Fischlieferanten, der mit einer Box mit aktivem Kühlsystem die Amsterdamer Innenstadt beliefert.“ Selbst die Autolobby steigt aufs Fahrrad: Laut Stoffel sind schon heute man-che ADAC-Pannenhelfer, sogenannte gelbe Engel, mit Lastenrädern von Urban Arrow unterwegs. Die sind dann mit der Craft Box bestückt, also einem Aufbau, der für Werkzeugausstattung optimiert ist. „Wir haben einen enormen Zuwachs bei den Verkaufszahlen im Business-Bereich“, sagt Stoffel. „Zwar ist momentan der Verkauf an private Kunden noch führend, aber das wird sich zunehmend ändern. Die Vorteile sind enorm, etwa die Möglichkeit, vollen Zugang zur Innenstadt zu haben, das Wegfallen von Park- oder Mautgebühren, die Zeitersparnis und natürlich die Möglichkeit, führerscheinfrei unterwegs zu sein. Und das alles auch noch mit einem grünen Gewissen.“ Dazu kommt der Image-Transfer: Wer geschäftlich mit dem Cargobike unterwegs ist, zeigt damit auch Nachhaltigkeitsbewusstsein. Aber die direkten praktischen Vorteile überzeugen für sich genommen viele Unternehmen ohnehin.

Nicht nur die professionelle Optik: In der Box der Zweirad-Ambulanz ist Hightech integriert, möglich ist sogar ein aktives Kühlsystem.
Gelbe Engel per E-Bike: In mehreren deutschen Städten kommt rettende Hilfe jetzt noch schneller, denn Staus spielen mit dem E-Bike keine Rolle.

Nachhaltige Logistik per Cargobike und Hub

„Wir haben das Cargobike neu interpretiert“, sagt Johannes F. D. Hill, Global Business Development Manager beim Unternehmen Rytle. Der wesentliche revolutionäre Schritt war wohl, das System selbst modular darzustellen und entsprechend mit dem eigentlichen Zustellfahrzeug, einem hoch spezialisierten E-Lastendreirad, enorme Flexibilität zu gewinnen.
Konkret sieht das so aus: Ein Hub, also eine Hauptumschlagbasis, ist die Grundlage im jeweiligen Verteilersektor. Dieser Hub ist technisch gesehen eine smarte Lkw-Brücke im 10-Fuß-Format. Sie wird morgens aufgestellt und enthält bis zu neun vorkommissionierte Boxen zur Verteilung. Deren Volumen beträgt rund 1,4 Kubikmeter pro Box. Per Rytle Movr, einem E-Dreirad mit Kabine, kann je eine Box abgeholt werden. Dazu wird der Hub über eine autarke Hydraulik abgesenkt. Die auf Rollen laufende Box kann von den Zustellerinnen herausgezogen und in den Freiraum zwischen den Hinterrädern des Movr geschoben werden. Dort wird sie fest mit dem Fahrzeug gekoppelt. So geht es auf die „letzte Meile“. Wendig im engen Berufsverkehr, mit einfachem Zugang auch zu Fußgängerzonen oder über für Kfz gesperrte Routen. Die Fahrerinnen werden von zwei E-Motoren an der Hinterachse mit bis zu 25 km/h unterstützt. Trotz des Doppelantriebs bleibt der Movr rechtlich ein Pedelec. „Heute muss man nicht mehr mit dem Sprinter in die Innenstadt fahren, der Movr und ein dezentral postierter Hub bringen die Effizienz auch auf der letzten Meile – wo traditionelle Logistiksysteme nichts verdienen.“ Erfahrungen in London etwa hätten gezeigt, dass Straßensperren für Kraftfahrzeuge in der Innenstadt sehr stark der Fahrradlogistik zugutekommen. Und natürlich ist der Movr vor allem eine Lösung, die CO2 spart und bei aller Effizienz helfen kann, die Innenstädte lebenswerter zu machen.
Die Technik des Rytle-Sytems kommt dabei vom Trailer-Spezialisten Krone Commercial Vehicle Group. Hintergrund: Rytle mit Hauptsitz in Bremen entstand als ein Joint Venture der Krone-Gruppe und der Orbitak AG, einem Beratungsunternehmen, das im Bereich Neue Mobilität unterwegs ist, sowie dem Lastenfahrradhersteller Speedliner.
2018 wurde also Rytle Movr ins Leben gerufen. „Ein großer Launch-Kunde war damals UPS. Dieses Unternehmen hatte schon vorher in dieser Richtung experimentiert“, sagt Hill. Man wollte aber noch effizienter werden. Die Wechselbox für den Movr hat nicht zufällig die Bodenmaße der Europalette. „Das ist das Maß der Dinge, und das wollen wir auch nicht ändern“, so Hill. Die Zuladung der Box beträgt satte 180 Kilogramm.
Vor allem im norddeutschen Raum ist Rytle in Großstädten gut vertreten – Hamburg, Oldenburg und Bremen sind Hochburgen. Der Stellplatz wird von der Kommune oder von privaten Unternehmen vermietet. Weltweit sind derzeit rund 500 Movr unterwegs. Der Logistik-Partner kann das Rytle-System mieten oder kaufen. „Der Movr ist besonders für die KEP-Branche (Kurier-Express-Pakete) interessant“, so Hill. „Aber wir sind breit aufgestellt.“ Einige große Logistikunternehmen sind Partner für das modulare System auf der letzten Meile, unterwegs ist man mittlerweile in zehn Ländern, Tendenz wachsend. „Wir sind noch am Anfang“, ist Hill überzeugt.

Perfekt in Logistiksysteme der großen Partner eingepasst, aber auch perfekt für die letzte Meile ohne Stress und Schadstoffe: Rytle Movr.

Bibliothek und mehr auf drei Rädern

„Es kommen immer weniger Leute in die städtischen Bibliotheken, da fährt die Bibliothek einfach zu den Leuten, nämlich auf die Plätze der Stadt“, sagt Stefan Rickmeyer. Sein Unternehmen Radkutsche baut seit 15 Jahren Cargo-bikes für schwere Lasten sowie Sonderaufbauten dafür. Radkutsche hat schon vor Jahren zwei Bücher-Bikes für die städtische Bibliothek in Oslo entwickelt. „Das bringt nicht nur wieder Interesse fürs Lesen. Die Plätze werden so stärker belebt, es gibt eine ganz andere Verweildauer, die Städte werden mit solchen Aktionen lebendiger und lebenswerter.“ Zur Ausstattung gehören auch Sitzelemente und Sonnenschirme, die rund um das Bike aufgestellt werden. Basis für den Spezialumbau ist bei Radkutsche das Modell Musketier, das größere von zwei Grundmodellen. Ein Dreirad, zwei Räder hinten, eines vorne. Die Grundkonfiguration des Fahrzeugs ist das reine Fahrgestell, ganz ohne Aufbau. Für den kann zwischen sieben Optionen ausgewählt werden, von der klassischen Pritsche über einen Gastro-Aufbau für mobile Küchen oder Kaffee-Bikes bis hin zur Rikscha für zwei Fahrgäste. Oder es planen eben Kund*innen und Radkutsche zusammen. In diesem Fall ist es Jonas Adam, der sich im Unternehmen um ein Bibliotheks-Bike auch für die Stadt Reutlingen kümmert. Diesmal wird es weniger ein Schwertransport, da die Bücher hauptsächlich digital sind: Es sollen zehn Laptops zum Bibliotheks-Bike gehören, nebst Infrastruktur wie WLAN und Ladegeräte. „Oben wird es eine Solaranlage geben“, erklärt der Leiter Umbauten bei Radkutsche. „In der Kiste selbst ist eine Präsentationsfläche für Bücher oder Flyer, darunter die Technik zu dem Ganzen. Wie beim Osloer Bike hat das Reutlinger Lastenrad eine Bestuhlung für Gäste dabei, die sich dann entspannt in Liegestühlen fläzen und auf den Tablets lesen können.
„Häufig kommen die Kommunen auf uns zu“, erzählt Radkutsche-Chef Rickmeyer. Sie haben beispielsweise ein ähnliches Rad irgendwo gesehen oder davon gehört und fanden es eine vielversprechende Idee für die eigene Stadt. „Aber wir müssten einfach noch mehr nach außen gehen. Wir müssen direkt auf die Marktplätze!“ Derzeit entfallen nur etwa ein bis zwei Prozent der Bestellungen auf Kommunen, doch die Tendenz ist steigend. Da werden dann etwa Räder für die Stadtreinigung oder das Gartenbauamt bestellt – immer mit speziellen Aufbauten für den jeweiligen Einsatz. Zum Beispiel der große „Muldenkipper“ fürs Erdreich oder die Pritsche mit Aufnahmen für Besen und Schaufeln. Auch einige große internationale Logistikunternehmen liefern mit Radkutsche-Rädern. Die französische Post etwa stellt in der Pariser Innenstadt unter anderem damit zu.

„Häufig kommen die Kommunen mit neuen Ideen auf uns zu.“

Stefan Rickmeyer, Radkutsche

Von der mobilen Bibliothek bis hin zum Pflegeservice der öffentlichen Anlagen: Die Kommunen entdecken die Möglichkeiten des E-Bikes für sich.


Bilder: Polizeidirektion Osnabrück, ECOX, ADAC, Rytle – Schoening Fotodesign, Radkutsche

Noch steht der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Verkehrsplanung ganz am Anfang. Aber erste Projekte sind vielversprechend. KI kann demnach helfen, den Verkehr sicherer zu machen, mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen und Planer*innen bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Vor der Analyse die Bestandsaufnahme: Wie ist der Verkehr an der jeweiligen Kreuzung geregelt? Hier zeigt die KI die detektierten Schilder direkt in der Karte an.

Rad fahren und zu Fuß gehen gleicht in vielen Städten teils immer noch einem „Jump&Run“-Computerspiel. Fahrradfahrerinnen müssen auf geraden Strecken unachtsam geöffneten Fahrzeugtüren ausweichen, an Kreuzungen abbiegende Fahrzeuge im Blick behalten und wenn der Radweg abrupt endet, sich geschmeidig in den schnellen Autoverkehr einfädeln. Auf manchen Strecken und Knotenpunkten kommt es immer wieder zu kritischen Situationen und Beinahe-Unfällen. In die Statistik gehen sie nicht ein und auch bei Ortsbesichtigungen bleiben viele davon Stadt- und Verkehrsplanerinnen verborgen. Der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) könnte das ändern und dabei helfen, den Verkehr für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicherer zu machen.
Das geht, weil KI im Gegensatz zu gängiger Software riesige Datenmengen verarbeitet und zudem Fragen beantworten kann, die nicht bereits in ihrem Code hinterlegt sind. Dieses Abstrahieren ist erst in den vergangenen Jahren mit der steigenden Prozessorleistung, der höheren Internet-Bandbreite und via Cloud verfügbaren Daten möglich geworden. Seitdem eröffnen sich für die Technologie ständig neue Einsatzbereiche.
In der Stadt- und Verkehrsplanung steht der Einsatz von KI-Systemen noch am Anfang. 2019 hat der Verkehrsforscher Andreas Leich vom In-stitut für Verkehrssystemtechnik am „Deutschen Institut für Luft und Raumfahrt“ (DLR) mit „KI4Safety“ ein erstes Projekt zur Unfallprognose an Knotenpunkten gestartet. Innerorts geschehen dort etwa die Hälfte aller Unfälle, bei denen Verkehrsteilnehmerinnen verletzt oder getötet werden. Die Abläufe an Kreuzungen sind sehr komplex. Deshalb gebe es keine Patentlösung, sondern die Planerinnen entscheiden stets im Einzelfall vor Ort, sagt Leich. Der Maßnahmenkatalog gegen Unfallhäufung (MaKaU) der Bundesanstalt für Straßenwesen (BAST) nennt eine Vielzahl an Möglichkeiten, um Unfall-Hotspots zu entschärfen. Eine der Empfehlungen für Kreisel lautet: Radfahrer im Mischverkehr mitfahren zu lassen. Die Maßnahme wirkt. Das hat eine Studie der Unfallforschung der Versicherer (UDV) 2012 bestätigt. Allerdings nur bis zu einer bestimmten Verkehrsdichte. Die Ergebnisse zeigen auch: „Je mehr der Autoverkehr anstieg, umso mehr Radfahrer sind auf den Gehweg ausgewichen“, sagt Leich.

„Mit KI erfahren wir Dinge, die bislang nicht beobachtbar waren.“

Andreas Leich, Deutsches Institut für Luft und Raumfahrt (DLR)

Nicht clever aber fleißig: Die KI hat für 1.000 Kreisverkehre die Luftbilder (oben) mit den Befahrungsbildern (unten) und der Unfallhäufigkeit verglichen.

Kreisverkehrs-Analyse mit KI überrascht

Im Rahmen des KI4Safety-Projekts hat Andreas Leich mit seinem Team in den vergangenen Jahren die Wirksamkeit der BAST-Maßnahmen analysiert. Dafür haben sie ihre KI so trainiert, dass sie die Luft- und Befahrungsbilder von 1.000 Kreisverkehren in Nordrhein-Westfalen nach sicherheitsrelevanten Merkmalen abgesucht hat. Die Ergebnisse haben die Forscher überrascht: So ist die Zahl der Unfälle deutlich angestiegen, wenn Radfahrende über eine rote Furt in den Kreisverkehr geleitet wurden. Im Gegensatz dazu gab es laut Leich Verkehrsführungen, die auf den ersten Blick zwar nicht unbedingt sicherer wirkten als das Radfahren im Mischverkehr, aber dort waren die Unfallzahlen trotzdem niedrig. Über die Gründe kann Leich momentan nur spekulieren. „Vielleicht vermittelt die rote Furt Radfahrern ein zu großes Sicherheitsgefühl“, sagt er. Das könne dazu führen, dass sie sich selbstbewusst, schnell und weniger achtsam in Kreisverkehren bewegten. Diese These scheint ein weiteres Ergebnis der Datenanalyse zu untermauern. Sie zeigt, dass die Kreisverkehre, an denen Radfaherinnen überlegen müssen, ob sie Vorfahrt haben oder nicht, sicherer sind als jene, an denen Radfahrerinnen auf den ersten Blick ihre Vorfahrt erkennen.

Neues Werkzeug für Verkehrsplanung

Für Leich ist das Projekt KI4Safety nur ein erster Schritt. „Das Projekt hat gezeigt, wie man KI einsetzen kann, um Zusammenhänge im Unfallgeschehen aufzuklären und um zu erkennen, was vor Ort geschieht“, erläutert Leich. „Jetzt möchten wir herausfinden, warum es geschieht.“ Dazu muss das Verhalten der Radfahrenden, Autofahrenden und zu Fuß Gehenden an diesen Kreuzungen beobachtet, aufgezeichnet und per KI analysiert werden. Das geht entweder im Simulator oder mit einer Surrogatmaß-Studie, die per Video das Verkehrsgeschehen vor Ort aufzeichnet und die Häufigkeit von kritischen Situationen im Verkehr betrachtet. „Diese Analyse wird durch den Einsatz von KI überhaupt erst möglich, weil sie riesige Datenmengen durchforsten kann“, sagt Leich und fügt hinzu: „Mit ihrer Hilfe erfahren wir Dinge, die bislang nicht beobachtbar waren.“ Für ihn ist KI ein wichtiges Werkzeug, das in der Lage ist, langfristig die Sicherheit aller Verkehrs-teilnehmerinnen zu erhöhen. Das Berliner Start-up Peregrine Technologies (peregrine.ai) geht in eine ähnliche Richtung: Das Team um Mitbegründer Steffen Heinrich hat eine Software entwickelt, die Videoaufnahmen des Verkehrsgeschehens mittels KI analysiert. Die Software geht dabei vor wie früher Schiffskapitäne, die jedes Ereignis während einer Fahrt akribisch in dicken Logbüchern notierten. Die KI ist allerdings deutlich penibler. Sie notiert während der Fahrt sämtliche Verkehrsteilnehm-erinnen, vermerkt, wie die Infrastruktur beschaffen ist, ob es zum Beispiel Schlaglöcher gibt, eine kaputte Straßenlaterne oder wie genau die Straße aufgeteilt ist. Dabei werden personenbezogene Daten wie Kennzeichen oder Gesichter laut Peregrine aus Datenschutzgründen vor dem Speichern entfernt. Anschließend kann die KI gezielte Fragen beantworten, etwa nach Beinahe-Unfällen an Kreuzungen oder Dooring-Hotspots. Doch das ist noch nicht alles: Sie kann auch eine komplette Inventur der Infrastruktur durchführen und sämtliche Schwachstellen einer Stadt auflisten, etwa jene, an denen die Menschen stets zu schnell fahren, oder wo die Barrierefreiheit durch zu hohe Bordsteine eingeschränkt wird. „Oft entstehen Verkehrsrisiken durch infrastrukturelle Gegebenheiten – die müssen erkannt und verändert werden“, so Steffen Heinrich.

„Die KI erleichtert den Experten die Entscheidungsfindung“

Steffen Heinrich, Peregrine Technologies

Beinahe-Unfälle beeinflussen Fahrzeugwahl

Bislang konnten kaum Daten zu solchen Risiken erhoben werden, weil die Technik fehlte. Dabei haben subjektiv wahrgenommene Gefahren einen enormen Einfluss auf die Fahrzeugwahl. Wie sehr beispielsweise Beinahe-Unfälle das Mobilitätsverhalten der Menschen beeinflussen, zeigt Rachel Aldreds Studie „Investigating the rates and impacts of near misses and related incidents among UK cyclists“ von 2015. Die Verkehrswissenschaftlerin an der University of Westminster hatte 2.586 Radfahrende nach ihren täglichen Erlebnissen im Straßenverkehr befragt, um zu verstehen, was Menschen tatsächlich am Radfahren hindert. Für die Studie haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an zwei Tagen eine Art Fahrradtagebuch geführt und ihre unangenehmen Erlebnisse im Straßenverkehr protokolliert. Rund 6.000 Zwischenfälle sind dabei zusammengekommen. Das heißt: Die meisten Teilnehmer erlebten an dem betreffenden Tag gleich mehrere Zwischenfälle. Jeder siebte Vorfall war dabei ein Beinahe-Zusammenstoß mit einem Bus oder einem Lkw. Auf der Liste der wahrgenommenen Risiken standen außerdem Autos, die mit zu geringem Abstand überholten, blockierte Radwege, Dooring sowie gefährliche Situationen beim Abbiegen und andere Beinahe-Unfälle. Ungeübte und unsichere Radfahrer*innen wurden durch die Vorfälle so verschreckt, dass sie das Radfahren unverzüglich wieder aufgaben.
Der Einsatz von KI kann demnach dabei helfen, das Umfeld sicherer zu machen, und damit mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen. Jedenfalls in der Theorie. Denn bislang wird KI von den Verwaltungen nicht zur Verkehrsplanung genutzt. Aber das Interesse sei da, so Steffen Heinrich von Peregrine. „Momentan führen wir Gespräche für verschiedene Projekte in großen und kleineren Städten.” Die KI kann den Kommunen künftig eine Datengrundlage liefern, die eine faktenbasierte Entscheidung erleichtert. Er betont: „Die Entscheidung für den Umbau von Kreuzungen oder den Bau von Radwegen trifft immer der Planer, unsere KI trifft keine Entscheidungen, das kann sie gar nicht, sie erleichtert den Experten aber die Entscheidungsfindung.“

KI hilft Risiken zu erkennen und Umbau zu planen

Welche Vorteile der Einsatz von KI in der Verkehrsplanung haben kann, lässt sich am Beispiel von Berlin zeigen. Im Rahmen des Mobilitätsgesetzes sollen dort jedes Jahr 30 Kreuzungen so umgebaut werden, dass Radfahren in der Hauptstadt sicherer und komfortabler wird. „Das Verkehrsgeschehen ist an Kreuzungen sehr komplex, weil hier alle Verkehrsteilnehmer aufeinandertreffen, vom Schwerlastverkehr bis zum Fußgänger. Das Risiko für zu Fuß Gehende und Radfahrende ist deshalb besonders hoch“, betont Steffen Heinrich. Beabsichtigt man, die Kreuzungen mit dem höchsten Gefahrenpotenzial zuerst umzubauen, braucht es ensprechende Daten. Die könnten fest installierte Kameras an Kreuzungen liefern. Vielerorts gibt es sie bereits. Sie werden bislang aber nicht automatisiert ausgewertet. Hier kommt die KI von Peregrine ins Spiel. Sie kann die Daten liefern, die die Städte brauchen.
„Unsere erste Frage ist: Nutzen die Personen die Infrastruktur korrekt oder gibt es Probleme?“, so Heinrich. Manchmal müssten Radfahrende einen Schlenker auf die Fahrbahn machen, weil Fahrzeuge in zweiter Reihe parken. Problematisch sind (falsch) parkende Autos, zugestellte oder zugewachsene Wege oder sonstige Hindernisse, die die Sicht nehmen oder Menschen auf die Straße zwingen. „Wenn die KI das Risiko gemessen hat, können die Planer aus den Daten eine Handlung ableiten“, sagt Heinrich. Etwa, dass im Frühjahr die Büsche eher zurückgeschnitten werden müssen oder das Zuparken des Kreuzungsbereichs wirkungsvoll verhindert wird. Für den Software-Experten steht fest: „Es muss nicht mehr erst zum Unfall kommen, bevor der Umbau der Kreuzung beschlossen wird.“ Die Planer könnten mit KI frühzeitig Maßnahmen ergreifen, weil sie die Risiko-Hotspots in ihrer Stadt vergleichen können. Dafür müsse der verwendete Datensatz zudem ständig aktualisiert werden. „Verkehr ist dynamisch“, sagt Heinrich. Die Situation vor Ort könne im Sommer durch mehr Radverkehr ganz anders aussehen als im Winter. Neue Fahrzeuge im Mobilitätsmix, wie etwa E-Scooter, verändern das Verkehrsgeschehen ebenfalls. „Die KI spiegelt diesen Wandel wider“, sagt Heinrich. Die KI zeigt, was ist, die Planer ordnen die Erkenntnisse ein und entscheiden, was wird.


Bilder: Peregrine, DLR

ListNRide ist eine Buchungsplattform, die dem stationären Fahrradfachhandel eine Möglichkeit eröffnet, mit überschaubarem Aufwand ein eigenes Verleihgeschäft aufzubauen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Händler, die mit dem Gedanken spielen, ein eigenes Verleihgeschäft aufzubauen, finden mit ListNRide einen Partner, der die notwendigen technischen Werkzeuge bereitstellt und gleichzeitig eine Plattform betreibt, mit der potenzielle Kundinnen und Kunden auf das eigene Angebot aufmerksam gemacht werden.
Die Plattform lässt sich sowohl für kurzfristige Mieten konfigurieren wie auch als Abo-Modell ausrichten. Wer potenzieller Kundschaft eine längere Testfahrt ermöglichen will, kann dies gegen Vergütung über ListNRide abwickeln und dann gegebenenfalls bei einem zustande kommenden Kauf verrechnen. Während des Verleihzeitraums sind Service und Schutzbrief im Preis enthalten.
Im Diebstahlsfall sind also alle Parteien abgesichert, für den Kunden wird eine geringe Selbstbeteiligung fällig. Die Optionen bei der Verleihdauer werden vom Händler vorgegeben. Ein typisches Abo-Modell bietet Laufzeiten von drei, sechs oder zwölf Monaten an. Kundinnen und Kunden, die sich für ein solches Modell entscheiden, tragen durch entsprechend vorgegebene Wartungsintervalle zur Kundenfrequenz im Laden bei.


Bilder: ListNRide

Das E-Cargoville LT von Bergamont ist ein individueller Alleskönner. Das Rad hat den Anspruch, auch unter voller Beladung noch ein dynamisches Fahrgefühl zu bieten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Den Antrieb des E-Cargoville LT übernimmt der Motor Performance Line Cruise von Bosch in der dritten Generation. Mit Energie versorgt ihn ein 500-Wh-Akkupack. Mit dem optionalen zweiten Steckplatz kann die Reichweite durch einen Zusatzakku erhöht werden. Für die passende Bremsleistung selbst bei Volllast sorgen Magura-Scheibenbremsen. Die in Schwarz-Weiß gehaltene Ausführung Expert bietet das 12-Gang-Schaltwerk Deore XT von Shimano. Bei der anthrazit-schwarzen Ausstattungslinie Edition kann das Deore-Schaltwerk auf 10 verschiedene Ritzel schalten. Bei beiden Varianten besteht die Wahl aus Rahmenhöhen von 47 und 53 Zentimetern.
Sowohl vorne als auch hinten hat das E-Bike robuste Trägersysteme, die mit dem Hauptrahmen verschraubt sind. Der Träger vorne kann 15 Kilogramm, der hintere sogar bis zu 54 Kilogramm tragen. Das hintere Trägersystem ist modular und die Nutzer und Nutzerinnen können es für ihre jeweiligen Zwecke ausstatten. Beim Kindertransport schützen speziell angepasste Polster an der umlaufenden Reling die kleinen Fahrgäste. Auch Fußrasten für etwas größere Kinder sind verfügbar. Als weiteres Zubehör sind die Taschen Carrier Top Bag und Carrier Side Bag erhältlich.


Bilder: Bergamont

Wie geht es weiter bei der überfälligen Mobilitätswende? Und was bewegt uns? Antworten will die Messe und Konferenz Micromobility Expo liefern, die vom 19. bis 21. Mai in Hannover stattfindet. Neben Produkten und Themen rund um Mikromobilität geht es um Nachhaltigkeit, sicheren Verkehrsraum und die Entwicklung der Städte. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Die Micromobility Expo ist ein dreitägiges Event rund um die Themen Mikromobile & Leichtfahrzeuge, Mobilitätsinfrastrukturen sowie Mobilitätsdienstleistungen mit Konferenz, Ausstellung und einem großen Test-parcours. In diesem Jahr kommt die pandemiebedingt verschobene Messe FuturEmobility hinzu. Die FuturEmobility ist nach den Worten von Florian Eisenbach, Projektleiter der Micromobility Expo bei der Deutschen Messe AG eine perfekte Ergänzung zum Programm. „Sie unterstreicht die hohe Bedeutung der elektrischen, emissionsfreien und geräuscharmen Fortbewegung und wird der Mobilität der Zukunft neuen Schub verleihenˮ, sagt Eisenbach.

Konferenz erörtert neue Mobilität

Die Veranstaltung versteht sich als Plattform für die Mobilität der Zukunft, präsentiert die neuesten Lösungen, Anwendungen und Trends in der Mikromobilität und hat das Ziel, die Verkehrswende im urbanen Raum voranzutreiben. Von der Notwendigkeit einer Neuerfindung der Mobilität spricht Prof. Dr. Stephan Rammler, Wissenschaftlicher Direktor des Messepartners IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung. Es sei erforderlich, Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und ökonomische Effizienz miteinander zu verbinden. Im Konferenzprogramm, für das inzwischen führende Experten aus der Praxis zugesagt haben, werden diese Fragen erörtert. Die Idee einer „15 Minute Cityˮ bringt Stephan Boelte, Regional General Manager des E-Scooter-Sharers Voi Technology, ein und erläutert, welchen Beitrag die Mikromobilität dazu leisten kann. Über leichte Elektrofahrzeuge spricht Mascha Katharina Brost, Projektleiterin des DLR (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt), die in einer Studie das große Potenzial von Light Electric Vehicles (LEV) zur CO2-Reduzierung aufgezeigt hat. Markus Emmert, Vorstand des Bundesverbands eMobilität (BEM) spricht über Mikromobilität und Leichtfahrzeuge als Fundament für eine gelungene Verkehrswende. Dr. Daniela Wühr, Fachreferentin für Mobilitätsverhalten und Trendforschung beim ADAC befasst sich mit der Frage, ob E-Scooter eine Chance für Intermodalität darstellen, und Iona Freise, Head of Cities Germany bei Tier Mobility, plädiert für eine intelligente Vernetzung verschiedener Verkehrsträger und Angebote im ÖPNV und liefert Ansätze, um dem unverantwortlichen Parken von E-Scootern mithilfe neuer Technologien zu begegnen.

Interessant für Kommunen und Unternehmen

Mit ihrem breiten Spektrum an Angeboten und einer Vielzahl an Herstellern aus allen Bereichen von E-Scootern über Lastenräder und Anhänger, B2B- und B2C-Lösungen bis hin zu Microcars ist die Micromobility Expo in Deutschland bislang sicher einzigartig. Sie bietet eine hervorragende Plattform für Kommunen und Unternehmen, um sich einen Überblick zu verschaffen und mit Herstellern ins Gespräch zu kommen. Dazu bietet die Messe reichlich Platz, um unterschiedliche Modelle gleich vor Ort zu erproben. Die ersten beiden Veranstaltungstage sind dem Fachpublikum vorbehalten, am Samstag, 21. Mai öffnet die Messe ihre Tore auch für Privatbesucher*innen. Partner der
Micromobility Expo sind das IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin und die Metropolregion Hannover Braunschweig Göttingen Wolfsburg.

Das Thema Mikromobilität umfasst viel mehr als nur E-Scooter.


„Der Bedarf für alternative Mobilität ist da und er wächst weiter“

Bei den über 900 einzelnen Organisationseinheiten der Caritas ist die E-Mobilität nicht nur ein Mittel zur Klimaneutralität, sondern auch ein wichtiger Baustein, um neue Mitarbeiter*innen zu gewinnen, erklärt Christoph Hermann, E-Mobilitäts-Experte der Caritas Einkaufsgenossenschaft CDG.

Christoph Hermann sucht unter anderem auf der Micromobility Expo nachhaltige Mobilitätslösungen für die Caritas.

Warum sind für die Caritas E-Mobilität und neue Fahrzeuge ein großes Thema?
Vorweg etwas zur Funktion der Caritas Dienstleistungs- und Einkaufsgenossenschaft CDG: Wir sind 2018 gegründet worden, um wichtige Zukunftsthemen wie die E-Mobilität voranzubringen. Hintergrund ist das Caritas-Ziel, bis 2030 klimaneutral zu werden. Die Umstellung der Fahrzeugflotten ist hier ein zentraler Faktor.

Was sind Ihre konkreten Aufgaben und wo gibt es Vorteile für die Caritas?
Die Caritas ist an vielen Stellen dezentral organisiert. Unsere Hauptaufgabe besteht darin, für die einzelnen Verbände Know-how aufzubauen, zu bündeln und sie zielgerichtet zu unterstützen. Konkret geht es zum Beispiel aktuell darum, ideal geeignete neue Fahrzeuge zu identifizieren und Rahmenvereinbarungen mit den Herstellern zu treffen. Damit schaffen wir Vorteile in der Administration und natürlich können wir so auch andere Konditionen aushandeln. Angesichts der aktuellen Lieferschwierigkeiten bei vielen Herstellern sichern wir uns im Einzelfall dort, wo wir absehbar Bedarf haben, auch größere Kontingente und verteilen sie dann an die Verbände.

Wie sieht der Bedarf bei der Caritas aus im Bereich Mobilität und um welche Größenordnungen geht es?
Die einzelnen Verbände haben zum Teil mehrere Hundert Fahrzeuge im Einsatz. Dabei geht es vor allem um mobile Pflegedienste, aber auch andere Zwecke, wie zum Beispiel Werksverkehre und Lastentransporte. Von den Verbänden und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt es eine merkliche Nachfrage nach Alternativen zu herkömmlichen Pkws, dabei geht es neben Elektroautos vor allem um E-Bikes und zunehmend auch andere Formen von Mikromobilität, wie E-Roller, Microcars oder Lastenräder.

Warum sind E-Bikes und andere Formen von Mikromobilität für Sie bzw. die Caritas ein wichtiges Thema?
Neben dem Klimaschutz ist für uns Employer Branding sehr wichtig, also Mitarbeitende durch gute Arbeitsbedingungen zu gewinnen und zu halten. Hier ist ein möglichst breites Angebot an Mobilitätsalternativen vorteilhaft – vom klassischen Pkw über Elektromobilität bis zum E-Bike. Bei den E-Bikes wird beispielsweise neben den praktischen Vorteilen, Stichwort Parkplatzsuche, auch berichtet, dass Mitarbeitende sich teilweise gerne an der frischen Luft bewegen. Dies geht natürlich auch mit einem gesundheitlichen Nutzen einher. Dazu kommt, dass wir auch junge Menschen beschäftigen, die keinen Führerschein haben und den auch nicht mehr als Selbstverständlichkeit ansehen. Hier bieten E-Bikes, E-Roller der 45-km/h-Klasse oder Microcars, die ebenfalls ohne Pkw-Führerschein gefahren werden können, aus unserer Sicht ganz neue Chancen.

Sie besuchen die Micromobility Expo in Hannover, was ist für Sie hier besonders interessant?
Messen, die ein großes Mobilitätsangebot mit unterschiedlichen Fahrzeugen an einem Ort abbilden, sind für uns eine wichtige Plattform, um neue Fahrzeuge oder Fahrzeuggattungen kennenzulernen, auszuprobieren und direkt mit den Herstellern ins Gespräch zu kommen. Die Micromobility Expo bündelt Mobilitätsalternativen zum Pkw an einem Ort. Für uns ist das ideal, denn damit können wir uns einen sehr guten Überblick verschaffen über das, was es aktuell gibt, und was in Zukunft noch kommt. Um es ganz klar zu sagen: Uns geht es nicht nur um einen Marktüberblick, sondern ganz konkret um Produkte, Preise und die Lieferfähigkeit. Der Bedarf ist bei der Caritas auf jeden Fall da und er wird künftig sicher noch deutlich wachsen.

Sehen Sie bei der Caritas ein Wachstum in Bezug auf mehr nachhaltige Mobilität oder allgemein einen höheren Mobilitätsbedarf?
Beide Bereiche wachsen bei uns aktuell und sicher auch in der Zukunft sehr stark weiter. Mit dem demografischen Wandel müssen wir uns als Gesellschaft um immer mehr ältere Menschen kümmern. Damit das funktioniert, brauchen wir viel mehr mobile Angebote, damit die Menschen so lange wie möglich zu Hause gut versorgt bleiben. Der Bedarf an mobilen Pflegediensten, Essen auf Rädern und weiteren Angeboten wird also deutlich zunehmen. Unser Ziel ist, orientiert am Bedarf vor Ort, nachhaltige Mobilität zu schaffen, die auch von den Mitarbeitenden sehr gut angenommen wird. Aus unserer Sicht braucht es dazu schon jetzt ein sehr breit gefächertes Angebot an Elektrofahrzeugen aller Klassen.

Was sind Wünsche von Ihnen an die Hersteller?
Wir müssen die Fahrzeuge vorab und dann im Realeinsatz testen können. Bei manchen Kategorien, zum Beispiel bei E-Bikes, brauchen wir kleine Ergänzungen, wie Packtaschen. Generell wichtig ist für uns das Thema Verlässlichkeit bei der Lieferung. Ich freue mich, wenn Hersteller auf uns zukommen und uns Angebote machen. Der Bedarf für alternative Mobilität ist wie gesagt da und er wächst weiter.

Über die Caritas Dienstleistungs- und Einkaufsgenossenschaft eG (CDG)

Die Caritas besteht aus über 900 einzelnen Organisationseinheiten – die meisten davon als selbstständig eingetragene Vereine. Rund 690.000 Menschen arbeiten bundesweit beruflich in rund 25.000 Einrichtungen und Diensten. Die Caritas Dienstleistungs- und Einkaufsgenossenschaft eG (CDG) wurde 2018 gegründet mit dem Ziel, Know-how und Kapazitäten zu bündeln, administrative Erleichterungen für die Mitgliedsorganisationen zu schaffen und durch den gemeinsamen Einkauf bzw. Rahmenverträge, Größenvorteile zu nutzen. Eine der Kernaufgaben ist die Förderung der E-Mobilität mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2030.


Bilder: micromobility expo – Deutsche Messe Hannover, Caritas-CDG

Verkehrswende, Gesundheit und Lebensqualität in der Stadt: Mit einem breiten Mix an Maßnahmen geht Wien die Herausforderungen der Zukunft in Richtung Klimaneutralität entschlossen an. Das Fahrrad spielt dabei eine immer wichtigere Rolle. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Klimaschutz, Ressourcenschonung sowie Nachhaltigkeit stehen auf der Agenda der neuen Smart-Klima-City-Strategie und des Wiener Klima-Fahrplans. Um die Stadt bis 2040 CO2-neutral zu machen, investiert man auch in eine zeitgemäße Mobilität: Seit diesem Jahr sind jährlich 20 Millionen Euro mehr im Topf für Radinfrastrukturprojekte. Noch sind die Kfz-Verbrenner im Verkehr für rund 43 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Dabei erledigen zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger der 1,9-Millionen-Metropole ihre Alltagswege längst mit alternativen Verkehrsmitteln. 42 Prozent der Wiener Haushalte besitzen kein Auto.
Schon 2018 beobachtete eine Studie der Universität Wien den Rückgang des Auto-Pendelns und einen konstant hohen Anteil an Fußgänger*innen. Denn traditionell ist Wien eine Stadt des ÖPNV, der Öffis, wie man hier sagt. Im Pandemiejahr 2020 ist die Fahrgastzahl allerdings um mehr als zehn Prozentpunkte auf 27 Prozent gesunken. Das zeigt eine Befragung im Auftrag der Wiener Linien. Der Anteil des MIV am Modal Split beträgt weiterhin ebenfalls konstant 27 Prozent. Bei der Fortbewegungsart der Stunde triumphieren die Flaneure: Ihr Anteil stieg von 28 auf 37 Prozent. Da ist es konsequent, dass sich die Kulturstadt des Gehens eine eigene Fußwegebeauftragte gönnt.

Wien ist die Stadt des ÖPNV, der Fuß- und Radwege. Neueste Zählungen belegen einen Fahrrad-Boom.

Das Fahrrad boomt wie nie zuvor

Die anderen wichtigen Trendsetter sind die Wiener Radfahrer*innen: Im Modal Split 2020 liegt ihr Anteil noch bei neun Prozent (plus 2). Angesichts neuer Zahlen aus 2021 spricht die Wiener Mobilitätsagentur von einem Rekordjahr für den Radverkehr. An den automatischen Zählstellen wurden 9,3 Millionen Radfahrerinnen und Radfahrer registriert. Seit 2019 stieg ihre Zahl um 13 Prozent. Deutlich zeigt sich zum Beispiel an der Verbindung zwischen Sonnwendviertel, Hauptbahnhof und Zentrum, der Argentinierstraße, dass Pendlerwege zunehmend mit dem Velo erledigt werden. Dort verdoppelte sich die Zahl der Radfahrenden von 2013 bis 2021 auf über 962.000.

Zukunftsprojekt Verbindung Praterstraße: Radfahrende nutzen hier künftig eine Spurbreite von insgesamt fast sechs Meter Breite.

Kühle, gendersensible und sichere Straßen

Zu den Instrumenten im Klimafahrplan gehören Verkehrsberuhigung, Sicherheit („Vision Zero“), zunehmende Einführung von Tempo 30 vor allem in Wohngebieten sowie die Realisierung von Superblocks, die in Wien „Supergrätzel“ heißen. 25.000 neue Stadtbäume sollen im Straßenraum Fahr- und Parkstreifen ersetzen. Und weil mit einer Stadtausdehnung von fast 30 Kilometern die Kombination von Fahrrad und ÖPNV wichtig ist, soll die Fahrradmitnahme im ÖPNV erleichtert werden. Derzeit dürfen Fahrräder in der U-Bahn nur außerhalb der Stoßzeiten und an Wochenenden ohne zusätzliche Kosten transportiert werden.
Gegenwärtig weist die Donaume-tropole 168,6 Kilometer Radwege und 41,3 Kilometer Radfahrstreifen aus. Das Radfahren gegen Einbahnstraßen ist auf einer Länge von 321,4 Kilometer erlaubt – Tendenz steigend. Zudem verdoppelte sich seit 2010 die Zahl der öffentlichen Radabstellplätze auf derzeit rund 50.700. An der Verdichtung des noch lückenhaften Wiener Hauptnetzes wird gearbeitet. Die Qualität befindet sich im Umbruch hin zu breiteren Spuren sowie der baulichen Trennung vom motorisierten Verkehr. Jüngstes Beispiel ist der Umbau der Praterstraße zu einem sechs Meter breiten Fahrrad-Highway.
Ausdrücklich soll der Straßenraum neu verteilt und umgestaltet werden, nach dem neuen Klimapapier „grüner, schattiger und kühler, gendersensibel, sicher und alltagstauglich und mit mehr Platz für aktive Mobilität.“

„Die Mariahilfer Straße zeigt, dass man auf einer staugeplagten Straße den Kfz-Verkehr komplett rausnehmen kann.“

Martin Blum, Stadt Wien

Öffentliche Wasserspender, Sprühnebel und verkehrsberuhigte Viertel sorgen für mehr Stadt- und Lebensqualität.

Von der Begegnungszonebis zum Supergrätzl

Wie Straßen im Handumdrehen klimafreundlicher werden und zur sozialen Begegnungszone avancieren können, bewies Wien bereits mit Pop-up-Aktionen wie temporär autofreie, „coole Straßen“ (s.Veloplan 4/20): Dafür bringen Anwohner Liegestühle, Planschbecken oder Grünpflanzen. Die Stadt sponsert zum Beispiel Wasserstelen, deren Sprühnebel erfrischen. Vier Straßen dieser Aktion wurden 2021 dauerhaft verkehrsberuhigt. Künftig wird das Projekt mit weiteren Plätzen, allerdings ohne für den Autoverkehr gesperrte Straßen fortgesetzt.
Seit 2013 gibt es in Wien Begegnungszonen, in denen Auto-, Rad- und Fußverkehr gleichberechtigt sind. Höchstgeschwindigkeit hier: Tempo 20. Berühmt wurde der Umbau der Mariahilfer Straße. Wie der Standard Mitte 2020 berichtete, mauserte sie sich in der öffentlichen Wahrnehmung von der befürchteten „Berliner Mauer mitten in Wien“ zum lebendigen Stadtzentrum. An einem durchschnittlichen Wochentag flanieren dort mehr als 50.000 Passanten, im Jahr kommt man auf 17 Millionen. Die Wiener Wirtschaftskammer (WKW) schwenkte um vom Opponenten zum Fürsprecher verkehrsberuhigter Zonen. Der Wiener Radverkehrsbeauftragte Martin Blum resümiert: „Die Mariahilfer Straße zeigt, dass man auf einer staugeplagten Einkaufsstraße mit beiderseitigen Parkstreifen den Kfz-Verkehr komplett rausnehmen kann. Es funktioniert trotzdem.“
Von der Mariahilfer Straße aus wurden benachbarte Bezirke verkehrsberuhigt. Mehr als ein Dutzend solcher Zonen finden sich heute in Wien. Mit der Thaliastraße soll bis 2025 auch die wichtigste Einkaufsstraße Ottakrings als „Klimaboulevard“ in neuem Glanz erstrahlen: Auf einer Länge von 2,8 Kilometer werden Bäume gepflanzt, der Asphalt reduziert und mehr Aufenthaltsqualität geschaffen.
Nach der Superblock-Pilotstudie im Volkertviertel soll dort 2022 ein Supergrätzl umgesetzt werden. Das Konzept nach Vorbildern aus Barcelona fasst mehrere Wohnblocks zu verkehrsberuhigten Bereichen zusammen, in denen der Durchgangsverkehr unterbunden wird. Auch für das Supergrätzl Josefstadt gab die zuständige Bezirksvertretungssitzung grünes Licht. Vor der Umsetzung sollen die Wünsche der Bevölkerung in die Planung integriert werden.

Weniger Pendelverkehr, höhere Lebensqualität

Nach Feierabend noch viele Extrarunden drehen, um das eigene Auto abzustellen? Heute wünscht sich kaum jemand diese Situation vor der „Parkpickerl“-Einführung in den 1990er-Jahren zurück. Weniger Lärm, Staub und CO2-Ausstoß erhöhte die Lebensqualität in den Quartieren und sorgte für mehr Platz für Flaneure und Radfahrende. Nach Umfragen der Stadt Wien stieg die Akzeptanz in den Bezirken nach der Einführung von 46 auf 67 Prozent. Schon damals wurden im Westen Wiens bis zu 8.000 Pkw-Fahrten pro Werktag vermieden. Ab März 2022 gilt in ganz Wien eine Kurzparkzone, in der man nur als „Hauptwohnsitzer“ samt „Parkpickerl“ (Parkschein) seinen Pkw parken darf. Die Kosten betragen zehn Euro pro Monat. Die Maßnahme verhindert einen Verdrängungseffekt auf parkscheinfreie Bezirke und zielt auf eine Reduktion des einpendelnden Pkw-Verkehrs. Wer nicht in Wien wohnt, muss jetzt auf eine Garage ausweichen – oder löst einen Kurzparkschein. Hinzu kommen Zonen zur Reduktion des „Binnenverkehrs“ innerhalb der Bezirke durch Preis- oder Berechtigungsstaffelungen. Alle Einnahmen daraus fließen zweckgebunden in den Umweltverbund.

Wien ersetzt die alten „City-Bikes“ durch ein flächendeckendes Bikesharing-Modell für den multi-modalen Wegemix. Privatleute können kostenlos Lastenräder leihen.

Stadträume mit dem Privatauto okkupieren ist nicht kostenlos: Das Wiener Parkpickerl richtet sich besonders gegen Pendlerverkehre.

Sympathische Lufttankstellen. Neben Bikes werden hier auch Kinderwagen oder Rollis aufgepumpt.

Breite Sharing-Palette

Das Wiener Bikesharing-System befindet sich im Wechsel: „Das Citybike-Modell war international Vorbild für städtische Leihradsysteme, von Paris bis Sevilla oder Brisbane. Nach 18 Jahren erfolgt jetzt der Startschuss für ein modernes und flächendeckendes Bikesharing-Modell“, sagt Wirtschaftsstadtrat Peter Hanke (SPÖ). Im April startet „WienMobil Rad“ mit den ersten 1.000 Fahrrädern. Bis zum Vollbetrieb im Herbst dieses Jahres werden es 3.000 sein. 185 physische Stationen sind für Leihräder reserviert und über die „WienMobil“-App zu finden. 50 digitale Stationen können temporär für Events eingerichtet werden. Hanke: „Das neue Bikesharing-Konzept bringt in Zukunft doppelt so viele Räder wie bisher, viele neue Standorte und das in allen 23 Bezirken.“
Kombiniert werden die Rad-Sharing-Stationen mit den „WienMobil“-Stationen. Sie bieten den Mobilitäts-Mix aus Öffis und Leihangebote für E-Autos, Scooter und Bikes. Aktuell gibt es neun Stationen. 100 sollen es bis 2025 sein. Bisher wurde an den WienMobil-Stationen Platz für 12 E-Autos, 56 Scooter und 36 Mopeds zum Ausleihen, 5 Radservicestationen sowie 15 Radboxen zum sicheren Abstellen von Fahrrädern geschaffen. Wichtig: Rund zwei Drittel der geplanten WienMobil-Stationen werden außerhalb des Gürtels und über der Donau entstehen. So werden Außenbezirke mit weniger dicht besiedelten Gebieten in die umweltfreundliche Mobilität einbezogen.
Ähnliches gilt für das städtische Regelwerk für E-Scooter. Für eine multimodale Wegekette sollen Anbieter eine gleichmäßige Versorgung nicht nur in der City, sondern auch in Außenbezirken berücksichtigen. Nach Angaben der Stadt werden rund 4.000 frei stehende Leih-E-Scooter genutzt. Die E-Roller sind Fahrrädern gleichgestellt, die auf Radwegen sowie in Begegnungszonen gefahren werden. Fünf Anbieter sind derzeit dabei. Plus die neuen „Wheels“-Fahrgeräte – flexible E-Bikes mit Fußrasten statt Pedale.

Lastenräder als Teil des Alltags sichtbar

Als klimaschonendes Kindertaxi oder für den Alltagstransport beim Shopping können Wiener*innen Lastenräder leihen. Das Ausborgen eines Grätzlrads ist kostenlos; reserviert wird telefonisch oder per E-Mail. Martin Blum betont den nachhaltigen Aspekt des Projekts: „Das Grätzlrad bewirkt, dass der klimaschonende Transport mit Lastenrädern Teil des städtischen Alltags wird. Einerseits sind die Transportfahrräder in der Stadt sichtbar, andererseits werden Menschen motiviert, auf Cargobikes umzusteigen.“ Das bestätigt auch eine Evaluierung des Projekts im Jahr 2019. Demnach spricht das Angebot eine große Zahl von Personen an, die erstmals ein Transportrad nutzten. Fazit: Der überwiegende Teil möchte zukünftig wieder ein Lastenrad nutzen.

Vorbild bei Radfahrkampagnen

Auch unscheinbare „Gimmicks“ machen Stadtradeln attraktiver. So hat die Mobilitätsagentur Wien an zehn wichtigen Radverkehrsverbindungen öffentliche Luftpumpen aufgestellt. Eine befindet sich am Praterstern, unweit der Haustür des Radverkehrsbeauftragten: „Fahre ich dort vorbei, sehe ich häufig Radfahrende ihre Reifen aufpumpen. Das sind kleine Dinge, die oft vergessen, aber gerne angenommen werden.“ Selbstverständlich für die Wiener Fahrradstadt ist eine schicke Webpräsenz (fahrradwien.at) mit Radwegen, Routenplaner, Fahrradgeschäften und Leihstationen.
Als Wien auf dem Copenhagenize Index 2019 unter 115 Mitbewerbern auf Platz neun hinter Paris landete, attestierte die dänische Agentur der Stadt Vorbildfunktion für andere Städte in Sachen Radverkehrskampagnen. Auffallend wendet sie sich an Ein- und Umsteiger. So porträtierte die 2018er-Kampgane #warumfährstDUnicht? lokale Testimonials, die ihre Motivation zum Radfahren im Alltag aufzeigen. Dabei ist es kein Zufall, dass die Kampagne Motive wie Individualität und Freiheit triggert – aus der Autowerbung gut bekannt. Martin Blum: „Für neue Zielgruppen ist es wichtig, andere Attribute anzusprechen. So haben wir uns beim Radfahrmarketing einiges von der Autowerbung abgeguckt.“ Die jüngste Kampagne #gofuture setzt diesen lebensbejahenden Impuls fort: „Lust auf Glücksgefühle? Fahr auch im Winter Fahrrad und geh zu Fuß. So tust du dir und der Stadt etwas Gutes.“  


„Stadt funktioniert auch anders“

Veloplan-Interview mit Martin Blum, Radverkehrsbeauftragter der Stadt Wien

Wie sehen die Herausforderungen aus bei der Fahrradinfrastruktur?
Mit 27 Millionen Euro pro Jahr gibt es derzeit in Wien so viel städtisches Budget für den Radwegebau wie nie zuvor. Dabei stehen wir heute vor zwei Herausforderungen: Einerseits das Radwegenetz, das etwas in die Jahre gekommen ist, was die Breite anbelangt. Zweitens: Die Lücken im Radverkehr schließen, sodass die Wege durchgängig sind. Es hat unterschiedliche Planungsparadigmen gegeben. Ende der 1990er- bis 2000er- Jahre war das Mitfahren im Fließverkehr Thema, Stichwort „Vehicular Cycling“. Dann kam der Radfahrstreifen, der in Wien „Mehrzweckstreifen“ heißt. Der darf auch vom Auto genutzt werden. Mittlerweile geht es klar in die Richtung: auf Hauptstraßen gute, getrennte und ausreichend breite Radwege. Auf Nebenstraßen verkehrsberuhigte Bereiche, Begegnungszonen oder Fahrradstraßen.
Seit zwei, drei Jahren gibt es immer mehr Fahrradstraßen. Oder „fahrradfreundliche Straßen“, wie wir sie auch nennen. Das ist ein Spezifikum: Die Fahrradstraße in Österreich ist rechtlich streng gefasst. Da dürfen Autos, außer zufahrende Anliegerverkehre, überhaupt nicht bis zur nächsten Kreuzung durchfahren.

Was macht Wien bei Radfahrkampagnen anders als andere Städte?
Natürlich ist das Fahrrad das klimaschonendste Fahrzeug in der Stadt. Aber wer aus Umweltmotiven fährt, nutzt sowieso schon das Fahrrad. Für neue Zielgruppen ist es wichtig, andere Attribute anzusprechen. So haben wir uns beim Radfahrmarketing einiges von der Autowerbung abgeguckt. Und wir haben uns angeschaut, was das Radfahren in der Stadt ausmacht. Das sind im Wesentlichen die Themen Freiheit und Individualität. Radfahren ist praktisch und flexibel. Der Fehler wird oft gemacht, dass man zu sehr den Sicherheitsaspekt anspricht. Aber es geht um diese Lebensfreude: Man bewegt sich wie auf einer Bühne durch die Stadt, zeigt sich und erlebt die Stadt hautnah mit allen Sinnen. Das alles sollte zum Ausdruck kommen, will man neue Zielgruppen ansprechen.

Wie integriert die Donau-Metropole neue Sharing-Anbieter für Mikromobilität?
Wir haben relativ früh ein Regulativ gefunden: Wir begrenzen die Scooter mit einer Verordnung mengenmäßig pro Anbieter. Zudem verpflichten sich die Scooter-Betreiber dazu, sich in den Bezirken unterschiedlich aufzustellen. Das heißt: Sie müssen auch einen bestimmten Anteil in äußeren Bezirken aufstellen und nicht nur in der City. Zudem braucht es gewisse Regeln, damit man beim Zufußgehen nicht darüber stolpert. So ist auf Gehsteigen, die schmaler sind als vier Meter, das Abstellen der Scooter nicht gestattet.

Welche Bedeutung besitzt die Begegnungszone in der Mariahilfer Straße?
Veränderungen sind oft kaum vorstellbar. Gibt es ein Umbauprojekt, kommt es zu einem Aufschrei und Vorbehalten. Die Mariahilfer Straße zeigt, dass man auf einer staugeplagten Einkaufsstraße mit beiderseitigen Parkstreifen den Kfz-Verkehr komplett rausnehmen kann. Es funktioniert trotzdem – und zwar auf 1,6 Kilometer Länge. Die Menschen haben einfach andere Fortbewegungsarten genutzt. Und die Straße boomt mehr als vorher. Das zeigt: Stadt funktioniert auch anders.

Welche Projekte packt die Verkehrsplanung als Nächstes an?
Große Projekte, wo es in Richtung zukünftige Stadtgestaltung und Mobilität geht, betreffen die Flächenkonkurrenz einzelner Verkehrsmittel. Dazu gehört das aktuelle Projekt in der Praterstraße. Ein Boulevard, wo die Radwegbreite – beide Seiten zusammengezählt – mehr als sechs Meter betragen wird. Radwege an Hauptachsen sind wichtig, weil sie zeigen, wie komfortabel Radfahren sein kann, wenn die entsprechende Qualität da ist. Da gibt es dann den Ruf nach mehr. Gerade wenn es um getrennte Radwege geht, heißt es: „Den wollen wir jetzt auch an der anderen Straßenseite.“ Und Nebenstraßen sollten so gestaltet sein, dass sich Autos zu Gast fühlen. Dort braucht es eine Qualität, wie man sie von den Fahrradstraßen in den Niederlanden kennt.
In Wien gibt es eine hohe Nahversorgungsdichte, das heißt, man kann viel zu Fuß erledigen. Das kann man noch weiterdenken und mittlere Strecken fürs Fahrrad übersetzen. Dazu hat Wien eine Strategie verabschiedet, den Klimafahrplan, in dem die 15-Minuten-Stadt verankert ist. Wenn das, was dort festgeschrieben ist, in den Zielen der Stadt, um Klimaneutralität zu erreichen, umgesetzt wird, dann braucht man nicht mehr so viel Vision.


Wiener Infrastruktur in Zahlen

Radwege: 168,6 km
Geh- und Radwege: 169,3 km
Radfahrstreifen: 41,3 km
Mehrzweckstreifen: 145,2 km
Radfahrerüberfahrten: 27 km
Fahrradstraßen: 7 km
Radfahren gegen die Einbahn: 321,4 km
Radfahren auf der Busspur: 18,5 km
Radroute: 276,4 km
Radfahren in Fußgängerzonen: 8,8 km
Wohnstraße: 38,1 km
Verkehrsberuhigter Bereich: 361,4 km
Mountainbike-Strecke: 72,4 km
Öffentliche Radabstellplätze: 50.700


Bilder: Mobilitaetsagentur Wien – Peter Provaznik, Wiener Linien, zoom vp – Mobilitätsagentur Wien Digital, Mobilitätsagentur Wien, Fuerthner, PID, Gewista, Mobilitätsagentur – Christian Fürthner, Regina Hügli

Interview mit Christine Fuchs, Vorstand der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e. V. (AGFS) zu den Aussichten des Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetzes in Nordrhein-Westfalen (FaNaG) und der neuen Rolle der AGFS. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


„Wir vertreten die Auffassung, dass sich die Nahmobilität und die grüne und blaue Infrastruktur hervorragend ergänzen.“

Christine Fuchs, Vorstand der AGFS

Frau Fuchs, das von Nordrhein-Westfalen ausgegebene Ziel von 25 Prozent Radverkehrsanteil am Modal Split klingt sehr anspruchsvoll. Was tut sich im Land, um die Ziele zu erreichen?
Wir haben eine sehr dynamische Situation sowohl beim Land als auch in den Städten und Kommunen. Das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz, das im Januar in Kraft getreten ist, kam ja ursächlich durch eine Volksinitiative, also eine Bewegung von unten. Nicht zuletzt haben auch die Klimadiskussion und die Pandemie das Thema Nahmobilität und Radverkehr sehr befeuert. Das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz ist ein wichtiges Signal. Es hilft, unser Thema voranzutreiben und eine Aufbruchsstimmung zu erzeugen.

Wo gibt es aus Ihrer Sicht Entwicklungen und Probleme?
Viele Menschen wollen Fahrrad fahren und tun das auch gerne. Gleichzeitig haben viele erkannt, dass die Infrastruktur einfach nicht ausreichend ist und man sich unsicher fühlt. In den Kommunen und hier vor allem in den Mittel- und Großstädten hat man zudem inzwischen realisiert, dass es so einfach nicht weitergeht. Man erstickt regelrecht im Kfz-Verkehr. Autoparken dominiert die Straßenzüge. Die Notwendigkeit, eine gesunde Mobilität zu entwickeln, ist inzwischen deutlich in den Vordergrund gerückt. Umsetzungsdefizite in der Infrastruktur sind offensichtlich und die Umsetzung dauert. Lange Planverfahren und auch der Fachkräftemangel sind dabei die größten Hemmnisse.

Wie geht es weiter und was verändert sich für die Kommunen und die AGFS?
Der nächste wichtige Baustein ist der Aktionsplan zum Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz, der schon seit einiger Zeit in Arbeit ist und für den wir als AGFS eine ganze Reihe von Vorschlägen eingebracht haben. Wir erhoffen uns hier eine Reihe von Hilfestellungen und Unterstützungen für Kommunen, aber auch Möglichkeiten, um Hürden abzubauen bzw. Abläufe zu erleichtern. Neu ist, dass die AGFS mit dem Gesetz jetzt institutionell gefördert wird. Somit haben wir mehr Möglichkeiten, die Kommunen besser und vertiefter zu unterstützen. Wir werden Personal aufstocken und uns zukunftsfähig aufstellen.

Die AGFS ist ja schon lange als Ansprechpartner für die Kommunen aktiv. Worum geht es bei der der Neuausrichtung?
Das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz kann aufgrund der kommunalen Planungshoheit nur indirekt auf die Kommunen wirken. Deshalb sieht das Land eine wichtige Rolle für Netzwerke wie die AGFS, die die Kommunen unterstützen. Die AGFS hat seit jeher die Fachkompetenz im Bereich Nahmobilität und ist sehr gut mit den Kommunen vernetzt. Deshalb wird uns hier eine zentrale Funktion zugesprochen, für die wir vorbereitend gerade neue weitere Formate entwickeln.

AGFS-Kongress sonst immer mit vollem Saal; coronabedingt in diesem Jahr wieder online.

Können Sie schon etwas zur Ausrichtung und den Zielen der neuen Formate sagen?
Wir wollen zentral etwas auf zwei Ebenen anbieten: ein breites Angebot für alle Kommunen und ein intensives Vertiefungsangebot für die Mitglieder der AGFS.

Wie kann man sich solche Angebote konkret vorstellen?
Ein breites Angebot wollen wir zum Beispiel mit Blick auf den Fachkräftemangel von Planerinnen und Planern machen. Wir haben bereits eine Kampagne gestartet, die in Schulen aktiv für den Beruf Verkehrsplaner wirbt. Drüber hinaus möchten wir die Zusammenarbeit mit den Hochschulen verstärken und Absolventen mit den Kommunen zusammenbringen. Dafür haben wir bereits eine eigene Webseite gelauncht unter plane-deine-stadt.de.

Wie können vertiefende intensive Angebote für Mitglieder der AGFS aussehen und was bringen sie?
Wir versuchen den Kommunen viele Instrumente anzubieten, die sie bei der schnellen Umsetzung vor allem von Infrastrukturmaßnahmen unterstützen. Was direkt in die Kommunen wirkt, sind z.B. unsere Planungswerkstätten. Zusammen mit externen Experten werden hier sehr konzentriert an zwei Tagen rund acht Planungsfälle aus den Kommunen besprochen. Erste Pilotprojekte waren ein absoluter Erfolg und Arbeitsgemeinschaften aus anderen Bundesländern haben das Konzept inzwischen übernommen. Zwei Tage intensive Arbeit abseits der laufenden Geschäfte; danach hat man in den meisten Fällen echte Lösungsansätze.

Über das Parken in den Städten werden viele Auseinandersetzungen geführt. Wie sehen Sie das Thema?
Natürlich ist es erstrebenswert, dass sich die Anzahl der Autos reduziert. Aber von heute auf morgen wird das nicht möglich sein. Der Ansatz zu sagen, wir bieten keine Parkplätze oder deutlich weniger an, ist einfach nicht realistisch. Das erzeugt sofort Reaktanz. Trotzdem ist es letztlich so, dass wir den Platz für Wichtigeres brauchen. Für die Menschen. Für die aktive Mobilität. Für Grün und Aufenthaltsqualität. Das ist ein strategisches Thema der Kommunen. Es geht darum, das Thema Parken neu zu regeln und dabei trotzdem aufeinander zu- zugehen.

Was tun Sie beim Thema Parken und was kann das Land Nordrhein-Westfalen tun?
Wir haben das Thema bereits in der Vergangenheit intensiv behandelt und sind gerade dabei, ein umfassendes Handbuch zum Thema für die Kommunen zu erstellen, das voraussichtlich im Sommer vorgestellt wird. Auch das Land kann unterstützend tätig werden, zum Beispiel mit der finanziellen Förderung von Quartiersgaragen.

Warum sind Vorrangrouten für den Radverkehr wichtig?
Mit der heutigen Infrastruktur werden wir keine grundlegenden Steigerungen des Radverkehrs mehr erreichen. Ein geschlossenes Vorrangnetz in allen Kommunen und von Zentrum zu Zentrum mit einer hervorragenden Qualität, möglichst bevorrechtigt, mit ausreichenden Breiten und aufgewertet mit Grün hat die erste Priorität. Nur damit können wir das Potenzial des Radverkehrs wirklich ausschöpfen.

Mit was sollten die Städte und Kommunen anfangen und wo setzt die AGFS Prioritäten?
Die konkrete Rolle der AGFS wird sich aus dem Aktionsplan und unseren Gesprächen mit dem Land noch ergeben. Insgesamt sollte man immer fragen: Wo liegen die größten Potenziale, wo sind die größten Hebel und wo sind die wertvollen Kapazitäten am sinnvollsten eingesetzt? Aber auch welche wichtigen Maßnahmen dauern am längsten? Die müssen frühzeitig begonnen werden. Zudem müssen wir breit denken. Allein mit dem Bild einer fahrradfreundlichen Stadt kommen wir nicht weiter. Wir brauchen einen größeren Rahmen und eine echte Vision. In der Umsetzung allerdings müssen wir uns dann wieder fokussieren und gezielt auch Infrastruktur umsetzen.

Wohin sollte es konkret gehen? Welche Vision sollten die Städte über das Thema Fahrradfreundlichkeit hinaus verfolgen?
Unsere Vision ist die einer gesunden Stadt. Die Frage ist, wie vereinbaren wir die Bedürfnisse der Nahmobilität mit einer grünen Infrastruktur, also mehr Grün für ein gutes Klima durch Beschattung und Frischluftzufuhr vorzugsweise über die Achsen für Nahmobilität sowie einer blauen Infrastruktur, mit der wir für eine Bewässerung sorgen und Städte besser vor Hochwasser schützen. Nicht zu vergessen sind neben Umweltgesichtspunkten zudem auch Umfeld-Themen, also Aufenthaltsqualität, Stadt der kurzen Wege, Bewegung, Sicherheit etc. Wir vertreten die Auffassung, dass sich die Nahmobilität und die grüne und blaue Infrastruktur hervorragend ergänzen.

Wie schaut aus Ihrer Sicht die Zukunft auf dem Land aus?
Auf dem Land und in Kleinstädten haben wir eine große Aufgabe. Wir brauchen den öffentlichen Verkehr, wir brauchen Park-and-Ride-Stationen, Mobilitätsstationen und auch hier Vorrangnetze für den Radverkehr. Wichtig ist auch: Wir brauchen eine schnelle Wirksamkeit, zum Beispiel indem Wirtschaftswege so ertüchtigt werden, dass sie von Radfahrenden und Landwirten gemeinsam genutzt werden können. Das kann vergleichsweise schnell umgesetzt und dann weiter ausgebaut werden.

Können die aktuellen Aktivitäten der AGFS in NRW eine Art Blaupause für Deutschland werden?
Von einer Blaupause kann man nicht direkt sprechen. Wir sind aktuell dabei, uns horizontal mit den anderen Arbeitsgemeinschaften der Länder noch weiter zu vernetzen, und richten dazu auch eine Koordinierungsstelle ein. Das schafft zum einen Synergien und zum anderen wollen wir so unsere starke fachliche Expertise beim Bund besser einbringen. Damit bekommen die Arbeitsgemeinschaften insgesamt eine deutlich stärkere Rolle. Wir wachsen mit den Aufgaben und darauf freue ich mich.


Über die AGFS

Der Verein wurde 1993 als Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Städte von 13 Mitgliedern in Nordrhein-Westfalen gegründet. Die AGFS war die erste institutionalisierte Form der Zusammenarbeit von Kommunen in Deutschland für die Förderung des Fahrradverkehrs bzw. der Nahmobilität. Sie hat Vorbildcharakter für ähnliche Zusammenschlüsse, die sich auch in anderen Bundesländern gegründet haben. Seit 2007 vertritt die AGFS das Konzept der Nahmobilität, das die „Stadt als Lebens- und Bewegungsraum“ definiert. 2012 wurde deshalb auch der Fußgängerverkehr gleichrangig im neuen Namen aufgenommen. Die AGFS veranstaltet regelmäßig Fachtagungen und Kongresse, Exkursionen und Planerwerkstätten und hat eine Viel-zahl von Kampagnen für ihre Mitglieds-kommunen vorbereitet, organisiert und durchgeführt. Zudem ist sie Partner des Deutschen Fahrradpreises.

Bilder: AGFS, Peter Obenaus, AGFS – Andreas Endermann

In den 1920er-Jahren wurde der technische Fortschritt gefeiert, gleichzeitig lagen Verheißungen und Bedrohungen bei den Städten der Zukunft eng beieinander. 100 Jahre später stehen wir wieder vor Umbrüchen und wieder ist es der Mensch, der die Veränderungen bestimmt – nicht immer rational. Was ist nötig für eine echte Transformation der Mobilität? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Ein positives Mobilitätserlebnis ohne Pkw ist vor allem auch von emotionalen Faktoren abhängig. Die Professoren Vöckler und Eckart haben ihre Forschungsergebnisse zum Mobility Design der Zukunft jüngst in Buchform gebracht.

Der Wiener Verkehrsplaner und emeritierte Professor Hermann Knoflacher spricht in seinen Büchern und Vorträgen häufig davon, dass Verkehr kein Schicksal sei. Die jahrzehntelang autobedarfsorientierte Planung habe weniger auf kognitiven, sondern vor allem auf emotionalen Prozessen basiert, die mehr und mehr zur bestimmenden Grundlage des Denkens und Handelns geworden seien. Dieser Einschätzung kann man sich auch heute nicht entziehen, angesichts der oftmals hitzig geführten Diskussionen in Bezug auf eine wohl notwendige, wenn nicht überfällige Neuordnung der Mobilität. Dafür sprechen sich unter anderem auch Prof. Dr. Kai Vöckler (Urban Design) und Prof. Peter Eckart (Integrierendes Design) von der Hochschule für Gestaltung in Offenbach aus. In ihrem gerade in deutscher Übersetzung erschienenen Fachbuch „Mobility Design: Die Zukunft der Mobilität gestalten“ analysieren sie den Status quo und eröffnen einen Blick auf die Handlungsprämissen (s.a. Buchvorstellung S. 80). „Die individuelle und Automobilität ist infrastrukturell und institutionell in den Raum eingebettet, und hier muss der Umbau des alles Beherrschenden, auf individuelle Motorisierung setzenden Verkehrsmodells ansetzen“, so die Autoren. Rahmenfaktoren, wie Klimakrise, Ressourcenverknappung und negative Belastungen für Mensch und Umwelt, erhöhten die Dringlichkeit, neue Lösungen für eine nachhaltige Mobilität zu schaffen. Neben dem Ausbau der Infrastrukturen und der Bündelung von Verkehrsoptionen bedürfe es einer grundsätzlichen Transformation hin zu einem umweltfreundlichen Mobilitätssystem. „Dazu braucht es weniger fliegende Taxis und vollautonome Pkws, sondern einen von der öffentlichen Hand regulierten Markt, dessen Rückgrat neben dem schienengebundenen Fern-, Regional- und Nahverkehr das öffentliche Nahverkehrssystem bildet und das durch On-Demand-Angebote autonomer/teilautonomer Fahrzeuge (Kleinbusse) und Sharing-Angebote, angetrieben mit nicht-fossiler Energie, ergänzt wird.“ Eine klimaschonende Mobilität fördere dabei vor allem das Zufußgehen und die Nutzung des Fahrrads in der nahräumlichen Fortbewegung.

„Akzeptanz und Identifikation mit einer neuen umweltschonenden und vernetzten Mobilität wird es ohne eine qualitativ hochwertige Gestaltung nicht geben.“

Prof. Dr. Kai Vöckler und Prof. Peter Eckart, Hochschule für Gestaltung Offenbach

Transformation als gesamtgesellschaftliche Herausforderung

Wie man sich bewegt und womit, sei dabei keineswegs eine nebensächliche Frage. Es ginge um „Subjektivierungspraktiken“, die sich an „emotional aufgeladenen Objekten wie dem Automobil festmachten. Sie seien tief in die Alltagskultur eingebettet und hier verbänden sich auch „Lebensstile, Konsumwünsche und Verhaltensweisen, die (…) individuelles Selbsterleben und damit Selbstbestätigung ermöglichen.“ Das müsse beim Mobilitätsdesign mitbedacht werden, verbunden mit der Frage, wie Menschen ein positives Mobilitätserlebnis abseits des privaten Pkws vermittelt werden könne. Es ginge um emotionale Faktoren: „Fühle ich mich wohl, fühle ich mich sicher? Wie spricht das System zu mir? Steht es für innovative Mobilität? Drückt es mir gegenüber Wertschätzung aus?“ Aufgabe des Mobilitätsdesigns sei es, zwischen Mensch und Mobilitätssystem zu vermitteln und Nutzungserfahrungen positiv zu beeinflussen, so Vöckler und Eckart. Aktuell gibt es hier in weiten Teilen Deutschlands allerdings noch viel zu tun. Rund 60 Prozent der Bevölkerung sind nach einer Erhebung des Portland Bureau of Transportation in Bezug auf das Radfahren „interested, but concerned“. Nach den aktuellen Daten des Deutschen Fahrradmonitors gibt hierzulande fast die Hälfte der Radfahrenden an, sich nicht sicher zu fühlen, wenn sie im Straßenverkehr unterwegs sind. Und das Image? Radfahrende werden nach wie vor oft pauschal als notorische Ver-kehrssünderinnen abgestempelt, die kostenlos die von Autofahrerinnen finanzierten Straßen nutzten, und Lastenrad-Fahrerinnen gehörten, wie im letzten Jahr ausgiebig diskutiert, zur besser verdienende Latte-Macchiato-Gesellschaft. Beides geht weit an der Realität vorbei. Und E-Scooter-Fahr-erinnen? Sie bewegen sich zwar geräuschlos, energiesparend und mit maximal 20 km/h eher gemütlich, trotzdem sind sie für viele willkommene Opfer von Missbilligung und Verurteilung – selbst in Fachmedien und bei Entscheider*innen. Wie soll man so eine wohl notwendige Transformation zu einem umweltschonenden Mobilitätssystem erreichen? Vöckler und Eckart sehen hier eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die politisch gestaltet werden müsse. Dazu bedürfe es eines gesellschaftlichen Konsenses dahingehend, dass diese Maßnahmen zum einen sinnvoll sind und zum anderen auch in den Alltagswirklichkeiten der Menschen funktionieren. Sie müssten also nicht nur machbar sein, sondern auch den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen entsprechen. „Akzeptanz und Identifikation mit einer neuen umweltschonenden und vernetzten Mobilität wird es ohne eine qualitativ hochwertige Gestaltung nicht geben.“

Zukunft des Verkehrs istmenschengemacht

„Wir müssen uns als Erstes darüber klarwerden, dass die Mobilität und der Verkehr der Zukunft kein Zufall sind“, sagt Prof. Dr. Markus Friedrich, der den Lehrstuhl für Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik an der Universität Stuttgart leitet und für den Raum Stuttgart in Workshops und Analysen verschiedene Szenarien künftiger Mobilität untersucht hat. „Wir bekommen die Zukunft des Verkehrs, die wir wollen.“ Das Hauptproblem sei mit Blick auf eine tatsächliche Transformation, dass die Menschen und die Politik sehr ähnlich reagierten: Maßnahmen, die persönlich nutzen, also zum Beispiel die finanzielle Förderung von E-Mobilität oder kostenloser ÖPNV, seien beliebt. Andere Maßnahmen, wie Tempolimits, höhere Preise, höhere Parkgebühren oder mehr Kontrollen lehne man ab. Obwohl man genau wisse, dass das die Maßnahmen sind, die mit Blick auf eine nachhaltige Mobilität deutlich mehr brächten. In diesem Planungsdilemma steckten die Fachleute aktuell fest. Um wirklich weiterzukommen, müssten klare Ziele definiert und ein Zusammenhang hergestellt werden zu möglichen Maßnahmen. „Wenn wir echte Veränderungen in Richtung Nachhaltigkeit wollen, dann brauchen wir einen anderen Rahmen und eine andere Systematik für die Diskussion“, so Prof. Friedrich. Dazu bräuchte es auch Politiker*innen, „die sich hinstellen und sagen, wir müssen weiterdenken“.

„Wir wollen den Menschen die Wirkungszusammenhänge nahebringen, damit sie besser verstehen, dass nicht alles so ganz einfach ist, wie man erst mal denkt.“

Prof. Dr. Markus Friedrich

Vier Szenarien für die Mobilität der Zukunft

Prof. Dr. Friedrich hat mit Stuttgarter Bürger*innen und einem interdisziplinären Team der Universität Stuttgart mit „Visionsworkshops“ vier mögliche künftige Mobilitäts-Szenarien erarbeitet. Der Visionsworkshop sei eine gute Möglichkeit, sich aktiv mit dem Thema auseinanderzusetzen, so Friedrich. Zielkonflikte und Ergebnisse würden dabei schnell offensichtlich. In einem ersten Workshop wurden mögliche Ziele und Maßnahmen definiert, die die Experten dann zu vier Szenarien zusammenfassten, visualisierten und analysierten. In einem zweiten Workshop wurden die Ergebnisse vorgestellt und diskutiert. Dabei ging es vor allem um die eigene Zustimmung oder Ablehnung, aber auch um die vermutete Zustimmung anderer sowie eine Einschätzung, wie realistisch eine Umsetzung jeweils bis zum Jahr 2030, 2040, 2050 oder nach 2050 sein wird. Hier die Ergebnisse in Kurzform:

Szenario 1: Weniger ist mehr

Diese Vision beschreibt eine entschleunigte Welt mit weniger Arbeitszeit, mehr Homeoffice und somit mehr Zeit in Wohnortnähe.

Wünsche und Visionen der Bürgerinnen und Bürger
  • Bescheiden werden, mehr Lokales, Zeit haben, Wege vermeiden, deutlich mehr Homeoffice und virtuelle Besprechungen, verbleibenden Verkehr gezielt verteilen, Urban Gardening statt Parkplätze, mehr Lebensqualität bei weniger Einkommen und Arbeitszeit
Auswirkungen im Bereich Verkehr:
  • Personenkilometer: -35 %
  • Pkw-Verkehr: -70 %
  • Öffentlicher Verkehr: +50 %
  • Rad und Fuß: +50 % weniger Pkw-Stellplätze im Straßenraum erforderlich
Zustimmung/Ablehnung:
  • 28% der Befragten meinen, „Ja, das wird super“, weitere 49% finden die Vision „Nicht perfekt, aber o.k.“. Nur 13% stehen ihr ablehnend gegenüber. Deutlich weniger optimistisch waren die Befragten, was die Zustimmung anderer angeht. 85 % äußerten sich hier kritisch. Bezogen auf die Umsetzung ging ein Großteil davon aus, dass das Szenario bis 2030 bzw. 2040 Realität werden könne.

Szenario 2: Vernetzt und vielfältig

In dieser Vision werden Anreize im Umweltverbund mit Preissteigerungen im Pkw-Verkehr kombiniert und die Möglichkeiten der Digitalisierung genutzt.

Wünsche und Visionen der Bürgerinnen und Bürger
  • Nutzung multimodaler Verkehrskonzepte, City-Maut, faire Kostenverteilung, externe Kosten von Verkehr werden von Nutzenden bezahlt, fußläufige Erreichbarkeit für Einrichtungen des täglichen Bedarfs, S-Bahn-Ring vollenden, Attraktivität des Umweltverbunds steigern (Individualverkehr teurer, öffentliche Verkehrsmittel kostenlos), flexible Mobilitätsplanung per App
Auswirkungen im Bereich Verkehr:
  • Personenkilometer: -10 %
  • Pkw-Verkehr: -35 %
  • Öffentlicher Verkehr: +55 %
  • Rad: +50 %
  • Fuß: ±0 %, da Öffentlicher Verkehr billiger wird
Zustimmung/Ablehnung:
  • Für diese Vision gibt es mit Abstand die größte Zustimmung. 48% finden sie super, weitere 39% o.k.. Rund ein Viertel der Befragten kann sich zudem vorstellen, dass einer Mehrheit der Stuttgarter diese Vision gefällt. 36% halten eine Umsetzung bis 2030 für realistisch, weitere 43% bis 2040.

Szenario 3: Individuell und autonom

Diese Vision verbindet den Sharing-Gedanken mit den potenziellen Möglichkeiten autonomer Fahrzeuge. Diese werden geteilt, aber individuell genutzt.

Wünsche und Visionen der Bürgerinnen und Bürger
  • Carsharing und neue Ansätze autonomer Lieferverkehr, selbstfahrende Drohne als Transportfahrzeug, „Endlich klappt’s“
Auswirkungen im Bereich Verkehr:
  1. Personenkilometer: ±0%
  2. Pkw-Verkehr: +15%
  3. Öffentlicher Verkehr: -30%
  4. Rad und Fuß: ±0%
  5. Pkw-Fahrzeuge: -40%
  6. weniger Pkw-Stellplätze im Straßenraum erforderlich
Zustimmung / Ablehnung:
  • Bei dieser Version gehen die Meinungen weit auseinander. 22 % finden sie super, weitere 12 % o.k., aber 49 % sagen ganz klar „Bitte nicht“. Nicht ganz so hoch ist die geschätzte Ablehnung in der Bevölkerung mit 42 %. Nur 6 % halten die Umsetzung bis 2030 für realistisch, weitere 33 % bis 2040 und 27 % bis 2050. 16 % gehen zudem davon aus, dass sich dieses Szenario nie verwirklichen lässt.

Szenario 4: Kollektiv und autonom

Diese Vision will eine Welt ohne private Fahrzeuge. Mobilität wird öffentlich organisiert, der Straßenraum gehört allen. Öffentliches Ridesharing ersetzt die privaten Pkw und Busse.

Wünsche und Visionen der Bürgerinnen und Bürger
  • Die Stadt gehört wieder allen! Stuttgart ohne private Autos: Motorisierter Individualverkehr 2030 minus 50% wird umgesetzt, „Feinstaub ade!“, „Wir haben es geschafft!“ Mobilität ist hauptsächlich öffentlich organisiert und wird durch private Sharing-Angebote ergänzt. Auf ehemaligen Hauptverkehrsachsen entstehen Parks.
Auswirkungen im Bereich Verkehr:
  • Personenkilometer: ±0 %
  • Pkw-Verkehr (inkl. öffentliches Ridesharing): -35 %
  • Öffentlicher Verkehr: -30 % (Wegfall Bus)
  • Rad und Fuß: ±0 %
  • Pkw-Fahrzeuge: -90 % (Pkw-Besetzungsgrad steigt von 1,3 auf 2,4)
  • weniger Pkw-Stellplätze im Straßenraum erforderlich
Zustimmung/Ablehnung:
  • Für diese Vision gibt es ebenfalls zwiespältige Meinungen. 31% finden sie super, weitere 29% o.k.. Rund ein Viertel sagt aber auch „Nein, bitte nicht“. 34% glauben, dass diese Vision bei den Büger*innen auf Ablehnung stößt, nur 17 % gehen von einer Zustimmung aus. Auch hier halten nur 6 % eine Umsetzung bis 2030 für realistisch, weitere 28 % bis 2040 und 26 % bis 2050. Für fast ein Fünftel (18%) ist dieses Szenario generell unrealistisch.

Bilder: stock.adobe.com – MicroOne, qimby.net – Philipp Böhme, Julian Schwarze – project-mo.de, qimby.net – Philipp Böhme