Die Zeiten, in denen eine Automesse wie die IAA stabil rund eine Million Besucher anzog, scheinen definitiv vorbei. Auch zur diesjährigen IAA Mobility kamen erstaunlich wenige Aussteller und mit 400.000 Besuchern nur rund die Hälfte im Vergleich zum Jahr 2017. Es scheint, als ob der Zauber des Automobils einer eher pragmatischen Beziehung gewichen ist und mehr und mehr andere Mobilitätsformen in den Vordergrund rücken. Zu den Gewinnern gehören das Fahrrad, das E-Bike, viele weitere neue Produkte und Angebote in den Bereichen Mikromobilität und Mobility as a Service (MaaS) und auch neue Messeformate.


Die Mobilität der Zukunft kann und wird nach Meinung vieler Experten nicht durch immer mehr Autos und übergroße SUVs, wie kürzlich noch von BMW vorgestellt, geprägt werden. Auch die oft betonten Trennlinien zwischen zu Fuß gehenden, Rad oder Auto fahrenden Menschen machen wenig Sinn. Wohl genauso wenig wie neue Feindbilder, die man wahlweise in E-Bikes, E-Kickscootern oder auch in Lieferfahrzeugen und den dazugehörigen Services sehen kann. Dafür entwickeln sich die Technik, das Marktumfeld und die Nutzergewohnheiten aktuell viel zu schnell.

Nicht zu unterschätzen sind dabei allerdings die Beharrungskräfte, die sich in der Kommunal- und Wirtschaftspolitik ebenso finden wie bei Herstellern, Händlern, Messeveranstaltern oder Lobbygruppen. Wo findet das boomende Segment Mikromobilität Platz? Wo eine Lobby? An den aktuellen Entwicklungen gründlich vorbei geht allein die vielfach übliche Gleichsetzung von Mikromobilität mit E-Kickscootern, denn der Oberbegriff beinhaltet inzwischen sehr viel mehr.

Viele Potenziale im jungen, hochdynamischen Markt


Die Kickscooter-Verleiher gehen mit frischen Investorengeldern in dreistelliger Millionenhöhe mit maximaler Geschwindigkeit voran, erweitern ihre Flotten durch E-Mopeds und setzen verstärkt auch auf Fahrräder und E-Bikes. Bestes Beispiel dafür ist das weltweit operierende Berliner Start-up Tier Mobility, das seine Fahrzeugflotte mit der Übernahme des Bikesharers Nextbike über Nacht auf 250.000 verdoppelt hat. Auch im Verkaufsgeschäft ist die Entwicklung hochdynamisch. In Frankreich wurden zuletzt mehr E-Kickscooter verkauft als E-Bikes und in vielen Ländern gibt es mit hochmodernen Fahrzeugen ein Revival bei E-Mofas, E-Rollern, E-Mopeds und Modellen, die zwischen diesen Kategorien liegen. Revolutionär ist der Stand der Technik, nicht nur was die Akku- und Fahrleistungen angeht, sondern auch mit Blick auf smarte Hightech-Lösungen. So gehören App-Anbindung und IOT (Internet of Things) bei vielen Herstellern inzwischen nicht mehr nur im Premiumsegment zum Standard. Längst nicht ausgemacht ist, wo sich Interessenten einen Überblick über das junge Segment verschaffen können. Hersteller finden sich genauso auf der Elektronikmesse CES in Las Vegas wie auf der Eurobike in Friedrichshafen (künftig Frankfurt), auf der IAA Mobility in München oder der World of eMobility in Amsterdam. Dazu kommen Fachmessen im Bereich Logistik, spezielle Cargobike-Events und -Roadshows, Radlogistik-Konferenzen und, und, und. Nicht ausgemacht ist bislang zudem, wo man diese neuen Mobilitätsformen kaufen und anschließend warten lassen kann. Im Fahrradhandel, in spezialisierten Fachgeschäften, im Elektronikmarkt, im erweiterten Autohandel oder durch mobile Anbieter und Services? Und zuletzt spielt auch der Austausch zwischen Fachleuten, Anspruchsgruppen und Entscheidern eine wichtige Rolle, denn ebenso vielfältig wie die Probleme der Gegenwart und Zukunft sind auch die existierenden, machbaren oder absehbar in den nächsten Jahren kommenden Lösungen.

Neue Konzepte und Öffnung der Veranstalter


Nicht nur bei der früheren Automesse IAA gibt es inzwischen ein Umdenken, auch die internationale Fahrradleitmesse Eurobike setzt nach den Plänen für den neuen Messestandort Frankfurt auf ein erweitertes Konzept: „Thematisch betrachtet wird der Markenkern der Eurobike unverändert bleiben, jedoch werden ihre Inhalte breiter, zeitgemäßer und auch urbaner. Neue Schwerpunkt-Themen, die Treiber für zukünftiges Branchenwachstum sein werden, kommen hinzu“, so die Veranstalter. Zu den geplanten Erweiterungen zählen Themen wie Micromobility, Technologie, Fitness, Gesundheit, Lifestyle, Tourismus, Infrastruktur und Nachhaltigkeit. Eine besondere Rolle soll zukünftig auch in der gesellschaftlich-politischen Komponente (B2G) des Radfahrens liegen, welche integraler Bestandteil der neuen Eurobike wird. „Die Eurobike 2022 wird eine Kombination aus Innovationsschau, Handelsplattform, Festival, Medienereignis und politischer Bühne“, so der langjährige Messechef Stefan Reisinger.

Deutsche Messe Hannover Vorreiter bei Mobilität der Zukunft


Gleich auf zwei Veranstaltungen greift die Deutsche Messe im Mai 2022 das Thema Mobilität der Zukunft auf. „Unsere neue Immobilienmesse Real Estate Arena und die micromobility expo überschneiden sich am 19. Mai 2022 auf dem Messegelände. Das Thema Mobilität der Zukunft baut die inhaltliche Brücke zwischen beiden Veranstaltungen“, so Daniela Stack, Leiterin Neugeschäft bei der Deutschen Messe AG in Hannover. Auf dem Branchentreff für die Real-Estate-Branche im Norden wird die künftige Mobilität aus der Perspektive der Immobilien- und Quartiersentwicklung sowie der Stadtplanung betrachtet. „Wenn die Mobilitätswende gelingen soll, muss sie eingebettet werden in einen größeren Kontext. Hier sind Stadtplaner, Architekten, Investoren und Kommunen gleichermaßen gefragt“, sagt Projektleiter Hartwig von Saß. „In der Diskussion um die Mobilität der Zukunft führt die Auseinandersetzung Auto gegen Fahrrad gegen Fußgänger nur weiter in die Sackgasse. Die Verkehrswende gelingt nur in der Zusammenarbeit.“

Die micromobility expo (19.-22.05. Hannover) bietet ein hochklassiges Konferenzprogramm, unterschiedlichste Aussteller und einen riesigen, teils überdachten Testparcours.

Die Perspektive der technologischen und infrastrukturellen Lösungen soll die Messe micromobility expo einbringen, die nach der erfolgreichen Premiere 2019 und der pandemiebedingten Pause im Mai zum zweiten Mal in Hannover stattfindet. „Gerade in neuen Quartieren, in den Stadtteilen und in den Innenstädten können intelligente Mobilitätskonzepte und der Einsatz von Mikromobilen die Verkehrswende voranbringen“, betont MME-Projektleiter Florian Eisenbach. „Wir wollen mit dem Messe-Doppel Mobilitätsexperten, öffentliche Verwaltung, Projektentwickler und Wissenschaftler nach Hannover holen, die bei der Planung von Mobilität der Zukunft an den Tisch gehören. In der Kooperation der beiden Messen wollen wir die Zukunft interdisziplinär gestalten und die Expertinnen und Experten aus den relevanten Bereichen Lösungen entwickeln lassen.“


“Es geht um die Neuerfindung der Mobilität“

Lesen Sie hier unser Interview mit Florian Eisenbach, Projektleiter micromobility expo 2022.

Über die micromobility expo 2022

In eigener Sache: VELOPLAN ist als Medienpartner und mit einem Stand auf der micromobility expo präsent.
Die Messe richtet sich an Kommunen und Städte, Stadtplanungsämter, Verkehrsämter sowie Politik. Zudem werden Einkäufer, Händler, Logistikunternehmen, Flottenmanager, Bahnhofsmanager, Werkstätten, Pflegedienste und Endverbraucher angesprochen.
Die Messe gliedert sich in drei Themenbereiche: Mikromobile, Mobilitätsinfrastrukturen und Mobilitätsdienstleistungen. Das Konzept aus Forum, Ausstellung und Parcours bietet ein breites Erlebnisspektrum. Im Forum diskutieren Experten und Anwender aus Industrie, Verwaltung und Politik über Innovationen, Best-Practice-Beispiele und Lösungsansätze. Auf einem großen Parcours im Freigelände und in den Pavillons können Fachbesucher und Endverbraucher unterschiedliche Mikromobile testen.
Messegelände Hannover, 19. – 21. Mai 2022; 19./20. nur für Fachpublikum
micromobilityexpo.de

Text: Reiner Kolberg

Bilder: Deutsche Messe / micromobility expo, Reiner Kolberg, WikiCommons, Opel

Herr Eisenbach, 2021 ist viel über die Produkte und Ausrichtungen der Messen Eurobike und IAA Mobility diskutiert worden. Wo unterscheiden Sie sich von den anderen?
Der wichtigste Punkt: Die micromobility expo ist systemoffen. Darauf legen wir großen Wert. Wenn wir von Mobilität der Zukunft sprechen, dann müssen wir alles berücksichtigen und mitdenken und uns von den über Jahrzehnte gelernten Kategorien freimachen. Der Kontext wird breiter, das intelligente Zusammenspiel der Fahrkategorien und die komplette Palette der Leichtfahrzeuge wird hochrelevant und kann eine echte Rolle in der Mobilitätswende spielen.

Micromobility Expo - Florian Eisenbach

„Es geht um die Neuerfindung der Mobilität”

Florian Eisenbach, micromobility expo

Bei der Premiere 2019 drehten sich viele Gespräche ja noch um die damals neue Kategorie der E-Kickscooter. Was verändert sich 2022?
Durch den Neuigkeitswert haben die Scooter relativ viel Raum eingenommen, aber auch 2019 ging es schon um viele andere Produkte, Dienstleistungen und Lösungsanbieter, zum Beispiel Lastenräder für Business-Anwender, Microcars, E-Mopeds, Sharing-Systeme und allgemein Mobility as a Service. Diese Bereiche werden in diesem Jahr deutlich stärker in den Vordergrund rücken.

Was hat sich in den letzten drei Jahren im Umfeld verändert?
Wir stehen heute vor einer ganz anderen Situation. Experten sind sich sicher, dass Mikromobilität ein Grundpfeiler künftiger nachhaltiger Mobilität sein wird. Und auch in der Gesellschaft und in großen Unternehmen gibt es ein Umdenken: Ein Beispiel ist die Caritas, die auf der Messe explizit nach neuen Mobilitätslösungen für ihre Mitarbeiter*in-nen, unter anderem im mobilen Pflegebereich sucht. Diese müssen klimafreundlich, kostengünstig und flexibel sein.

Auch auf der technischen und finanziellen Seite ist die Dynamik ja extrem hoch.
Wir sehen, dass weltweit viele institutionelle Investoren erhebliche Summen in klimafreundliche Lösungen investieren – auch im Bereich Mobilität. Davon profitieren die Anbieter, und das verleiht neuen Entwicklungen und dem Markt insgesamt einen kräftigen Schub. Die Fahrzeuge haben sich deutlich weiterentwickelt, es gibt neue Ladeinfrastruktur und neue Kooperationen. Wir erwarten über 100 Aussteller und schaffen den Raum für Diskurs und für Netzwerke. So kann man gemeinsam an neuen Lösungen arbeiten.

Welchen Stellenwert sehen Sie künftig für die Mikromobilität?
Prof. Dr. Stephan Rammler vom Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung und sein Team begleiten das Konferenzprogramm, das dieses Jahr wieder hochkarätig besetzt sein wird. Sein Credo: Vor dem Hintergrund einer dynamisch wachsenden Weltbevölkerung ist es erforderlich, Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und ökonomische Effizienz miteinander zu verbinden. Es geht um die Neuerfindung der Mobilität des 21. Jahrhunderts. Hier sehen wir uns als die eigentliche Zukunftsmesse.

Eine Neuerfindung der Mobilität würde ja auch viele Umbrüche bedeuten. Warum sollten Unternehmen und Kommunen zur Messe kommen?
Der erste Grund: Die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskussionen um die Mobilität von morgen werfen Fragen auf, die micromobility expo liefert Antworten und führt Industrie, Politik und Anwender zusammen. Unser Anspruch ist, die zentrale Anlaufstelle für Wissenstransfer und Erfahrungsaustausch zu sein. Bei unserem Call for Speakers haben wir Rückmeldungen nicht nur von Mobilitätsexperten, sondern unter anderem auch von Stadtplanern und universitären Einrichtungen und zu den Themen Stadt-Land-Entwicklung, Sicherheit und New Work bekommen. Das sind alles wichtige und hoch spannende Themen. Der zweite Grund ist, dass wir auf dem großen und teilweise überdachten Freigelände eine hervorragende Möglichkeit bieten, die unterschiedlichsten Produkte zu testen. Unsere Erfahrung ist, dass persönlicher Austausch, eigene Eindrücke und Networking enorm wichtig sind. Wir werden einen Teil der Veranstaltung streamen, aber das ist nur eine Ergänzung.


Das Interview mit Florian Eisenbach hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im November 2021 geführt. Erschienen in Ausgabe 4/21.

Mehr zum Thema in unserem Beitrag “From Zero to Hero – Mikromobilität 2.0”

Über die Messe micromobility expo 2022

In eigener Sache: VELOPLAN ist als Medienpartner und mit einem Stand auf der micromobility expo präsent.
Die micromobility expo in Hannover richtet sich an Kommunen und Städte, Stadtplanungsämter, Verkehrsämter sowie Politik. Zudem werden Einkäufer, Händler, Logistikunternehmen, Flottenmanager, Bahnhofsmanager, Werkstätten, Pflegedienste und Endverbraucher angesprochen.
Die Messe gliedert sich in drei Themenbereiche: Mikromobile, Mobilitätsinfrastrukturen und Mobilitätsdienstleistungen. Das Konzept aus Forum, Ausstellung und Parcours bietet ein breites Erlebnisspektrum. Im Forum diskutieren Experten und Anwender aus Industrie, Verwaltung und Politik über Innovationen, Best-Practice-Beispiele und Lösungsansätze. Auf einem großen Parcours im Freigelände und in den Pavillons können Fachbesucher und Endverbraucher unterschiedliche Mikromobile testen.
Messegelände Hannover, 19. – 21. Mai 2022; 19./20. nur für Fachpublikum
micromobilityexpo.de

Bild: Deutsche Messe

Das Verkehrsministerium ist, für viele überraschend, an die FDP gegangen. Wie stehen die Chancen für eine Verkehrswende mit den Liberalen? Bislang hatte sich weder die FDP selbst noch eine(r) ihrer Kandidat*innen nach allgemeiner Einschätzung in diesem Bereich ein besonderes Renommee aufgebaut. Aber vielleicht werden die Möglichkeiten und Perspektiven für Veränderungen, die sich mit der neuen Situation ergeben, ja auch unterschätzt.


Nicht einmal eine Woche vor der Präsentation des Koalitionsvertrags und der Verteilung der Ministerien habe ich mit Stefan Gelbhaar, MdB und Sprecher für Verkehrspolitik und Radverkehr bei Bündnis 90/Die Grünen, ein Interview geführt. Alles deutete zu diesem Zeitpunkt darauf hin, dass das Verkehrsministerium künftig zum Ressort der Grünen werden würde. Tage vor der Vorstellung kursierten sogar vollständige Listen mit Posten von Ministerinnen und Staatssekretärinnen. Und dann am 24.11., 15.00 Uhr völlig überraschend die Nachricht: Das Verkehrsministerium geht an die FDP. Wir gehörten sicher nicht zu den Einzigen, die bereits ein Bild gezeichnet hatten von den Kompetenzen und dem politischen und persönlichen Werdegang der Kandidaten Anton Hofreiter und Cem Özdemir, denn auf einen von ihnen, so die Meinung einer großen Mehrheit, würde es ganz sicher hinauslaufen als neuer Verkehrsminister. Und jetzt?

Erster Eindruck: große Ernüchterung – nicht nur bei den Grünen


„Die Verkehrswende ist nach der Energiewende mit das wichtigste Projekt, das wir aktuell haben und um das wir uns kompetent und sehr intensiv kümmern müssen“, so Stefan Gelbhaar im Interview. Tatsächlich haben die Grünen hier in der Vergangenheit unter anderem mit Symposien und Fachkongressen einiges getan, um Kompetenz und Glaubwürdigkeit aufzubauen. Auch personell schienen sie hier sehr gut aufgestellt: Der gebürtige Münchner Anton „Toni“ Hofreiter war beispielsweise von 2011 bis 2013 Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Verkehrspolitik war, nach eigener Aussage, für ihn immer eines der Lieblingsfelder. Mindestens ebenso viel Kompetenz und dazu nach Umfragen ein hohes Ansehen bei Fachleuten und in der Bevölkerung hätte der zweite Kandidat Cem Özdemir aus Bad Urach bei Reutlingen mitgebracht. Der „anatolische Schwabe“ war bislang Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und digitale In-frastruktur, ist bodenständig und bestens vernetzt und dazu ein bekennender und praktizierender Fahrradfan: „Das Fahrrad ist ein Gewinnertyp und gehört in die Bundesliga der Politik.“ In einem Interview mit dem ADFC skizzierte er einige zentrale Herausforderungen: „Wir sind in puncto Fahrradwegen in Deutschland Entwicklungsland.“ Der Anteil fürs Fahrrad im Etat des Verkehrsministeriums liege bisher bei unter einem Prozent. Die Kommunen bräuchten beispielsweise die Freiheit, unbürokratisch Tempo-30-Zonen und Fahrradstraßen einrichten zu können.
Auch wenn die Koalitionsvereinbarung weitgehend Zustimmung findet, sorgt die Tatsache, dass das Bundesministerium für Verkehr und Digitales nicht an die Grünen gegangen ist, bei vielen Fahrradinteressierten erst einmal für Unverständnis und Frustration.

„Das Fahrrad gehört in die Bundesliga der Politik“

Cem Özdemir, Grüne

Deutliche Worte fand zum Beispiel der Grüne Landtagsabgeordnete Arndt Klocke, der sich in Nordrhein-Westfalen für ein Fahrradgesetz starkgemacht hat, auf Twitter: „Mein fachlicher Eindruck: Im Koalitionsvertrag sind die Bereiche Verkehr und Wohnen inhaltlich für Grün tragfähig. Natürlich müssen aus Worten im Vertrag jetzt politische Taten werden. Bedauerlich bis ärgerlich ist, dass das Verkehrsministerium nicht grün besetzt wird.“ Nach Medienberichten, unter anderem im Spiegel, stößt die Entscheidung unter etlichen Experten auf Unverständnis. Andererseits wird in der Presse auch berichtet, dass die Sozialdemokraten aus industriepolitischen Gründen ein Grünes Verkehrsministerium unbedingt verhindern wollten und deswegen die Bemühungen der FDP unterstützten, das Ressort zu erhalten.

Ein Bild, das durch alle Medien ging: das gemeinsame Selfie nach dem ersten Spitzengespräch zwischen FDP und Grünen. Mit Volker Wissing, Annalena Baerbock, Christian Lindner und Robert Habeck.

Passen FDP und Verkehrsministerium zusammen?


Auf den ersten Blick ergeben sich mit Blick auf die immer wieder angemahnte Notwendigkeit einer Mobilitäts- oder Verkehrswende sicher Zweifel, ob die FDP und Volker Wissing hier eine optimale gute Lösung sind. Auf den zweiten Blick lassen sich aber auch gute Argumente und neue Optionen erkennen:

Punkt 1: mehr Freiheit, weniger zusätzliche Belastungen

Durch die Pandemie ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik zuletzt deutlich gesunken. Viele Menschen sind zudem sichtbar und nachvollziehbar verbotsmüde geworden. Hier kann die FDP, die als Markenkern auf individuelle Freiheitsrechte und weniger Staat pocht, in der aktuellen Situation viele Menschen wahrscheinlich besser mitnehmen als die Grünen, die den Staat im Bereich Verkehr in einer eher paternalistischen Rolle sehen, zum Beispiel mit flächendeckenden Tempobeschränkungen oder Dieselfahrverboten. Angesichts steigender Lebenshaltungskosten und galoppierender Energiepreise sind auch zusätzliche Belastungen momentan eher schwierig zu vermitteln. Ein Versprechen für tatsächliche Umbrüche in der Mobilität liegt, genau betrachtet, aber durchaus in der vielfach von der FDP beschworenen freien Wahl der Verkehrsmittel. Denn de facto können Bürger oftmals gar nicht frei wählen, da das Auto entweder alternativlos ist oder Alternativen wie Radfahren oder ÖV-Nutzung zumindest gefühlt zu unpraktisch, zu teuer oder zu gefährlich sind.

Punkt 2: mehr Eigenverantwortung

Die FDP könnte zum Beispiel für die Städte und Kommunen mehr Gestaltungsräume eröffnen, was der parteiunabhängige Deutsche Städtetag schon seit Langem (vergeblich) fordert. Unter anderem bei der Einrichtung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit, bei der Verkehrslenkung, der Parkraumbewirtschaftung oder der Freigabe von Radspuren für schnelle E-Bikes. Das wäre sicher im Sinne des von den Liberalen schon immer vertretenen Subsidiaritätsprinzips. Das besagt, dass eine höhere staatliche Institution nur dann regulativ eingreifen sollte, wenn die Möglichkeiten des Einzelnen, einer kleineren Gruppe oder niedrigeren Hierarchie-Ebene allein nicht ausreichen, eine bestimmte Aufgabe zu lösen. „Wir wollen den Verkehr in den Städten effizienter, klimaschonender und sicherer machen. Dafür brauchen wir aber vor Ort mehr Entscheidungsspielräume“, forderte Burkhard Jung, Präsident des Deutschen Städtetages, nochmals im Juni dieses Jahres zum Thema Tempo 30. Die Kommunen könnten am besten entscheiden, welche Geschwindigkeiten in welchen Straßen angemessen seien.

Punkt 3: Transformation von Wirtschaft und Mobilität

„Mobilität ist für uns ein zentraler Baustein der Daseinsvorsorge, Voraussetzung für gleichwertige Lebensverhältnisse und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschafts- und Logistikstandorts Deutschland mit zukunftsfesten Arbeitsplätzen“, so heißt es im Koalitionsvertrag. Unter Experten ist klar, dass eine Verkehrswende immer auch die Belange der Wirtschaft und der Automobilwirtschaft im Blick haben muss. Traut man das der wirtschaftsnahen FDP zu? Ja. Und traut man ihr auch die, ebenfalls im Koalitionspapier vereinbarte Transformation zu? Im Koalitionspapier zumindest sind die Ziele gesteckt. Hier heißt es „Wir wollen die 2020er-Jahre zu einem Aufbruch in der Mobilitätspolitik nutzen und eine nachhaltige, effiziente, barrierefreie, intelligente, innovative und für alle bezahlbare Mobilität ermöglichen.“

Punkt 4: neue Technologien und Digitalisierung

Erstaunlich konkret wird der Koalitionsvertrag beim Thema Digitalisierung, ebenfalls eins der Kernthemen der FDP und als zweiter Schwerpunkt im Ministerium angesiedelt. „Für eine nahtlose Mobilität verpflichten wir Verkehrsunternehmen und Mobilitätsanbieter, ihre Echtzeitdaten unter fairen Bedingungen bereitzustellen“, heißt es dort zum Beispiel. „Anbieterübergreifende digitale Buchung und Bezahlung wollen wir ermöglichen. Den Datenraum Mobilität entwickeln wir weiter.“ Und im Folgenden: „Digitale Mobilitätsdienste, innovative Mobilitätslösungen und Carsharing werden wir unterstützen und in eine langfristige Strategie für autonomes und vernetztes Fahren öffentlicher Verkehre einbeziehen.“ Im Bahnverkehr soll „die Digitalisierung von Fahrzeugen und Strecken prioritär“ vorangetrieben werden. Kaum jemand wird bestreiten, dass digitale Systeme und Mobility as a Service Kernpunkte der künftigen Mobilität sind und Deutschland beim Thema Digitalisierung Nachholbedarf hat.

Punkt 5: Abstimmungsbedarf mit Grünem „Superministerium“

Fraglich bleibt ersten Einschätzungen nach, ob die von vielen als übergroß wahrgenommene Nähe zur Automobilindustrie so aufrechterhalten wird und ob der FDP-Minister nicht andere Prioritäten setzt – zum Beispiel im Bereich Digitalisierung. Dazu kommt die Frage, wie frei das Verkehrsministerium agieren kann mit den anspruchsvollen Vorgaben aus Brüssel und dem neu geschaffenen „Superministerium“ für Wirtschaft und Klima am Kabinettstisch, das von Robert Habeck geführt werden soll. Es soll zwar nur ein abgeschwächtes Vetorecht des Ministeriums geben, nicht zu unterschätzen sind aber die Berichtspflichten für den Verkehrssektor. Damit steht zu vermuten, dass banale Erklärungen wie „die Klimaziele sind nicht erreicht worden, weil der Verkehr insgesamt zugenommen hat“ künftig nicht mehr ausreichen werden und stattdessen ernsthaft an Alternativen und der dringend benötigten klimaneutralen Transformation im Automobil- und Verkehrssektor gearbeitet wird. Wie sich die neuen Ministerien im Einzelnen und die Regierung insgesamt positionieren, bleibt also noch abzuwarten.


Was sagen die anderen Koalitionspartner zur Verkehrspolitik des Regierungsbündnisses? Lesen Sie hier unser Interview mit Stefan Gelbhaar, MdB Bündnis 90/Die Grünen.


Über Volker Wissing

Der ehemalige FDP-Generalsekretär Volker Wissing ist Minister für Verkehr und digitale Infrastruktur. Der gebürtige Rheinland-Pfälzer bringt seit 2016 Ampel-Erfahrung aus seinem Heimatbundesland mit und gilt als einer der zentralen Architekten der Koalition. Medienberichten zufolge hat er im rot-gelb-grünen Kabinett bis Mai dieses Jahres einen respektablen Landesminister für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau sowie stellvertretenden Ministerpräsidenten abgegeben. Auf den ersten Blick deutlich spröder als sein Vorgänger Andreas Scheuer gilt der Vollblutjurist, der unter anderem als Richter am Landgericht Landau tätig war, als guter Redner, inhaltlich qualifiziert und in Unternehmerkreisen geschätzt. In ersten Äußerungen war ihm anzumerken, dass das BMVI nicht sein Wunschministerium ist. Seine Aufgabe sieht er nach eigenen Aussagen darin, das Land insgesamt wieder nach vorne zu bringen. Auf deutlichen Widerspruch stießen seine bei Amtsantritt gegenüber der Bild-Zeitung getätigten Aussagen, höhere Energiesteuern auf Dieselkraftstoffe durch geringere Kfz-Steuern auszugleichen.


Bilder: stock.adobe.com – monika pinter/EyeEm; Volker Wissing; Sedat Mehder

Interview: Stefan Gelbhaar MdB, Verkehrspolitiker bei Bündnis 90/Die Grünen
und ehemaliger Sprecher für Verkehrspolitik und Radverkehr


Herr Gelbhaar, kommt es mit der Ampelkoalition zu einer Mobilitätswende?
Eins ist klar: Die Ampelkoalition muss sich unterscheiden. Darin waren wir uns in den Koalitionsgesprächen alle einig. Und wir alle sehen die Probleme und Herausforderungen. Die Verkehrswende ist nach der Energiewende mit das wichtigste Projekt, um das wir uns kompetent und intensiv kümmern müssen. Das ist nun mit dem FDP-Verkehrsministerium in beständiger Zusammenarbeit nach vorne zu entwickeln. Einfach wird das mit so unterschiedlichen Partnern natürlich nicht – aber dass es einfach wird, hat ja auch niemand gedacht.

Inwiefern wird es Unterschiede geben zur alten Bundesregierung?
Die Ziele, die sich die Bundesregierung in den vergangenen Jahren gesetzt hat, sind nicht ansatzweise erfüllt worden. Wir haben, je nachdem, wie wir es interpretieren wollen, die letzten vier, acht oder zwölf Jahre verschenkt. Das betrifft auch, aber nicht nur den Bereich Verkehr. Es ist in den Gesprächen klar geworden, dass es nicht ausreicht, nur hier und da einen Akzent zu setzen.

Welche konkreten Ziele sehen Sie mit der Ampelkoalition in Reichweite?
Im Bereich Verkehrssicherheit sind wir beispielsweise nah beieinander, was die Zielbeschreibung Vision Zero angeht. In der Vergangenheit haben sich die Hersteller erfolgreich um die Insassensicherheit in Fahrzeugen gekümmert. Vernachlässigt wurde allerdings die Umfeldsicherheit. Da gibt es ganz viele Ansatzpunkte auf der Bundes-, aber auch auf der EU-Ebene. Was die Sicherheit angeht, ist die EU ja normalerweise Treiber. Bei Technologien wie Lkw-Abbiegeassistenten kann und sollte die Bundesregierung – auch in der EU – mehr Druck machen.

Wo sehen Sie allgemeine Schwerpunkte in der Verkehrspolitik?
Viele Punkte finden sich im Koalitionspapier. Ein wichtiges Feld, das zu bearbeiten ist, ist neben der Verkehrssicherheit und der Antriebswende die Vernetzung der Mobilität. Bei der geteilten Mobilität etwa besteht die gemeinsame Einschätzung: Das ist ein großer Baustein der künftigen Mobilität. Die Zeit ist reif, die vorhandenen Angebote viel stärker zu vernetzen. Wir müssen uns generell fragen: Was haben wir schon? Was können wir wie besser nutzen?

Was braucht es konkret?
Wir brauchen bessere rechtliche Regelungen, Zuschüsse, mehr Personal, mehr Forschungsgelder und mehr Freiheiten für die Kommunen. Wir müssen ran an das Verkehrsrecht und den Bußgeldkatalog, und wir brauchen Forschungsgelder, nicht nur, wie in der Vergangenheit, für die Belange des Autos, sondern beispielsweise auch beim ÖPNV und im Bereich Mikromobilität. Natürlich brauchen wir auch mehr Radinfrastruktur, zum Beispiel entlang von Bundesstraßen, und eigenständige Radnetze. Und ganz wichtig: Wir müssen die Kommunen befreien und empowern.

Wo liegen die Herausforderungen in den Kommunen?
Alle sind sich beispielsweise über die Probleme im Klaren mit dem zunehmenden Wirtschaftsverkehr im städtischen Raum. Dazu kommt, dass wir auch die Infrastruktur schnell anpassen müssen, wenn wir mehr Radverkehr wollen. Der Bund kann beispielsweise bei der Finanzierung von Fahrradbrücken, Radparkhäusern oder beim Aufbau von zentralisiertem Know-how helfen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Förderung und der Kompetenzaufbau bei der DB für Fahrradparkhäuser an Bahnhöfen.

Wie stehen Sie als Berliner zur Zunahme der E-Kickscooter in der Stadt?
Ich denke, E-Scooter sind in der Mobilität eine gute Ergänzung, und oft habe ich das Gefühl, dass die Debatte schief ist. Wir empfinden über 1,2 Millionen zugelassene Pkw in Berlin als normal, einige Tausend E-Scooter sind dagegen ein Aufreger. Was wir aus meiner Sicht aber brauchen, ist eine gute Evaluation, aus der wir dann gezielt Maßnahmen ableiten können.

Welche Aufgaben sehen Sie in der Bundespolitik über das Verkehrsministerium hinaus?
Wir sehen aktuell beispielsweise die Versorgungsengpässe der Fahrradindus-trie. Hier könnte es eine Aufgabe des Wirtschaftsministeriums sein, dabei zu helfen, Teile der Produktion wieder nach Deutschland oder in die EU zu holen. Auch das betriebliche Mobilitätsmanagement und das Thema Mobilitätsbudget gehören mit auf die bundespolitische Agenda. Umweltfreundliche Mobilität sollte beispielsweise nicht länger steuerlich benachteiligt werden.

Was sagen Sie Kritikern, denen es nicht schnell genug geht?
Wir haben die Wahl nicht mit 51% gewonnen. Deshalb geht es darum, immer wieder Wege und auch zufriedenstellende Kompromisse mit den Ampelpartnern zu finden. Das gehört mit zur Wirklichkeit und es ist klar, dass wir da auch einen seriösen Umgang mit Konflikten finden. Mit zur Wirklichkeit gehört aber genauso: Mobilität ist nicht statisch. Das Thema ist schon aus Klimasicht enorm wichtig. Wir sind in der Pflicht. Paris, die 1,5-Grad-Grenze gelten für diese Ampelkoalition, das müssen wir gestalten – und wir werden den künftigen Verkehrsminister dabei unterstützen, den Pfad zum Klimaschutz seriös und zügig zu beschreiten.


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Das Interview mit Stefan Gelbhaar hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im November 2021 geführt. Erschienen in Ausgabe 4/21.

Bild: Stefan Kaminski