Mit Weitblick, nachhaltig und mobil
Der international bekannte E-Bike- und Lastenradhersteller Riese & Müller aus Mühltal bei Darmstadt genießt einen exzellenten Ruf für seine Produkte. Doch es lohnt sich auch ein anderer Blick auf das Unternehmen: Es möchte Mitarbeiter und Politik auf eine langfristige Reise mitnehmen – in eine Welt mit besserer Verkehrspolitik. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)
Geschäftsführung im neuen Werk: Markus Riese (auf dem Lastenrad), Heiko Müller und Sandra Wolf leiten das hessische Unternehmen Riese & Müller.
Fortschrittliche Mobilität, zukunftsfähige Strukturen und gesellschaftliche Wirkung sind vor allem Sache der öffentlichen Hand. Beispiele für verkehrspolitische Initiativen gibt es aber auch in der Privatwirtschaft. Natürlich: Unternehmen, in der Radbranche wie überall, vermarkten zunächst einmal ihre eigenen Erzeugnisse, betreiben Storytelling und versuchen so, den Nerv der Kunden zu treffen. Umso bemerkenswerter ist es, wenn sich Unternehmen Ziele setzen, die über Gewinnmaximierung hinausgehen. Solch ein Unternehmen ist der hessische E-Bike- und Lastenradspezialist Riese & Müller. Dessen Co-Geschäftsführerin Sandra Wolf sagt: „Wir wollen positive Impulse setzen, für unsere Mitarbeiter, ihre Familien, unseren Standort und auch darüber hinaus.“
150 Millionen Umsatz, 500 Mitarbeiter
Riese & Müller ist eine Edelschmiede der deutschen Radbranche. Schon seit den Neunzigerjahren steht das Unternehmen im Ruf, vor allem innovative Produkte zu entsprechenden Preisen anzubieten. Am Beginn der Firmengeschichte standen die beiden Ingenieure Markus Riese und Heiko Müller, die Anfang der Neunzigerjahre das vollgefederte Faltrad „Birdy“ konstruierten, das heute immer noch produziert und weiterentwickelt wird. Inzwischen leiten die beiden Gründer das Unternehmen gemeinsam mit der renommierten Branding-Expertin Sandra Wolf. Was in den vergangenen knapp drei Jahrzehnten und zuletzt mit deutlich höherer Geschwindigkeit geschah, beeindruckt: Der Umsatz 2019 betrug etwa 150 Millionen Euro, in den vergangenen drei Jahren legte man stets mehr als 60 Prozent zu. Riese & Müller beschäftigt bald 500 Mitarbeiter und eröffnete im südhessischen Mühltal vergangenes Jahr eine neue Firmenzentrale mit Werk und Verwaltung. Die entsprechende Investition betrug 30 Millionen Euro. „Wir arbeiten jeden Tag hart daran, dass wir unsere Werte erhalten, auch wenn wir immer größer werden – bei unseren Produkten und bei unserer Kultur“, sagt Heiko Müller.
Werte, zukunftsfähige Mobilität, der Blick über die wirtschaftlichen Kennzahlen hinaus – bei Riese & Müller ist das ein wichtiger Gesprächsstoff. Im Vorjahr kündigte das Management an, bis 2025 „das nachhaltigste Unternehmen der E-Bike-Branche“ werden zu wollen. Klar ist: Der Anspruch ist hoch. Wenn es um künftigen Erfolg geht, so meint Sandra Wolf, muss das auch so sein. Denn ohne nachhaltige Strategie werde man weder bei den Konsumenten noch am Arbeitsmarkt den eigenen Erfolg wahren.
„Herausragende unternehmerische Investitionen und Haltung“: Der Landkreis Darmstadt-Dieburg zeichnete Riese & Müller als „Unternehmen des Jahres 2019“ aus.
Das Personal wünscht Sinn
Für den Umgang mit seinen Mitarbeitern hat Riese & Müller in der Branche und darüber hinaus auch in der Politik viel Anerkennung geerntet. Klar: Im Netz äußern sich auch unzufriedene Mitarbeiter, es gibt im Zuge der Expansion auch Aussteiger, nicht alles läuft glänzend. Aber dem Unternehmen gelingt es, in einer wirtschaftlich seit langer Zeit florierenden Region den steigenden Personalbedarf zu decken. „Wir profitieren am Arbeitsmarkt inzwischen davon, dass wir die Bewerber inhaltlich überzeugen“, sagt Sandra Wolf, „bei uns ist der Sinnfaktor der Arbeit groß.” Das gilt im Übrigen nicht nur für Mitarbeiter in der Verwaltung, sagt die Geschäftsführerin, sondern auch für die Frauen und Männer in der hellen Fertigungshalle. „Bei jüngeren Mitarbeitenden sehen wir aber verstärkt, dass sie bewusst von größeren Unternehmen abwandern und zu Firmen wie unserer wechseln“, beobachtet Wolf.
Personalpolitik als Chefsache
Schon früh hat Sandra Wolf einen für die Fahrradbranche noch ungewohnten Ansatz verfolgt: Personalarbeit ist Chefsache, Employer Branding eine strategische Pflicht, das Unternehmen im Zweifel am kürzeren Hebel, wenn es um gute Mitarbeiterinnen geht. Zum Thema Employer Branding veröffentlichte sie schon vor sieben Jahren einen Fachartikel bei velobiz.de, und noch heute ist sie die Strategin bei Riese & Müller. „Die Kultur ist für uns als Arbeitgeber etwas ganz Entscheidendes“, sagt sie, „es unterscheidet uns, dass die Chefs immer sichtbar sind, dass wir mit dem Fahrrad ins Unternehmen kommen, dass das Miteinander so wichtig ist wie vor 15 oder 20 Jahren.“
Daseinssinn macht attraktiver
Fachleuten zufolge wird ein glaubwürdiges soziales Engagement und ernsthaftes Hinterfragen, wie das Unternehmen mit den Menschen und der Welt umgeht, immer mehr zum neuen Trend und erhält als „Corporate Purpose“-Bekenntnis Gestalt. Die Management-Beraterin Anne M. Schueller rät dazu, drei Ebenen zu betrachten:
• Corporate Purpose für die Organisation als Ganzes
• Brand Purpose der Marken/Produkte für die Kunden
• Employee Purpose für die Mitarbeitenden
„Purposeful Organisations“, also Unternehmen mit einem Daseinssinn und einer Philosophie hinter dem Geschäftsmodell, sind ihrer Meinung nach leicht in der Lage, sowohl eine zahlungsbereite Klientel als auch Top-Talente zu gewinnen und zu halten. Sie würden von der Gesellschaft geschätzt und erlangten den Zuspruch der Medien. Und sie seien in der Lage, eine Gefolgschaft um sich zu scharen, die zu Multiplikatoren würden.
Nachhaltigkeit im Betrieb
Sinn über Nachhaltigkeitsversprechen will das Unternehmen an vielen Stellen ganz direkt stiften: Man ist ökologisch, Solarzellen liefern Energie, die Mitarbeiter holen sich ihr Wasser aus Trinkbrunnen im Gebäude – auch den Kaffee trinken sie aus wiederverwendbaren Bechern. Vier Mitarbeiter mit Behinderung kommen von der Diakonie und werden hier ins Arbeitsleben integriert. Alle Kollegen profitieren von günstigen Angeboten an der Kaffeebar – wo es ausschließlich Lebensmittel in Bio- und Demeter-Qualität gibt sowie Milch von einem nahegelegenen Biobauernhof. Auch bei der Werkskleidung stellte Riese & Müller um: Auf Textilien von Vaude – auch wegen der nachhaltigen Ausrichtung des Lieferanten.
Eigene Mitarbeiter auf eigenen Bikes
Die Bezahlung muss natürlich stimmen. Aber Sandra Wolf bezeichnet das eher nachrangig als „Hygienefaktor“. Bei Riese & Müller verdienen Männer und Frauen in derselben Position „selbstverständlich“ dasselbe, sagt Wolf. Wichtig seien zudem gute Konditionen für die betriebliche Altersversorgung. Vor allem aber sind die besonderen Konditionen für E-Bikes ein spannendes Argument für die Mitarbeiter. Riese & Müller kooperiert mit dem Anbieter Jobrad, der Mitarbeitern die Anschaffung eines hochwertigen Rades über den Arbeitgeber zu attraktiven Leasing-Konditionen ermöglicht. Knapp 25 Prozent der Mitarbeiter nutzen das Angebot aktuell, „Tendenz stark steigend“, wie Unternehmenssprecher Jörg Lange einordnet. Auch für Familie und Freunde erhalten Mitarbeiter Rabatte, um das Thema E-Bike und Lastenrad in ihrem Umfeld noch populärer zu machen.
„Wir wollen positive Impulse setzen, für unsere Mitarbeiter, ihre Familien, unseren Standort und auch darüber hinaus.“
Sandra Wolf
E-Mobilität wird sichtbar
Ein zentraler Aspekt, der Riese & Müller für Mitarbeiter attraktiv und für die Gesellschaft spannend macht: „Wir wollen nicht nur mit einem anderen Produkt eine alternative Mobilitätsform bieten, sondern Lösungen für eine wirkungsvolle und angenehme Alltagsmobilität der Zukunft erreichen“, sagt Wolf. Die Überzeugung, dass man neue Formen der Mobilität nicht nur beim Produktabsatz vorantreiben möchte, sitzt tief. „Und wenn unsere Mitarbeiter jetzt immer mehr auf unseren Fahrzeugen durch die angrenzenden Gemeinden pendeln, dann wird E-Mobilität sichtbar und kann dort etwas bewirken“, meint Sandra Wolf. Ganz praktisch passiert das schon in Mühltal, wo bislang, trotz verstopfter Bundesstraßen, wenig Rad- und E-Bike-Fahrer zu sehen waren. Jetzt fahren an jedem Arbeitstag 150 oder 200 E-Bikes durch die Gemeinde. Inzwischen gibt es in der Kommunalpolitik immer mehr Anträge zur Fahrradmobilität, es geht um neue Wege, aber auch um Konflikte und überhaupt um den Umgang mit den neuen Verkehrsteilnehmern. Das sei, so Wolf, ein kleines Zeichen dafür, was alles möglich ist.
Unterstützung für die Wissenschaft: Sandra Wolf (r.) gemeinsam mit den Professorinnen Martina Klärle (l.) und Petra Schäfer von der Frankfurt University of Applied Sciences. Riese & Müller unterstützt eine wissenschaftliche Mitarbeiterstelle.
Die Industrie stark repräsentieren
Über den unmittelbaren Wirkungskreis hinaus ist Riese & Müller längst politisch aktiv, etwa als Mitglied im ADFC, dem Zweirad-Industrie-Verband ZIV und dem Fachverband der Fahrradbranche VSF sowie im neuen Bundesverband Zukunft Fahrrad. „Alle diese Verbände sind auf ihre Weise wichtig, weil sie darauf hinarbeiten, das Fahrrad als wichtigen Träger einer zukunftsfähigen Verkehrsplanung ernst zu nehmen“, argumentiert Wolf.
In der Schweiz arbeitet man interessanterweise mit der Denkfabrik des dortigen Automobilverbands zusammen und bringt gemeinsam mit der „Mobilitätsakademie“ Kunden im Leihprogramm carvelo2go aufs Lastenrad. Das Sharing-Programm soll örtliche Strukturen und den lokalen Handel stärken.
Bei der Verbandsarbeit liegt Wolf die Bündelung der Stimme der Industrie besonders am Herzen, um die wirtschaftliche Bedeutung der Branche zu betonen. Dies sei vor allem wichtig, um die Klimaziele der Bundesregierung noch zu erreichen. „Inzwischen gibt es in unserer Branche eine ganze Reihe von Firmen, die für den Rest des Landes als Vorreiter taugen“, sagt Wolf. Digitalisierung, Elektromobilität, ethische Ansätze in der Geschäftsführung, veränderte Arten der Fortbewegung und der Lebensqualität – für all diese Themen fänden sich heute in der Industrie glaubwürdige Vertreter.
„Wir möchten Stadtplaner ermutigen, Dinge auszuprobieren und durch Beobachtung die Veränderungen zu messen.“
Sandra Wolf
Investitionen in mehr Planungs-Know-how
Für mehr Know-how zur Planung einer veränderten, fahrradfreundlichen Infrastruktur braucht es nach Sandra Wolfs Überzeugung mehr dafür abgestellte Experten in den städtischen Verwaltungen. „Verkehrspolitik mit Zukunft und mit Blick aufs Fahrrad muss ein kommunales Thema sein, doch heute hängt das immer noch stark von der Überzeugung Einzelner ab“, so Wolf. Das sollte sich ändern, findet sie. Riese & Müller möchte daran mitwirken, dass mehr Planer ausgebildet werden, die die Lehren einer autozentrierten Verkehrspolitik verarbeiten und neue Erkenntnisse in die Planung einbringen. Daher engagiert sich das Unternehmen seit Februar 2020 auch für die akademische Forschung und unterstützt eine neue, zum kommenden Wintersemester startende Stiftungsprofessur Radverkehr an der Frankfurt University of Applied Sciences mit einer 50-Prozent-Stelle für eine wissenschaftliche Mitarbeiterposition.
Empfehlungskatalog für Radverkehrsplaner und Entscheider
von Sandra Wolf, Riese & Müller
• Wir möchten Stadtplaner ermutigen, Dinge auszuprobieren und durch Beobachtung die Veränderungen zu messen. Besonders in kleinen Kommunen können viele wirkungsvolle Maßnahmen ohne hohe Kosten schnell umgesetzt werden.
• Um Pendler vom Auto auf das E-Bike zu bekommen, muss das Radschnellwegenetz zwischen Städten und Gemeinden stark ausgebaut werden. Ein erster Schritt, der nichts kostet und zur stärkeren Nutzung vorhandener Fahrradwege führt, ist die Freigabe der Radwege auch für schnelle E-Bikes, sogenannte S-Pedelecs. Auf innerstädtischen Radwegen kann ein Tempolimit von 25 km/h für ein sicheres Nebeneinander von Fahrrad- und E-Bike-Fahrern sorgen. Kürzlich wurden in Tübingen durch den Oberbürgermeister Boris Palmer verschiedene Radwege für schnelle E-Bikes freigegeben. Diese Freigabe ist besonders für Pendler, die einen weiteren Anfahrtsweg haben, ein wichtiges Argument, um das Auto stehen zu lassen.
• Eine sichere und durchgehende Radwegeinfrastruktur in der Stadt, die sich an den Qualitätskriterien von VCD, ADFC und Radentscheid orientiert. Die Fahrradwege müssen so konzipiert werden, dass zwei Fahrradfahrer nebeneinander fahren können und gefahrloses Überholen ohne das Verlassen des Fahrradweges möglich ist. Oftmals können schon kleine Maßnahmen, wie farbliche Markierungen von Fahrradwegen, ein wirkungsvolles Mittel sein, um den Anteil des Radverkehrs zu erhöhen. Nur wer sich mit dem Rad sicher fühlt, wird das Auto öfter stehen lassen und so einen wirkungsvollen Beitrag zur Reduzierung des Feinstaubs in Städten leisten.
• Schaffung von mehr sicheren Fahrradabstellanlagen (möglichst überdacht und mit Lademöglichkeit für Akkus), vor allem an Umschlagspunkten wie Bahnhöfen und Straßenbahnhaltestellen, am Arbeitsplatz, an Schulen, öffentlichen Ämtern, Einkaufs- und Freizeiteinrichtungen und am Wohnort. Auch sichere Abstellmöglichkeiten für E-Cargo-Bikes müssen bereitgestellt werden.
• Ein Schulterschluss mit ansässigen Firmen, da eine Zusammenarbeit häufig ein großes Potenzial für Radverkehr und somit die Entlastung der Straßen birgt. Besonders der Berufsverkehr sorgt für viele Staus auf den Straßen und kann durch gemeinsame und intelligente Konzepte, die Städte mit Firmen entwickeln, deutlich reduziert werden.
• Schaffung von autofreien Zonen um Kindergärten und Schulen, um die große Gefahr der „Elterntaxis“ zu reduzieren und das Fahrrad als „Kindertaxi“ attraktiver zu machen.
• Fortbildungspflicht/-möglichkeit für Städteplaner, Verkehrsplaner und Lokalpolitiker in Städten wie Kopenhagen, Utrecht usw.
• staatliche Subventionierung der Anschaffungskosten (Bike & Sicherheitsfeatures wie Helm, Kleidung etc.) und Wartungskosten
• flächendeckendes Angebot für Fahrsicherheitstrainings
• (mehr) öffentliche Vertreter auf E-Bikes als Vorbildfunktion
Über Riese & Müller
Riese & Müller wurde 1993 von Markus Riese und Heiko Müller gegründet. Dritte Geschäftsführerin ist Sandra Wolf. Ursprünglich bot das Unternehmen ein vollgefedertes Faltrad, heute ist es Spezialist für hochwertige motorunterstützte Mobilität und Cargobikes. Das Unternehmen erwirtschaftete 2019 einen Umsatz von ca. 150 Millionen Euro und beschäftigt 500 Mitarbeiter. Wichtige Exportmärkte sind die USA, Norwegen und die Niederlande. Der Landkreis Darmstadt-Dieburg, in dem Riese & Müller sitzt, zeichnete die Firma als „Unternehmen des Jahres 2019“ aus. „Mit den herausragenden unternehmerischen Investitionen, aber auch mit ihrer unternehmerischen Haltung und der Marke, die weltweit strahlt, stärkt die Riese & Müller GmbH den Wirtschaftsstandort Landkreis Darmstadt-Dieburg eindrucksvoll“, sagte Landrat Klaus Peter Schellhaas. Das Unternehmen gewann mit seinem ersten Produkt 1993 den Hessischen Innovationspreis. Auch für seine weiteren Produkte hat Riese & Müller bereits vielfach Eurobike-Awards und Design-Preise erhalten.
Bilder: Philipp Hympendahl, Riese & Müller, www.pd-f.de – Florian Schuh