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Logistikexperten erproben neue Lösungen zur Lieferung in Stadtzentren. Ein vielversprechender Ansatz ist die Nutzung von Straßenbahnen als Cargotram in Kombination mit innovativen Lastenrädern und Wechselcontainern. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


Immer mehr Menschen ziehen in die Städte. 2050 sollen etwa 68 Prozent der Weltbevölkerung in den Zentren leben. Mit ihrer Zahl wächst auch der tägliche Bedarf an Gütern und Lebensmitteln. Verkehrsplaner und Logistikexperten suchen deshalb nach Alternativen und Ergänzungen zu den bestehenden Zustellkonzepten. Eine davon ist die Güter- bzw. Cargotram. Sie fungiert in den Innenstädten als Bindeglied zwischen Lkw und E-Cargo-bike. In Hessen und Baden-Württemberg gab und gibt es dazu bereits verschiedene Pilotprojekte. Das wichtigste Ergebnis: Die Kombination aus Lkw, Tram und Schwerlast-Cargobikes ist günstiger als die Zustellung per Sprinter und reduziert zudem die Emissionen. Im Frühjahr haben das unter anderem der spezialisierte Berliner Cargobike-Hersteller Onomotion und die Frankfurter University of Applied Science zusammen mit einer Gruppe von Logistikexperten in einem Whitepaper gezeigt.

bis 80 %

in Frankfurt am Main könnten 60 bis 80 Prozent
der innerstädtischen Lieferungen mit einer
dreistufigen Lieferkette und Cargotrams zugestellt werden.

Große Potenziale für das dreistufige Konzept

„60 bis 80 Prozent der innerstädtischen Lieferung könnten in Frankfurt am Main mit dieser dreistufigen Lieferkette zugestellt werden“, sagt Dr. Kai-Oliver Schocke. Er ist Professor im Forschungslabor für Urbane Logistik an der Frankfurt University of Applied Sciences und Mitherausgeber des Whitepapers „Intermodale Logistikkette im urbanen Raum. Wie der Einsatz standardisierter Container die letzte Meile optimiert“. Prof. Schocke ist auf diesem Gebiet einer der Vordenker in Deutschland. Bereits 2019 hat er im Rahmen eines Pilotprojekts mit Hermes die Zustellung von Paketen im Stadtzentrum per Logistiktram und Cargobike getestet.
Auf den ersten Blick wirkt der Einsatz von Straßenbahnen für den Warentransport fast wie ein Revival. Lange Zeit war es selbstverständlich, Post und Güter über die Schiene in die Zentren zu bringen. In Hannover, Stuttgart und Wuppertal wurden bis in die 1960er-Jahre Kohle, Lebensmittel und andere Produkte auf diesem Weg in die Innenstadt transportiert. Anfang des 21. Jahrhunderts hat der Autohersteller Volkswagen in Dresden sogar eine eigene Gütertram gebaut, um seine „gläserne Manufaktur“ mit Fahrzeugteilen zu beliefern. Die klimafreundliche Zustellung war damals die Voraussetzung für die Ansiedlung des Werks mitten im Stadtzentrum. Als die Produktion vor ein paar Jahren umgestellt wurde, war die Tram nicht mehr ausgelastet und sie wurde Ende 2020 eingestellt.

„Wir brauchen eine neue City-Logistik. Die Städte müssen jetzt aktiv werden und die Güterstraßenbahnen aufs Gleis setzen.“

Prof. Dr. Kai-Oliver Schocke, Frankfurt University of Applied Sciences

Grundlage: Standardcontainer für Citylogistik

Damit die Verbindung reibungslos funktioniert, müssen allerdings bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Entscheidend ist der Einsatz standardisierter Behälter. „Die Ono-Container haben Europaletten-Breite“, sagt Schocke. Diese Standardisierung des Behälters, seine Witterungsbeständigkeit und die Rollen am Boden machen den schnellen Wechsel vom Lkw in die Tram und dann aufs Lastenrad überhaupt erst möglich.
„Die Containerisierung der City-Logistik startet jetzt“, sagt der Professor. In der Praxis sieht die dreistufige Lieferkette so aus: Die vorkommissionierten Container werden per Lastwagen vom Depot am Stadtrand zur Endhaltestelle der Straßenbahn gebracht. Dort verstaut ein Servicemitarbeiter die rund 23 Container in der Tram. Dafür hat er etwa 15 Minuten Zeit. Anschließend begleitet er die Gütertram auf ihrer Fahrt durch die Stadt und entlädt einzelne Container an den Haltestellen im Zustellgebiet. „Das dauert maximal drei Minuten“, sagt Schocke. Damit der straffe Zeitplan eingehalten werden kann, müssen die Haltestellen barrierefrei ausgebaut sein. An den einzelnen Stationen nehmen die Cargobike-Fahrerinnen die Container in Empfang oder sie werden in sogenannten Mikrodepots zwischengelagert. Das können Lagerräume sein oder abschließbare Gitterboxen, wie man sie von Flughäfen kennt. Von dort schwärmen die Fahrerinnen aus und verteilen die Waren in einem Radius von etwa zwei Kilometern.

In Dresden versorgte bis Ende 2020 die „CarGoTram“ die Volkswagen-eigene „gläsernen Manufaktur“ mit Fahrzeugteilen – eine Grundvoraussetzung für die Ansiedlung des Werks im Stadtzentrum.

Bahnumbau rentiert sich

Der größte Kostenfaktor in dem Konzept ist die verwendete Gütertram. „Sie muss nicht neu sein“, betont Schocke. So könnten beispielsweise ausrangierte Personenwaggons für den Warentransport umgebaut werden. Damit die Container zügig ein- und ausgeladen werden können, brauchen die Waggons breitere Türen, mehr Deckenhöhe, Führungsschienen am Boden, eine neue Beleuchtung und Laderampen an jeder Tür. Laut den Macher*innen des Whitepapers kostet der Umbau zu einer Gütertram rund zwei Millionen Euro.
Die Anschubfinanzierung scheint auf den ersten Blick hoch. Aber Martin Jambor, New Mobility Experte von Porsche Consulting, und Vertreter der Hörmann Gruppe, die unter anderem Lebenszyklen-Analysen für Schienen- und Straßenfahrzeuge erstellen, kommen zu dem Schluss, dass sich der Umbau lohnt. Sie haben die Kosten für das tägliche Paketaufkommen in Frankfurt am Main berechnet und festgestellt: Die Zustellung in dem hybriden System aus Lkw, Tram und Ono PAT (Pedal Assisted Transporter) ist um zehn Prozent günstiger als die traditionelle Zustellung per Sprinter.

Hohe Potenziale

14.500 Pakete werden momentan laut Martin Jambor täglich mit 121 Lkw in der Innenstadt der Mainmetropole ausgeliefert. Pro Kubikmeter Ladung fallen dabei Kosten von 30,59 Euro an. Seinen Berechnungen zufolge könnten rund 80 Prozent, also 11.600 Pakete, mit dem neuen dreistufigen System zugestellt werden. Dafür benötige Frankfurt zwei Gütertrams am Tag, zwei Lastwagen, 84 Cargobikes und diverse Mikrodepots. Bei diesem Modell kommen die Experten auf Gesamtkosten von 27,62 Euro pro Kubikmeter. Außerdem produziert dieses Konzept nur 1,1 Tonnen Kohlendioxid, die Sprinter-Lösung dagegen 3,1 Tonnen. Das entspricht Einsparungen von 64 Prozent. Nur noch 20 Prozent oder rund 2.900 Lieferungen müssten dann aufgrund ihrer Größe und ihres Gewichts überhaupt noch auf dem traditionellen Weg zugestellt werden.

„Die Containerisierung der

City-Logistik startet jetzt!“

Prof. Dr. Kai-Oliver Schocke, Frankfurt University of Applied Sciences

Effizient mit neuester Cargobike-Technik

In dem Whitepaper verwenden die Zustellerinnen für die letzte Meile das elektrische Schwerlast-Cargobike von Onomotion. Mit einem Pedelec hat das Fahrzeug auf den ersten Blick nicht mehr viel zu tun. Mit seiner Höhe von 2,05 Meter und 3,4 Meter Länge ist es ein Riese unter den Cargobikes. Seine Entwickler nennen es auch nicht mehr Lastenrad, sondern Pedal Assisted Transporter (PAT) oder in der Kurzversion: Ono PAT. Das Besondere an dem Fahrzeug ist die hohe Fahrerkabine und der schnell wechselbare Container. „Der abnehmbare Container hat ein Volumen von zwei Kubikmeter“, sagt Beres Seelbach, Mitgründer von Onomotion. Nach Pilotprojekten mit Hermes und Liefery sind jetzt rund 50 Ono PAT in Berlin, Hamburg, Leipzig, Neuss, München und Magdeburg unterwegs. Trotz seiner Größe darf das 1,16 Meter breite Lastenrad noch auf dem Radweg fahren. Das verschafft ihm den entscheidenden Vorteil gegenüber den aktuellen Diesel-Sprintern. „Es kann viel näher an die Lieferadressen fahren, dadurch werden die Wege für die Boten kleiner“, sagt Seelbach. Das erleichtert den Zustellerinnen ihre Arbeit immens. „Die Fahrer laufen jeden Tag einen Halbmarathon, um die Pakete auszuliefern“, sagt Schocke. Aber nicht nur das. Auch die Rahmenbedingungen für ihren Arbeitsalltag verschlechtern sich. „In Hessen sind die Städte zunehmend von Diesel-Fahrverboten betroffen“, sagt Schocke. Auch die Bußgelder für das Falschparken wurden im November angehoben. Gleichzeitig wächst der Online-Handel und damit das Paketaufkommen. Von Logistik-Anbietern hört er immer wieder, ihre Fahrer stünden ständig im Stau. Um ihre Liefertermine überhaupt noch einhalten zu können, setzen sie doppelt so viele Fahrzeuge ein, wie noch vor ein paar Jahren. „Die Transporter stehen dann aber 80 Prozent der Zeit herum, während die Fahrer weite Strecken laufen“, sagt Schocke.

Baustein einer effizienten, umweltfreundlichen und stadtverträglichen Lösung: Nur 1,16 Meter schmal ist der Ono-Transporter, der mit Wechselcontainern arbeitet.

Innovative Städte gesucht

Der Professor ist sich sicher: „Wir brauchen eine neue City-Logistik. Die Städte müssen jetzt aktiv werden und die Güterstraßenbahnen aufs Gleis setzen.“ Mit seinem Team sucht er momentan nach interessierten Kommunen, die ihr Konzept testen. Mit Darmstadt und Frankfurt ist er bereits im Gespräch. Die Rahmenbedingungen dafür sind momentan günstig. Das Bundesverkehrsministerium aber auch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) fördern klimaneutrale Logistikprojekte.
In Baden-Württemberg unterstützen das BMWi und das Land Baden-Württemberg beispielsweise das Verbundprojekt „regioKArgo“. Es ist im März 2021 gestartet und geht noch einen Schritt weiter als Schocke und sein Team. Die Teilnehmenden von regioKArgo wollen in Karlsruhe und im Umland Waren und Lebensmittel per Tram zum Kunden bringen. Das Einzugsgebiet ist riesig und reicht von Karlsruhe sternförmig ins Umland. Dabei sind Distanzen bis ins 90 Kilometer entfernte Heilbronn möglich. Das funktioniert, weil sich Straßen- und Eisenbahn seit über 30 Jahren in der Region ein Schienennetz teilen. Unter dem Dach „regioKArgo“ befinden sich verschiedene Teilprojekte. Noch haben nicht alle Projekte eine Förderung erhalten. Das Land Baden-Württemberg finanziert das Herzstück des Projekts: den Bau des Gütertram-Prototyps durch die Verkehrsbetriebe Karlsruhe (VBK). Sie wollen Personen und Güter gemeinsam transportieren. 100 Fahrzeuge, die sonst ausschließlich Personen befördern, könnten künftig zur Hälfte Güter und zur Hälfte Personen transportieren, sagt VBK-Sprecher Michael Krauth. Die Güter-trams sollen außerhalb der Stoßzeiten unterwegs sein. Das Interesse bei Einzelhändlern, Supermärkten, aber auch großen Unternehmen wie Papierherstellern für Alternativen zur Straße sei groß, sagt Krauth.


Über Onomotion

Das 2017 gestartete Unternehmen Onomotion hat es sich zum Ziel gesetzt, die urbane Mobilität zu verändern. Die Gründer Beres Seelbach (CEO), Murat Günak (CDO) und Philipp Kahle (CTO) haben zusammen über dreißig Jahre Erfahrung im Bereich der Elektromobilität. Beres gründete sein erstes Unternehmen für E-Mobilitätslösungen, Lautlos, mit 24 Jahren.
Murat ist ehemaliger Designchef von Volkswagen und Mercedes-Benz und war 2010 Mitbegründer des Elektro-autoherstellers Mia Electric. Philipp ist Experte für Leicht-Elektrofahrzeuge und hat unter anderem Erfahrung in der Entwicklung von Ladeinfrastrukturen bei GreenPack Mobile Energy Solutions. Das Unternehmen mit Sitz in Berlin hat derzeit über dreißig Mitarbeiter. Ono PAT befinden sich seit Oktober 2020 im Einsatz, unter anderem bei Hermes, DPD, beim E-Kick-scooter-Sharer Tier und bei Mailboxes.



Whitepaper „Intermodale Logistikkette im urbanen Raum“

Die Frage, wie der Einsatz standardisierter Container auf der „letzten Meile“ funktioniert, stand im Mittelpunkt der Untersuchung einer Fachgruppe auf Initiative der Berliner Onomotion GmbH. Erstellt wurde das Whitepaper vom Research Lab for Urban Transport der Frankfurter University of Applied Sciences, dem Logistikanbieter Hermes, der „Porsche Consulting“, der „Wissens- und Innovationsgemeinschaft EIT“, der EU-Gesellschaft InnoEnergy, die Start-ups finanziell unterstützt, sowie der „Hörmann Gruppe“, einem Fahrzeugspezialisten, der unter anderem Lebenszyklen-Analysen erstellt, und der EurA, einer AG für Innovations- und Fördermittelberatung. Die unterschiedlichen Fachgruppen zeigen, wie vielschichtig das Thema City-Logistik betrachtet werden muss.


Bilder: Hörmann Group, Prof. Kai-Oliver Schocke, Onomotion, Qimby.net, U. Wolf, FRA-UAS, Onomotion – Janine Graubaum