Antwerpen ist ein Aufsteiger in den Fahrrad-Charts. Die flämische Metropole tut viel für den Radverkehr – als Ergebnis rechter Politik. Der Anteil der Radlerinnen wächst. Doch Velo-Aktivistinnen sehen die Stadt an einem kritischen Punkt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)
Die Stadt liegt in einem Fahrradland, ist flach und seit Jahrzehnten gehören Fahrräder zum Stadtbild. Doch als Vorreiter in Sachen Fahrradfreundlichkeit hat sich die belgische Hafenstadt Antwerpen in der Vergangenheit nicht aufgedrängt. Im August frohlockte jedoch der konservative Vizebürgermeister Koen Kennis auf Twitter: Die Großstadt unweit der Nordseeküste, wo Kennis unter anderem die Verkehrspolitik verantwortet, hatte soeben den dritten Platz im „The World’s Most Bicycle-Friendly Cities“-Index erreicht, publiziert von der Versicherung Luko. Zwischen den bekannten Fahrradhochburgen Utrecht, Kopenhagen, Münster und Amsterdam überraschte der Name Antwerpen dann doch. Die öffentliche Freude des Politikers rief prompt allerdings auch ein Echo bei Fahrradaktivist*innen hervor, die über die Methodik der Rangliste schimpften und allerlei offene Themen ansprachen. So sehen die Unfallstatistiken in Antwerpen nicht gerade erfreulich aus, aber es gibt viele Radläden und autofreie Aktionstage, was das Ranking positiv beeinflusste. Doch aus welchen Motiven auch immer ein Versicherungsunternehmen eine solche Übersicht veröffentlicht – für den Blick auf eine spannende Fahrradstadt bietet sie einen berechtigten Anlass.
„Ich möchte keine Stadt wie Amsterdam haben, wo sich das Zentrum nur Reiche und Touristen leisten können. Das heißt aber nicht, dass wir Autos anziehen wollen.“
Koen Kennis,
Vizebürgermeister
Mobilität als beherrschendes Thema
Wer sich an das Antwerpen der 90er-Jahre erinnert, wird bei der Fahrt ins Stadtzentrum überrascht sein. Wo es früher Schlaglöcher, graue Wände, heruntergekommene Gebäude und sehr viel lauten Autoverkehr gab, hat sich das Bild heute verändert. Autos sind immer noch viele da, aber Antwerpen ist eine helle Stadt im Wandel, in der Verkehr ganz oben auf der politischen Tagesordnung steht. Koen Kennis, der Vizebürgermeister, gehört ebenso wie das Stadtoberhaupt Bart De Wever der N-VA an, einer separatistisch-nationalistisch flämischen Gruppe, die seit 2012 regiert, aber bei der Wahl 2018 zu einer Koalition mit den Sozialisten gezwungen wurde. In Kennis‘ Ressort fällt auch die Verantwortung für die Finanzen. „Aber wenn ich mir meine Arbeitsverteilung anschaue, hat der größte Anteil mit Mobilität, Infrastruktur und Verkehr zu tun“, sagt der Politiker. Ein riesiges Projekt beherrscht seit Jahrzehnten das Geschehen: der Lückenschluss der Ringautobahn, die Antwerpen umgibt. Hier geht es inzwischen nicht mehr nur um eine mehrspurige Verbindung im Norden der Stadt. Es geht um „The Big Link“ – die große Verbindung.
Seit mehr als fünf Jahren kursiert dieser Begriff, mit dem ein gesamter Umbauprozess der Stadt gemeint ist. Denn es geht zum einen um den lange fälligen Lückenschluss der Ringstraße in der Handels- und Hafenstadt, zum anderen aber inzwischen auch um die Umgestaltung des öffentlichen Raums und der Verkehrsbeziehungen in Antwerpen. Es geht um bessere Anbindungen, mehr Parkflächen, eine unterirdische Führung des motorisierten Verkehrs – und um bessere Lebensqualität. In diesem Prozess hat die Stadtverwaltung nicht nur Experten eingebunden, sondern auch die Bürger und die Zivilgesellschaft. „Es gibt in diesem Verbund etliche Vertreter, die klar gegen Autos sind, und in diesem Projekt bleiben wir im Gespräch miteinander. Wir verfolgen das Ziel, den Modal Split in unserer Stadt zu verändern, das wird Arbeit für ein Jahrzehnt sein, aber wir brauchen einen Modal Shift, damit die Stadt für alle erreichbar bleibt“, sagt Kennis, dessen Partei im konservativen Spek-trum eher dem rechten Rand zugeordnet wird.
Sieht man die neue Rangliste oder Antwerpens positive Bewertung im Copenhagenize-Index, fährt man mit offenen Augen durch Einfallstraßen und die City, dann muss man sich schon über die Auseinandersetzungen wundern, die Kennis mit den politischen Widersachern führt. In Antwerpen fällt es nicht schwer, neu gebaute Fahrradwege, Brücken für Fußgängerinnen und Radfahrerinnen, spezielle Ampeln und weitere Infrastruktur zu finden, die man sich in vielen deutschen Städten wünschen würde. Es fällt aber auch nicht schwer, mit dem Auto überall hinzufahren, wenn man nicht im Stau steckt – bis ins Herz der Stadt und unter den Bahnhof kommt man bequem, ohne große Einschränkungen oder Kosten. Antwerpen ist eine Großstadt im Wandel, die sich in vielem von anderen Städten unter den fahrradfreundlichen Großstädten unterscheidet. Anders als im nahe gelegenen Gent, im niederländischen Musterbeispiel Amsterdam, in Münster oder anderen vergleichbaren Städten treibt keine grüne politische Gruppe den Umbau voran, gibt es keine Strafgebühren oder Abschaffung von Parkplätzen auf großer Linie. „Wahrscheinlich sind wir in der Minderheit“, sagt auch Renaat Van Hoof, der Vorsitzende des Radfahrerverbands (Fietserbond) in Antwerpen.
In Antwerpen wurde in den letzten Jahren viel Infrastruktur für den Radverkehr neu errichtet.
Investment findet Anerkennung
Die Ausgangslage ist also spannend: Eine klar konservative Bewegung verantwortet politisch die Modernisierung einer international einflussreichen, florierenden Handels- und Wissenschaftsstadt. Von den Radak-tivistinnen und der grünen Opposition wird Kennis als Autopolitiker angegriffen. Doch er sieht das anders. Das Auto gehöre eben zur Mobilität. „Wenn du die Mobilität tötest, tötest du die Stadt“, sagt Kennis, man halte Menschen aus der City, wenn man – wie beispielsweise in Oslo – die Zufahrt für Autos beschränke. „Ich möchte keine Stadt wie Amsterdam haben, wo sich das Zentrum nur Reiche und Touristen leisten können. Das heißt aber nicht, dass wir Autos anziehen wollen“, sagt der Politiker. Zugleich verweist er auf den Umbau, der tatsächlich stattfindet. Seit 2020 widmet Antwerpen Stück für Stück Straßen im historischen Stadtkern um, Parkplätze verschwinden dort, die Straßen werden zu „Wohnstraßen“ mit Tempo 20 und Vorrang für Fußgänger. Geht es um die Gesamttendenz für Radfahrerinnen, dann stützen die Praktikerinnen den Eindruck, den wir beim Besichtigen der Stadt gewinnen. „Wir haben viele Besucher aus den Niederlanden, und von denen höre ich sehr viel Gutes über die Entwicklung in Antwerpen“, sagt Gaston Truyens, der für die Organisation Antwerp By Bike sowohl Spaziergänge als auch Radtouren leitet. „Die Investitionen der vergangenen zehn Jahre haben dazu geführt, dass sich Radfahrende sicherer fühlen“, sagt der ehemalige Manager eines Golfclubs, der selbst erst spät zum Fahrradfahrer wurde. Koen Kennis, der zuständige Politiker, lässt keine Zweifel, dass Fahrräder für ihn wichtige Elemente der Verkehrswende sind. Er setzt auf drei Faktoren, um den Anteil der Nut-zerinnen zu erhöhen: Harte Faktoren, also den Bau von Infrastruktur, weiche Faktoren, also das „Nudging“ der Menschen, etwa durch gezielte Ansprache der Belegschaften in Unternehmen, und die digitale Unterstützung der modernen Mobilität, etwa durch das Verzahnen von Informationen und das Zusammenführen von ÖPNV und Mikromobilität in Apps und an Hubs in der Stadt. Es ist bemerkenswert, dass auch Kriti-kerinnen der Stadtregierung viele Erfolge einräumen. Allen voran investiert die Kommune ebenso wie die flämische Regionalregierung und die Region Antwerpen massiv ins Netzwerk der Radwege, vor allem in eine separate Infrastruktur für die Velos. „Man muss sagen, dass die neue Stadtverwaltung hier in den vergangenen zehn Jahren eine qualitativ hochwertige Infrastruktur geschaffen hat, mit breiteren Radwegen und weiteren baulichen Maßnahmen“, sagt der Bauingenieur Dirk Lauwers, der sich als Experte für urbane Mobilität einen Namen gemacht hat und an der Universität in Antwerpen lehrt. Im Rathaus verweist man darauf, dass es für Radfahrerinnen mehr Brücken gebe als in Kopenhagen – die lägen zwar nicht so attraktiv über Wasser, seien aber sehr sinnvoll für den sicheren Verkehr. Das große Leuchtturmprojekt in Sachen Radmobilität ist jedoch eines am Fluss und zugleich ein großer Zankapfel. Kennis und seine Verbündeten wollen es unbedingt haben. Es geht um eine Radbrücke über die Schelde, um Antwerpen mit den Kommunen im Westen zu verbinden. 2023 oder 2034 soll die Arbeit an dem Bau beginnen, sofern die Finanzierung geklärt und die politischen Entscheidungen getroffen werden. „Es geht darum, Hunderte von Millionen in Fahrradinfrastruktur zu investieren“, sagt Koen Kennis, „das ist wichtig, weil es weitere Effekte hervorrufen kann.“ Durch eine solche Brücke über den breiten Fluss, der hier beim international relevanten Seehafen schon ins Meer übergeht, erwartet die Politik sich nicht nur einen symbolischen Erfolg, sondern weniger Auto-pendlerinnen in den Tunneln und einen positiven Einfluss auf den Modal Shift in der Region. Koen Kennis kann in seinen Präsentationen darauf verweisen, dass der Anteil der Radfahrerinnen am Verkehr bei allen Fahrten im langfristigen Trend gewinnt – während der Pkw-Anteil hier langsam zurückgeht. Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang sei auch das Bikesharing, das Antwerpen bereits 2011 einführte. Antwerpen hat hier mit „Velo“ ein eigenes System mit inzwischen 305 Stationen, an denen Kunden mit einer Mitgliedskarte die Räder leihen können. Inzwischen stehen mehr als 5.200 Leihräder zur Verfügung, in jüngster Zeit setzt die Region hier auch auf eine Kooperation mit dem E-Sharing-Bike-Anbieter Donkey Republic. „Zugleich werden immer mehr Verbindungen in die Stadt fertiggestellt, und so wird Radfahren in die Stadt immer attraktiver“, sagt Kennis.
„Das Problem ist, dass die Stadtregierung viel für Fahrräder (…) tun möchte, solange sie dafür nicht Autos Platz wegnehmen muss.“
Renaat Van Hoof, Fietserbond
Investitionen in Fahrradparkanlagen sollen dazu beitragen, den innerstädtischen Anteil des Pkw-Verkehrs auf 20 bis 15 Prozent zu drücken.
Ambitionierte Ziele für die Stadt
Über diesen Erfolg sind sich beinahe alle einig. Doch die Frage ist, wie man mit dem Pull-Effekt umgehen soll. Und hier ist Antwerpen ebenso spannend. Kennis nennt das Ziel für die Transportregion: Der individuelle Pkw-Verkehr soll auf 50 Prozent gedrückt werden, was für die innere Stadt wohl eher einen Anteil von 20 bis 25 Prozent bedeuten werde. „Das ist natürlich eine Herausforderung“, sagt der Politiker. Bei Arbeitspend-lerinnen waren es vor Corona noch etwas mehr als 40 Prozent, in der Freizeit immer noch zwischen 30 und 40 Prozent, die auf den Pkw zurückgriffen. Der Politiker geht aber davon aus, dass vor allem der ÖPNV verbessert werden kann, dass bereits gebaute Park-and-Ride-Flächen an Akzeptanz gewinnen und die Mikromobilität den Verkehr in der Stadt entsprechend verändern wird. Doch Beobachter wie Renaat Van Hoof und Dirk Lauwers sehen die Stadt gewissermaßen als Opfer ihres eigenen Erfolgs. „Das Problem ist, dass die Stadtregierung viel für Fahrräder und die Infrastruktur tun möchte, solange sie dafür nicht Autos Platz wegnehmen muss“, sagt Van Hoof. Dass es vor allem im Kern bei zunehmendem Verkehr von Radlern, E-Bikern, Scooter-Fahrerinnen und bestehendem Motorverkehr eng zugeht, lässt sich gut beobachten. Zumal in Antwerpen bidirektionale Radwege beiderseits entlang der großen Hauptstraßen laufen, an Kreuzungen somit viele Konflikte auftreten. „Es ist häufig sehr voll, und so herrscht auch ein bisschen das Recht des Stärkeren“, beobachtet City-Guide Troyens. Auch der motorisierte Radverkehr bringt in diesem Gemisch neue Probleme. Die Stadt reagiert, indem sie an manchen Radwegen ein 25-Stundenkilometer-Schild aufhängt. Professor Dirk Lauwers sieht den dichteren Verkehr und sagt: „Das Modell Antwerpen ist an seiner Grenze.“ Er kritisiert die Politik, für die gelte: „Parken ist die ‚heilige Kuh‘.“ Solange die Politik den An-wohnerinnen gratis Parkgenehmigungen erteile, ohne die Parkplatzstandards für Neubauprojekte oder eigene unterirdische Parkplätze für Autopendler*innen schaffe, sei das Pendeln immer noch attraktiver als Alternativen, findet Lauwers.
Kennis sieht diese Zwangsläufigkeit nicht. Er verweist auf die 662 Kilometer Radinfrastruktur in der Stadt, auf den Ausbau des Netzwerks und den Lückenschluss im System. Die Zahl ist wohl schöngerechnet, aus der Verwaltung liest man eher von 576 Kilometern faktisch vorhandener Infrastruktur. Aber auch das ist beachtlich. Hier klingt Kennis genau wie Radverkehrsplaner in anderen Städten. Aber ohne das Auto wird eben nicht gedacht. „Wir versuchen, die Autos so lange wie möglich auf den Hauptstraßen zu halten, wo es eine separate Fahrradinfrastruktur gibt“, erklärt Kennis den Ansatz. Wahrscheinlich wird der dichtere Verkehr in der Innenstadt dann auch zu manchem „Visionswechsel“ führen, sagt Kennis, etwa zum Umwandeln von normalen Straßen in Fahrradstraßen. Für ihn ist Antwerpen heute bereits eine 15-Minuten-Stadt, wo jeder Punkt innerhalb des Rings mit dem Rad in einer Viertelstunde erreichbar sei. Deswegen sieht er keinen Anlass für einen radikalen Bruch, sondern möchte den Kurs schrittweise fortsetzen.
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