Schafft man die Mobilitätswende, ohne Denkweisen zu verändern und Blickwinkel zu erweitern? Gastautorin Isabell Eberlein, Mitgeschäftsführerin der Berliner Agentur Velokonzept und unter anderem engagiert bei den Initiativen Changing Cities, Women in Mobility und Woman in Cycling plädiert für mehr Diversität. Tatsächlich scheinen gerade die Bereiche Verkehr und Mobilität noch stark von alten, eigentlich überkommenen Sichtweisen, Rollenbildern und Stereotypen geprägt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)
„Wo sind all die Frauen?“, fragte der Geschäftsführer des traditionsreichen Faltradherstellers Brompton, Will Butler-Adams, auf der weltweiten Fahrradleitmesse Eurobike in Friedrichshafen 2019 in einem Raum mit 200 Personen, weniger als ein Zehntel davon Frauen. „Ich sehe sie hier weder auf dem Panel noch im Publikum noch auf der Messe. Dabei repräsentieren sie die Hälfte meiner Kund*innen“. Da war es, das magische Wort: Repräsentation.
Es gibt keine aktuellen Zahlen über die Beschäftigungsquote von Frauen in der Fahrradwirtschaft. Wo man(n) auch hinblickt in der Industrie, im Handel oder bei den Dienstleistern: In den leitenden Positionen herrscht wenig Diversität. Natürlich gibt es die tollen Beispiele von Geschäftsführerinnen, Selbstständigen, Händlerinnen und Mechanikerinnen. Aber sie sind bis heute leider die Ausnahme und nicht die Regel. Richtet man den Blick über die Fahrradwirtschaft hinaus, dann sieht es ähnlich aus. Nur jedes zehnte Rathaus in Deutschland wird von einer Frau regiert. In der Fahrradwirtschaft und der Radverkehrsplanung sucht man fast ebenso vergeblich nach Frauen wie in leitenden Positionen der Zivilgesellschaft. Zwar beschäftigen NGOs und Stiftungen etwa 70 Prozent Frauen, doch nur rund 30 Prozent der Positionen in Leitungs- und Kontrollgremien sind derzeit mit Frauen besetzt, wie aus dem ersten „Fair Share“-Monitor hervorgeht. Was sind die dahinter liegenden Gründe?
Gleich sucht gleich
In einem Branchengespräch Ende November gab es mehr Männer mit Vornamen Frank auf dem Podium als Frauen – trotzdem wurde das Thema Diversität und vor allem der Fachkräftemangel heiß diskutiert. Die Fahrradbranche zeichnet beispielsweise gerne ein Bild von sich selbst als Traumarbeitgeber für alle Rad- und Sportbegeisterten und witzelt darüber, dass man sich um gute Köpfe zwar bemühen muss, aber es viele gibt, die im Fahrrad ihre Passion und ihren Purpose sehen. Das Problem hierbei ist aber: Menschen umgeben sich gerne mit ihresgleichen, weil es auf den ersten Blick weniger konfliktär erscheinen mag. Dafür schwebt man in der gleichen Blase: gleiche Prägung, Vorstellung und Einstellung. Sexismus gibt es nicht bei uns, sagt der Aufsichtsrat. Wie ist der besetzt? Akademisch, männlich, weiß, mittleren Alters.
Diversität als Prozess
Diversity-Management für Unternehmen beinhaltet nach der „Charta der Vielfalt“ (charta-der-vielfalt.de) einen fünfstufigen Prozess:
1) Wie und wo liegt der Nutzen von Diversität in der Organisation im Hinblick auf Nutzerinnen, Kundschaft oder Geschäftspartnerinnen?
2) Als Nächstes muss die Ausgangssituation analysiert und auch geprüft werden, ob bereits Maßnahmen unbewusst durchgeführt werden.
3) Im folgenden Schritt muss Diversität im Unternehmen umgesetzt werden. Dazu müssen sich die Umsetzungsdauer und Wirkung sowie etwaige Risiken bewusst gemacht werden.
4) Die tatsächliche Umsetzung und
5) die Messbarkeit von Erfolg.
Vielfalt: der nicht gehobene Schatz
Wenn der Fahrradsektor nur die Stimmen der Menschen hört, die sowieso schon Fahrrad fahren, ist er auf mindestens einem Auge blind. Roger Geller (Bicycle Coordinator, Portland Office of Transportation) unterscheidet nämlich vier Typen des Radfahrens: 0,5 % „Kampfradlerinnen“ (die überall und immer fahren), 6,5% überzeugte Radfahrerinnen und 33 %, die niemals unter irgendwelchen Umständen zum Radfahren zu bewegen seien. Die große Masse mit 60% würde dagegen mit der passenden Infrastruktur und den passenden Produkten Rad fahren. Tatsächlich erlebt das Fahrrad seit 2020 einen nie da gewesenen Boom und viele neue Zielgruppen entdecken es als pandemieresilientes Verkehrsmittel. Gleichzeitig werden viele potenzielle Adressatinnen außer Acht gelassen, an die das Fahrrad bisher nicht herankommt. Um diverse Zielgruppen wie beispielsweise post-migrantische Milieus zu erreichen, braucht es Vorbilder und vielleicht auch neue Wege der Kommunikation. Denn das Fahrrad ist noch längst nicht in allen Teilen der Gesellschaft als vollwertiges Verkehrsmittel anerkannt. An einer Schule in Berlin-Neukölln fand zum Beispiel vor rund einem Jahr eine Projektwoche zum Thema Fahrradmobilität statt. Zum ersten Mal seit Kindheitstagen mit dem Fahrrad konfrontiert, war der Eindruck der Jugendlichen wenig divers. Fahrradfahren sei körperlich viel zu anstrengend, dabei gleichzeitig zu langsam und vor allem aber peinlich! Wie erreicht man eine solche Gruppe, die die Radfahrerinnen der Zukunft sind oder sein sollen? Wohl, indem man sie direkt fragt und mit an den Tisch holt, Influencer aus ihren Bereichen wirbt und Personen identifiziert, die dieses Bild aufbrechen können. Denn Diversität bezieht sich nicht nur auf das Geschlecht, sondern auch auf Alter, Hintergrund, sozialen Status, Religion und körperliche Fähigkeiten.
Repräsentation: Wie denken wir alle mit?
Die Autorin Caroline Criado-Perez beschreibt in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“, wie sehr die bebaute Umwelt am „Standardfaktor Mann“ orientiert ist. Vom Anschnallgurt über Crashtest-Dummys bei Autounfällen bis zur Frage, welche Wege zuerst von Schnee und Eis befreit werden. Die meisten Glätte-Unfälle passieren übrigens auf Fuß- und Radwegen, die im Allgemeinen mehr von Frauen genutzt werden. Wir müssen also die Repräsentation von Diversität, die Beteiligung unterschiedlicher Zielgruppen und deren Bedürfnisse an allen Stellen, die das Radfahren betreffen, berücksichtigen. Angefangen von der bebauten Umwelt, die ein anderes Verhalten durch sichere, zugängliche und durchgängige Infrastruktur überhaupt erst ermöglicht, über eine Mobilitätskultur, die das Fahrradfahren als gleichwertiges und normales Verkehrsmittel für alle wahrnimmt, bis hin zu Design- und Entwicklungsprozessen von Produkten, die maßgeblich die spätere Nutzbarkeit und Zugänglichkeit gestatten.
Wenn sich die Menschen nicht in den Produkten und Kampagnen wiedererkennen, dann kaufen oder nutzen sie diese auch nicht. Dabei gilt es noch einmal deutlich festzuhalten, dass Diversität über die faire Repräsentation von Frauen hinausgeht und die Vielfalt in Alter, Herkunft, sozialem Status und religiöser Weltanschauung beinhaltet. Diese müssen auch in den unterschiedlichen Positionen repräsentiert sein. Dafür ist die „Mobility of Care“ ein gutes Beispiel. Bisher sind es zu einem Großteil Frauen, die die Pflegearbeit von Kindern und älteren Menschen erledigen. Doch dieses Bild bricht langsam auf und Lebensmodelle werden fließender. Deswegen hier noch mal der Warnhinweis: Frauen und Männer mit dem gleichen akademischen Hintergrund sind noch keine diverse Gruppe und Organisationen müssen sich immer wieder kritisch hinterfragen, ob sie für unterschiedliche Lebensentwürfe Möglichkeiten vorhalten. Was tun? Zunächst einmal sollte das Thema Diversität ernst genommen und nicht als nettes Zusatzthema betrachtet werden. Eine Studie von Boston Consulting aus dem Jahr 2017 belegt, dass diversere Teams 20 Prozent mehr Umsatz erwirtschaften. Dabei geht die Studie nicht nur auf das Zahlenverhältnis zwischen Frauen und Männern ein, sondern zeigt, dass auch die Repräsentation auf verschiedenen Ebenen dazu passen muss. Diversität bezieht sich gleichzeitig auf mehr als nur Gleichberechtigung der Geschlechter und darüber hinaus auch auf Vielfalt im Denken und im Handeln.
Wenig diverse Vorbilder
Es ist an der Zeit zu verstehen, dass Diversität elementar für die Zukunft des Fahrrads und des Radverkehrs ist. Das Fahrrad ist ein leicht zugängliches Verkehrsmittel. Mit der notwendigen Infrastruktur, die allen ein sicheres Fahrradfahren ermöglicht, geht auch eine neue Mobilitätskultur einher. Zählen Sie einmal, wie viele Frauen mit Kopftuch Sie heute schon auf dem Fahrrad gesehen haben. Oder wie viele Personen in Businesskleidung? Oder welche Personen ihr online bestelltes Essen liefern. Durch Werbung, Bilder und Sprache prägt die Industrie einen Lifestyle, aber wer ist auf den Fotos abgebildet und in welcher Situation? Kürzlich entbrannte zum Beispiel eine Diskussion in den sozialen Medien zur Verleihung des Preises „Fahrradfreundlichste Persönlichkeit 2021“, die zum siebten Mal in Folge an einen Mann verliehen wird. Aufsehen erregte zudem, dass der diesjährige Preisträger Dr. Eckhart von Hirschhausen in sportlichem, neonfarbenem Lycra abgebildet wurde, was deutlich eine Freizeit- statt einer Alltagsnutzung des Fahrrads darstellt. In den vergangen 19 Jahren, in denen der Deutsche Fahrradpreis verliehen wurde, ergibt sich eine Quote von 15 Männern gegenüber 4 Frauen, darunter keine Person mit Migrationshintergrund oder körperlichen Einschränkungen. Die Debatte zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur einen Typus als Radfahrenden abzubilden, sondern abzuwechseln, sodass sich alle angesprochen fühlen.
Wenn das Fahrrad ein Verkehrsmittel für alle ist, dann müssen unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen auch mitreden. Wie kann der Fahrradsektor also diverser werden? Wichtig ist, diesen Prozess der Diversifizierung anzugehen, sich und das eigene Unternehmen oder die eigene Organisation zu hinterfragen und unangenehmen Gesprächen nicht aus dem Weg zu gehen. Hier gilt es klarzustellen, dass Diversität nicht bedeutet, unterschiedliche Personen mit unterschiedlichen Backgrounds auf Fotos abzubilden und so in eine Art Diversity-washing zu verfallen. Es geht vor allem darum, Diversität aktiv zu fördern!
Neu: Women in Cycling
Es gibt bereits sehr erfolgreiche Netzwerke zur Vernetzung von Frauen, darunter „Women in Mobility“, die kürzlich beim Deutschen Mobilitätspreis 2020 mit einem Sonderpreis ausgezeichnet wurden, oder „Women in Transport“ auf europäischer Ebene, die das Thema Vernetzung im Mobilitätsbereich über die Verkehrsmittel hinaus erfolgreich vorangetrieben haben. „Frauen im Fahrradsektor müssen sichtbarer werden, sodass keiner mehr fragen muss, wo sind die Frauen“, sagt Lauha Fried der Vereinigung Cycling Industries Europe. „Sie müssen repräsentiert sein auf Panels, in Magazinen, Berichten, Kongressen, Messen und Fachveranstaltungen in ihren unterschiedlichen Positionen.“ Deswegen gründeten Cycling Indus-tries Europe, die European Cyclist Federation, die niederländische Beratungsfirma Mobycon und die Berliner Agentur Velokonzept das Netzwerk „Women in Cycling“, das den ganzen Fahrradsektor umschließt, also Industrie, Handel, Infrastrukturplanung, Forschung, aber auch NGOs, Medien und den Sport inkludiert. Die Vision des Netzwerks ist ein diverserer und inklusiverer Fahrradsektor, der faire und gleiche Möglichkeiten für alle schafft und somit auch das volle Potenzial des Fahrrads ausschöpft. „Women in Cycling“ schafft eine Plattform, um sich zuerst untereinander in den eigenen Bereichen und über die Altersgrenzen hinweg zu vernetzen, und fördert eine stärkere Präsenz von Frauen in Beiräten, Entscheidungsgremien, auf Podien und in den Medien als Expertinnen.
Die Chance der Zusammenarbeit mit Akteurinnen aus anderen Bereichen über Wettbewerbsgrenzen hinweg ist ein wichtiges Werkzeug, um die gesellschaftliche Bedeutung des Fahrrads zu fördern. Mit einem Expertise-Portal schafft das Netzwerk
ein öffentlich zugängliches Tool, an dem alle Kuratorinnen und Organisatorinnen die passenden Expertinnen auswählen können. Damit sollten „All-male-Panels“ im Fahrradsektor ab jetzt der Geschichte angehören. Außerdem plant das Netzwerk, durch Mentoring und Leadership- Skills-Programme den Nachwuchs zu fördern. Durch Netzwerk, Förderung und Repräsentation zielt Women in Cycling letztendlich stark auf systemische Veränderungen ab. Zuletzt bleibt nur noch zu sagen, dass ein diverser Sektor allen zugutekommt, aber es auch eine Aufgabe aller ist, diesen Wandel zu beschreiten. Das heißt, wir können uns alle selbst fragen, welche repräsentativen Aufgaben wir vielleicht mal abgeben können, wie wir unser Umfeld bestärken und so gemeinsam den Fahrradsektor voranbringen.
Isabell Eberlein
ist Fahrrad- und Mobilitätsexpertin und berät als Teil der Berliner Agentur Velokonzept unter dem Namen „Okapi“ Unternehmen und öffentliche Verwaltungen mit Blick auf ein zukunftsfähiges Mobilitätsmanagement. Zudem engagiert sie sich im Verein Changing Cities, bei Women in Mobility und im neu gegründeten Netzwerk Woman in Cycling.
Bilder: VELOBerlin, Sebastian Doerken, Deutscher Fahrradpreis / Hirschhausens Quiz des Menschen XXL