Im Mai letzten Jahres haben wir mit dem Experten für strategische Personalarbeit im öffentlichen Sektor Rolf Dindorf ein Interview zum Thema Mitarbeitergewinnung geführt. Denn überall in den öffentlichen Verwaltungen fehlt Personal. Sein Credo: Kommunalverwaltungen müssen mit einem strategischen Personalmanagement langfristig gezielt planen. In seinem aktuellen Gastbeitrag geht es nun um das wichtige Thema Mitarbeiterbindung – vom „Onboarding“ neuen Personals bis zum Thema „Arbeit mit 67“. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


In Zeiten von Fachkräftemangel und demografischem Wandel gewinnt die Mitarbeiterbindung in den Kommunen deutlich an Bedeutung. In den nächsten zehn Jahren scheiden etwa 30 Prozent der kommunalen Bediensteten aufgrund ihres Alters aus dem Dienst. Aktuell werden Angaben des dbb Beamtenbundes zufolge in den Kommunalverwaltungen etwa 145.000 Mitarbeitende gesucht. Da der Wettbewerb um Fachkräfte auf dem Markt enorm ist, gilt es stark umworbenes Personal wie z.B. Bauingenieure zu halten. Neben der Personalgewinnung wird somit auch das Binden von Beschäftigten ein zentraler Bestandteil der Personalstrategie.

29,4 %

Rund ein Drittel der Mitarbeitenden
in den Kommunalverwaltungen
scheidet in den nächsten zehn Jahren aus.

Warum das Thema Personalbindung von Bedeutung ist

„Land unter“ wird es in den nächsten Jahren verstärkt in Kommunalverwaltungen heißen. Fachkräftemangel in Bereichen wie Radverkehrsplanung, Kindergarten, Pflege, Landschaftsarchitektur, IT usw. führen zu hoher Arbeitsbelastung, schlechter Stimmung, schleppenden Planungs- und Prüfungsprozessen, unzufriedenen Bürgerin-nen und Fluktuation in den Rathäusern. Auch die Verkehrswende kommt nur langsam voran. Sorgenfalten erzeugen schon heute die Planung und der Bau von Qualitätsradwegen und zusammenhängenden Radwegenetzen. Die Personallage in den Ländern und Kommunen wird sich durch veränderte Mobilitätskonzepte noch verschärfen. Die Zahl der Neueinstellungen wird rapide steigen. Gleichzeitig reicht die Zahl der Berufsanfän-gerinnen nicht, damit der Nachfrage Rechnung getragen werden kann. Häufig unterschätzt wird in den Verwaltungsspitzen der wachsende Wettbewerb um Mitarbeitende innerhalb des öffentlichen Sektors. Wer sich frühzeitig auf die Entwicklung einstellt und geeignete Bindungsmaßnahmen einleitet, wird sich beim Kampf um die besten Köpfe auf der Gewinnerseite wiederfinden. Weiterhin lohnt sich die Mitarbeiterbindung auch aus wirtschaftlicher Perspektive: Wenn weniger Mitarbeitende wechseln, entfallen die Kosten für Personalgewinnung und Einarbeitung. Führungskräfte müssen seltener Bewerbungsgespräche führen und Mitarbeitende weniger Zeit für aufwendige Einarbeitungsprozesse aufbringen. Auch die Einschaltung eines Headhunters – über die Kommunen zunehmend nachdenken – entfällt.

Totengräberstimmung beim Arbeitgeberimage?

Ein attraktives Arbeitgeberimage als Teil einer Personalstrategie fällt nicht vom Himmel. Es erfordert einen Marathon aus Fleiß, Disziplin, Strategie, Innovation, Geld und Willen seitens der Verwaltungsleitung. Das Angebot an attraktiven Ausbildungsplätzen ist eine Möglichkeit, sein Arbeitgeber-image aufzuwerten. Doch für ein solches Angebot muss auch systematisch geworben werden. Nicht jeder Jugendliche (und deren Eltern) kennt die angebotenen Jobs wie beispielsweise Fachkraft für Straßen- und Verkehrstechnik. Positives Beispiel: Gelsenkirchen. Die Stadt wirbt unter anderem auf Instagram mit einer attraktiven Personalgewinnungskampagne.
Klappern gehört zum Handwerk, haben sich mehrere deutsche Städte gesagt. Unter dem Dach der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. (FGSV) wurde der Animationsfilm „Das Berufsbild als BauingenieurIn oder VerkehrsingenieurIn in der kommunalen Bauverwaltung“ produziert (Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=ZkxECFxKS5g). Illustriert wird die Vielseitigkeit der Aufgaben im Umfeld von kommunaler Mobilität, Verkehrsplanung und Straßenbau.

Woher nehmen? Deutschlandweit herrscht in den kommenden Jahren ein hoher Mangel an Fachkräften. Alarmierend sind die Zahlen für den öffentlichen Sektor. Mitarbeitergewinnung und -bindung kann man deshalb gar nicht hoch genug einschätzen.

Mitarbeiterbindung – 10 praxisorientierte Lösungen

Wie lässt sich eine verbesserte Mitarbeiterbindung in Landes- und Kommunalbehörden erreichen? Auf der Höhe der Zeit agieren Verwaltungsspitzen mit einer ausgefeilten Personalstrategie, die sowohl Personalgewinnungsstrategien als auch Mitarbeiterbindungslösungen umfasst.
Erfahrungsgemäß haben sich folgende Ansätze bei der Personalbindung bewährt:

  1. Statt Vogel-Strauß-Politik gilt es Ursachenforschung in den Rathäusern und Landesämtern zu betreiben. Warum verlassen uns qualifizierte Mitarbeitende? Was haben wir falsch gemacht? Wo können wir uns verbessern? Das verlangt eine systematische Analyse und konsequente Umsetzung der Schlussfolgerungen.
  2. Jede öffentliche Verwaltung muss eine glaubhafte Mission besitzen. „Egal, wie sehr die Welt sich verändert, die Menschen haben immer noch das elementare Bedürfnis, ein Teil von etwas zu sein, auf das sie stolz sein können. Sie haben ein elementares Bedürfnis nach Leitwerten und Zielen, die ihrem Leben und ihrer Arbeit Sinn geben.“ (Prof. Peter Drucker: Die fünf entscheidenden Fragen des Managements. Weinheim 2009. S.51.) Gerade in der immer komplexeren Arbeitswelt suchen Beschäftigte nach Sinn in der Arbeit. Punkten Sie daher mit einer Mission und sinnstiftenden Führungskultur. Das untermauert die Mitarbeiterbindung.
  3. Setzen Sie eine Duftnote beim Bewerbungsprozess. Eine effiziente Mitarbeiterbindung beginnt schon mit dem Bewerbungsprozess. Im Vorfeld der Einstellung sollte geprüft werden, ob der oder die Bewerbende zur Kreisverwaltung passt. Hat derjenige etwa zu hohe Erwartungen oder gänzlich andere Bedürfnisse, stimmt die Passung zwischen Dienstherr und Bewerbendem nicht. Demotivation oder Kündigung sind absehbar.
  4. „Am ersten Tag gab es keinen Schreibtisch und Stuhl für mich.“ Ein geschickter Schachzug liegt im richtigen Einarbeiten (Onboarding) neuer Mitarbeitender. Die Erfahrung zeigt, dass hier noch viel Luft nach oben liegt. Personalgewinnung endet nicht mit der Zusage. Der Prozess umfasst ein umfassendes Onboarding-Programm. Ein effektiver Einarbeitungsprozess (gerade auch in Zeiten von Corona) trägt deutlich zur Mitarbeiterbindung bei.
  5. Ein wesentlicher Bestandteil der Roadmap zur erfolgreichen Mitarbeiterbindung ist ein modernes Arbeitsumfeld. Manche Amtsräume verströmen den Charme der 80er-Jahre. Die Arbeitsplätze (technische Ausstattung) und Raumkonzepte sind digital, flexibel und teamorientiert umzugestalten. Damit die moderne Arbeitsweise in der kommunalen Bauverwaltung gelingt, bedarf es auch der steten (!) technologischen IT-Ausstattung. Eine technische Frischzellenkur – nicht nur in den Gesundheitsämtern – ist zwingend erforderlich. Dabei gilt es gedanklich einen Grundpfeiler einzurammen: Die digitale Transformation einer wissensbasierten Verwaltung erfordert ein regelmäßiges Update der digitalen Infrastruktur. Entsprechendes muss im Haushaltsplan berücksichtigt werden.
  6. Greifen Sie durch: Zeigen Sie individuelle Entwicklungsmöglichkeiten auf. Fehlende Karriere- und Weiterbildungsmöglichkeiten führen zur Frus-tration. Eine Fachlaufbahn ohne Personalverantwortung ist ein weiteres Beispiel für Mitarbeiterbindung. Die hybride Arbeitswelt braucht digitale Kompetenzen. Was versteht man unter digitalen Kompetenzen? Etwa die Umwandlung eines Word-Dokumentes in ein PDF? Oder doch mehr? Wer verfügt über welche digitalen Kompetenzen in welchem Umfange (Stichwort: strategischer Fort- und Weiterbildungsplan)? Sind die Ausbildungsinhalte noch zeitgemäß? Deutlich wird, dass man nicht am falschen Ende sparen darf. Investitionen in die Fort- und Weiterbildung der Führungskräfte und Mitarbeitenden (strategische Kompetenzen, Medienkompetenz, Selbstmanagement, Eigenverantwortung, hybrides und agiles Führen, Informations- und Datenkompetenz, Veränderungsbereitschaft, Problemlösungskompetenzen, Vertrauen) sind zwingend über Jahre erforderlich, damit die nötige Breitenwirkung erzielt wird. Ergänzend müssen Verwaltungsspitzen über Anreize nachdenken, wie sich die Beschäftigten in den Amtsstuben für ein digitales Mindset öffnen.
  7. Verfolgt man die Diskussion um den Fachkräftemangel im öffentlichen Sektor, geht es rasch darum, wie sich (junge) Fachkräfte der Generation Z gewinnen lassen. Wo bleibt die Generation Silberhaar? Wer „Arbeiten bis 67“ beschließt, muss auch entsprechende Anstellungsangebote machen. Lippenbekenntnisse allein reichen da nicht. Beim Blick auf die demografische Entwicklung wird klar, dass die Generation Z nicht reichen wird, die Lücken der Babyboomer in der öffentlichen und privaten Wirtschaft zu schließen. Die strategische Personalentwicklung im öffentlichen Dienst wird sich daher verstärkt der Generation 50plus zuwenden müssen. „Jung schlägt Alt“ ist immer noch in den Köpfen zahlreicher Führungskräfte auf der Kommandobrücke des öffentlichen Dienstes. Dabei hat ein 50-jähriger Radverkehrsplaner noch 17 Jahre zu arbeiten. „Jung und Erfahren – Hand in Hand“ lautet die zukunftsorientierte Zusammenarbeit zur Steigerung der Produktivität, Vermeidung von Fehlzeiten und zum Erhalt wertvollen Erfahrungswissens. Doch wie gelingt der erfolgreiche Schulterschluss zwischen der Generation Z und den Babyboomern? Die Praxis zeigt: Durch kombinierte Teams aus Jung und Erfahren steigern Sie Ihre Produktivität und Mitarbeiterbindung. Durch die Verknüpfung unterschiedlicher Stärken und Kompetenzen in altersgemischten Teams nutzen Sie die vorhandenen Potenziale der Mitarbeitenden optimal. Die Mitarbeitermotivation wächst.
  8. Transparenz, Mitbestimmung und mehr Eigenverantwortung fordern die Mitarbeitenden auch im öffentlichen Dienst. Es sind keineswegs nur die jüngeren Verwaltungsangestellten der Generation Z, die so denken. Die wachsenden Ansprüche an den Arbeitgeber sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Wer Mitarbeiterbindung ernsthaft angehen möchte, kommt um ein Hinterfragen der Verwaltungskultur nicht herum. Sicherheit allein ist für (hoch) qualifizierte Fachkräfte wie Bauingenieurinnen oder IT-Spezia-listinnen kein ausreichender Grund zu bleiben. Ansätze agiler Verwaltungskultur einschließlich agiler Werte sind ein Weg zur Steigerung der Personalbindung. Agile Methoden (u.a. Kanban, Design Thinking, Daily Stand-up Meetings), Führen auf Augenhöhe, sinnorientierte Tätigkeit, Innovation, individuelle Fortbildung oder Projektarbeit sind hier nur einige Schlagworte des Wertewandels der wissensorientierten Beschäftigten. Der Aufbruch in die Zukunft einer modernen Verwaltung erfordert Mitarbeitende in den (Bau-)Ämtern mit digitalen, beruflichen und fachübergreifenden Kompetenzen (Soft Skills) und Einstellungen (Mindset). Damit aus der agilen Verwaltung kein Strohfeuer wird, braucht es eine strategische und nachhaltige Personalentwicklung. Es reicht nicht mehr, nur Fortbildungskataloge vorzulegen.
  9. Machen Sie Ihre Führungskräfte fit, damit die Köpfe und Herzen Ihrer Mitarbeitenden erreicht werden. Die beste Form von Führung lässt sich nur durch ein stets aktuell gehaltenes Führungskräfteentwicklungsmodell erreichen. Sie erkennen beispielsweise Chancen und Nutzen digitaler Angebote. Daher agieren Führungskräfte als Vorbilder digitaler Anwendungen (Register, Datenbanken, E-Akte usw.). Oder wie formulierte es Reinhold Messner treffend: „Es fehlt an Visionen. Wir brauchen keine neuen Religionen und Sekten, wir brauchen starke Persönlichkeiten, die zeitbezogene Lebenshaltungen verbreiten können, weil sie sie selbst verkörpern, vorleben.“ (Reinhold Messner: Berge versetzen. 2010. S. 234.)
  10. Bazooka Homeoffice: Erkenntnisse aus der Krise aufarbeiten. Zum Lackmustest wird die Zeit nach der Pandemie. Was bleibt davon (Homeoffice und mobiler Arbeit) übrig? Wie wird es weiterentwickelt? Mitarbeitende setzen auf Verlässlichkeit. Systematisch gilt es eine teilweise durch Zufall entstandene Führungs- und Arbeitskultur in den Regelbetrieb zu transformieren. Dazu bieten sich Dienstvereinbarungen wie in Speyer (Dienstvereinbarung zur Modernisierung und Digitalisierung in der Stadtverwaltung Speyer) an.

Fazit: In Mitarbeiterbindung investieren lohnt sich!

Wer es noch nicht getan hat, sollte spätestens jetzt damit anfangen: Die Mitarbeiterbindung in den personalpolitischen Fokus nehmen. Es gilt eine Kultur der Personalbindung in den Verwaltungen zu etablieren. Je länger jetzt noch gewartet wird, desto härter wird der Fachkräftemangel die einzelnen Behörden treffen.



Rolf Dindorf

unterstützt den öffentlichen Dienst und angelehnte Dienstleistungsbranchen seit über 15 Jahren bei der strategischen Personalarbeit. Er kennt die aktuellen Herausforderungen und Rahmenbedingungen öffentlicher Organisationen und weiß, wie die Führungskräfte und Mitarbeitenden ticken. Er kämpft dafür, Personal so wichtig wie Finanzen zu sehen.
Praxisnah und mit einer übergreifenden, ganzheitlichenPerspektive hilft er öffentlichen Einrichtungen, strategisches Personalmanagement neu zu denken. Themenschwerpunkte unter anderem: agile Verwaltung, digitales Führen und mobiles Arbeiten, demografischer Wandel sowie sinnstiftende Unternehmenskultur.

Mehr Informationen unter rolf-dindorf.de


Bilder: Bild: stock.adobe.com – Andrey Popov, dbb 2021

Auf Fachkongressen, wie der Velocity-Konferenz, und in den sozialen Medien wird immer wieder auf den Sprachgebrauch „pro Auto“ hingewiesen, der uns seit Jahrzehnten prägt. Unser Gastautor Dr. Dirk von Schneidemesser ist Sozial- und Politikwissenschaftler am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam und hat sich eingehend mit den Hintergründen befasst. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Wie unsere Sprache der Mobilitätswende im Weg steht – und was wir sagen können, um die Stadt vorwärtszubringen.

Wir haben das Auto stets im Kopf

Die Sprache prägt die Stadt. Unsere Wortwahl kann Handlungsoptionen für Mobilität ermöglichen oder ausschließen. Wie stark wir uns über unsere Mobilitätskultur identifizieren, zeigt sich ebenfalls in unseren Formulierungen. Wir wollen zum Beispiel wissen, wo jemand sein Auto abgestellt hat, und sagen: „Ich stehe da drüben, wo stehst du?“ Wir meinen unsere Fahrzeuge, sagen aber „ich“ und „du“. Auch wenn wir Wörter wie „Radschnellweg“ lesen, wundern wir uns manchmal – und erst, wenn jemand „Fahrradautobahn“ sagt, macht es Klick. Dass es auf einem Radschnellweg nun wirklich keine Autos geben sollte, spielt dabei keine Rolle.
Wir haben das Auto im Kopf und kommen an Begrifflichkeiten, die ihren Einfluss auf unser Denken verraten, nicht vorbei. Ein „Parkhaus“ ist nicht ein Haus voller Parks, sondern ein Haus voller Autos. „Parkdruck“ entsteht nicht, wenn Parks zu voll sind, sondern ist eine Rechtfertigung dafür, dass der öffentliche Raum von der Allgemeinheit für kaum etwas, außer dem Lagern privater Autos genutzt werden kann. Was genau „Parkdruck“ sei und wie man ihn ermittele, fragte neulich eine Stadtverordnete den Frankfurter Magistrat per offizieller Anfrage. Auf die Antwort bin ich gespannt.
Die Autofixierung der Sprache ist keineswegs ein rein deutsches Phänomen. Der Historiker Peter Norton beschreibt beispielsweise, wie in den USA der Begriff „Jaywalking“ (etwa: unachtsames Überqueren einer Straße) von einem Schimpfwort zu einer juristischen Kategorie wurde, um die Bestrafung von Menschen zu ermöglichen, die sich, wie es früher noch üblicher war, auf der Straße aufhielten. Dieses Verhalten wurde erst mit dem Aufkommen des Autoverkehrs zum Problem. Dass die Straße heute als Domäne des Autos wahrgenommen wird, ist auf eine konzertierte Aktion der Autolobby in den USA zurückzuführen. Dort änderte sich die Wahrnehmung des Begriffs „Straße“ in den 1920er-Jahren – mit finanziellen Mitteln der Autoindustrie – von einem Ort, wo alles Mögliche passiert, hin zu einem Ort, wo der Autoverkehr zu fließen hat. Das haben wir in Deutschland dann in den 1950er-Jahren übernommen. Nun sprechen wir vom „Verkehr“ oder „Verkehrsfluss“, meinen dabei aber nur den Autoverkehr.

Okay, die Sprache ist wichtig. Aber was kann ich tun?

Wie können wir „die Sprache“ im Dienste der Stadt oder der Mobilitätswende einsetzen? Ein erster Schritt ist die Erkenntnis, dass wir über Handlungsmacht verfügen. Wir sind die Nutzerinnen und Nutzer von Sprache, es ist unsere Sprache. Im ersten Satz dieses Artikels schrieb ich: „Die Sprache prägt die Stadt.“ Fühlten Sie sich angesprochen? Handlungsmächtig? Oder waren Sie nur Beobachter*in? Wie würde sich Ihr Gefühl ändern, wenn der Satz anders lautete „Unsere Sprache prägt die Stadt“? Da sind Sie dann mit angesprochen und tragen eine Mitverantwortung für unsere Sprache, ob Sie es wollen oder nicht. Und somit tragen Sie auch Verantwortung für unsere Städte und unser Mobilitätsverhalten. „Die Sprache“ ist ein passives Phänomen – etwas, das einfach nur da ist. „Unsere Sprache“ hingegen wird von jemandem geformt: von uns. Für unsere Sprache tragen wir die Verantwortung, wir haben Handlungsmacht.

Sprache bestimmt das Bewusstsein stärker, als wir denken. Besser: „Kollision“ statt „Unfall“ oder „Autofahrerin erfasst Radfahrerin“, statt „Radfahrerin erfasst“.

Wahrnehmung von Verkehrsgewalt und Schuld

Bei Unfällen haben wir ein ähnliches Problem mit der Zuweisung von Verantwortung. Lesen wir in der Zeitung „Radfahrerin von Auto erfasst“, dann ist es schwierig, dem Auto die Schuld zuzuweisen. Ein Auto ist ein Gegenstand. Es besitzt keine Handlungsmacht, es kann keine Verantwortung tragen. Da bleibt uns nichts anders übrig, als der einzigen handlungsmächtigen Person in dem Satz die Schuld zuzuweisen: die Radfahrerin. Das passiert auf subtile Art und Weise. Es ist weder böse Absicht der Leserin noch der Verfasserin des Satzes. Aber es beeinflusst unsere Wahrnehmung, denn wenn die Radfahrerin an der Kollision schuld ist, können wir einfach weitermachen, ohne etwas zu ändern. Kollisionen passieren nun mal. Oder?
Die objektbasierte Sprache führt dazu, dass wir als Leserinnen und Leser die Schuld eher der Radfahrerin zuschreiben. Von einem Auto zu sprechen, das irgendetwas macht, verleugnet die Rolle des Autofahrenden. Noch extremer wird es, wenn eine Handelnde komplett weggelassen wird, so wie in „Radfahrerin erfasst“. Wird aber in dem Satz klar, dass es ein Mensch ist und nicht ein Gegenstand, der etwas tut, so haben wir als Leserinnen und Leser erst überhaupt die Option, einer Instanz die Schuld zuzuschreiben, die auch in der Lage ist, dafür Verantwortung zu tragen. Der Satz wäre dann so: „Radfahrerin von Autofahrerin erfasst.“
Wir verbessern uns weiter und eliminieren nach und nach unbewusste Mechanismen der Schuldzuweisung. Aber in der letzten Version unseres Satzes ist immer noch ein wichtiges Element des Schuldzuschreibens: der Fokus. Ungeschützte Verkehrsteil-nehmerinnen werden oft zum Fokus bzw. zum Subjekt des Satzes gemacht. In unserem Beispielsatz geht es um die Radfahrerin, sie ist die Hauptperson des Satzes. Als Leserinnen neigen wir dazu, der im Fokus stehenden Hauptperson – dem Subjekt – eines Satzes die Schuld zuzuschreiben, egal was sonst die Umstände hergeben. Wir sollten aber versuchen, die Handlungsmächtigen und nicht die Opfer als Subjekt darzustellen. Subjekte handeln, Objekte sind von der Handlung betroffen. Um das noch klarer darzustellen, formulieren wir unseren Satz um in: „Autofahrerin erfasst Radfahrerin.“
So haben wir einen Satz, der die Schuld viel weniger beim Opfer sucht. Das wiederum hat einen erheblichen Einfluss auf unsere Befürwortung oder Ablehnung von Stadtgestaltungsmaßnahmen wie Tempolimits oder die Umwidmung von Autoflächen zu Rad- oder Gehflächen.

3.000

Menschen werden auch dieses Jahr
wieder im Straßenverkehr getötet,
wenn sich der Trend fortsetzt.

ADFC: Unfallverursacher nicht unsichtbar machen

Anlässlich des Verkehrssicherheitstags am 19.06.2021 hat der Fahrradclub ADFC einen eindringlichen Appell an die Pressestellen der Polizei gerichtet: Unfallberichterstatter schilderten Kollisionen häufig so, als ob die Person auf dem Rad einen Fehler gemacht habe. Dieser Blickwinkel verzerre fast immer die Unfallrealität und vergifte die öffentliche Wahrnehmung des Radverkehrs. Der ADFC kritisierte dazu unter anderem „einen besonders krassen Fall der Schuldumkehr und Verschleierung der handelnden Person im Auto“. Eine westfälische Tageszeitung hatte einen Unfallbericht mit der Schlagzeile „Radfahrerin kracht ohne Helm gegen Auto“ übertitelt. In Wirklichkeit aber hatte der Autofahrer der Radfahrerin an einer Einmündung die Vorfahrt genommen und sie angefahren. Auch das Thema Helm sei laut einem BGH-Urteil für die Schuldfrage irrelevant und habe deshalb in der Headline nichts zu suchen.

Verkehrsgewalt beim Namen nennen

Um sich von dem Auto im Kopf zu befreien, können weitere sprachliche Mittel helfen. Wenn Sie nicht „erfasst“ sagen, sondern „fährt an“ oder „rammt“, dann wird die Schwere der Krise deutlicher. „Autofahrerin fährt Radfahrerin an.“ Das wollen wir ja alle verhindern, da müssen wir aktiv werden, wenn das alltägliche Praxis ist, anders als bei dem Vorfall „Radfahrerin erfasst“.
Auch das Wort „Unfall“ erscheint mir fehl am Platz, wenn wir Verkehrsgewalt auf der Straße beschreiben wollen. „Unfälle“ sind überraschend und isoliert. Wir können aber erwarten, dass wir in diesem Jahr mehrere Millionen Kollisionen im Straßenverkehr haben werden. Dies wird für hunderttausende Menschen schwere physische und psychische Verletzungen bedeuten. Es werden zudem in diesem Jahr in Deutschland etwa 3.000 Menschen durch Verkehrsgewalt getötet werden, wenn sich der Trend der letzten Jahre fortsetzt. Überraschend oder isoliert scheinen diese Vorfälle nicht zu sein. Vor diesem Hintergrund reden wir besser von Kollisionen und Verkehrsgewalt, nicht von „Unfällen“.

Nur das Auto ist vollwertig, alles andere ist „Gedöns“

Die Infrastruktur, auf der Radfahrende unterwegs sind, wird „Radwege“ genannt und nur wer sich tief in Verwaltungsrichtlinien etc. einliest, kennt den Unterschied zwischen Radschutzstreifen, Radfahrstreifen, Radschnellweg, geschützter Radweg usw. Auch Gesetzestexte reden vom „Radweg“. In der Straßenverkehrsordnung, der wichtigsten Bundesverkehrsverordnung Deutschlands, wird von Radwegen gesprochen. Es ist in der StVO auch die Rede von Fußwegen, Gehwegen, Feldwegen und Waldwegen, sogar auch von Reitwegen und Fußgängerüberwegen. Über was „Überwege“ führen, wird übrigens nicht gleich erläutert. Die StVO geht anscheinend davon aus, dass Autoflächen eine Selbstverständlichkeit sind. Für Autos hingegen gibt es keine „Autowege“, denn das würde das Auto herabsetzen. Für Autos gibt es in der StVO eine „Fahrbahn“. Die ist offenbar für den „richtigen Verkehr“ vorgesehen, den Autoverkehr.

„Um sich vom Auto im Kopf zu befreien, können sprachliche Mittel helfen.“

Dr. Dirk von Schneidemesser
„Radfahrer fährt in Autotür …“ Unfallberichterstatter schilderten Kollisionen häufig so, als ob die Person auf dem Rad einen Fehler gemacht habe.

Flächengerechtigkeit und offene Straßen

Wenn es um Flächenverteilung in der Stadt geht, können wir von „Flächengerechtigkeit“ sprechen. In Berlin zum Beispiel haben Forscher*innen festgehalten, dass Autofahrenden 3,5-mal mehr Platz zugestanden wird als nicht Autofahrenden. Das deutet auf eine Ungerechtigkeit hin. Durch Nutzung des Wortes „Flächengerechtigkeit“ können spannende Gedankengänge und Unterhaltungen angestoßen werden: Was ist eine gerechte Flächenverteilung? Eine, bei der die meisten öffentlichen Flächen von privat gelagerten Autos auf „Autolagerflächen“ stehen? Oder eine, wo man überall parken darf? Ich habe gerade zweimal denselben Zustand beschrieben, aber die Unterhaltung führt uns höchstwahrscheinlich in unterschiedliche Richtungen, wenn ich von „Autolagerflächen“ statt „Parkplätzen“ rede.
Wenn Straßenraum nicht mehr für den Autoverkehr, sondern für andere Zwecke umgenutzt wird, ist oft die Rede von „gesperrten Straßen“. Wir sagen, dass wir Straßen „schließen“ oder „dichtmachen“, damit wir beispielsweise einen Markt dort veranstalten können. Auf einem Markt wird verkauft, aber auch gebummelt und gegessen. Es werden Nachbarn getroffen, es finden Begegnungen statt, es wird verweilt, gearbeitet und erholt. Ähnliches gilt für ein Straßenfest, eine Spielstraße oder eine autofreie Promenade. Auf der durchschnittlichen Straße passiert vor allem eins: Autoverkehr. Auf einem Markt oder einem Platz passieren vielfältige Sachen. Einen Straßenabschnitt als „gesperrt“ zu bezeichnen, wenn Autoverkehr dort nicht stattfindet, ist nicht nur eine unzutreffende Beschreibung. Es lässt auch das Bemühen, den öffentlichen Raum für viel mehr Menschen und Aktivitäten zugänglich zu machen, in einem negativen Licht erscheinen. Auf subtile Weise erzeugt es auch Rechtfertigungsdruck für diejenigen, die eine Straße für vielfältige Aktivitäten und eine größere Bandbreite an Menschen öffnen wollen. Daher wäre es besser in solchen Fällen, von „Straßen öffnen“ oder „offene Straßen“ zu sprechen, als davon, sie zu sperren. Bevor das Auto kam und jegliche Nutzungen der Straße außer für den Autoverkehr ausschloss, gab es schließlich keine „Fußgängerzonen“.
Genauso wie die Dominanz des Autos in der Stadt den Möglichkeiten für andere Verkehrsarten im Wege steht, die sicherer, gesünder und nachhaltiger sind, steht das Auto in unseren Köpfen den kreativen Gedanken im Wege, die wir zu Stadtgestaltung und Mobilität haben könnten. Wir wollen das Auto nicht unbedingt komplett verbannen, aber es wäre schon hilfreich, wenn wir die Dominanz des Autos in unseren Köpfen zurückdrängen würden. Damit könnten wir unseren Gedanken – und vielleicht dann irgendwann auch unseren Beinen – freieren Lauf geben.


Zum Vertiefen: Literatur


Peter Norton:

Street Rivals: Jaywalking and the Invention of the Motor Age Street. (2007) / Fighting Traffic. The Dawn of the Motor Age in the American City. (2011)


Laura Nemi, & Liane Young:

When and Why We See Victims as Responsible. The Impact of Ideology on Attitudes Toward Victims. (2016)


Goddard et al.:

Does news coverage of traffic crashes affect perceived blame and preferred solutions? Evidence from an experiment. (2019)


H. Magusin:

If you want to get away with murder, use your car: a discursive content analysis of pedestrian traffic fatalities in news headlines. (2017)


Dr. Dirk von Schneidemesser

… ist Sozial- und Politikwissenschaftler am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam. Er studierte an der Uni Freiburg und der FLACSO Buenos Aires und promovierte zu der Kommunikation von lokalen Transportmaßnahmen an der Hertie School of Governance in Berlin. Er ist im ehrenamtlichen Vorstand von Changing Cities e.V., die sich für die Mobilitätswende einsetzen.


Bilder: stock.adobe.com, Changing Cities, noz.de, ems TV, stock.adobe.com – fotomek, stock.adobe.com – Dan Race, Volksentscheid Fahrrad – Norbert Michalke

Elektromotoren und vor allem leistungsfähige Akkus haben eine kaum überschaubare Vielfalt kleiner und umweltfreundlicher Verkehrsmittel und Mobilitätshilfen hervorgebracht, und ständig kommen weitere hinzu. Um diese sichtbar und erlebbar zu machen und die Mobilitätswende voranzubringen, plädieren unsere Gastautoren Dipl.-Ing. Konrad Otto-Zimmermann (The Urban Idea) und der Verkehrsplaner Prof. Dr. Oliver Schwedes für ein „EcoMobileum“ als neue Erlebniswelt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Die Verkehrsplanung und die Fachdiskussion unterscheiden üblicherweise zwischen Fußgängerverkehr (Fuß), Radverkehr (Rad), motorisiertem Individualverkehr oder auch Pkw (MIV/Pkw) und dem öffentlichen Verkehr (ÖV). Rad wird dabei auf das Fahrrad beschränkt, das Pedelec eingeschlossen. Zwischen dem Fußverkehr einerseits und dem Pkw bzw. Öffis andererseits gibt es aber wesentlich mehr Bewegungsmittel als nur Fahrräder. Zum einen gibt es eine wahre Räderwelt: Bewegungsmittel mit ein, zwei, drei, vier oder mehr Rädern; mit ein, zwei oder mehr Sitzen; zur Eigenbeförderung oder zum Personen- und Gütertransport. Zum anderen gibt es Schnee-, Schwimm- und Flugzeuge. Es gibt muskelkraftbetriebene „Human Powered Vehicles“ (HPV) und solche mit Elektroantrieb sowie wenige mit Brennstoffzelle. Unsere Datenbank erfasst bereits über 700 verschiedene Typen solcher Bewegungsmittel.
Diese Verkehrsmittel „zwischen Schuh und Auto“ zeichnen sich durch ein menschliches Maß aus und setzen sich damit von den heute noch den öffentlichen Stadtraum dominierenden, immer größeren Fahrzeugen ab. Im Kontrast zu den groben, schweren, bis hin zu kolossalen, dickwanstigen „Boliden“, lassen sich die Bewegungsmittel mit menschlichem Maß als „fein“ charakterisieren, gemäß Duden also als angenehm, vorzüglich, hochwertig, leise, von zarter Beschaffenheit, erfreulich und lobenswert. Die Fahrzeuge im Spektrum „zwischen Schuh und Auto“ bezeichnen wir hier daher mit dem Arbeitsbegriff „Feinverkehrsmittel“. In der Feinmobilität sehen wir einen beträchtlichen Beitrag zur Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschonung sowie zur Entlastung der Stadträume, zur Steigerung der städtischen Lebensqualität – und damit zur Mobilitätswende. Das Potenzial dieser Fahrzeuge bleibt, mit Ausnahme des Fahrrades und dank des Hypes im Jahr 2019 des Elektrotretrollers, in der vorherrschenden Diskussion weitgehend unberücksichtigt (siehe Kasten).

Reality Parcours zum Ausprobieren von Fahrzeugen der Feinmobilität unter realitätsnahen städtischen Bedingungen.

Bedarf an Exposition

Wir haben festgestellt: Viele kleine, umweltfreundliche Verkehrsmittel und Mobilitätshilfen existieren, sind aber nicht verfügbar. Das heißt, sie sind auf dem Markt, aber zumeist nicht bekannt, nicht auf den Straßen zu sehen und nicht im örtlichen Handel erhältlich. Welche Hemmnisse gibt es?

Hemmnis 1: Branchenstruktur. Der Markt der Fahrzeuge und Mobilitätshilfen ist stark segmentiert durch eine starre Branchenstruktur: Fahrradhandel, Motorradhandel, Industrielogistik, Sanitätshäuser, Sportbedarf, Eltern & Kind, Spielwaren, Elektromobile. Eine Branche „Feinmobilität“ fehlt. Es gibt keine „Mobilitätsläden“. Das erschwert sowohl interessierten Bürgern den Zugang zu umweltfreundlichen Alternativen zum Automobil, als auch den Herstellern den Zugang zur interessierten Kundschaft. Etliche interessante Fahrzeuge aus der Industrielogistik werden nur Business-to-Business vertrieben und sind für den Normalbürger nicht erhältlich. Fahrzeuge wie Mobility Scooter, die eine flotte Fortbewegung im städtischen Raum ermöglichen, werden bislang fast nur als Seniorenmobile über den Sanitätshandel vertrieben und leiden damit unter einer entsprechenden Stigmatisierung.

Hemmnis 2: Marktzugang für innovative Bewegungsmittel. Die meisten der Feinverkehrsmittel werden von kleinen und mittleren Unternehmen hergestellt. Diese Unternehmen haben oft keinen breiten Marktzugang. Viele neue, innovative Produkte passen nicht in das o.g. Branchen-schema, und Entwickler wie auch Start-ups finden keinen adäquaten Platz in der Branchen- und Vertriebsstruktur und damit keinen ausreichenden Zugang zu potenziellen Kunden.

Hemmnis 3: Klassifikationen und Nomenklatur. Das „feine“ Segment städtischer Mobilität – diejenige mit Fahrzeugen zwischen Schuh und Auto – leidet an fehlender einheitlicher Nomenklatur und Klassifikation. Zahlreiche Fahrzeuge, darunter viele innovative Neuentwicklungen, haben keine generische Typenbezeichnung. Beispielsweise werden viele von ihnen „E-Scooter“ genannt, eine Bezeichnung, die kaum eine Unterscheidbarkeit verleiht, weil sie Elektro-Motorroller ebenso umfasst wie Seniorenmobile, Dreirad-Stehmobile und Zweirad-Tretroller. Beispielsweise werden drei- oder vierrädrige Elektro-Fahrsessel mal als Elektromobile, mal als Mobility Scooter, mal als Seniorenmobil bezeichnet. Mit bauartbedingter Begrenzung auf 15 km/h gelten sie als Krankenfahrstühle, wenn sie die Höchstgeschwindigkeit von 45 km/h ausreizen, als vierrädrige Leichtkraftfahrzeuge bzw. als Kleinst-Pkw.

Wertvoll: draußen unterwegs sein, auch mit Handicap. Viele umweltfreundliche Verkehrsmittel und Mobilitätshilfen sind verfügbar, aber kaum sichtbar.

Erfahrung ermöglichen: Campus für nachhaltige Mobilität

Ideen für den Wandel städtischer Mobilität gibt es inzwischen viele – es gibt jedoch keinen Ort, an dem die Mobilität der Zukunft in ihrer Diversität schon jetzt erlebt werden kann. Es gibt eine nahezu stufenlose Palette von „feinen“ Fahrzeugen und Mobilitätshilfen, die eine zügige, „ökomobile“ Fortbewegung von Menschen und den Transport von Gütern in urbanen Bereichen ermöglichen. Zusammen mit Zufußgehen und öffentlichen Verkehrsmitteln im Umweltverbund erlaubt ihre Nutzung einen Stadtverkehr, der emissionsarm, energiesparend und sicherer ist, die Straßenräume entlastet und es erlaubt, Straßenflächen an die Menschen für soziale Aktivitäten zurückzugeben.
Soll ein Durchbruch hierhin erfolgen, so ist es nötig, die Welt der Feinmobilität ans Tageslicht zu bringen, die Branchengrenzen aufzubrechen und Orte zu schaffen, an denen die breite Palette existierender sowie ganz neu entwickelter Verkehrsmittel und Mobilitätshilfen für Menschen aller Altersgruppen und physischen Befindlichkeiten verfügbar wird. Wir möchten allen Stadtbewohnern Gelegenheiten geben, nachhaltige Mobilität mit Feinmobilen selbst erfahren zu können. Unter dem Arbeitstitel „EcoMobileum“ konzipieren wir daher eine Erlebniswelt für nachhaltige städtische Mobilität der Zukunft. Dem Automobil sind in Wolfsburg, Stuttgart, Ingolstadt und München Tempel gewidmet. Diesen soll nun ein Campus für nachhaltige Mobilität entgegengesetzt werden.
Ein wesentliches methodisches Merkmal des Ausstellungskonzepts ist es, die Grenzen zwischen den Marktsegmenten bzw. Branchen Fahrrad, Spezialrad, motorisiertes Zweirad, Elektromobile, Eltern & Kind, Sportartikel, Spielzeug, Sanitätsartikel, Industrielogistik u.a. aufzuheben. Idealerweise wird jeder Typ von Bewegungsmittel mit zumindest einem prototypischen Exemplar präsent sein – wenn nicht in Ausstellung und Ausfahrung, so doch im Schaulager.
Die Angebote und die Attraktion des EcoMobileum werden Hunderttausende von Besuchern von nah und fern anziehen. Die Besucher werden dazu angeregt, sich mit der praktischen Seite der Mobilitätswende auseinanderzusetzen: Warum sollte ich mein Mobilitätsverhalten ändern? Welche nachhaltigen Mobilitätsoptionen bieten sich mir? Wie kann ich meine Mobilitätsbedarfe und Transportzwecke mit Verkehrsmitteln und Mobilitätshilfen „mit menschlichem Maß“ erfüllen? Welche feinmobilen Gefährte gibt es dafür?
Wir positionieren unsere Einrichtung als zukunftsorientierte Erlebniswelt für nachhaltige städtische Mobilität im Gegensatz zu einem Verkehrsmuseum mit hohem Anteil von Rückwärtsgewandtheit oder einem Informationszentrum für rein kognitives Lernen. Die Erlebniswelt soll als Katalysator für die persönliche Mobilitätswende wirken, die zur Unterstützung des Gesundheits-, Klima- und Umweltschutzes und zur Rückgewinnung öffentlicher Stadträume für die Menschen notwendig ist. Im politischen Diskurs, auf dem Markt und unter den Erlebnisorten wird die Erlebniswelt eine Nische mit hohem Potenzial füllen.

Zum Konzept

Die Einrichtung soll in ihrem Angebot und Betrieb dynamisch sein, immer aktuelle Themen aufgreifen und die neuesten Produkte präsentieren. Anders als in traditionellen Museen werden die Besucher der Ausstellung dazu ermuntert, die Exponate anzufassen, sich draufzusetzen beziehungsweise einzusteigen und zu testen.
Thematisch wird die Erlebniswelt fokussiert auf:

  • Nachhaltigkeit, Gesundheitsschutz, Umwelt- und Klimaschonung
  • Eine ständige Ausstellung informiert über Kriterien der Nachhaltigkeit (bezogen auf den gesamten Lebenszyklus der Verkehrsmittel und ihrer Infrastrukturen) und legt es Besuchern nahe, die Nachhaltigkeitsmerkmale verschiedener Mobilitätsoptionen und Verkehrsmittel durch Exponate, Informationsterminals, interaktive Lernspiele und Probefahrten zu erfahren, zu verstehen und zu vergleichen.
  • Urbane Räume (Stadt)
  • „Straßenräume für alle“ werden gezeigt; wie kann Feinmobilität die Inanspruchnahme der Straßenräume durch Verkehr minimieren, um den sozialen und kulturellen Funktionen Raum zu geben? Zur Fokussierung werden Fernverkehre und internationaler Waren- und Reiseverkehr ausgeblendet.
  • Abrüstung im Stadtverkehr
  • Ausstellung und Ausfahrung bringen den Besuchern die Welt der feinen Bewegungsmittel nahe.

Format der Erlebniswelt

Das Format unserer Erlebniswelt ist innovativ und einzigartig. Umfangreiche Recherchen und Expertenbefragungen unterstützen unsere Annahme, dass es eine solche Erlebniswelt für nachhaltige städtische Mobilität noch nirgendwo auf der Welt gibt. Wir schaffen einen Ort, an dem die Besucher dazu eingeladen sind, nicht nur in der Ausstellung kognitiv zu lernen, sondern sich vor allem auch durch spaßvolle Fahrerlebnisse für Mobilität zwischen Schuh und Auto zu begeistern und Verhaltensbereitschaften zugunsten der Mobilitätswende zu ändern. Deshalb umfasst die Erlebniswelt eine charakteristische Kombination von fünf Komponenten:

Ausstellung:
  • Fahrzeuge und Mobilitätshilfen
  • interaktive Lernstrecken zu aktuellen Themen der Mobilitäts- und Verkehrsdiskussion
  • unter den Aspekten städtische Lebensqualität, Gesundheit, Klimaschutz
Ausfahrung:
  • verschiedene Parcours, indoor und outdoor, für realitätsnahe Fahrerlebnisse
  • unterschiedlichste Fahrzeuge und Mobilitätshilfen zum Ausprobieren
Animation & Aktionen
  • Besucheranimation auf Veranstaltungsflächen und Parcours
  • zielgruppenspezifische, thematische bzw. saisonale Aktionen
Akademie
  • Dokumentation (Bibliothek, Datenbank)
  • Studien (Arbeitsplätze für Masterstudierende und Doktoranden)
  • Information und Austausch (Vortragsveranstaltungen, Workshops, Kolloquien, Fachtagungen)
Einzigartiges Cuvet: Das Beste von Allem

Die Erlebniswelt vereinigt die besten Charakteristika von verschiedenen vorhandenen Einrichtungsarten:

  • Kognitive Lernerfahrungen vermitteln wir durch interaktive Stationen, die wir aus Science Centers und Technikmuseen kennen und durch Lernstrecken entsprechend moderner Ausstellungsgestaltung.
  • Produkte und Marken präsentieren wir basierend auf unserer Analyse wirksamer Präsentationen in Fahrzeugmuseen, Messeauftritten und Showrooms.
  • Die Vorführung von Fahrzeugen folgt Mustern beliebter und erfolgreicher Fahrzeugparaden.
  • Wir bieten Rennspaß nach Beispielen gelungener Kindermotorparks und Kartbahnen.
  • Wir faszinieren Besucher durch Attraktionen, die Spiel und Spaß bringen nach Vorbildern guter Freizeitparks.
  • Produktentwicklern, die ihren Prototyp oder ihr Vorserienfahrzeug einem breiteren Nutzertest durch Hunderte bzw. Tausende von Besuchern unterziehen möchten, kann ein Testpaket angeboten werden. Sie bringen ihr Fahrzeug, wir bringen die Besucher als Testnutzer. Faszinierend für die Besucher: sie können ein Fahrzeug erleben, das es noch gar nicht auf dem Markt gibt.
Die vernachlässigte Komponente der Mobilitätswende:

Größe und Gewicht

Durchweg ist die Frage zu kurz gekommen, welche Fahrzeuge denn geteilt, klimaschonend angetrieben und digitalisiert werden sollen: Fahrzeuge mit menschlichem Maß oder massive Gebilde? Leichte, feine Fahrzeuge oder monströse Panzerwagen? Damit rufen wir ein neues Themenbündel auf: den Übergang von Kolossalmobilität auf Feinmobilität, von Schwerfahrzeugen auf Leichtfahrzeuge im Stadtverkehr. Warum Feinmobilität? Nüchterne, vernünftige Betrachtung gebietet es, das ökonomische und ökologische Prinzip im Verkehr anzuwenden.

  • Ökonomische Mobilität bedeutet die Erfüllung des Mobilitäts- und Transportbedarfs mit den leichtesten, bezogen auf Raum- und Flächenbedarf kleinsten, energiesparendsten, kostensparendsten (einschl. soziale und Folgekosten) Verkehrsmitteln.
  • Ökologische Mobilität bedeutet die Erfüllung des Mobilitäts- und Transportbedarfs mit den Verkehrsmitteln mit dem geringsten Schadstoffausstoß, dem geringsten Raum- und Flächenbedarf, der geringsten Lärmemission, dem geringsten Ressourcenverbrauch und Abfallanfall über den gesamten Lebenszyklus.

Solche Öko-Mobilität erfordert eine Ausrichtung der Fahrzeuggrößen auf das menschliche Maß und stellt Feinmobile in den Fokus.

Auf den Standort kommt es an

Das Projekt des EcoMobileums als Erlebniswelt für nachhaltige Mobilitätskultur ist ausgereift, machbar und erhält von vielen Seiten Anerkennung. Es wird die erste Einrichtung mit diesem Profil sein. Es verdient einen Standort, an dem die politische Führung das EcoMobileum nicht nur als Tourismus-Attraktion und Besuchermagnet betrachtet, sondern als Katalysator für die persönliche Mobilitätswende der Bürger zur Flankierung der Verkehrswende.

Machbarkeitsstudie erfolgt

Diesem (gekürzten) Artikel liegt eine Machbarkeitsstudie für eine Erlebniswelt zugrunde, die das Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung der TU Berlin und das Freiburger Kreativstudio The Urban Idea mit Förderung durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt erstellt haben (https://www.ivp.tu-berlin.de/AB_Machbarkeitsstudie). Diese Arbeit wurde durch einen wissenschaftlichen Beirat begleitet, dem renommierte Repräsentanten der Zukunfts-, Nachhaltigkeits-, Mobilitäts- und Verkehrswissenschaft, des Freizeit- und Ausstellungswesens sowie des Stiftungswesens angehörten. „EcoMobileum“ ist eine eingetragene Marke von The Urban Idea GmbH.

Zu den Autoren:

Dipl.-Ing., Mag.rer.publ. Konrad Otto-Zimmermann

ist ehemaliger Generalsekretär des Weltstädteverbandes für nachhaltige Entwicklung, ICLEI und Kreativdirektor bei The Urban Idea in Freiburg.


konrad@theurbanidea.com

Prof. Dr. Oliver Schwedes

leitet die Fachgebiete Integrierte Verkehrsplanung, Fakultät für Verkehr und Maschinensysteme an der Technischen Universität Berlin.


oliver.schwedes@tu-berlin.de


Bilder: The Urban Idea 2020, Hase Bikes, HP Velotechnik – pd-f, CityQ, Riese & Müller, pd-f, Kyburz

Schafft man die Mobilitätswende, ohne Denkweisen zu verändern und Blickwinkel zu erweitern? Gastautorin Isabell Eberlein, Mitgeschäftsführerin der Berliner Agentur Velokonzept und unter anderem engagiert bei den Initiativen Changing Cities, Women in Mobility und Woman in Cycling plädiert für mehr Diversität. Tatsächlich scheinen gerade die Bereiche Verkehr und Mobilität noch stark von alten, eigentlich überkommenen Sichtweisen, Rollenbildern und Stereotypen geprägt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


„Wo sind all die Frauen?“, fragte der Geschäftsführer des traditionsreichen Faltradherstellers Brompton, Will Butler-Adams, auf der weltweiten Fahrradleitmesse Eurobike in Friedrichshafen 2019 in einem Raum mit 200 Personen, weniger als ein Zehntel davon Frauen. „Ich sehe sie hier weder auf dem Panel noch im Publikum noch auf der Messe. Dabei repräsentieren sie die Hälfte meiner Kund*innen“. Da war es, das magische Wort: Repräsentation.
Es gibt keine aktuellen Zahlen über die Beschäftigungsquote von Frauen in der Fahrradwirtschaft. Wo man(n) auch hinblickt in der Industrie, im Handel oder bei den Dienstleistern: In den leitenden Positionen herrscht wenig Diversität. Natürlich gibt es die tollen Beispiele von Geschäftsführerinnen, Selbstständigen, Händlerinnen und Mechanikerinnen. Aber sie sind bis heute leider die Ausnahme und nicht die Regel. Richtet man den Blick über die Fahrradwirtschaft hinaus, dann sieht es ähnlich aus. Nur jedes zehnte Rathaus in Deutschland wird von einer Frau regiert. In der Fahrradwirtschaft und der Radverkehrsplanung sucht man fast ebenso vergeblich nach Frauen wie in leitenden Positionen der Zivilgesellschaft. Zwar beschäftigen NGOs und Stiftungen etwa 70 Prozent Frauen, doch nur rund 30 Prozent der Positionen in Leitungs- und Kontrollgremien sind derzeit mit Frauen besetzt, wie aus dem ersten „Fair Share“-Monitor hervorgeht. Was sind die dahinter liegenden Gründe?

Gleich sucht gleich

In einem Branchengespräch Ende November gab es mehr Männer mit Vornamen Frank auf dem Podium als Frauen – trotzdem wurde das Thema Diversität und vor allem der Fachkräftemangel heiß diskutiert. Die Fahrradbranche zeichnet beispielsweise gerne ein Bild von sich selbst als Traumarbeitgeber für alle Rad- und Sportbegeisterten und witzelt darüber, dass man sich um gute Köpfe zwar bemühen muss, aber es viele gibt, die im Fahrrad ihre Passion und ihren Purpose sehen. Das Problem hierbei ist aber: Menschen umgeben sich gerne mit ihresgleichen, weil es auf den ersten Blick weniger konfliktär erscheinen mag. Dafür schwebt man in der gleichen Blase: gleiche Prägung, Vorstellung und Einstellung. Sexismus gibt es nicht bei uns, sagt der Aufsichtsrat. Wie ist der besetzt? Akademisch, männlich, weiß, mittleren Alters.

Diversität als Prozess

Diversity-Management für Unternehmen beinhaltet nach der „Charta der Vielfalt“ (charta-der-vielfalt.de) einen fünfstufigen Prozess:

1) Wie und wo liegt der Nutzen von Diversität in der Organisation im Hinblick auf Nutzerinnen, Kundschaft oder Geschäftspartnerinnen?

2) Als Nächstes muss die Ausgangssituation analysiert und auch geprüft werden, ob bereits Maßnahmen unbewusst durchgeführt werden.

3) Im folgenden Schritt muss Diversität im Unternehmen umgesetzt werden. Dazu müssen sich die Umsetzungsdauer und Wirkung sowie etwaige Risiken bewusst gemacht werden.

4) Die tatsächliche Umsetzung und

5) die Messbarkeit von Erfolg.

Vielfalt: der nicht gehobene Schatz

Wenn der Fahrradsektor nur die Stimmen der Menschen hört, die sowieso schon Fahrrad fahren, ist er auf mindestens einem Auge blind. Roger Geller (Bicycle Coordinator, Portland Office of Transportation) unterscheidet nämlich vier Typen des Radfahrens: 0,5 % „Kampfradlerinnen“ (die überall und immer fahren), 6,5% überzeugte Radfahrerinnen und 33 %, die niemals unter irgendwelchen Umständen zum Radfahren zu bewegen seien. Die große Masse mit 60% würde dagegen mit der passenden Infrastruktur und den passenden Produkten Rad fahren. Tatsächlich erlebt das Fahrrad seit 2020 einen nie da gewesenen Boom und viele neue Zielgruppen entdecken es als pandemieresilientes Verkehrsmittel. Gleichzeitig werden viele potenzielle Adressatinnen außer Acht gelassen, an die das Fahrrad bisher nicht herankommt. Um diverse Zielgruppen wie beispielsweise post-migrantische Milieus zu erreichen, braucht es Vorbilder und vielleicht auch neue Wege der Kommunikation. Denn das Fahrrad ist noch längst nicht in allen Teilen der Gesellschaft als vollwertiges Verkehrsmittel anerkannt. An einer Schule in Berlin-Neukölln fand zum Beispiel vor rund einem Jahr eine Projektwoche zum Thema Fahrradmobilität statt. Zum ersten Mal seit Kindheitstagen mit dem Fahrrad konfrontiert, war der Eindruck der Jugendlichen wenig divers. Fahrradfahren sei körperlich viel zu anstrengend, dabei gleichzeitig zu langsam und vor allem aber peinlich! Wie erreicht man eine solche Gruppe, die die Radfahrerinnen der Zukunft sind oder sein sollen? Wohl, indem man sie direkt fragt und mit an den Tisch holt, Influencer aus ihren Bereichen wirbt und Personen identifiziert, die dieses Bild aufbrechen können. Denn Diversität bezieht sich nicht nur auf das Geschlecht, sondern auch auf Alter, Hintergrund, sozialen Status, Religion und körperliche Fähigkeiten.

Durch Paritätsregelungen und eigene Wertungen bei Rennen ist Bewegung in den männlich dominierten Radsport gekommen.

Repräsentation: Wie denken wir alle mit?

Die Autorin Caroline Criado-Perez beschreibt in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“, wie sehr die bebaute Umwelt am „Standardfaktor Mann“ orientiert ist. Vom Anschnallgurt über Crashtest-Dummys bei Autounfällen bis zur Frage, welche Wege zuerst von Schnee und Eis befreit werden. Die meisten Glätte-Unfälle passieren übrigens auf Fuß- und Radwegen, die im Allgemeinen mehr von Frauen genutzt werden. Wir müssen also die Repräsentation von Diversität, die Beteiligung unterschiedlicher Zielgruppen und deren Bedürfnisse an allen Stellen, die das Radfahren betreffen, berücksichtigen. Angefangen von der bebauten Umwelt, die ein anderes Verhalten durch sichere, zugängliche und durchgängige Infrastruktur überhaupt erst ermöglicht, über eine Mobilitätskultur, die das Fahrradfahren als gleichwertiges und normales Verkehrsmittel für alle wahrnimmt, bis hin zu Design- und Entwicklungsprozessen von Produkten, die maßgeblich die spätere Nutzbarkeit und Zugänglichkeit gestatten.
Wenn sich die Menschen nicht in den Produkten und Kampagnen wiedererkennen, dann kaufen oder nutzen sie diese auch nicht. Dabei gilt es noch einmal deutlich festzuhalten, dass Diversität über die faire Repräsentation von Frauen hinausgeht und die Vielfalt in Alter, Herkunft, sozialem Status und religiöser Weltanschauung beinhaltet. Diese müssen auch in den unterschiedlichen Positionen repräsentiert sein. Dafür ist die „Mobility of Care“ ein gutes Beispiel. Bisher sind es zu einem Großteil Frauen, die die Pflegearbeit von Kindern und älteren Menschen erledigen. Doch dieses Bild bricht langsam auf und Lebensmodelle werden fließender. Deswegen hier noch mal der Warnhinweis: Frauen und Männer mit dem gleichen akademischen Hintergrund sind noch keine diverse Gruppe und Organisationen müssen sich immer wieder kritisch hinterfragen, ob sie für unterschiedliche Lebensentwürfe Möglichkeiten vorhalten. Was tun? Zunächst einmal sollte das Thema Diversität ernst genommen und nicht als nettes Zusatzthema betrachtet werden. Eine Studie von Boston Consulting aus dem Jahr 2017 belegt, dass diversere Teams 20 Prozent mehr Umsatz erwirtschaften. Dabei geht die Studie nicht nur auf das Zahlenverhältnis zwischen Frauen und Männern ein, sondern zeigt, dass auch die Repräsentation auf verschiedenen Ebenen dazu passen muss. Diversität bezieht sich gleichzeitig auf mehr als nur Gleichberechtigung der Geschlechter und darüber hinaus auch auf Vielfalt im Denken und im Handeln.

„Der Deutsche Fahrradpreis – best for bike“: Mit Dr. Eckhart von Hirschhausen ist die „Fahrradfreundlichste Persönlichkeit 2021“ zum siebten Mal in Folge ein Mann.

Wenig diverse Vorbilder

Es ist an der Zeit zu verstehen, dass Diversität elementar für die Zukunft des Fahrrads und des Radverkehrs ist. Das Fahrrad ist ein leicht zugängliches Verkehrsmittel. Mit der notwendigen Infrastruktur, die allen ein sicheres Fahrradfahren ermöglicht, geht auch eine neue Mobilitätskultur einher. Zählen Sie einmal, wie viele Frauen mit Kopftuch Sie heute schon auf dem Fahrrad gesehen haben. Oder wie viele Personen in Businesskleidung? Oder welche Personen ihr online bestelltes Essen liefern. Durch Werbung, Bilder und Sprache prägt die Industrie einen Lifestyle, aber wer ist auf den Fotos abgebildet und in welcher Situation? Kürzlich entbrannte zum Beispiel eine Diskussion in den sozialen Medien zur Verleihung des Preises „Fahrradfreundlichste Persönlichkeit 2021“, die zum siebten Mal in Folge an einen Mann verliehen wird. Aufsehen erregte zudem, dass der diesjährige Preisträger Dr. Eckhart von Hirschhausen in sportlichem, neonfarbenem Lycra abgebildet wurde, was deutlich eine Freizeit- statt einer Alltagsnutzung des Fahrrads darstellt. In den vergangen 19 Jahren, in denen der Deutsche Fahrradpreis verliehen wurde, ergibt sich eine Quote von 15 Männern gegenüber 4 Frauen, darunter keine Person mit Migrationshintergrund oder körperlichen Einschränkungen. Die Debatte zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur einen Typus als Radfahrenden abzubilden, sondern abzuwechseln, sodass sich alle angesprochen fühlen.
Wenn das Fahrrad ein Verkehrsmittel für alle ist, dann müssen unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen auch mitreden. Wie kann der Fahrradsektor also diverser werden? Wichtig ist, diesen Prozess der Diversifizierung anzugehen, sich und das eigene Unternehmen oder die eigene Organisation zu hinterfragen und unangenehmen Gesprächen nicht aus dem Weg zu gehen. Hier gilt es klarzustellen, dass Diversität nicht bedeutet, unterschiedliche Personen mit unterschiedlichen Backgrounds auf Fotos abzubilden und so in eine Art Diversity-washing zu verfallen. Es geht vor allem darum, Diversität aktiv zu fördern!

Neu: Women in Cycling

Es gibt bereits sehr erfolgreiche Netzwerke zur Vernetzung von Frauen, darunter „Women in Mobility“, die kürzlich beim Deutschen Mobilitätspreis 2020 mit einem Sonderpreis ausgezeichnet wurden, oder „Women in Transport“ auf europäischer Ebene, die das Thema Vernetzung im Mobilitätsbereich über die Verkehrsmittel hinaus erfolgreich vorangetrieben haben. „Frauen im Fahrradsektor müssen sichtbarer werden, sodass keiner mehr fragen muss, wo sind die Frauen“, sagt Lauha Fried der Vereinigung Cycling Industries Europe. „Sie müssen repräsentiert sein auf Panels, in Magazinen, Berichten, Kongressen, Messen und Fachveranstaltungen in ihren unterschiedlichen Positionen.“ Deswegen gründeten Cycling Indus-tries Europe, die European Cyclist Federation, die niederländische Beratungsfirma Mobycon und die Berliner Agentur Velokonzept das Netzwerk „Women in Cycling“, das den ganzen Fahrradsektor umschließt, also Industrie, Handel, Infrastrukturplanung, Forschung, aber auch NGOs, Medien und den Sport inkludiert. Die Vision des Netzwerks ist ein diverserer und inklusiverer Fahrradsektor, der faire und gleiche Möglichkeiten für alle schafft und somit auch das volle Potenzial des Fahrrads ausschöpft. „Women in Cycling“ schafft eine Plattform, um sich zuerst untereinander in den eigenen Bereichen und über die Altersgrenzen hinweg zu vernetzen, und fördert eine stärkere Präsenz von Frauen in Beiräten, Entscheidungsgremien, auf Podien und in den Medien als Expertinnen.
Die Chance der Zusammenarbeit mit Akteurinnen aus anderen Bereichen über Wettbewerbsgrenzen hinweg ist ein wichtiges Werkzeug, um die gesellschaftliche Bedeutung des Fahrrads zu fördern. Mit einem Expertise-Portal schafft das Netzwerk
ein öffentlich zugängliches Tool, an dem alle Kuratorinnen und Organisatorinnen die passenden Expertinnen auswählen können. Damit sollten „All-male-Panels“ im Fahrradsektor ab jetzt der Geschichte angehören. Außerdem plant das Netzwerk, durch Mentoring und Leadership- Skills-Programme den Nachwuchs zu fördern. Durch Netzwerk, Förderung und Repräsentation zielt Women in Cycling letztendlich stark auf systemische Veränderungen ab. Zuletzt bleibt nur noch zu sagen, dass ein diverser Sektor allen zugutekommt, aber es auch eine Aufgabe aller ist, diesen Wandel zu beschreiten. Das heißt, wir können uns alle selbst fragen, welche repräsentativen Aufgaben wir vielleicht mal abgeben können, wie wir unser Umfeld bestärken und so gemeinsam den Fahrradsektor voranbringen.

Isabell Eberlein

ist Fahrrad- und Mobilitätsexpertin und berät als Teil der Berliner Agentur Velokonzept unter dem Namen „Okapi“ Unternehmen und öffentliche Verwaltungen mit Blick auf ein zukunftsfähiges Mobilitätsmanagement. Zudem engagiert sie sich im Verein Changing Cities, bei Women in Mobility und im neu gegründeten Netzwerk Woman in Cycling.


Bilder: VELOBerlin, Sebastian Doerken, Deutscher Fahrradpreis / Hirschhausens Quiz des Menschen XXL